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Zweites Capitel.

Der Pavillon.

Helene schrieb Egon in deutscher Sprache:

»Heute, mein geliebter Egon, sind sechs Wochen vorüber, als ich vor deinen Fenstern im Wagen hielt, mitten in der Nacht, eben von der Reise gekommen. Ich konnte nichts von dir entdecken als den Schimmer eines Lichts, das vielleicht vor deinem Lager stand, als du schon die Annäherung dieser schrecklichen Krankheit, die dich niederwerfen sollte, fühltest. O welches rauschende Leben glaubt' ich zu finden, einen belebten Palast, auf- und abschwirrende Diener, hellerleuchtete Fenster, Wagengerassel... und ich fand ein fast ausgestorbenes Haus, in dem nur mein Egon lebte, nur sein Pulsschlag mir hörbar erschien. Wie hab' ich seitdem die Schläge meines Herzens gezählt! Wie mich mit dem Ohr auf die Erde gelegt, um etwas von dir zu vernehmen! O Gott, Das ertragen zu sollen! Wenn ich zurück denke und mir noch einmal vorstelle, daß ich in einer Stadt mit dir leben und dich nicht sehen sollte, ich begriffe nicht, was einem Herzen möglich ist, das dulden kann und hofft. Aber nun öffnen sich auch die Himmel und die Genien der Liebe reichen mir den Kranz der Bewährung und des seligsten Lohnes! Egon, ich werde dich wiedersehen, dir in's Auge blicken, den Kuß deiner Lippen fühlen. Ich zähle die Minuten, ich begreife nicht, wie mich die Vorsehung mit dieser Langmuth ausstattete, ich erkenne mich nicht. Mein geliebter Egon! Wie konntest du fliehen? Fliehen vor einem Herzen, das ohne dich brechen muß? Laß mich leben! Leben in deiner wiedergewonnenen Liebe! Ich habe unter den Erinnerungsblättern an unser Glück heute das letzte angefangen, eine kleine Zeichnung des Tempels, den ich unserer Liebe auf meiner Villa in Enghien bauen wollte. Alle diese Skizzen, die ich nur mit ungeübter Hand entwerfen konnte, sind mein einziger Trost in dieser Einsamkeit gewesen. Der See, die Terrasse, der alte Eichbaum auf der Höhe des Waldrückens, die große Ebene mit dem Bahnhofe, meine kleine Veranda, die du so liebtest und so zierlich schmücken halfst, alle diese Blättchen hab' ich im Vertrauen auf die Macht der Liebe, die auch die Schwingen des Talents kräftiger heben lehrt, als sie von Natur fliegen würden, mit zitterndem Bleistift hingeworfen. Ich suche einen Maler, der mir würdig scheint, sie auszuführen; dann überrasch' ich dich mit den Erinnerungen an schöne Tage. O sie werden wiederkommen! Egon, hast du denn nicht Mitleid mit mir? Nur ein Wort der Erquickung für meine zehrende Sehnsucht! O laß mich bald an deinem Herzen ruhen, mein Geliebter, mein einziger, einziger Egon!«

Es war Dies eine Apostrophe, wie sie Egon seit vierzehn Tagen in immer gleichen Lauten der Verzweiflung, der Liebe und der ohne Weiteres vorausgesetzten Wiedervereinigung erhielt. Als er das Papier gelesen hatte, summten ihm im Gedächtniß die Shakespeare'schen Verse:

Wenn Ihr Euch meiner nicht erbarmt, mein Lieber,
Baut' ich an Eurer Thür' ein Weidenhüttchen
Und riefe meiner Seel' im Hause zu,
Schrieb' fromme Lieder der verschmähten Liebe,
Und sänge laut sie durch die stille Nacht,
Ließ' Eure Namen an die Hügel hallen,
Daß die vertraute Schwätzerin der Luft
Olivia! riefe! O ihr solltet mir
Nicht Ruh' genießen zwischen Erd' und Himmel,
Bevor Ihr Euch erbarmet!

Beide Freunde schwiegen...

Was ist da zu thun? begann Egon nach längerm schmerzlichem Nachdenken.

Nur zu wachen, sagte Louis ernst, daß diese Liebe männlich bleibt, deine Gedanken nicht verweichlicht, deine Entschlüsse nicht lähmt.

Ah! sagte Egon, diese Liebe ist doch ein Unglück.

Damit richtete er sich auf.

Das Gespräch hatte ihn nicht erschöpft. Die Sprossen auf der Leiter der Gedanken, die er langsam wieder zu erklimmen versuchte, brachen nicht. Er fand sich in seinen Erinnerungen zurecht und aus der wiedergewonnenen Kraft des Geistes theilte sich, stärkend, eine Belebung des ganzen Körpers mit. Er faßte Louis' Arm und wandelte zwischen den Blumenbeeten.

Sie kamen in die Gegend jenes Pavillons, dessen Inneres Künstlerhände für die lebhafte und bequeme Phantasie des alten Fürsten Waldemar, des Generalfeldmarschalls, geschmückt hatten.

Egon kannte dies Innere und betrachtete nachdenklich die angelehnten grünen Jalousieen. Er besann sich, ob er nicht einst Jemanden eingeladen hatte, sich in diesem Saale, unter Spiegeln, Blumen und kerzenstrahlenden Lüstres die Geschichte seiner Liebe erzählen zu lassen... noch wollten aber solche Gedanken nicht haften. Nur wie auf flüchtigen Sommerfäden zogen sie an ihm dämmernd vorüber und streiften sein Gedächtniß...

Sie traten dem Pavillon näher. Egon besann sich schmerzlich lächelnd auf dessen Bestimmung und öffnete leise eine der Jalousieen.

Kaum war Louis, der sich eben, weil die Gartenthür ging, umgewandt hatte, von ihm veranlaßt worden, gleichfalls einen Blick auf diese üppige Einrichtung zu werfen, als er die Jalousie auch sogleich fallen ließ.

Träum' ich? rief Egon oder sah' ich...

Louis bemerkte seinen Schrecken und trat näher.

Als auch er die Jalousie fallen ließ, schüttelte er den Kopf und schien nicht begreifen zu können, warum er noch staunte.

Es war ein Spiegelbild Helenens! sagte Egon.

Wol muß es die Gräfin d'Azimont sein, erklärte Louis.

Irgendwo wird sie in dem Pavillon verweilen. Der Spiegel fing sie von dieser Seite her wie ein lebendes Bild auf.

Sie schlief? sagte Egon.

Sie schien zu schlafen... sie ruhte nur.

Der Spiegel empfängt seinen Reflex von jener Seite her, wo das Badezimmer meines Vaters... Komm, Louis! Komm!

Damit wollte Egon stürmisch zu jenem Fenster hin, wo die magische rothe Beleuchtung einer Kuppel auf eine zierliche Rotunde fiel, deren Bilder, Statuen, Vasen wir bereits oberflächlich kennen und erst später gründlicher betrachten werden.

Auch Louis begriff nicht, wie die Gräfin dorthin gelangen, dort auf einem Divan in beinahe phantastischer Kleidung schlummern konnte. Er glaubte an den Reflex eines dort aufgehängten Bildes... Er schickte sich an, dem Prinzen zu folgen, der den Eingang nur vom Hofe aus gewinnen konnte und in stürmischer Eile mit trunkenen Sinnen, wie elektrisirt, das schöne verführerische Ziel suchte.

Doch in diesem Augenblick hielt sie Sanitätsrath Drommeldey auf.

Ei, ei, wohin so rasch? rief der Arzt und schlug Egon auf die Schulter.

Dieser wandte sich, unangenehm überrascht, und hätte sich gern von dem Arzte losgemacht.

Aber der Gehorsam eines Genesenden hinderte ihn. Der Arzt hatte schon den Puls in der Hand und behauptete, daß Egon zu lange im Garten verweilt hätte. Er müßte hinauf...

Nein, nein, sagte Egon, es ist nur eine augenblickliche Aufregung... und so wollte er zu dem Eingang des Pavillons hin.

Der Arzt hielt ihn aber sehr entschieden zurück und sagte:

Ich statuire keine Aufregungen. Sie bleiben hübsch an meiner Seite, Durchlaucht!

Damit faßte er Egon's Arm und lenkte in eine Allee des kleinen Parkes ein, die der Thür, die zum Hofe führte, zunächst lag.

Er machte mancherlei Vorschriften und endete damit, daß er sagte:

Unter diesen Bäumen ist es zu schwül und unter den Blumen dort lauern noch immer die bösen Geister des Fiebers. Sie müssen sich an frischer reiner Waldluft stärken. Ich schreibe Ihnen für heute Folgendes vor: Nachmittag vier Uhr nehmen Ew. Durchlaucht einen Wagen und fahren mit Herrn Louis und sonst einem Freunde auf das königliche Schloß Solitüde. Dort kommen Sie um punkt dreiviertel auf fünf, ich sage punkt dreiviertel fünf – der Sonne wegen – an, steigen aus, durchwandern die noch sonnenwarmen Boskette, einige Gänge des Parks und setzen sich auf dem kleinen Hügel, wo man die berühmte Aussicht auf die Felder und den dort so mächtig sich ausdehnenden Fluß genießt, eine Viertelstunde in der Sonne nieder; dann lassen Sie den Wagen an der Südpforte vorfahren, sind mit fünfzig Schritten wieder auf Ihren Polstern und kommen einige Minuten nach sechs Uhr wieder in Ihrem Zimmer an, wo Sie sich etwas vorlesen lassen, eine Suppe essen und um acht Uhr zu Bett gehen. Wird Das befolgt werden?

Egon hatte nur halb zugehört. Er war zu bewegt, zu elektrisirt von dem Gedanken, daß Helene so in der Nähe war, so auf ihn lauschte, so vielleicht in jenem Pavillon auf seinen Anblick gewartet hatte und darüber entschlummert war...

Louis aber, der aufmerksam zugehört hatte, antwortete statt seiner:

Pünktlich! Herr Sanitätsrath!

Nun begleit' ich Sie auf Ihr Zimmer, sagte Drommeldey, einer kleinen Tisane wegen, die Sie doch noch nehmen sollen und die ich verschreiben muß. Kommen Sie, Durchlaucht! Bald besuch' ich Sie nur, um Ihnen von der Welt zu erzählen und mir von Ihnen Pariser Anekdoten auszubitten.

Mit feiner weltmännischer Gewandtheit faßte der diesmal allopathisch gestimmte Arzt den träumenden, erschütterten Egon unterm Arm und führte ihn durch den Hof in die vordere Fronte.

Louis aber folgte in einiger Entfernung.

Zum Pavillon zu gehen und sich in den Cabineten zu überzeugen, ob dort die Gräfin d'Azimont wirklich auf einem Divan schlief, wie er in jenem Spiegel gesehen hatte, dazu konnt' er sich nicht überwinden; aber Doretten Wandstabler, die im Hofe sich tief knixend vor dem Prinzen verbeugte und nicht ohne Gefallsucht zur Feier der Wiedergenesung des jungen schönen Herrn eine gewählte Toilette gemacht hatte und recht auffällig mit einem ungeheuren Bunde Schlüssel klingelte, Doretten Wandstabler hielt er an und sagte energisch:

Sie haben die Gräfin d'Azimont in den Pavillon gelassen...?

Vergeben Sie! sagte Dorette schon etwas trotzig. Der Herr Sanitätsrath haben es selbst befohlen.

Wie? Der Arzt wußte...?

Sie wollte in den Garten stürzen und den Prinzen....

Ein Arrangement! sagte Louis vor sich hin, voller Entrüstung und die weitern Worte der Beschließerin überhörend. Dann fragte er laut:

War die Gräfin allein?

Herr Professor begleiteten sie... Hören Sie ihn nicht husten?

Herr Professor? Wer hustet?

Dorette erröthete, daß sie von einem Manne wie von einem gewöhnlichen Besucher sprach, den sie doch gegen Louis Armand bisher verheimlicht hatte. Jetzt aber, wo der Arzt selbst für das Complot gewonnen war, glaubte sie sich nicht mehr so ängstlich zurückhalten zu müssen und ergänzte ihre Aussage dahin, daß sie den Professor Rafflard meine.

Louis wollte reden; aber Egon sah sich nach ihm um.

Er folgte dem Prinzen, der nun auf Louis gestützt, zum ersten male wieder die große Treppe bestieg und mit völliger Abwesenheit des Geistes den materialistischen Auseinandersetzungen zuhörte, mit denen Drommeldey gewohnt war, die Psyche seiner Reconvalescenten neu zu beleben und ihnen die letzte Tisane zu verschreiben.

Egon schritt die große Treppe empor. In seinen Erinnerungen setzte sich die Vergangenheit Steinchen an Steinchen wieder musivisch zusammen. Die von der Sonne erhellten Zimmer thaten ihm außerordentlich wohl. Er fühlte sich so kräftig, daß er, als der Sanitätsrath sich empfohlen und die Nachmittagsfahrt nach dem königlichen Schlosse Solitüde ausdrücklich noch einmal bis auf die kleinsten Punkte eingeschärft hatte, Louis fast im Begriff war, zu bitten, er möchte ihn über den Pavillon, über Helene aufklären, ja wenn es nicht Louis gewesen wäre, der seine Befehle erst an die Diener überbrachte, wer weiß, ob er nicht augenblicklich das Wiedersehen mit einem Wesen gefeiert hätte, das durch eine einzige kurze Phantasmagorie seine ganze Einbildungskraft wieder beherrschte.

Es ist die Gräfin gewesen, sagte ihm Louis aufrichtig. Sie harrte vielleicht des Augenblickes, wo du im Garten dich zeigen solltest und entschlief oder träumte wachend von dem Glück, dir nahe zu sein.

Es war nicht ganz wahr, als Egon darauf erwiderte:

Ich kann sie noch nicht sehen. Ich fühle mich noch nicht stark genug, ihre Freude zu ertragen.

Indem fiel sein Auge auf eine in seinem künftigen Arbeitszimmer auf einem großen grün verhangenen Tische aufgestellte kleine Galerie alter Brustbilder mit schwarzen oder verblaßten goldnen Rahmen.

Was sollen diese Bilder? fragte er erstaunt.

Schon lange, antwortete Louis, harrt diese kleine Galerie des Augenblicks, wo du in ihnen die letzten Reste des Andenkens an deine Mutter begrüßen würdest, mein Freund...

Und mit diesem Anblick, mit diesen erläuternden Worten fiel es wie Schuppen von Egon's Geiste.

Gott im Himmel! rief er, diese Bilder... da ist... träum' ich? Wach' ich? Ja, ja, – Das war's, worauf ich in der Nacht des Fiebers schon einmal fiel... da, da ist es ja – dies runde Pastellgemälde... Es ist ja das Bild, das vielersehnte Bild meiner Mutter!

Louis erzählte, was er von der Übergabe dieses von Egon mit Leidenschaft aufgehobenen und von allen Seiten betrachteten Bildes durch Schlurck wußte. Auch von dem Geheimniß dieses Pastellbildes hatte er ja schon früher etwas vernommen, war aber über die ferneren Schicksale desselben im Unklaren geblieben...

An diesem Bilde, Freund, ist ein Geheimniß! bestätigte Egon, kaum Louis' Worten folgend. Ich fasse nun Alles – ich finde mich zurecht – Louis sieh, sieh her... findest du etwas an dem Rahmen dieses Bildes... es ist schwerer, als es dem äußern Anschein nach sein könnte – es muß eine geheime Feder haben – ich beschwöre dich – erfinde, rathe, hilf! Ich bin fast unvermögend, meine Überraschung auszubeuten...

Louis sah mit Beklommenheit, daß Egon aus den Aufregungen nun nicht mehr herauskam. Er bereute fast, daß er es so mit dieser Galerie angeordnet hatte. Nach dem Spaziergange im Garten sollten ihn die Bilder erfreuen. Den Zwischenfall mit dem Pavillon hatte er nicht berechnet. Er bat den Freund, sich in Alles gelassener zu finden und von dem Bilde gleich abzustehen...

O ich fühle mich stark, rief Egon. Wo war ich? Gerechter Gott, das Alles verschwamm in Nebel! Ich muß wieder Menschen sehen, ich muß hören, sprechen, anknüpfen an das Leben... Führe mich in die Welt, Louis!

Louis sagte mit Zögern, daß er gehofft hätte, ihm heute einige Personen, die schon öfters nach ihm gefragt hätten, vorzuführen... es stünden mehre im Vorzimmer... aber er wage nicht... in dieser Aufregung, in diesem steten Wechsel der Eindrücke...

Führe sie herein! rief Egon. Wer will mich sprechen? Wer ist da? Ich muß Menschen sehen! Menschen umarmen...

Damit legte er das so werthvolle, abenteuerliche Bild auf die grüne Decke, ging selbst an eine Seitenthür und öffnete.

Herein! herein! rief er muthig und kraftvoll. Ich lebe wieder! Kommt! Ich habe das Licht der Sonne empfunden, ich habe den Duft der Blumen eingesogen. Kommt, Menschen! Kommt! Ich bin genesen.


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