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Ganz in der Nähe der Stadt hielt er endlich vor einem Hause, das Roß und Reiter wohl bekannt war. Uriel sah sich in der Gegend um; er irrte sich nicht, hier wohnte seine Schwester. Die Nacht war noch nicht ganz hereingebrochen. Ein linder Abendwind wehte herüber, der Mond erhellte den Hof, den Uriel betrat. Oben auf einer Terrasse erblickte er seine Schwester, die ihn freundlich begrüßte und zu sich hinaufrief. Ihr Gatte war auf einer langen Reise begriffen; wen sah sie lieber, als den unter ihren Brüdern, welcher ihrer Seele am verwandtesten war? Uriel fühlte die elektrische Wirkung einer so reinen und uneigennützigen Liebe, wie die einer Schwester ist. Er war unvermögend, mit seinem ganzen Elende sogleich dieses friedliche Herz zu überfallen; er setzte sich an die Seite seiner Schwester und drückte mit zitternder Hast ihre Hand.
»Ich schleiche mich wie ein Dieb bei dir ein,« sprach er leise, »und raube mir das, was du mir bald versagen wirst.«
Seine Schwester sah ihn fragend an. »Was drückt dich, Uriel?« sprach sie erstaunt; als sie aber seine verzerrten Gesichtszüge, das Zittern des Mundes, die starren Augen wahrnahm, sprang sie auf und fragte, was ihm zugestoßen sei. Uriel verlangte nur nach ihrem Kinde. Sie rief, und ihr Einziger, ein Knabe von sieben Jahren, eilte auf seinen Oheim zu, den er im Mondschein leicht erkannte. Entblößt eure Häupter! Dieser Knabe war Baruch Spinoza. Uriel nahm ihn auf seinen Schooß, und das göttliche Kind, gleichsam in dem Blicke des Dulders die Leiden ahnend, die späterhin es selbst trafen, unterließ, mit Fragen, die das Kind sogleich bereit hat, die feierliche Stimmung zu stören, in welche Uriels Seele versetzt war. Doch seine Mutter drang heftiger in Uriel, sie umschlang ihn bittend, sie mit seinem Geheimnisse nicht zu foltern. Aber der Geächtete wand sie seufzend von seinem Halse, indem er sagte: Berühre mich nicht, theure Schwester! Ich bin zu schmutzig und befleckt für deine reine Seele. Morgen in der Frühe mußt du den Priester in dein Haus kommen lassen, daß er die Spuren, die ich hier ließ, durch heilige Weihe tilge. Mich traf der Fluch der Synagoge: ich bin geächtet!«
Ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Schwester, die auf einen solchen Schlag nicht gefaßt war. Uriel wollte gehen, aber sie umschlang ihn weinend und schwur, daß sie ihn nicht lassen wolle, ihren Bruder vor aller Welt. Uriel blickte sie fragend an, er dachte an Judith, die ihn verrieth, und sank vernichtet auf seinen Sitz zurück. Die Sprache versagte ihm, denn Wehmuth, Schmerz und Entzücken vermag kein Laut im gleichen Momente wiederzugeben. Seine Schwester erhob sich bald zu einer Höhe, von der sie seine ganze Lage überblickte, sie beschwor ihn, einen Entschluß zu fassen, er solle in ihrem Hause sicher sein, nicht versteckt, sondern öffentlich, sie wolle zu den Brüdern eilen und ihren Rath einholen; aber Uriel wehrte Allem, küßte sie und sprach entzückt: »Geliebte Schwester, deine Treue macht mich so unglücklich wie selig. Aber ich vergesse es, daß mich Judith vergaß; ich schäme mich, deine Liebe mit der Ihrigen zu vergleichen, du stehst wie eine Göttin vor mir! Doch ich bedarf der Einsamkeit, es würde meine Strafe nur vermehren, wenn ich euch unter meinem Rufe leiden sähe. Ich kehre nicht in die Stadt zurück, sondern ergreife noch in dieser Stunde meinen Wanderstab und ziehe in die Fremde hinaus; widersprich diesem Entschlusse nicht, ich litte zuviel, wenn ich bei euch bliebe.«
Die Schwester weinte und Baruch sah Uriel mit großen Augen an und fragte, wer ihm so bittere Leiden verursache? Uriel fühlte das Schneidende des Kontrastes zwischen dieser kindlichen, das Böse nicht ahnenden Unschuld und der fanatischen Karikatur, die ihn verfolgte, er lachte wild auf vor Schmerz und stieß die fürchterlichsten Drohungen gegen die Verächter der Natur und der Wahrheit aus. Er schritt auf dem Getäfel der Terrasse, die Hände gegen die Gestirne streckend, auf und ab und prophezeihte der Lüge und der Barbarei einen jähen Untergang. Als er aber erschöpft auf seinen Sessel niedersank, sagte ihm Baruch mit unerschrockener Miene den Spruch der Bibel: »Wer dir die eine Backe schlägt, dem reiche auch die andere.«
Uriel blickte ihn schweigend an, dann fragte er ihn, wo er diese Worte her habe? Baruch sagte: aus dem neuen Testament, das er griechisch lese. Uriels Auge glänzte vor Begeisterung, er schloß den Neffen in seine Arme und rief in lateinischen Worten: »Veniet alter, qui me major erit!« Die Thränen stürzten ihm aus den Augen, er wankte die Stiege der Terrasse hinunter und war bald in der Finsterniß verschwunden.
Man wird nach dieser Scene nicht begreifen können, wie das über unsern Helden ausgesprochene Verhängniß doch eine gänzliche Zerrüttung seiner Willenskraft in ihm bewirken konnte. Rechnet man noch hinzu, daß der ihn verfolgende Akt von einer sogenannten gedrückten Kirche ausging, daß in den überall verbreiteten christlichen Formen und Gebräuchen ein jüdischer Bann fast spurlos sein mußte, so ist es auffallend, daß sich Uriel völlig der Illusion des Fluches hingab, nirgends festen Fuß faßte, sondern ohne Zweck und Ziel von einem Orte zum andern pilgerte. Allein wie lange konnte es währen, daß Judiths Bild in seiner Seele verschleiert blieb? Schon am nächsten Morgen nach dem Abschiede von seiner Schwester deckte er es in seiner vollen, strahlenden Pracht wieder auf und verlor zu Allem, was er schon verloren, jetzt auch den Muth. Die Ursachen seines Elends vertauschten sich: er litt mehr um Judiths Verlust, als um die Achterklärung, die ihn sonst nicht hätte verwirren können. Dann ließ er eine Ursache seiner Verfolgung in die andere spielen, er verwechselte ihre Aufeinanderfolge, und wie es trüben Gemüthern eigen ist, nahm er das Glück seiner Liebe bald wie eine Herausforderung, die er selbst ja dem Himmel hingeworfen hätte. Das gänzlich Uebermannende aber ist das Gefühl der unabänderlichen Nothwendigkeit. Dies klammerte und hakte sich in alle seine Empfindungen ein, so daß das Schicksal wie eine schwere Last auf ihm lag und er nichts Anderes für sich übrig glaubte, als zu dulden. Auch gibt es eine Art von Aberglauben, der sich nur bei Männern findet, welche über Vorurtheile sonst weit erhaben sind. Die fortwährende Beschäftigung mit der Religion stimmt das Gemüth, selbst das verneinende, aufgeklärte, zu einer unwillkührlichen Milde, die sich bis zu einem leise wurzelnden Aberglauben fortbilden kann. Da Uriel nicht zu den Philosophen gehörte, welche das vorhandene Gebäude von religiösen Satzungen mit einemmale umstoßen und nur das gelten lassen, was sie selbst dafür wieder aufbauen, da er gewohnt war, eine Meinung nach der andern zu prüfen und dabei den stufenweisen Weg des Zweiflers ging, so hielt sich sein Geist gleichsam fortwährend in einer Art religiösen Duftes, der ihn plötzlich übermannen und seiner spekulativen Waffen berauben konnte. Die Religion war stärker als er, da er sie nur in ihrem eigenen Interesse, nicht um sie zu leugnen, sondern um sie festzustellen, bekämpfte.
Wie aber so Vieles in eurem Herzen von äußern Umgebungen abhängt, so wirkten auf Uriel die verschiedenen Gegenden, welche er auf seiner Irrfahrt antraf, auf verschiedene Weise. War er auf einsamer Wanderung, auf sich selber angewiesen, so beherrschte ihn die Stimmung, welche wir eben schilderten; sah er große Städte, das Gewühl der Menschen, wie Alles in der Erzielung des eigenen Vortheils sich vertiefte, dann zog ihn dieser Anblick von seinem Trübsinne bald ab; seine Miene erheiterte sich und er war unschlüssig, ob er nicht wieder an diesem Lärm, an diesem Vertreiben des einen Tags durch den andern Theil nehmen sollte. Die alte Keckheit seines Geistes steckte in ihm wieder ihre Fahne auf, und muthige, männliche Gedanken zogen mit klingendem Spiel durch sein Inneres. Dann konnte er auflachen und mit spottendem Herzen ausrufen: »Alle diese Menschen, wie ich sie hier jagen und treiben sehe, was wissen sie von den geistigen und geistlichen Bändern, die unsichtbar um sie herumgelegt sind? Der Krämer wiegt seine Waare, der Kunde zahlt sein Geld, der Kärrner schiebt seinen Karren, der Landmann den Pflug, ein jeder ist übermäßig mit sich beschäftigt: sie scheinen in diesem Augenblick völlig unabhängig von einander; jede Zumuthung, die der Staat, die Kirche, die Wissenschaft an sie machen, muß ihnen lästig sein; sie haben sie auch ganz vergessen. Diese Menschen werden einmal einsehen, wie gering jene Gewalt ist, die heimlich ihre Fäden über sie ausspannt. Es wird eine Zeit kommen, wo sie mit ihrer Existenz so beschäftigt sind, daß sie sich weder auf die Kirche, noch auf einen Staat besinnen können, der Ansprüche auf sie machen will. Sie werden mit dem Kopf schütteln und die Fragen der Priester und Staatsmänner mit Lachen beantworten.«
Uriel war in der heitersten Stimmung, als er diese Worte vor sich hinsprach. Er lag nach einer schon zweimonatlichen Irrfahrt im Lande auf einer der äußern grasbewachsenen Schanzen, welche die Festung Arnheim umgaben, lang hingestreckt, den Kopf auf den Arm gestützt. Er hatte die freie Aussicht auf unabsehbare Felder, welche den Fleiß des Landmanns beschäftigten, auf die Landstraße, welche mit Karren und Fuhrwerken bedeckt war, auf den Rhein, dessen Strömung er sich zum Führer seiner Reise genommen hatte. Er verlor sich in seinen Gedanken, die diesmal alle wie von der Sonne beschienen waren. Als er wieder aufblickte, fesselten zwei Reiter, welche unten die Landstraße heraufzogen, seine Aufmerksamkeit. An dem einen derselben schien ihm Alles bekannt, Roß, Haltung des Reiters, ja bald schwur er, daß dieser selbst Niemand anders als sein Vetter Ben Jochai sei. Er richtete sich auf und war unschlüssig, ob er den Wall hinuntersteigen solle oder nicht. Er strengte sich an, den Begleiter Jochais zu erkennen, einen jungen Menschen, der ungeübt auf dem Sattel schien und ängstlich auf den Huf seines Pferdes sah. Uriel war auf der Landstraße, ohne es zu wollen; er trat einige Schritte vor, so daß er den Ankommenden in die Augen fiel. Diese hielten inne; Uriel strengte seine Sehkraft an und erschrack, da ihn über Jochais Begleiter eine Vermuthung überfiel. Der junge Mensch kam dem Mißtrauen in diese Vermuthung zuvor, sprang vom Pferde und lag jubelnd an Uriels Halse. Es war Judith.
Lange währte es, ehe alle drei in den rechten Fluß der Mittheilung und des gleichgestimmten Gesprächs kamen. Die Schwierigkeit einer Aussöhnung war aber nicht mehr vorhanden; denn Judith, weinend und jubelnd, kosend und flehend, überschüttete Uriel mit einer Fluth der liebenswürdigsten Worte, die ihm jeden Vorwurf aus dem Munde nahmen. »Mein heißgeliebter Freund,« sprach sie, »verdiene ich wohl, die Hand zu küssen, die mich mit so treuer Liebe umschlungen hielt? O, warum weiß ich keine Strafe, die, ohne es doch selbst zu sein, dem Verluste deiner Liebe gleich käme! Mein ganzes Leben ist nun in deine Hand gegeben; denn so groß ist meine Reue, daß ich mir selber den Tod geben würde, wenn du mich an deiner Liebe das entgelten ließest, was ich an dir verbracht! Du hattest mich für zu schwach gehalten, Uriel, als daß ich eine Mittheilung deiner eigenthümlichen, nun verketzerten Gedanken hätte tragen können. Du mußt dies auch jetzt noch glauben, da ich in dem Augenblicke, als ich sie zugleich mit ihrer Wirkung zum erstenmale kennen lernte, alle Besinnung verlor. Doch du kannst nicht ungerecht gegen ein Weib sein, das in der Liebe Wunder vermag, sonst aber Alles anstaunt und für übermächtig hält. Warum verschlossest du mir deinen Geist? Warum zogst du mich nicht zu dir hinauf, Uriel! Du lebtest am Tage unter deinen Göttern, und wenn der Abend kam, ließest du dich zu mir, einer schwachen, kindischen Sterblichen herab. So zerschnittest du selbst das Band, das in jener fürchterlichen Stunde mich sonst unzertrennlich an dich gefesselt hätte. Wehe mir, ich Thörin! Ich wälze die Schuld auf dich; aber ich thue es nur, um dir das Vergeben leichter zu machen. Denn mein Unrecht ist unvertilgbar, ich komme mir wie eine Elende, Meineidige, wie ein schlechtes Kraut vor, das hinter der Mauer wächst und so nichtig ist, daß es den Tag nicht verdient, den es lebt. O Uriel, liebe mich! Du bist ein wunderbarer Schöpfer, der Alles vermag; wenn ich Adel für meine Seele, irgend einen Stolz, der nicht vergänglich ist, suche, so kann ich ihn nur bei dir finden. Ich bin ganz in Nichts versunken, nur du kannst mich wieder aufrichten!«
Uriel drückte schweigend, aber lächelnd und voller Liebe ihre Hand: das Uebermaaß erdrückte ihn. Judith fuhr fort, indem sie auf Jochai zeigte, der schweigend die beiden Thiere am Zügel führte: »Wie viel Dank bin ich deinem vortrefflichen Freunde schuldig! Da mein Vater sich mit Abscheu von der Erinnerung an dich abwandte, so blieb dieser meine Zuflucht. Das Unerklärliche des Auftritts, der uns trennte, Lieber, verlor sich allmählig vor meiner verzweiflungsvollen Seele, der ganze Zusammenhang dieser Dinge stand jetzt deutlich vor mir, meine Sehnsucht nach dir, die nur mit dem Tode sterben wird, folterte mich, und für Alles fand ich an Jochai Rath und Hülfe. Er ließ mich in die Räthsel deines kühnen Geistes blicken und weckte mein Verlangen, von deinem hohen Fluge mitgetragen zu werden. Ich schämte mich, daß der Aberglaube einen Augenblick über meine Liebe hatte siegen können, und betrieb den Entschluß, der durch dein Wiederfinden mit seinem Erfolge gekrönt ist. Ich floh die Wohnung meines Vaters, um dich aufzusuchen. Wir verfolgten den Weg, den du eingeschlagen haben mußtest, und trafen Spuren, die uns oft irre führten, uns aber doch zu unserem Ziele gebracht haben. Jochai schützte mich, wie ein Bruder es gethan haben würde.«
Jochai wandte sich hierauf an Uriel und sagte: »Theurer Vetter, wenn du in der Entscheidung, wo sich meine Freundschaft hätte bewähren sollen, mich einen Augenblick schwanken sahest, so sei versichert, daß ich nie ein Versäumniß so schmerzlich bereut habe. Ich beschloß, zur Sühne meiner Schuld mich ganz deinem Dienste zu widmen, und wußte, wie Liebes ich dir leistete, als ich Judiths Verlangen nach dir unterstützte und diese abentheuerliche Reise in's Werk setzte. Ich bin jetzt bei der Erfahrung in die Schule gegangen und habe gelernt, daß es mir unerträglich wäre, von dir getrennt oder gar verkannt zu leben.«
Uriel umarmte beide herzlich: seine Augen glänzten vor Freude; selbst die Befangenheit, die sein wilder Aufzug, sein langes, ungeschornes Haupt- und Barthaar ihm zuerst verursacht hatten, wich den überströmenden Gefühlen von Lust, die der ihm wiedergegebene Glaube an sein Theuerstes in ihm weckte.
»Ahnete ich doch,« rief er aus, »daß mir die Sonne des heutigen Tages etwas Gutes bedeutete. Wie eine lange Nebelnacht liegt die jüngste Vergangenheit hinter mir; ich wußte, daß sich jetzt Alles wenden müsse. O was zögert ihr noch, den Sitz in meinem Herzen einzunehmen, der euer Eigenthum ist und den ich seither mit meinen Thränen benetzte! Was wollte ich mich euch nicht gänzlich überliefern, da ihr ja gekommen seid, mich glücklich zu machen! Eilt mit mir in die Herberge, wo wir in ungestörter Umarmung dies Wiedersehen feiern wollen. O sagt mir nur, wo gäbe es etwas, das dem Zuge des Herzens Gewalt anthun könnte!«
Sie hielten sich noch eine Weile umschlungen, die Rosse blickten verständig in die Gruppe hinein, der Wanderer stand still und betete, denn er hoffte, Alles müsse noch schöner werden unter der Sonne, wenn sich Männer untereinander so lieben könnten. Dann eilten sie der Stadt zu und fanden in der Herberge Muße und Heimlichkeit genug, ihre Herzen immer klarer und strömender zu machen.
Doch es fehlte auch hier der Begeisterung nicht an einer Hinterthüre. Judith selbst, die Schwärmende, Glückliche, war es, welche sie zu öffnen versuchte. Denn wie wenig es mit ihrem Entschlusse, sich um Uriel wie sein Gürtel zu schlingen und ihn nicht zu verlassen, wo er auch hinginge, übereinstimmte, daß sie einige Worte von Rückkehr und Widerruf fallen ließ, so wäre es zu gewagt gewesen, hätte Ben Jochais Mund diese zuerst aussprechen sollen. Uriel blickte sie verwundert an, aber diese Verwunderung war eher des Sinnenden, als des Entrüsteten; er schwieg und widersprach nicht, als Judith ihm die Rückkehr in die alten Verhältnisse, und namentlich den Gewinn ihres Vaters in den schönsten Farben schilderte. Als Jochai sah, daß seines Vetters Willen ganz unbewaffnet war, trat er wie auf ein verabredetes Zeichen hervor und sagte: »Wozu fruchtet es, lieber Freund, wenn du dich selbst um den Genuß des schönsten Lebens bringst? Du hast mir oft gestanden, welchen großen Reiz die Stadt, welche du jetzt meidest, für dich hat, und damals wußtest du doch nicht, daß sie bestimmt war, einst dein Theuerstes einzuschließen. Ich sage nicht, daß dich Judith verlassen könnte; aber ich denke mir, die Liebe sehnt sich gern nach den Orten zurück, welche die Zeugen der ersten Schwüre waren. Die Liebe ist immer etwas prahlerisch mit ihrem Glücke, und wo könntet ihr vor einer größern Schaar von Neidern und Bewunderern eure Schätze ausbreiten, als in Amsterdam?«
Uriel leistete keinen Widerstand, nur seine Beistimmung fehlte noch, welche Jochai ferner einzutreiben versuchte. »Du scheust dich vielleicht,« sagte er, »nach Hause zurückzukehren, weil du im Banne bist? Allein deine Klugheit müßte auch hier siegen, wenn dein Starrsinn zögerte. Dein Gegner de Silva hat die Erklärung abgegeben, daß deine Sätze nicht darauf hinzielten, das Christenthum zu empfehlen, sondern daß du vielmehr der ausgestorbenen Sekte der Sadducäer zugethan seist. Da aber die Sadducäer niemals von der Gemeinde ausgeschlossen waren und volle Freiheit hatten, im Tempel zu lehren, so hat sich der Groll der Synagoge um Vieles gemildert. Würde sie auch den Bann nicht aus freien Stücken zurücknehmen, so könnte sie damit nicht zaudern, wenn du selbst einen Schritt ihr entgegenkämest und ein öffentliches Geständniß ablegtest, daß es dir in deinen Forschungen nur um die Wahrheit der jüdischen Lehre zu thun sei und du auf nichts bestehen wollest, was derselben in gerader Richtung zuwiderlaufe. Was ist an dieser Erklärung Großes verloren?«
Uriel wagte zwar nicht darauf zu antworten: »die Ehre;« aber er fühlte es, daß Jochais Zureden die Umschreibung einer Handlung war, die ihn späterhin reuen konnte.
»Wie Ihr nur Eure Worte so fein setzt!« sagte er; »öffentlich widerrufen soll ich und an meiner eigenen Ueberzeugung zum Meineidigen werden? Ich müßte die Miene eines Bußfertigen annehmen und dürfte mich daheim nicht mehr getrauen, die Augen auf der Straße aufzuschlagen. Ihr gebt mir nicht den besten Rath.«
Jochai war aber ein feiner Menschenkenner; er wußte, daß Uriel Lust hatte, ihm entgegen zu kommen, daß er ihn nur wieder zurücktreiben würde, wenn er mit noch weitern Worten die unleugbare Thatsache des Widerrufs umhüllen wollte. So war Uriel gezwungen sich selber zu bekämpfen und sagte, indem Judith mit allen Nerven horchte: »Ich trage keinen Groll gegen die Priesterschaft, und könnte mich aus Großmuth entschließen, ihrer Schwäche auszuhelfen. Auch sind mir meine Verwandten werth, und vor Allem bestimmst du mich, theure Judith, die ich nicht hinausnehmen könnte in das wilde Treiben der Welt, in alle ihre Mühseligkeiten und Gefahren. Es ist wahr, dein Vater lebt jetzt in Bekümmerniß um dich; doch sage mir, Jochai, bist du der Bereitwilligkeit der Synagoge gewiß? Und welche Art des Widerrufs verlangt sie?«
Jochai vermied hierauf zu antworten und schien nicht glauben machen zu wollen, als stünde er mit der Synagoge auf vertrautem Fuße. Doch so groß war Uriels Sehnsucht, Alles zum Guten beizulegen und mit Judiths neuerworbener Liebe heimzukehren, daß es ihn sogar nicht bekümmerte, wie Jochai auf seine Fragen nur allgemeine, das Beste hoffende Antwort gab. Zu Beider Freude schlug er ein und sagte, er wolle Alles thun, um ihre Liebe zu belohnen.
Entziehen wir dem unglücklichen Manne darum unsere Theilnahme nicht, weil wir ihn hier eine seiner vielen Prüfungen schlecht bestehen sehen. Wir, die wir gewohnt sind, in einer gleichsam angebornen, fortwährenden Märtyrerschaft unserer Ueberzeugung zu leben, werden leicht zur Hand sein, über einen Mann den Stab zu brechen, welcher gegen die Satzungen einer fanatischen, intoleranten Religion aufzutreten den Muth hatte und später im Stande sein kann, zu der Hand, die ihn züchtigte, wieder heranzukriechen. Allein in Uriels Seele war Verwirrung eingezogen. Er liebte das Judenthum, ja er mußte für dasselbe Alles hingeben, wenn er sich nicht um seine erste Jugend, seine ersten Plane schon betrogen sehen wollte. Er hatte das Christenthum abgeschworen: was konnte ihn mehr bestimmen, der Jehovalehre treu zu bleiben! Hätte er sich auch von dieser wieder entfernen können, wie leer und nichtig mußte ihm dann sein Inneres, wie Alles an ihm in Inkonsequenz und Scham verwandelt werden! Weil er keinen neuen, dritten, unabhängigen Zustand wußte, in dem er leben konnte, flüchtete er sich unter den Schutz des Judenthums wieder zurück, indem er seine eigene Meinung den bestehenden Verhältnissen aufopferte.
Die Tage der Rückreise verschwanden unter der Abwechslung anmuthiger Gegenden und des heitersten Gesprächs. Uriel besaß zu viel angebornen Stolz, als daß er demüthigen Hauptes seinen Richtern, denen er sich freiwillig unterwarf, hätte entgegen gehen sollen. Judith befand sich in der glücklichsten Laune; denn sie hatte für ihre Anstrengung Großes bewirkt, und zwar in so kurzer Zeit, daß sie dabei nicht hatte ermüden können. Jochai unterzog sich freiwillig jedem Geschäft, das seinen Gefährten eine Mühe ersparte, und schien ganz in ihre Wünsche und in ihr Glück aufzugehen. In kurzer Zeit war Amsterdam erreicht. Judith hatte ihre männliche Kleidung noch nicht abgelegt und ließ sich nicht zurückhalten, Uriel auf dem ersten Gange, den er machte, ohne sich vorher jemand anders zu zeigen, zu begleiten. Sie ritten gerades Weges auf die Wohnung des Oberrabbinen zu, der vorläufig durch Jochai von Uriels Ankunft benachrichtigt wurde. Uriel ließ ihn von seinem Entschlusse, sich mit der Kirche vertragen zu wollen, in Kenntniß setzen, und erlangte bald die Erlaubniß, vor den Priester zu kommen. Er traf ihn allein, einen strengen Greis, von geringerem Fanatismus, als seine Beisitzer, aber von unerschütterlicher Festigkeit. Uriel war seines Anblicks gewohnt und ertrug ihn, ohne von ihm beherrscht zu werden. Er setzte freimüthig seine Ueberlegung auseinander, versicherte seine treueste Anhänglichkeit an den Dienst Jehovas und verlangte, sogleich von seinem Banne freigesprochen zu werden. Der Oberpriester gab die Berufung auf einen geistlichen Rath zu, und Uriel wurde bis zu dessen Beschlußnahme in einer Zelle gehalten, welche in dem obern Stockwerke der priesterlichen Wohnung lag und ziemlich einem Gefängnisse gleichkam.
Der versammelte Rath, darauf fußend, daß sich der Geächtete aus freien Stücken in ihre Gewalt begeben hatte, beschloß, von der rauhen Seite seiner Gnade so viel herauszukehren, als er nur konnte. Als Uriel vor ihn gerufen wurde, erhielt er den Bescheid, daß der Bann von ihm genommen würde, falls er einen förmlichen Widerruf seiner Irrthümer in diesem Augenblicke ablegte und an die Wahrheiten zu halten schwören wolle, welche sie ihm in der Reihefolge vorlesen würden. Dann sollte in der Abendsynagoge seine Buße und der Bann als zurückgenommen angezeigt werden. Einen Augenblick war Uriel schwierig; doch da ihn die Ungeduld peinigte, zu seinen Begleitern zurückzukehren und recht bald die Früchte dieser ärgerlichen Ceremonie bei seinen Freunden und Verwandten zu genießen, so betrieb er die ganze Prozedur mit einer Eilfertigkeit, welche die Richter eher in Verlegenheit setzte. Der Vorsitzer hielt inne und drohte, die Verhandlung niederzuschlagen, wenn der Verbrecher mit so gleichgültigem und unreumüthigem Eifer in dieser Angelegenheit verführe. Doch Uriels Versicherungen, daß es ihm um Alles der heiligste Ernst sei, und er nur den Augenblick beschleunigen wolle, der ihn in die alte Gemeinschaft des Glaubens und der Hoffnung wieder zurückführe, vermochten die Priester, ihm zu willfahren und endlich durch eine feierliche Erklärung die Acht von ihm zu nehmen. Uriel, seiner Freisprechung gewiß, schnitt die Ermahnungen, welche daran für die Zukunft geknüpft werden sollten, kurz ab und verließ die Versammlung, welche über die Reue Uriels ihre Erwartung gänzlich getäuscht fand.
Aber auch über Uriel war eine andere Stimmung gekommen, als er beim Eintritt in dieses Haus vermuthete. Er sah, daß ihn die Unterwerfung und Demuth der verflossenen Tage verlassen hatte; denn der Anblick jener Männer, deren Autorität nur eine Verabredung war und auf nichts fußen konnte, als den wenigen Gesetzesbuchstaben, die in Bücher gebunden vor ihnen lagen, gab ihm seine ganze Unabhängigkeit wieder zurück, und nur die Rücksicht auf seinen einmal gefaßten Entschluß und auf das, was Alles ja noch geschehen könne, bestimmten ihn, das einmal Betriebene zu Ende zu führen. Seine Begleiter, die ihn mit Spannung in den Vorzimmern des Hohenpriesters erwartet hatten, staunten, ihn in so viel Kälte umgewandelt zu sehen; doch beruhigte er sie und eilte, Judith zu ihrem Vater zurückzubringen. Jochai, obgleich die hülfreiche Hand zu Judiths Entweichung, mußte auch hier der Vermittler sein. Vanderstraten hatte an der Thatsache, daß seine Tochter wieder bei ihm war, genug; seine schlaflosen Nächte verzieh er ihr gern, da sie ihm versprach, sie ihm in Zukunft dafür desto schöner zu machen, indem sie ihm vorlesen wolle des Abends, oder zur Zither spielen, oder seine Träume deuten. Auch war ihm Uriel ganz willkommen, den er seiner Güter, seiner Männlichkeit und seiner Geistesgaben wegen liebte, und den er zu hassen nicht verpflichtet war, seitdem die Aufhebung des Bannes allen Makel von ihm genommen hatte. Uriel brach aber bald auf; nachdem er Judith umarmt und ihr für den Sieg, den sie auf's Neue über ihn errungen, gedankt hatte, eilte er zu den Seinen, die die Kunde seiner Rückkehr und Begnadigung vernommen hatten und sehnlichst auf ihn harrten. Hier feierte er die süßesten Triumphe der Ueberraschung und der zärtlichsten Theilnahme. Er genoß dies Alles mit solcher Hingebung, als habe er, wie seine Jugend, so auch seine Ruhe für ewige Zeiten wiedergefunden.
Der natürliche Zug aller dieser Begegnisse ging freilich darauf hinaus, die kaum eingetretene Befriedigung aller Parteien bald wieder zu zerstören. Doch Uriel, der sich hierüber in keiner Täuschung befand, versuchte es, ob es nicht möglich sei, eine alte Erfahrung auch einmal Lügen zu strafen. Er nannte diesen unveränderlichen Zug die Altklugheit des Lebens, und behauptete, daß man die Zukunft schon beherrschen könne, wenn man nur eine wahrscheinliche Rechnung besitze, wie sie ohne unser Zuthun ausfallen würde. Deßhalb bereitete er sich denn auf Alles vor, was ihn in der nächsten Zeit treffen mußte. Er sah voraus, daß ihn Neugier und unaufgeforderte Theilnahme bei jedem Schritt belästigen würden, daß sich seine Freunde beeifern müßten, seinen Entschluß zu loben und ihm ihre Dienste anzubieten, daß sich jetzt jedermann berechtigt glauben würde, über religiöse Irrthümer in seiner Gegenwart mit einer schon ausgemachten Sicherheit abzusprechen; kurz, das ganze Elend, was eintritt, wenn große Geister sich einmal herablassen, im Sinne der kleinen zu handeln, berechnete er mit weiser Einsicht, und vermochte es über sich, das Unvermeidliche zu ertragen. Sein altes Rechtsstudium suchte er wieder hervor und machte es zu seinem Leidensgenossen. Dies reichte auch da noch hin, seinen Geist zu beschäftigen, als endlich die Lobsprüche und die Rathschläge seiner Leute verstummt waren. Eine kleine Frage, die er zu lösen wünschte, ließ ihn die Uebergänge der Tage vergessen. Die Zeit, diese grausamste Feindin eines Unglücklichen, quälte ihn nicht, wenn er sie in kleine Stücke zerlegte und auf jedes einzeln eine leichte Last, die vergessen macht, bürdete. Doch dessen war er nicht fähig, sich auf einen höhern Standpunkt, von dem er sonst seine wissenschaftlichen Bestrebungen ansah, aufzuschwingen. Jede großartige Betrachtung, die ihn von der kleinen Einzelheit ablöste, hätte ihn zu Fragen hingerissen, welche er sich noch ängstlich bestrebte, aus dem Bereiche seiner Gedanken entfernt zu halten.
Es war natürlich, daß Uriel unter solchen Umständen eine andere Stimmung seines Charakters zulassen mußte. Die frühere Heiterkeit, welche ihn selbst da nicht ganz verließ, als er die eingetretene Katastrophe sich allmählig vorbereiten sah, war gänzlich aus seinem Gemüthe verschwunden. Er lag gegen sich selbst in Feindschaft und verfolgte sich mit einem Grolle, als hätte sein Wesen sich in zwei Hälften getheilt. Es war ein fortwährender Kampf in seinem Innern. Bald ertappte er sich auf einer Gedankenreihe, die er von sich zu verbannen förmlich beschlossen hatte, bald verwarf er dies ganze abgemessene Benehmen und nannte sich einen Thoren, der Unaufhaltsames dämmen wolle. Seine Augen zogen sich in ihre Höhlen zurück, Furchen legten sich in die Ebene seiner Stirn, der geläufige Strom der Rede stockte und die Theilnahme an fremdem Interesse erkältete. Niemand konnte bei dieser Veränderung mehr leiden, als Judith. Die Umwandlung, welche sie selbst in sich erfahren hatte, vergrößerte ihren Kummer noch. Denn wenn sie mit ihrer alten Laune, mit ihrer ewig gleichen Heiterkeit, die früher nicht verstimmt werden konnte, weil sie von außenher Alles mit gleichen Eindrücken berührte, die einsinkenden Trümmer des stolzen Gebäudes, das Uriels Seele vorstellte, nicht bemerkt hatte, so war sie jetzt selbst empfänglich geworden für die Verwirrung des Lebens. Sie errieth Alles leichter und lernte einsehen, wie großen Antheil der Schmerz am Regimente der Welt hat. Der naive Ton, mit welchem sie des Geliebten Zärtlichkeit erwiederte, war verschwunden. Sie lächelte schmerzhaft und ungläubig, wenn Uriel das zwischen ihnen eingerissene Schweigen brach und sie an die Unschuld früherer Zeit erinnerte. Aber wie selten that dies Uriel noch dazu! Er war nicht mehr im unmittelbaren Genuß der Liebe, er war nicht mehr gegenwärtig bei seinen Schwüren, ja nicht einmal bei seinen Küssen. Das Dämonische seiner Natur kehrte sich immer mehr heraus. Er empfand nicht, ohne nicht auch zugleich seine Empfindung zum Gegenstande seiner Reflexion zu machen. Dies sind jene Männer, welche das Weib so beglücken und doch so unglücklich machen können, die mitten in den Himmel der Liebe mit einer kalten, unerwarteten, prosaischen Bemerkung hineinfallen, die öfter geneigt sind, geliebt zu werden, als zu lieben, und die nach langem, launigem Aprilwetter, nachdem sie ihre Freundin grausam gemartert, wie Sonnenschein aufblitzen und eine Stunde lang die göttlichsten Menschen sind. So war Uriel jetzt der Mephistopheles seiner Leidenschaft geworden. Dieselben Plätze in Vanderstratens Gärten, welche einst das Flüstern, Kosen und Lachen der Liebenden belauscht hatten, sahen jetzt, wie Uriel Figuren in den Sand zeichnete und Judith sie mit ihren Thränen netzte.
Doch bald bemerkte Uriel, daß er nicht dazu geschaffen war, seine Leiden wie eine Rolle durchzuspielen. Er wußte, daß es hohe Zeit war, einen Entschluß zu fassen, wenn er sich vor der Verzweiflung, vor einem lautlosen Untergang am gebrochenen Herzen retten wollte. Er faßte die einzelnen Fäden seines Schicksals wieder zusammen, um seine eigene Parze zu werden. Dazu bestimmte ihn nichts mehr, als daß Judith eines Tags, da sie an seinem Halse hing, wie aus einem Traume erwachend zu ihm sprach: O Lieber, ist denn alle deine Kraft so aufgerieben, daß du mich leiden sehen kannst, ohne mir zu helfen? Ich unterliege dem Kummer, der an meiner Seele nagt, daß ich die Ursache deines neuen Unglücks bin. Seit jenem Augenblicke, da du aus dem Rathe der Priester tratest und den Widerruf geleistet hattest, ist meine Ruhe von mir gewichen. Denn welch ein Opfer hast du mir gebracht! Was hat es dich kosten müssen, deine Ueberzeugung abzuschwören! Ich vergehe in dem Gedanken, daß die Rücksicht auf meine Bitten dich bewogen hat, hieher zurückzukehren. Kannst du glauben, daß meine Liebe ermattet wäre, wenn ich in dir den Ketzer, den Ausgestoßenen, den Heimathlosen hätte umarmen müssen? Was vermag ich in deine Geheimnisse zu dringen! Selbst wenn du mit bösen Kräften einen Bund geschlossen hättest, sollte der unsrige nicht gestört werden. Nun glaubst du aber dies Alles nicht; denn ich ließ die Gelegenheit, dir meine Treue zu zeigen, vorübergehen. Nicht deine Versicherung, nicht dein mitleidiger Zuspruch kann mich zufrieden stellen, sondern nur eine Prüfung, die du mich bestehen ließest. Wäre unsere Lage unglücklicher, vielleicht würden wir dann beide glücklicher sein!«
Uriel verstand diese Klage deutlich; denn übertrug er das, was Judith von ihrer Liebe sagte, auf die Verpflichtung, die er gegen die Wahrheit zu haben glaubte, so war es dieselbe Pein, in der er sich befand. Ja auch dieses Mittel der Heilung, das sie zu wollen schien, war dasselbe, das er noch Anstand nahm, zu wählen: dies durfte nicht einmal übertragen werden. Von dieser Stunde an, in welcher die Liebenden ihren Bund auf's Neue besiegelten, erklärte Uriel, daß er jede Enthaltsamkeit, jeden Zwang jetzt aufgebe. Er habe nicht die Absicht, im offenen Kampfe gegen seine Gegner aufzutreten, aber täuschen wolle er ferner weder sich noch sie. Wo ihn die Wahrheit herausfordere, wolle er sie bekennen. Judith pries sich glücklich, bald eine Gelegenheit zu finden, wo sie zeigen konnte, was sie vermochte.
Daß sich Uriels Benehmen änderte, sah man bald; denn er war von Spähern umgeben und machte keinen Hehl daraus, daß ihn alles Vorangegangene reute. Zum dritten Male Apostat, warf er die Gelehrsamkeit des Rechts und Unrechts bei Seite, suchte die alten Weisen wieder hervor, welche über den Zusammenhang menschlicher und göttlicher Dinge in alten und neuen Zungen geschrieben haben, suchte den Umgang freidenkender Männer unter Juden und Christen auf, und begann, auch die Resultate seiner Forschungen wieder niederzuschreiben. Die Furcht und Verzweiflung, welche sonst bei ihm diese Beschäftigung begleitet hatte, war gänzlich geschwunden: er war zu einem Berufe zurückgekehrt, den er ungern aufgegeben und jetzt durch die Anfechtungen desselben just recht lieb gewonnen hatte. Jede Entdeckung, die er machte, sonst die Ursache zu nachfolgenden trüben Stimmungen, erfüllte ihn jetzt mit der Freude, die den glücklichen Fund belohnt. Wie hätte dies Alles können verborgen bleiben! Mancherlei Gerüchte liefen über Uriels neue Sinnesänderung um: er sollte hie und da eine Ceremonie des jüdischen Kultus lächerlich gemacht, eine oder die andere seiner Hauptwahrheiten in Zweifel gezogen haben, und wurde, zur rechten Bestätigung alles dessen, auch nie mehr im Tempel gesehen. Derselbe Oberrabbiner der Synagoge, welcher dem Freisprechungsrathe vorsaß, hatte sogar selbst Gelegenheit, sich von der neuen Veränderung des unverbesserlichen Portugiesen zu überzeugen. Er war im Hause Uriels mit einer geistlichen Handlung, welche die orthodoxe Esther verlangt hatte, beschäftigt. Als Uriel nach deren Vollzug hinzutrat, fand er den Rabbiner dabei, wie er seinem jüngsten Bruder und mehreren andern im Zimmer versammelten Knaben eine Vorschrift der Talmudischen Sittenlehre auseinander setzte. Einer der Knaben nämlich hatte, um zu beweisen, wie früh der Verketzerungstrieb und der Bigottismus sich im Menschen offenbart, dem Priester hinterbracht, daß ein Kamerad von ihm sich nicht scheue, Dinge, die das Gesetz dem Israeliten verbietet, häufig zu nennen, und daß er an der Erwähnung derselben recht ein Vergnügen fände. Der Priester lobte unvorhergesehener Weise den Angeklagten und nannte sein Beginnen löblich. »Denn,« sagte er gerade, als Uriel hereintrat, »es ist vor Gott eine größere Tugend, sich eine Verführung recht oft vorzunehmen und ihr zu widerstehen, als sie gänzlich von sich entfernt zu halten.«
Als die Knaben nun das Zimmer verlassen hatten, schlug Uriel, vertraulich und zum Scherze aufgelegt, dem Rabbi auf die Schulter und sagte: »Nun will ich Euch zeigen, ehrwürdiger Meister, daß ich heute weder ein Christ noch ein Jude bin. Die Christen haben dasselbe Moralgesetz, das Ihr aus dem Talmud erwähntet; sie lehren auch, daß es besser sei, mit der Unzucht sich zu Bett zu legen und rein wieder aufzustehen, als von vornherein der Verführung aus dem Wege zu gehen. Aber welch ein abscheulicher, heuchlerischer Glaube ist dies! Ist der Adel der Seele da nicht größer, wo man die Sünde meidet, als da, wo man sie nur besiegt? Die Sünde herausfordern kann nur der, welcher aus der Tugend ein Geschäft macht, und die Tugend soll doch im Gegentheil ein angeborner Trieb, ein aus dem Innern hervorströmender freier Erguß der Liebe sein. Wer sich aus freien Stücken mit der Sünde in einen Kampf einläßt, um seine Stärke zu zeigen, hat die Unschuld des Gemüthes schon verloren; und was kann größere Tugend sein, als ein reines Herz haben?« Der Rabbi blickte zu Uriel hinauf mit einem durchbohrenden Blicke und verließ das Zimmer, eine Drohung in seinen grauen Bart murmelnd.
Judith bot alle ihre Kraft auf, jetzt mit dem Geliebten in gleichem Schritte zu bleiben. Die Warnungen, die man ihr zuflüsterte, überhörte sie; sie unterließ es sogar, offenbare Verläumdungen, die man gegen Uriel verbreitete, zu mildern; denn sie glaubte, jetzt Alles an ihm entschuldigen zu können. Sie fühlte sich muthiger, erhabener als Alle, seitdem sie die Vertraute eines starken Geistes geworden war. Doch wie oft überraschte sie sich wieder auf einer Schwäche! Es gab Augenblicke, wo sie ganz in ihre natürlichen Anlagen zurückfiel und von dem Außerordentlichen ihrer Lage schwer gedrückt wurde. In zu kurzer Zeit hatten ihre Entschlüsse reifen sollen, zu schnell war ihr Inneres herausgekehrt worden an die rauheste Seite des Lebens. Ein weibliches Herz vermag vielleicht größern Schmerz zu ertragen, als das männliche, doch muß es allmählig an Leiden gewöhnt werden. Bei Judith kam Alles ohne Vorbereitung; sie sollte lieben, hassen, bleiben, fliehen, fast in demselben Momente; die Rathschläge, die sie empfing, durchkreuzten sich, ja sie erschrack oft, daß ihr, wo sie einen Bewegungsgrund zum Handeln suchte, ihre Liebe nicht immer zuerst einfiel. Aber noch waren alle diese Dinge nur Keime der Zukunft, deren tragischem Ausschlage wir entgegen gehen. Noch saß sie neben Uriel und horchte aufmerksam den Mittheilungen zu, die er seither mit seinen Zärtlichkeiten abwechseln ließ. Sie hatten sich beide, durch die Erfahrung dazu genöthigt, das Wort gegeben, ihre Liebe nicht einzig für Genuß zu halten, sondern sich Alles zukommen zu lassen, was das wechselseitige Ineinanderaufgehen erleichterte, selbst wenn es Belehrung über ernste Fragen wären. Uriel fand darin nichts Verkehrtes; denn er sagte zu sich selbst: »Ist die Liebe da, um den Menschen zu beglücken, so ist sie auch da, um ihn zu veredeln. Man sollte nur den lieben, von dem man zugibt, daß er über uns steht. Denn seine Umarmung hebt uns zu sich hinauf, so daß unsere Herzen weiter, unsere Augen heller und unsere Gedanken kühner werden.«
Deshalb machte er Judith zur Vertrauten seiner Studien, er bemühte sich, sie selber von ihren Vorurtheilen zu befreien, um auf diese Weise auch für seine Handlungen ihre Meinung immer für sich zu haben. Aber der Fluch dieser Erziehung in der Liebe, die schon so manchen Jüngling betrog, drohte auch hier einzuschlagen. Jedes Weib hat vielleicht Lust ihre Sphäre zu überschreiten, aber sie fürchtet dann isolirt zu werden. Den Trotz, der den Mann, einer Welt gegenüber, nicht verläßt, kennt sie nicht, sie empfängt ihn nur durch ein Beispiel, das seine Wirkung verliert, wenn es aus den Augen ist. Dem Manne, der Gedanken schafft, dienen die Stufen, auf denen er zu ihnen emporstieg; doch welches Weib hätte sich durch Mittelglieder emporgeschwungen, wenn sie einer außerordentlichen Bildung theilhaftig wurde? Es waren immer nur vollendete, schon fertige, vom Schmutz des Aufbauens gereinigte Gedanken, die sie in sich aufnahm, die sie aber auch nicht zu vertheidigen versteht. Hier brach sich Judiths Fähigkeit, hier blieb sie hinter Uriel zurück, und je weiter er sich von ihr entfernte, je mehr er ihr von solchen schroffen, für sie unbeweisbaren und unbewiesenen Ideen zuwarf, desto unglücklicher wurde sie. Sie war in dem Zustande, daß sie gleichsam fortwährend die Hände nach ihm ausstreckte, und ihn anflehte, mit ihr Erbarmen zu haben. In dieser Art liebte sie ihn.
Uriel sah von dem Allem nichts. Ungestört auf seinem Zimmer entdecken, Judith sich mittheilen zu können, war Alles, was an ihm befriedigt sein wollte. Mehr bedurfte er nicht; denn der Zukunft sah er jetzt unerschrocken entgegen, er war auf den äußersten Fall gerüstet, und der äußerste Fall konnte kein anderer sein, als den er schon erlebt hatte. Sein Ruf unter den Gelehrten nahm immer mehr zu; er hatte es sogar gewagt, eine eigene Schrift zu veröffentlichen, in der er den Angriffen des de Silva die Spitze bot und alle die Sätze, welche ihm jener verdammend schon vorne weggenommen hatte, auf's Neue als seine Ueberzeugung proklamirte. Uriel hatte täglich einen neuen Gewaltstreich der Synagoge zu erwarten; doch zögerte diese noch, weil sie Unerhörteres von ihm hoffte, um ihn dann gänzlich in Händen zu haben.