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Helene d'Azimont bewohnte in einem sogenannten Hotel garni das erste Stockwerk.
An Beschränkung nie gewöhnt, bedurfte sie nicht nur aus angeborenen Rücksichten ihres Standes, sondern zur Ausdehnung ihrer ganzen überströmenden Natur großer Räumlichkeiten. Diener und Wagen hatte sie mitgebracht, aber diesen »Train« jetzt noch weit über den Bedarf vermehrt. Jede Woche mußten Gärtner die Zimmer mit neuen Blumen schmücken. Ihr Empfangsalon war ein kleiner Dahlien-Flor. Was sie bei Wanderungen durch die Magazine, selbst bei einer flüchtigen Vorüberfahrt an den glänzenden Schaufenstern der Hauptstraßen nur an Vasen, Porzellan, Kunstwerken, Bronzesachen Gefälliges entdeckte, mußte, wenn sie sich davon einen Effect versprach, sogleich, ganz nach Goethe's Theorie vom Besitze des Schönen, angekauft und in ihren Zimmern aufgestellt werden. Wie sie denn in Allem das Weib des unmittelbaren Instinctes schien, die lebendiggewordene Unruhe und Beweglichkeit des nur durch die Liebe aufrechtgehaltenen Frauensinnes, so mußte sie, was ihr gefiel, besitzen, was sie dachte, aussprechen, was ihr in den Sinn kam, vollenden. Eine Entsagung ohne sofortigen Ersatz würde ihr die größte Qual gewesen sein.
In den sechs Wochen, daß Egon krank war, von Andern gehütet, ihrer Sorge vorenthalten wurde, litt sie unsäglich. Sie hatte das nimmerrastende Bedürfniß der Aufopferung. Sie wäre im Stande gewesen, wie eine in Lohn verdingte Krankenwärterin Egon zu pflegen. Der Mann, der sie erfüllte, war ihr die ganze Welt. Wie konnte sie leben, ohne seinen Athem zu hören, ohne sich in seinen Augen zu spiegeln, selbst wenn diese vom Fieberwahn umschleiert wären und sie nicht erkannt hätten! Von dem Abend an, wo sie bei ihrer Ankunft in später Nacht vor Egon's Fenstern hielt und zu ihnen wie eine Verstoßene sehnsüchtig hinaufblickte und bitter weinte, ruhte sie nicht, sich dem Freunde bemerklich zu machen. Erst als sie erfuhr, daß er ganz krank, dann völlig bewußtlos war, unterließ sie diese nächtlichen Aufblicke zu seinen Fenstern. Aber Blumen schickte sie, Erkundigungen zog sie ein, setzte sich mit der dienenden Umgebung, mit den Ärzten in Verbindung. Sie litt peinliche Tage, in denen sie nur von Paulinen, die durch Amanden's Memoiren wieder Kraft und Fassung errungen hatte, aufrecht erhalten, getröstet wurde. Wie viel Thränen weinte sie an der Brust dieser Freundin, die sich für mitfühlend erklärte, aber ihren Schmerz nur studirte, wie der Künstler an der Armuth vorübergeht, ihr Almosen spendet, aber seiner Phantasie auch die Geberden des Hungers einprägt. Pauline gab sich ganz auf die »großen Gefühle« ihrer jungen Freundin gestimmt; aber Helene mit ihrem überflutenden, liebesiechen Herzen, war ihr doch nur eine Studie jener Autorschaft, an die sie zuweilen zurückdachte, seit sie durch Guido Stromer, den vacirenden Pfarrer von Hohenberg, den entpuppten Schmetterling der schönen Phrase und des irren, von Allem geblendeten Idealismus, wieder in literarische Beziehungen kam! Helene, im Jammer um Egon, erkannte Niemanden mehr, der bei Paulinen verkehrte. Ein Blick des Schmerzes und sie wandte sich jeder Begegnung ab. Nur Melanie blieb ihr von dem ersten Abend her in Erinnerung als ein »schönes Mädchen«. Als »schöner Mann« hätte sie Heinrichson fesseln dürfen; allein sie erbat sich nur die Unterstützung seiner kunstgewandten Hand, um Erinnerungsblätter an ihre Egon-Liebe, die sie zeichnete, an ihren egoistischen Egonismus, wie der witzhaschende Heinrichson dies Verhältniß nannte, zu einer größern Vollendung zu bringen.
Kümmerte sich Helene während dieser Trauerwochen um Niemanden, als wer sie aufsuchte, verschloß sie sich jeder Beziehung zu ihrer Schwester Adele Wäsämskoi, die sie ihres kleinen und engen Herzens wegen verachtete, zu Rudhard, der ihr ein lästiger, gefühlstrockener Pedant war, so mußte es auffallen, daß sie Sylvester Rafflard nicht gleich das erste mal, daß er sich bei ihr melden ließ, abwies.
Helene glaubte sonst keinen größern Feind zu haben! Von Osteggen, dem Gute ihrer Ältern, war dieser Rafflard plötzlich entlassen worden; in Genf hatte er Ursache, Egon zu hassen, den er später zu Paris in ihren Armen wiedersah. Die alte Gräfin d'Azimont, Helenen's Schwiegermutter, mit ihrem Ehrgeize und ihrer weltverachtenden Bigoterie, hatte die Wahl ihres Sohnes schon damals gemisbilligt, als Graf Desiré am Schwarzen Meere in Helenen eine Protestantin wählte. Welche Clauseln wurden nicht alle in dem mit Paris über Berlin und Petersburg verhandelten Ehecontracte erfunden, um den Folgen dieses Misverhältnisses vorzubeugen! Anfangs nahm die strenge Bewohnerin des Faubourg St.-Germain ihre Tochter mit gnädiger Herablassung auf, bald aber zeigte sich, daß die alte jesuitische Klassizität der Mutter mit der romantischen Ketzerei der Tochter sich nicht vereinigen ließ. Welche Cirkel suchte Helene auf! Welche Menschen fand sie interessant! Wie verworren sah es in ihrem Salon aus! Der »Horreur«, den die Mutter durchweg vor der Tochter empfand, steigerte sich, als Helene die Rücksichten auf ihren kränkelnden, blasirten, überbequemen Gatten völlig aus den Augen ließ und sich mit ihm sogar auf eine Art Freundschaft, auf den Fuß einer gegenseitigen Schonung und Duldung setzte! Der Graf wurde der Vertraute seiner Gattin. Er mußte sorgen, helfen, vermitteln, wenn ihr Herz litt. Und er gab sich dazu mit der ganzen modernen Philosophie, die Sitte und Gesetz auf den Kopf stellt und das Herz zum Gott, dessen Eingebungen zur Offenbarung macht, bereitwilligst her, zum großen Unmuth der Mutter, die diese neuromantische Ehe mit keinen Kindern gesegnet sah. Durch Zufall war der Neophyt Sylvester Rafflard der alten Gräfin nähergekommen und der Vertraute ihrer Wünsche geworden. Die alte Dame hatte immer einen solchen zuverlässigen Hausfreund nöthig gehabt und hielt sehr treu zu ihm, falls er sich bewährte. Seit einer Reihe von dreißig Jahren waren es Jesuiten gewesen, Priester oder Affiliirte, die ihr nahe standen. Der letzte ihrer Vertrauten, Abbé St.-Dor, ein Priester aus dem Convicte der Gesellschaft Jesu in der Rue Jean Jaques Rousseau, starb und empfahl ihr Sylvester Rafflard, einen Genfer, der in Turin gläubig, aber nicht Priester geworden war und sich nur als ein in weltlichen Dingen dienender Bruder zu den ehrwürdigen Vätern hielt, die ihm seine Existenz machten.
Rafflard war nicht mehr jung, aber von einer unverwüstlichen Regsamkeit seiner fast thierischgebauten Constitution. Der große affenartig gebaute Kopf mit dem gewaltigsten hervorstehenden Unterkiefer saß wie auf dem Nacken eines Stiers. Die Schultern waren breit und rund wie die eines Lastträgers. Die Beine lang und weitausholend, die Arme fast über die Proportion ausgreifend und mit Händen begabt, die sich wie die ausgespreizten Füße eines watschelnden Wasservogels machten. Dieser Mensch verband die Giraffe mit dem Rhinoceros. Die ganze Natur Rafflard's war die Sinnlichkeit nicht nur des Magens und des Herzens, sondern auch die Sinnlichkeit der Augen, der Ohren, der Hände, des ganzen Menschen. Sein Wesen war wie das Schnalzen des Fisches. Er war die Aufdringlichkeit selbst. Seine großen Hände reichte er Jedem zum Gruße; er umarmte, er küßte Jeden, er floß in einem Strom von salbungsvollen Liebesworten über und bot Jedem seine Freundschaft an. Er hatte sich von einer gewöhnlichen Herkunft allmälig emporgeschwungen durch das Princip, die ganze Menschheit wäre zu gewinnen durch die Süßigkeit der Vorstellungen, die das Gegentheil unsrer Existenz in Jedem zu wecken pflege. Er näherte sich den jungen Mädchen und sprach mit ihnen von der Ehe; den Frauen und sprach mit ihnen von dem gebundenen Schicksal ihrer unabänderlichen Wahl. Jungen Männern malte er die süßesten Träume des Glücks aus, den Alten spiegelte er den Glauben vor, man hielte sie noch für jung. Jedem aber, den er leiden, unbefriedigt sah, nahte er sich mit der Versicherung, er errathe sein verfehltes Geschick, er ahne seine wahre Bestimmung. Die Frauen gewann er durch die theilnehmende Entdeckung, daß ihr Geist gebunden, gefesselt, an Gemeines entwürdigt wäre. Die Männer belauschte er in der geheimsten Sehnsucht ihres Ehrgeizes und beglückte die Strebenden mit glänzenden Bekanntschaften, die er in der That wie Visitenkarten aus seiner Westentasche zog. Sylvester Rafflard war der lebendige Versucher. Ewig legte er Denen, die er umstricken wollte, die Schätze ganz Jerusalems zu Füßen und verschenkte sie an Den, der sich ihm ergab. Er bot Alles an, Würden, Ämter, Ehrenzeichen, Geldmittel, Erfolge, schöne Frauen, je nachdem er das weltliche Streben einer Geisteskraft oder das träumerische Sehnen einer Phantasie vor sich fand.
Und wenn man fragen wollte, wozu Sylvester Rafflard sich einer so unermüdlichen Verführung ergab, so ist nicht erwiesen, daß er geradezu schaden wollte. Er würde sich in diesem Falle bei seiner unausgesetzten Betriebsamkeit großen Gefahren ausgesetzt haben. Er wollte nicht einmal verwirren. Er wollte nur existiren, sich behaupten, im großen Stile existiren. Dazu bedurfte er hundert Beziehungen. Er mußte eine Beziehung auf die andre bauen, einen Trumpf gegen den andern ausspielen. Sonst war eigentlich seine geheimste satanische Freude Die, jeden Menschen gleichsam im Zustande der Natürlichkeit zu sehen. Wir wissen, wie Rafflard als Erzieher wirkte, wie es ihn reizte, schon das Gelüsten der ersten Knabenzeit zu beobachten. Wir wissen, daß Egon's früheste Lebensverstimmung, seine Verzweiflung am Dasein, die ihn von Genf nach Lyon, fort von allen Beziehungen seines Standes trieb, eine Folge der Verführung seines eignen Lehrers war. So aber wie Egon wollte Rafflard Jeden auf die Nacktheit seiner natürlichsten Schwäche zurückführen! Da, wo der Mensch klein wird, setzte er den Hebel an; da, wo der größte Mann zuweilen seinen Beruf vergißt, wußt' er ihn sicherlich zu überraschen und hatte ihn dann auch für alle seine Pläne in der Hand. Im gewöhnlichen Verkehr war er liebenswürdig, gefällig und noch immer gern gesehen, wenn man ihm auch seinen asthmatischen Husten vergeben mußte. Diesen tückischen Dämpfer seiner guten Laune, diesen Störenfried seiner schleichenden Intriguen hatte ihm ein strafendes Geschick seit einigen Jahren mit auf den Weg gegeben. Dieser Katarrh hatte ihm schon, wie Das in der großen Welt geht, viele Freunde entfremdet, ja seinen liebsten Freund, den eignen Magen. Der alte Gourmand kaute stündlich Pastillen und verdarb sich damit eine Verdauung, die sonst thierisch war und seiner herkulischen Natur entsprach.
Ein solcher Charakter, ohne Halt, ein reiner Lebensvirtuose, ein Künstler auf dem schlaffen Tanzseile des gefährlichsten Egoismus, muß durch innere Nothwendigkeit Jesuit werden. Seine Kenntniß der Zeit und der handelnden Personen überraschte Die, die ihn zu diesem Schritte ermunterten. Er hatte Verbindungen wie ein zweiter Graf St.-Germain. Selbst wo man ihm die Thür gewiesen hatte, wagte er wiederzukommen. Er wagte, Manchen sogar an Menschen zu empfehlen, die ihn verachteten. Gelehrte Kenntnisse besaß er nur oberflächlich. Aber vortrefflich sprach er über Sachen, die dem Gelehrtesten oft unentwirrbar blieben, über Lebensverhältnisse, Sitten-, Staatsbeziehungen. Da ihm Deutschland, die Schweiz, selbst Rußland bekannte Terrains waren, so imponirte er in Frankreich. Als Abbé St.-Dor starb, ergriff er mit Freuden die Gelegenheit, seine eigentlich fortwährend bettelnde Existenz zu sichern, die ihm seit seinem asthmatischen Husten vollends Bedenken erregte. Er hatte schwören müssen, die Ideen St.-Dor's zu verwirklichen. Es waren Dies mancherlei Aufgaben größerer oder geringerer Bedeutung. Eine derselben lautete: die Heirath zwischen Helene von Osteggen und dem Grafen Desiré d'Azimont zu lösen, das bedeutende Vermögen des Grafen zum Rückfall an die Mutter zu bringen und von dieser es somit zuletzt dem Orden zuzuwenden. Dieser Aufgabe unterzog sich Rafflard mit dem ganzen Aufgebot seiner Energie. Es war seine Mission, sein Unterhalt sogar. Die übrigen Einwirkungen, die er da und dort und bei seiner Sprachengewandtheit auch in fernen Ländern auszuführen hatte, kamen zur Lösung dieser Hauptaufgabe ergänzend, aber unwesentlicher hinzu. War Rafflard in Paris und Enghien schon thätig, um Helenen und den Grafen zu entzweien, so setzte er nach der Flucht der jungen Frau diese ihm gestellte Aufgabe mit Gewissenhaftigkeit fort. Egon warnte Helenen vor Rafflard schon in Frankreich. Sie glaubte Spuren zu haben, daß Louis Armand damals in Enghien nicht ohne Vermittelung Rafflard's so grausam störend in ihr Glück eintrat. Sie fuhr schaudernd und ergrimmt auf, als man ihr nach ihrer Ankunft in Deutschland diesen Namen nannte, der in der Residenz anwesend, ohne Zweifel ihr gefolgt war und sie nach allem Vorgefallenen eines Tages zu sprechen wünschen konnte. Wie aber gutmüthige Naturen – und eine solche war Helene bis auf einen gewissen Punkt im höchsten Grade – einmal sind, sie fassen die Menschen immer nach ihrem augenblicklichen Bedürfniß. Klagen sie mit dem Klagenden, so heißt es: Ich habe mich geirrt, er ist gut, er ist wenigstens besser, als ich dachte! Helene d'Azimont hatte auch noch die Eigenschaft gutmüthiger Charaktere, daß ihr jedes Wiedersehen etwas Verschönerndes bot. Einem Menschen, den man in der Heimat haßte, wird man in der Fremde nicht begegnen, ohne sich zu denken: Wenn er dir hier, unter diesem schönen Himmelsstrich, unter diesen herrlichen Statuen, unter diesen duftenden Gewächsen, die Hand böte, du würdest sie nicht zurückweisen! Bringt er nicht Heimatsluft mit? Geht er nicht wieder dahin, wohin du gern einen solchen Gruß aus lebendem Munde übersenden möchtest! Rafflard benutzte diese Stimmung, die er bei Helenen offen genug vorfand. Er war noch klüger. Er machte gleich reinen Tisch. Er sagte: Gräfin, warum hassen wir uns? Er ergriff damit gleichsam das schillernde Gewand, das seine geheimsten Absichten verbarg, und zog die tausend Falten desselben glatt in eine Fläche, in die Fläche der Aufrichtigkeit und Bonhommie. Er sprach so natürlich, so sich selbst ironisirend, daß Helene schon lächelte. Er verspottete die alte Dame vom Faubourg St.-Germain, er ahmte der Gräfin so treffend nach, daß Helene sie völlig wiedererkannte und mit zu lachen anfing. Seine grauen Augen wurden fast kindlich; ja als ihn sein böser Husten überfiel, griff Helene in die Schubfächer ihres Schreibtisches und bot ihm, mitleidig wie sie war, von der Pate Regnauld aus Orleans an, die er täglich kaute, aber doch kostete, doch als etwas ihm Unbekanntes annahm, nur um dabei über das schöne Paris sentimental werden zu können und Helenen zu rühren. Und vollends umstrickte er Helenen dann durch das offene Vertrauen, das er ihr zeigte, als sie ihm seine Verbindung mit den Jesuiten vorwarf. Er bekannte ganz offen, mit den ehrwürdigen Vätern in Verbindung zu stehen. Sie sind Priester? hatte sie gesagt. Nein, antwortete er, ich gehöre zu jenem amphibischen Theile des Bundes, der in- und außerhalb der Kirche steht. Ich bin zu weltlichen Zwecken affiliirt. Und Sie gestehen mir Das so offen? hatte Helene erstaunt gefragt. Warum sollt' ich denn verhehlen, was Sie wissen, war seine Antwort gewesen; verhehlen, setzte er hinzu, was Sie verschweigen werden! Die Vorsicht, die ich brauche, daß ich in philanthropischen Zwecken, zur Verbesserung der sittlichen Gefangenenpflege, reise, öffnet mir viele Thüren: selbst die Thüren der Gefängnisse sind nicht unwichtig. Man entdeckt dort oft Menschen, die gewandt und brauchbar sind. Helene wies ihn mit dieser Moral entsetzt zurück; aber er hatte ihr damals in französischer Sprache gesagt:
Liebe Comtesse! Sie müssen diese Welt betrachten wie ein großes Chaos, in das die Vernunft, die Philosophie, die tausendfach verzweigte gute Absicht der Menschen Licht und Frieden bringen wollen. Ich habe früher als Protestant, als Erzieher zu diesem Zwecke der vernünftigen Verständigung mitzuwirken gesucht und meine Überzeugung war zuletzt die, daß ich das Übel zur eignen Qual nur vermehrte. Da lernt' ich Jesuiten kennen und fand eigenthümliche, am Dasein merkwürdig erfreute Menschen. Sie reisten und wandelten da und dort. Hier kannte man sie, dort nicht. Sie hatten Zwecke, deren Nothwendigkeit sie nicht untersuchten, deren Durchführung sie unterhielt und sie im Zusammenhang mit einer großen geschlossenen Kette kluger Mitverbundener persönlich stärkte und erheiterte. Ich finde in den Jesuiten die Apostel des reinsten Menschenthums. Was wollen sie denn anders, diese Vielverschmähten, als die Menschen von dem Staate, der sie quält, von der Kirche, die sie verdüstert, etwas lockerer und loser lassen? Was wollen sie herstellen? Nur die große, bequeme Ordnung der römischen Religion, die am Ende, wenn man aufrichtig sein will, nichts als ein freundlicher Verkehr zwischen dem Laien und dem Priester und eine Art von Gewissens-Arkadien ist. Arkadien ist überall, wo es keine Gewissensbisse gibt. Die Jesuiten können, was sie bezwecken, kaum sagen. Es sind die eigentlichen Triebkräfte der Welt, die mehr die Freunde des gedrückten Volkes heißen dürfen als alle Demagogen im Purpur und in der Blouse. Was ist denn Das groß für Sklaverei, zum römischen Stuhle zu gehören? Die leichteste, die lindeste ist's! Eine viel lindere, als der weltlichen Obrigkeit ganz und gar verfallen zu sein, wie Dies nun durchaus der Gang der Geschichte werden soll. Gegen diesen Gang allein stemmen wir uns. Wir wollen nicht Rom retten, sondern den Menschen, der Niemanden, nur Gott gehorche! Wir müssen die absolutistischen Ideen der Könige verfolgen, weil sie den Begriff der Theokratie, d. h. der großen Gottes-Republik der Welt vernichten; aber wir müssen auch die Revolution bekämpfen, nicht weil sie den Königen schadet, sondern weil sie ihnen zuviel nützt, weil sie immer und immer auf Centralisation dringt, weil sie die Menschen zu Maschinen eines großen Staatszweckes macht, von dem die Priester, d. h. die Anwälte des reinen Menschenthums ausgeschlossen bleiben. Lieber Himmel, man spricht von Verdummung, die wir beförderten! Wir finden nur, daß die Menschen selbst nicht wissen, was das Salz der Erde ist. Absolute Staatszwecke, ob die der Republiken oder der Monarchieen, sind nicht das Salz der Erde, und wenn wir sagen, von Rom gehen die Adern dieses Salzlagers aus, so kämpfen wir ja nicht für den Papst, sondern durch den Papst für die ewige Macht Gottes, die größer ist als die der irdischen Gewalten. Unser Orden denkt viel über die Zeit nach. Es gibt in ihm eine rechte und eine linke Seite. Die rechte verdirbt leider viel, was die linke gut gemacht hat. Es ist so schlimm, daß man den Namen Gottes nicht nennen kann, ohne gleich zu sehen, daß die Menschen niederfallen und darunter die Aufforderung zur Bigoterie verstehen. Unsere Bundesgenossin ist leider die fanatische Religiosität, leider die Verfolgung des rationalistischen Lichtes; allein wir verfolgen das Licht nicht um des Lichtes, sondern um des Leuchters willen, auf dem es gemeiniglich steht, und um der Wände willen, die das Licht gemeiniglich erhellen soll. Eine Aufklärung, die uns verderben will, müssen wir verfolgen und wir verfolgen sie nicht um unsertwillen, sondern zu Gunsten der Menschheit, denn alle Aufklärung bringt wieder neue Anmaßungen, neue Fesseln. Das ewig sich Gleichbleibende ist Rom. Das mildeste Joch, das nur die Menschen tragen können, ist die Theokratie, und ich gebe die Versicherung, wie die Demokratie erst in's Volk griff, als ein römischer Priester, Lamennais, sie im kirchlichen Style populair machte, so wird auch der Socialismus, von dem Sie, liebe Gräfin, die Grundprincipien kennen werden, dann erst siegreich für die jetzige Gesellschaft anbrechen, wenn ein so hohler Commis-Voyageur-Kopf wie der des Herrn Proudhon von Lyon seine Ideen einem Priester abgibt, der über die Menschheit als Seher, nicht als merkantilischer Buchhalter spricht.
Helene hatte nicht umhin können, dieser Äußerung des Jesuiten einigen Beifall zu zollen. Sie war in der Literatur und den Zeitfragen nicht unbewandert. Ihr Salon war in Paris artistisch-literarisch. Ihr Tisch war von aufgeschnittenen und mit Lesezeichen gezierten Schriften nie frei. Weitläufig ließ sie sich aber auf eine Prüfung nicht ein und erwiderte auch hier von dem Standpunkte, der ihr näher lag:
Was wollen Sie denn aber in diesem Norden? Was gibt es denn hier für Sie zu thun?
Rafflard hatte darauf geantwortet:
Wo fände ein Jesuit nicht ein Feld seiner Thätigkeit! Schicken Sie ihn nach Ceylon, nach Tombuktu, er findet Menschen, Priester, Religionen, Staaten. Wo Andere lehren, Andere glauben, hat auch ein Jesuit zu thun. Wir wissen bei jedem Verhältniß sogleich, wo wir Partei zu ergreifen haben, für wen, für was? Deutschland fängt an, wie im Mittelalter, wieder der Schwerpunkt Europas zu werden. Es ist das Land, wo beide Principien, das römische und das protestantische, sich die Wage halten. Die Verwirrung ist groß. Es will sich das protestantische Princip, das im dreißigjährigen Kriege wenn nicht besiegt, doch erschöpft wurde, auf's neue erheben, nicht rein als Princip der Feindschaft gegen das katholische, aber doch in den eigenthümlichsten Versetzungen mit allerhand andern Stoffen. Unsere Obern sind Politiker und denken weiter als die erbärmlichen Minister, die jetzt bei uns und hier auftauchen, morgen versunken sind und vergessen. Die Fragen der Zeit gehen weiter als bis zur Herstellung einiger trügerischen, constitutionellen Scheinformen. Auch die Jagd auf Demokraten erscheint uns in der Rüe Jean Jaques Rousseau lächerlich; denn Republiken oder Monarchieen sind uns gleichgültig, wenn doch immer die große Frage wegen der Kirche und des Staates, d. h. des freien oder des gebundenen Menschen auftaucht. Unsere Abgesandte greifen hier und da schon in die deutschen Schicksale ein. Von der Schweiz und Belgien aus wird viel gewirkt und geschürt. Hier, im Herzen des Protestantismus, ist vorläufig wenig Anderes zu thun, als mit gleichgestimmten Bedürfnissen nach Kirchlichkeit anzuknüpfen. Wenn auch ketzerische Kirche ist auf irgend einem gewissen Standpunkte Kirche immer Kirche. Wir hatten schon einige Hofprediger in Deutschland, die Jesuiten waren. Ich will nicht sagen, daß auch hier unter ihnen Affiliirte sind, aber kirchliche, wie soll ich sie nennen, kirchliche Hochtories gibt es auch hier, und Mehreren, die ich nicht nennen will, steh' ich ziemlich nahe. Ich habe sie in einem gewissen Trotz gegen den gegenwärtigen hiesigen Staat bestärkt. Erst schienen sie zwar erschrocken von der Zumuthung einer offenen Opposition; sie besitzen dafür zuviel Servilismus, angeboren und anerzogen, aber wir gewinnen doch, wenn wir die Kirche überall in Europa frei erhalten vom Staate und ihm nicht, wie schon in dem absolutistischen durch und durch verweltlichten Rußland geschehen, noch gar die Kraft des Prophetenthums, die angemaßte Bischofswürde zuführen. Was hindert uns, nach funfzig Jahren, wenn hier die Zahl der katholischen Kirchen wächst, einen Bischof einzusetzen? Wir können alte Gerechtsame, alte Proteste wieder geltend machen. Es mag der protestantische Staat in seinem absolutistischen oder radikalen Gebahren forttaumeln, die in den tiefsten Wurzeln doch noch immer nach Rom hin sich verzweigende Kirche, auch die ketzerische, gibt ihm nichts von ihrer Kraft ab, wenn wir sie isoliren. Wir sind hier an Allem betheiligt, an jeder Frage des Cabinets und des Staatsrathes, an der Gesetzgebung für die Provinzen, an der Gestaltung der Gesammtform Deutschlands, an der Übertragung der Lehrämter, an der Richtung des Geschmacks und der Wahl der Lektüre, ja wir haben hier zwei Katholiken, von denen der Eine die Stütze des Throns, der Andere die ganze Hoffnung der Demokratie ist und über deren geheimsten, innersten Gedanken noch ein großes Dunkel schwebt.
Rafflard gab sich völlig unverdeckt. Einer so offenen, auf ihre Diskretion vertrauenden Sprache – Wie konnte Helene ihr widerstehen? Sie hatte zwar keine Neigung zu solcher Bewährung ihrer Geisteskraft wie Pauline, die von dergleichen Enthüllungen elektrisirt worden wäre, aber die Hingebung Rafflard's glaubte sie doch vollständig zu erkennen, und da sie eine edle Natur war und Vertrauen zu schätzen wußte, so ließ sie den schleichenden Weltmann, der die vertraulichen Manieren eines Beichtigers geltend machte und alle Dinge von dem Zugeständniß einmal nicht zu ändernder menschlicher Schwäche auffaßte, gewähren, nahm ihn öfter an, dankte ihm für die Bekanntschaften, die er ihr zuführte, und hielt seine schonende Sprache über Egon und ihre Liebe für den Beweis eines wirklichen Interesses. Und wenn sie nun auch errathen hätte, daß Rafflard nur die Trennung von ihrem Gatten betrieb, was lag ihr daran? Gut und Geld hatten keinen Werth für Helenen. Einiges mütterliche Vermögen besaß sie. Sich um Anderes, was noch fehlen konnte, zu sorgen, lag nicht in ihrer Natur. Wenn sie in ihre Börse griff, hatte es bis jetzt noch an den nothwendigen Mitteln nie gefehlt. Aber sie blickte nicht einmal so weit hinaus! Sie war befriedigt, daß Rafflard einsah, ihre Liebe zu Egon wäre eine Nothwendigkeit, eine vom Gott der Götter, dem allbindenden Eros, vollendete Thatsache. Wenn sie weinte, war Rafflard traurig. Wenn sie hoffte, verklärte sich auch sein Blick. Was sollte sie da grübeln, denken? O Himmel, das Denken, das Vor und Nach war ihr ja das Peinlichste! Nur fühlen mochte sie, empfinden, verschweben, wie ein Lichtatom in der Sonne ihrer Liebe, und Alles, das Höchste, das Herrschende war ihr der Moment.
So rückte Egon's Genesung heran. Helene jubelte ihr entgegen wie dem erwachenden Frühling. Jeder, der ein grünes Blättchen der Hoffnung ihr vom Palais Hohenberg brachte, wurde königlich belohnt. Die Bedienten, die Wandstabler's alle durften zu ihr geradezu hereintreten, wenn sie nur zu melden hatten, daß der Prinz eine Stunde gut geschlafen, eine Speise mit Appetit verzehrt hatte. Helene fuhr zu den Italienern, um Früchte, zu den Confiseurs, um Näschereien zu kaufen. Sie war so unkundig der wirklichen Gebrechlichkeit des Menschen, daß sie sich einbildete, Ananas, Trauben, Melonen, alles Das müsse erquicken oder die Verdauung stärken. Sie übte in ihrer Weise einen frommen, der Liebe gewidmeten Cultus, der Rafflard, im Geheimen beobachtet, nicht wenig belustigte. Die meeresschaumgeborene Göttin erhörte Helenen's Flehen. Egon genas und sie selbst, die zarte kleine Gestalt mit den weichen runden Formen, den bewegten, langbewimperten Gazellenaugen, dem glänzenden schwarzen Haare, dem anmuthigen Lächeln, erholte sich wieder von der Wachsfarbe des Grams, die ihren zarten Teint überhaucht hatte, zu dessen ganzer blendenden Weiße.
Es war October. Wohl vierzehn Tage waren hingerauscht in den Wonnen des von Drommeldey und Rafflard allmälig vorbereiteten Wiedersehens. Das Wetter war gleich nach der Partie von Solitüde, auf die Helenen's Glück folgte, rauh, stürmisch, dann regnerisch geworden. Wo weilte man da traulicher als im Arme der Liebe? Wo war es heimischer als hinter geschlossenen Fenstern, in schönen gefälligen Zimmern, in denen schon Abends ein leichtes erwärmendes Feuerchen knisterte? Da wurde gelacht, gescherzt, geschmollt, das Vergangene durchgesprochen. Da wurden Pläne ersonnen von künftigen Vergnügungen, von Reisen, von Villeggiaturen des nächsten Jahres, von Rom, Neapel! Egon und Helene, Helene und Egon! Nur Beide allein auf der Welt, nur selig in der Liebe, nur liebend wie im Paradiese. Die Vergangenheit wurde mit Schleiern bedeckt. Helene sprach von Louison wie von einer todten Schwester, nichts hatte sie verletzt, kein Stachel war zurückgeblieben, die Gegenwart war ihr Eigenthum: warum nicht Großmuth üben? Nur kleine Seelen sind ja auch für das volle überschwengliche Glück der Gegenwart so undankbar, daß sie, immer mäkelnd über Vergangenes, im Genusse mistrauisch sind und sogar schon über die Zukunft grämeln!
Freilich in diesen Kelch der Freude mischten sich zwei große Wermuthstropfen. Der eine hieß: Die Freunde Egon's! Der andre: Der Ehrgeiz des Geliebten! Beide Tropfen flossen aus derselben Schale, die Helene oft in aufgeregter Phantasie wie eine Giftphiole vor sich schweben sah. Diesen Becher wirst du austrinken müssen und sterben! rief es ihr oft wie von Geisterstimmen. Kalt packte sie dann eine Hand mitten in's Herz. Sie mußte aufschreien, weinen – Egon wußte nicht, was geschah und mußte lächeln über Befürchtungen, die ihm ganz grundlos schienen. Ja, Louis, Dankmar, Siegbert, Rudhard waren seine Freunde, täglich sahen sie ihn, sie waren fröhlich, die Jüngern mit ihm das Leben genießend. Den Professor Rafflard hatte Egon abgewiesen. Egon gehörte zu den Menschen, die vielleicht nicht consequent in der Liebe, aber consequent im Hasse waren... eine starke Art von Menschen, schwer zu behandeln, des Größten fähig und kluger Führung bedürftig. Rudharden aber hatte er auf's neue liebgewonnen. Er fühlte, daß er wegen Helenen's nicht wagen konnte, ihn im Kreise der Familie Wäsämskoi oft zu besuchen, desto öfter sah er den alten trocknen Verstandesmenschen bei sich und freute sich, wie tief und nachhaltig doch der Grund war, den der ernste Mann einst in seine Seele gelegt hatte. Er war weit öfter mit Rudhard als mit den andern Freunden einverstanden. Auch Siegbert konnte wegen der Fürstin Adele, wie Rudhard, nicht anders, als jede Beziehung zu Helene d'Azimont vermeiden. Das war Helenen freilich peinlich genug. Sie sah da immer Menschen mit ihrem Geliebten in Berührung, die sie achten mußte und doch nicht für sich hatte. Oft schlug sie gemeinschaftliche Partien vor, man entschuldigte sich durch das Wetter. Sie sprach von Einladungen, von Diners, von Soupers, wie nur sie, sie dergleichen zu veranstalten verstand. Vergebens! Man hatte Abhaltungen. Dankmar vollends, den sie einige male wirklich sah, machte auf sie einen dämonischen Eindruck. Das war eine Schärfe im Blick, eine Ironie um die Mundwinkel, eine sichere Art des ideell Exclusiven, daß er sie fast reizte. Sie dachte oft darüber nach: Wie gewinnst du dir diese bedeutenden jungen Männer? Du möchtest wol z. B. von Dankmar wissen, ob seine spröde Schale einen zarteren Kern verbirgt? Sie neckte Egon mit Dankmar's Zurückhaltung und fragte ihn, ob der schöne junge Mann absichtlich von ihr ferngehalten würde? Sein Proceß diente zur Entschuldigung und der einzige Grund, warum sich Dankmar zurückzog, lag doch lediglich nur darin, daß er mit den drei andern Freunden Farbe halten wollte. Sie bauten soviel auf Egon und sahen ihn nun umstrickt von einer entnervenden Liebe! Sie wirkten, sie liefen, sie arbeiteten für ihn und wenn sie ihn für die Wahlen, die Kammern, für ihre idealen Pläne plötzlich zu sprechen wünschten, hieß es: Er ist bei der Gräfin, oder: Die Gräfin ist bei ihm! Das nahm besonders Dankmar, der seine Zeit schätzen lernte, gegen Egon ein und Niemanden mehr als Louis, den Helene deshalb auch geradezu für ihren Widerdämon und für Egon's »böses« Princip hielt. Rafflard hatte den Gedanken einer dauernden Vereinigung in ihr Herz gepflanzt und sowenig eigentlich dieser Plan ihrer Natur entsprach, so ungern sie den armen kranken philosophischen Gatten in Paris zu äußersten Entschließungen veranlassen wollte und lieber auf seinen von den Ärzten für gewiß vorausgesagten Tod wartete, so ergriff sie doch diese Idee ohne alle Rücksicht auf ihre Zukunft eben darum so lebendig, um diesen sogenannten Freunden ihres Freundes als Alleinherrscherin über Egon zu imponiren und sie durch einen Machtspruch entweder als Untergebene sich zu gewinnen oder sie als Fürstin von Hohenberg ganz entfernen zu können.
Diese vier Männer waren es, die in Egon diejenige Flamme schürten, auf die Helene wie auf die Gunstbezeugungen der schönsten Frau der Erde eifersüchtig war, die Flamme des Ehrgeizes. Ein Weib, das unter solchen Verhältnissen liebt wie Helene d'Azimont, wird niemals ertragen können, daß sich der Gegenstand ihrer Liebe theilt. Nur die Liebe, die die Sitte heiligt, erträgt im Mann den Aufblick zu einem großen Berufe und jene getheilte Stimmung, die immer im Gefolge eines Wirkens für die Welt sein wird. Die sittenreine Liebe erfaßt den ganzen Menschen, nicht den sinnlichen nur. Sie wächst mit seinem Wachsthum empor. Sie schmiegt sich wie der Epheu zu den Ästen des Baumes hinan und folgt ihm bis in die Krone seiner Triebkraft. Der Ruhm ist wol eine schöne Zugabe zu jedem Verhältnisse zwischen Mann und Weib. Aber der Ruhm will erworben, will behauptet sein und an die stille Werkstatt des Geistes soll da die Liebe nie zur unrichtigen Stunde pochen! Egon war nicht der Mann, der seinen Ideen entsagt hätte, um einer Liebe willen! Er lächelte wol zu Helenen's Befürchtungen und sagte ihr oft: Du fürchtest nur mein graues Haar, das sich schon durch mein Fieber lichtete, fürchtest die Nachtwachen, denkst an die Staatsmänner, die du kennst, die nach ihrer ersten Rede zehn Jahr jünger und nach der minder gutaufgenommenen zweiten zehn Jahr älter wurden! Dazu schüttelte Helene den Kopf. Sie sagte, daß Egon immer schön sein würde, aber sie müsse ihn allein haben! Wie litt sie schon jetzt unter diesen Vorbereitungen zur Wahl in die Kammer! Welche Verhandlungen, welche Zeitverluste, welcher Ärger, welche Absorption der Gedanken! Sie wollte Egon nach Italien entführen. Er dachte nicht daran, ihr zu folgen. Er gönnte sich nicht einmal die Zeit, in Hohenberg, wie er gewollt, Ackermann zu besuchen, von dem er soviel Treffliches und Beruhigendes erfahren hatte.
Seit einigen Tagen erlebte sie noch vollends, daß Egon, der schon von den vier Männern genug in Anspruch genommen war, mit Pauline von Harder in eine Beziehung kam, die sie nicht verstand. Rafflard sagte ihr zwar: der Fürst ist nun gewählt, er ist in die Kammer getreten, Pauline von Harder spielt eine neue politische Rolle, es sammeln sich Männer von Ruf und Einfluß in ihrem Salon – Nein, nein, hatte sie ihm geantwortet. Das kann es nicht sein! Sie haßten sich doch! Er nannte sie die Todfeindin seines Hauses und sie beklagte es ewig, daß ich einen Mann liebte, der ihre beste Freundin aus Familieninstinct verfolgen würde! Nun sind sie einig. Jeden Abend haben sie ein tête-à-tête! Was ist Das?... Ein tête-à-tête, an dem Heinrichson nicht theilnimmt, doch nicht etwa? hatte Rafflard mit Lachen dazwischen geworfen...
Er wollte damit sagen, daß Heinrichson viel öfter bei Helenen, als noch bei Paulinen war und der Gräfin eine große Aufmerksamkeit widmete...
Helene hatte dagegen nichts eingewendet, als daß sie flüchtig von einem jungen Mädchen, einer wahren Schönheit sprach, die seit einiger Zeit von Egon erwähnt würde als Verschönerung der Cirkel der Geheimräthin... Melanie Schlurck! Rafflard hatte darauf nichts erwidert als den einfachen Vorschlag: Helene sollte, da die Verhältnisse doch nun in der That dringend und schwierig würden, gegen Egon mit offener Sprache heraustreten und von ihm eine Erklärung über ihre beiderseitige Zukunft verlangen! Helene, gereizt durch die Erinnerung an Melanie Schlurck, fand diesen Rath weise, hatte ihn in der That befolgt und harrte nun an einem Octobermorgen, der sich freundlicher anließ als die bisher vorübergegangenen Wochen, auf den Besuch des Vertrauten, dem sie die Ergebnisse einer gestrigen Unterredung mit Egon mittheilen, vielleicht gar den Auftrag zu einer Scheidung geben wollte zwischen ihr und dem Grafen d'Azimont.