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Das fünfte und sechste der Bücher, die dem Knaben von Bedeutung werden mußten, waren Göthes Faust und Don-Quixote.
Daß sich Göthes Faust in die bescheidenste Welt der Armuth verlieren konnte, war ein Wunder. Bei einem Spielkameraden, der in demselben Thurmpavillon wohnte, dem Sohne eines Dienstangehörigen des Königs, fand sich ein nie wieder so kostbar gesehenes, rundum in hellgelbes feinstes Leder gebundenes, auf stärkstem Velinpapier gedrucktes Exemplar des Faust, eine Prachtausgabe. Und wie, wenn dieser Faust Sr. Majestät selbst gehört hätte? Das kostbare Buch war ohne Zweifel in irgend einem der königlichen Wägen liegen geblieben und hatte (nach doch wohl erfolgter Anmeldung) keinen Herrn gefunden. Magnus hieß des Königs Rosselenker, bei dem der Knabe diesen Faust entdeckte. Von Potsdam nach Berlin, von Berlin nach Charlottenburg fahrend, hatte der König oder die Königin vielleicht in diesem Prachtexemplar geblättert. Es war im Wagen vergessen worden, die Königin war todt, der König liebte bekanntlich weder den Faust noch den Geheimerath von Göthe; so blieb unser Buch dem Kutscher Magnus und wurde das Lieblingsbuch seiner Kinder und deren Gespielen. Natürlich zwingt die Wahrheit sogleich zu dem Geständniß, daß dem Kind das einzig Gefällige und Verständliche im Faust sein rein Unverständliches war. Die Hexenküche, da war man heimisch. Da sah man die Töpfe und Kessel, den Blasebalg, den Rührlöffel und die Meerkatzen. Und diese Meerkatzen interessirten um so mehr, als eine Treppe höher, fast unterm Dache, noch ein unmittelbarer Dienstmann der Hohenzollern wohnte, der seinerseits Meerkatz hieß. Was sich in einem Kindskopfe aus so zusammentreffenden Umständen für ein logisches Ungeheuer bildet, ist nicht wiederzugeben. Ein Kind verknüpft das Fremdartigste mit einem Parallelismus, der selbst in späteren Jahren immer an der selben Stelle wieder auftaucht und bei gewissen Vorstellungen immer wieder dieselben tollen Unzusammengehörigkeiten vor dem Auge tanzen läßt, wie z. B. auch die, daß der Knabe den bekannten Preußischen Königsnamenszug Friedrich Wilhelm Rex, in drei verschlungenen Buchstaben dargestellt, immer nur mit einem vielgenannten Berliner Schullehrer und Cantor Namens Rex in Verbindung bringen konnte und noch ehe er etwas von dem schwäbischen Ursprung der Hohenzollern erfuhr, sich in demokratischer Vorahnung auch bei Königen einen ursprünglichen Familiennamen als nothwendig dachte und dabei nicht übel Lust verspürte, jenen Cantor Rex für einen irgendwie anzuerkennenden Seitenverwandten der majestätischen Herrschaften zu nehmen, die sonderbarerweise alle nur nach ihrem Vor- und nicht nach ihrem eigentlichen Familien Namen Rex gerufen wurden... Kehren nicht noch im Alter, wo doch diese Irrthümer alle amputirt sind, wie in Gliedmaßen, die man nicht mehr besitzt, dieselben tollen Empfindungen wieder, falls der correlate Nerv der Seele berührt wird? Und haben nicht unsre Träume noch bis zu jenem letzten, aus dem man nicht wieder erwacht, ihre ganz eigne, immer und immer mit gleichen Bedingungen wiederkehrende Topographie, dieselben nicht existirenden Straßen, Plätze, Gärten, und kann man sich der regelmäßigen Wiederkehr einer und derselben Traumvorstellung erwehren, z. B. der wahrhaft polternden, daß man noch einst einmal ein großes Abiturientenexamen zu bestehen hat? Diese Traum- und Kinderlogik brauchte lange, bis sich der alte hüstelnde Meerkatz in der Dachstube mit den sprechenden Meerkatzen des Faust allmälig auseinander fand. Die Thiere, die mit Kronen spielten, wie mit Glasscherben, die den Brei am Feuer rührten und zuletzt von einer durch den Schornstein fahrenden Hexe für ihr Ueberlaufenlassen der Töpfe gezüchtigt wurden, traten endlich unabhängig von dem Kutscher Meerkatz und in solcher Lebendigkeit vor die Augen, daß nach Anschauung regelmäßiger Puppenspiele in der Mittelstraße mit Göthes Faust eine dramatische Darstellung versucht wurde. Es that dabei nichts, daß ein aufgestürzter Stuhl, ein Fußschemel, ein paar Fensterkissen das Theater und anderweitig eroberte Figuren, die an sich Ritter oder Neufchateller Jäger darstellten, diesmal Hexen und Meerkatzen bedeuten mußten. Die Auslegung macht nicht blos beim Kinde das wahre Sein. Der reine Glaube ist das absolute Wissen. Die Vollendung der dargestellten Hexenküche, die, dem jungen Dramaturgen als vollkommen erreicht vorschwebte, hat spätere Bühnenanschauung im Opernhause nie wiedergegeben. Die an sich vergebliche Mühewaltung der wirklichen Reproduction verschwand gegen das Ideal einer Inscenirung, das so gut wie die Wirklichkeit selbst war. Wie sich die mit Kattunschürzen verhangenen Stühle vor dem Auge zu so mächtigen Rundbögen wölbten! Wie die Küche so schwarzberußt wirklich gesehen wurde! Wie diese den Neufchateller Jägern substituirten Meerkatzen sich balgten und mit dem Besen stäupten, weil »die Frau« nicht zu Hause war! Und dann jener Brei, den sie rührten, diese bekannten breiten »Bettelsuppen«, die die Kinder nur auf Mehlbrei, nicht grade ihr Leibgericht, beziehen konnten. Jetzt läuft der Kessel über, die Hexe, vom Schornstein herabfahrend, verbrennt sich und schreit: »Au, au, au, au! Verdammtes Thier, verfluchte Sau!« ... Diese cynische Stelle, sei es nur gestanden, wurde als die classischste in allen Tonarten, in Dur, Moll, in Grunz- und Fisteltönen nachmodulirt. Diese Stelle war die sprechendste Anmuthung an die trunkene Freude, so schauderhaft Natürliches, so rein der eignen unmittelbarsten Gegenwart und dem Selbsterlebniß Angehöriges gedruckt zu lesen! Das beschämendste Geständniß muß einräumen, daß vom ganzen Faust nur diese Salva-Venien als das erste Material der Poesie bis zur Ueberseligkeit durchgekostet wurden. Nächstdem das Hexen-Einmaleins, das dem Schul-Einmaleins so nahe stand und dabei wie die tiefste Anfangsahnung der Metaphysik lautete und feierlich, ja mit einem gewissen Respect vor der – man konnte nicht wissen, ob doch nicht hoch erhabenen – Hexenweisheit vorgetragen wurde. Schließlich erwarb sich noch der Prolog der Dichtung, der Herr unter den himmlischen Heerschaaren, ein eignes Interesse. Das Drama selbst, wo Mephistopheles dem Kinde lange nicht bocksfüßig und hörnermäßig genug auftrat, mundete nicht. Aber »der Himmel schließt, die Erzengel vertheilen sich« ... Das klang so selig und weckte goldensonnige Bilder! Dies Vorspiel war eine der Phantasieen, in deren lichtreine Sphären aus der Hexenküche man sich eben so flüchtete, wie der Knabe selbst in das Vordergebäude des Akademie-Quadrates schlich, wenn sein Gespiele, der Sohn des Kastellans, ihm eine geheime Thür öffnete und er zu einer Stunde, wo nur Maler, nur Kunsteingeweihte die Ausstellung der Gemälde besuchten, sich durch die goldrahmige bunte Farbenpracht, diese heilenden und lehrenden Jünger, diese Christuswunder, diese bunten Scenen der patriarchalischen Urzeit, die Abrahamsopfer und kanaanitischen Brunnengrüße hinschleichen durfte.
Die allmälige Erlösung von dem gewaltigen Druck einer dumpfen überreligiösen Stimmung förderte auch eine alte zerrissene Uebersetzung des Don-Quixote, die dem Oheim gehörte, der in der nächsten Umgebung des Prinzen lebte. Die Schwänke des sinnreichen Junkers von La Mancha wurden Abends von der Cousine und dem Vetter vorgelesen, noch öfter vom heitern und von aller christlichen Selbstqual entfernten Oheim unter Lachen wieder erzählt. Das Barbierbecken als Helm, die Windmühlen als berittene Feinde, eine Bauernmagd als Prinzessin und Sancho Pansa, der ebensogut ein Bauerlümmel aus Pommern oder der Uckermark hätte sein können, als Knappe, das waren Spässe, die zwar nicht so greifbar auf der Hand lagen, wie die Hexenküche und die Meerkatzen im Faust, im Gegentheil Spässe, die schon Sinn für Contrast, Ironie und Satyre erforderten, aber bei allem Kopfschütteln und starrem Gaffen eines im Grunde schon nur für sublimere Dinge empfänglichen Gemüthes verfehlten die Anpreisungen des Buches ihre Wirkung nicht und voll Emsigkeit wurde der Don-Quixote nicht ein, sondern mehre Male durchgelesen. Der Vater verlegte dabei die Scene wirklich nach Pommern. Diese Amtleute, Wirthe, Fuhrmannsausspannungen, diese Windmühlen, bebrillten Pastoren, steifen und nasehochtragenden Gutsherrschaften, alle spanischen Figuren des Cervantes fanden sich ebensogut auch in dem Andalusien Preußens wieder und wieviel wirkliche Don-Quixotes noch jetzt in Pommerns löblicher Ritterschaft leben, beweisen hinlänglich die Geschichten des Tages.
Die Zahl der gelesenen Bücher mehrte sich nun schon von Tage zu Tage. Sie zogen die Seele nach zwei Richtungen, dem Märchenlande der Poesie und der Welt der geschichtlichen Thaten und muthigen Unternehmungen. Das einfache Wissen von todtaufzuspeichernden Fakten schmeichelt sich dem Gedächtniß des Kindes nicht ein. Zwischen die wunderthätigen Feen, die Siebenmeilenstiefel des kleinen Däumlings und die Wilmsen'schen Heldensäle, Bardenhaine und die Abenteuer Robinson-Crusoes drängte sich allmälig noch eine dritte Gattung, man möchte sie die pädagogische Romanenwelt nennen. Es sind dieß die ländlichen Idyllen, die Pfarrersbesuche in Friedheim, die Familienabenteuer einer Reise des Amtsmanns Gutmann und seiner Kinder, Campes durch glückliche Zufälle eroberte Jugendbibliothek. Letztere bot noch den reizendsten Genuß durch seine dramatisirten Familiengeschichten. Der bei Campe auftretende arme Thüringer Bergmannsknabe, der mit seinem ländlichen Dialekt und seiner Kunstfertigkeit auf der Geige sich die Freundschaft und Liebe eines vornehmen Hauses erwirbt und seinen ihm dargereichten Teller mit Kuchen und Wein erst nach einem Dank an Gott in die Hand nimmt, wird jedes gutgeartete Kind rühren. Bald wird sich zeigen, wohin die junge Seelenschwinge sich vorzugsweise getragen fühlt. Zu Aladdins Wunderlampe und den verschlossenen Bergen, die auf des Zauberers Geheiß sich öffnen, zum lieben Tischlein deck' dich! Oder zu den Thaten Herrmanns des Cheruskers, den Siegen der Deutschen über die Hunnen, der Heldenbahn Luthers, dem Tode Gustav Adolphs und dem ebenso lieblichen wie rührenden Ende Theodor Körners. Oder in der That zu dem kleinen Bergmannsknaben, dessen naive Treuherzigkeit dialektisch aus einem später eroberten Antheil an einem Theater nach Kräften bis zur nie ausbleibenden Selbstrührung wiedergegeben wurde .... Die pädagogische Unterhaltungsliteratur des Tages tastet hin und her und bringt uns in jeder Weihnachtszeit neue Experimente mit dem Kindergemüth. Immer mehr aber greift die Sucht um sich, mit der Kinderkost weit mehr die Alten zu sättigen. Die Neigung der Großen, sich zuweilen von ihren Mühen auszuspannen und zum Scherz ein wenig läppisch zu werden, verwechselt sich nur zu oft jetzt mit dem Unterhaltungsbedürfniß des Kindes, dem allerdings auch das Läppische, wenn es bunt gemalt ist, gefällt, wie Alles, was ihm geschenkt wird, aber die Nachwirkung auf die Seele wird doch die leerste und die flachste. Das Kind bedarf Thatsachen und diese Thatsachen nicht todt und nur aufgespeichert, sondern in Bewegung gebracht durch irgend eine Handlung, irgend ein Lebensschicksal. Das Märchen sei ohne Ironie, ohne zuweitausgesponnene Zwecklosigkeit und romantische Träumerei, es lehre den Glauben an gute und böse Kräfte des Lebens, große gewaltige Elementarwirkungen und die Ausgleichung einer ewigen Gerechtigkeit! Die Thatsachenliteratur für Kinder schildre Männer, die Einziges wollten und Großes zu dulden verstanden, Helden des Geistes, die sich von unten herauf durch tausend Hindernisse emporarbeiteten, Forscher, die wie Columbus, keine Gefahr scheuten, ihr gläubigstes Ahnen zu verwirklichen! Das Familiengenre endlich hüte sich vor der Nachahmung fremder Erziehungstöne, wie sie besonders jetzt aus Frankreich herüberklingen! Diese geleckten übermalten Berliner Lithographieen mit den nach dem Pariser Modejournal geputzten jungen Herrchen und Dämchen, mit Knaben in Sammtgilets und Spitzenmanschetten, in englischen Lovely-Mützen und eng am Halse schließenden gebrannten Spitzenkrausen sind eine arge Vervornehmung der alten gemüthlichen bürgerlichen Jugend-Romantik Campes, Löhrs und Andrer, die zur deutschen Kinderwelt vielleicht etwas philisterhaft, aber in der einmal vorausgesetzten herrschenden deutschen Art und Sitte redeten.
Die Freuden der Natur und die alten Kriegs-Erinnerungen waren es, die gegen eine allzudüstre, gefährlich drohende Bigotterie auch im Hause selbst zuweilen fröhlichen Einspruch thaten. Selbst der apokalyptische Vetter konnte dem Reize einer Sonntagswanderung nach dem Dorfe Lichtenberg nicht widerstehen. Kornblumen und Lichtenberg waren dem Knaben ein und derselbe Begriff, und fast möchte man an die neue Lehre von einer materiell sich abdrückenden Einsammlung der geistigen Erfahrungen glauben; denn bei jeder Kornblume wird noch dem Manne Lichtenberg, wie bei jeder Heuschrecke, die in den Herbstesstoppeln singt, das Dörfchen Tempelhof einfallen. Eine Wanderung nach Lichtenberg begann um die Mittagszeit und zog sich durch die entferntesten Stadttheile. Unterwegs stieß zu der frohbewegten Karavane dieser oder jener Verwandte: Der Vetter Christian mit dem Lederwamms aus Ungarn, der inzwischen schon einen Buckel nach dem andern hatte auftrennen müssen und freudvoll und leidvoll eine sonderbare Heirath schloß, die im Zusammenhange mit dem ihm wirklich tieftragischen Weh, daß die Filzhutmacherei plötzlich von den Seidenfelbelhüten, das zünftige gründlich erlernte Handwerk von Seidenhutnätherinnen und Papparbeitern verdrängt wurde, durch eigenthümliche Umstände den Griffel eines städtischen Dorfgeschichten-Dichters herausfordern müßte; der Vetter Wilhelm, der heute schon zwei Kirchen und die Rechtgläubigkeit ihrer Kanzeln geprüft hatte und mancher Andre. Vorüber ging es dann regelmäßig an einem Erdgeschoß in den Vorstädten, in dem eine andre unheimliche Jugenderinnerung und wieder etwas Seltsames aus der Sphäre des schönen Geschlechtes hauste. Es war dieß die gespenstersehende sogenannte »alte Cichorien-Liese.«
Diese lange hagre »alte Cichorien-Liese« hatte noch einen imposanteren Wuchs, als die Hexe am Königlichen Schloß. Knochig, spitznasig, langfingrig, mit Habichtsaugen, scharfredend und dabei stocktaub. Sie war vermögend diese holde Dame und wollte durch einen Handel mit Cichorien, den sie in einem kleinen Kreise von regelmäßigen Abnehmern mit Hülfe einer sie begleitenden Dolmetscherin, die ihr den Korb tragen mußte, trieb, sich nur zerstreuen und unterhalten. Diese Cichorien-Liese schritt wie eine Königin so stolz, schnupfte wie ein Minister und beschäftigte sich nur mit den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens, mit der großen europäischen Politik und mit den Gespenstern. Die Cichorien-Liese konnte in der That die Göttin des Jahrhunderts vorstellen; denn stocktaub und lautkreischend hielt sie gewöhnlich eine großmächtige Messingtrompete wie Frau Fama in der Hand. Diese Trompete setzte sie aber nicht an den Mund, sondern ans Ohr. Es war eine Schalltrompete, durch die sie ihre Taubheit mit einer Welt vermittelte, deren sichtbare und unsichtbare Dinge ihr leidenschaftlichstes Interesse erregten. Die Cichorien-Liese kam nicht zu oft zu den Eltern des Knaben, denn ihr Handelsartikel diente diesen nur zur angenehmeren »Färbung« des Kaffées und zur Herstellung jenes pikanten Geruches, der der gebrannten radix cichorea selbst von halben Türken im Mokkagenuß nicht abzusprechen ist. So oft sie aber kam, war es immer ein wirkungsvolles Ereigniß. Ihre dienende Famula trug den verdeckten Korb, sie selbst schritt stolz voran, setzte sich feierlich und begann, wenn sie eine Priese zur Nase und dann die Trompete zum Ohr genommen hatte, regelmäßig eine Conversation über die höchsten Interessen der Menschheit. Entweder war es »Boneparte«, über dessen Pläne auf St. Helena sie die genauesten Mittheilungen besaß, oder sie hatte, als gebornes Sonntagskind, wieder Geister gesehen. Die Politik und die Geister waren ihr Steckenpferd. Sie näselte im Sprechen, sprach aber so stark, daß es fast dasselbe Schreien war, mit dem in die Trompete die Fragen oder Antworten gerufen werden mußten. Die Erhebung der Griechen erfüllte die Cichorien-Liese mit einem Interesse, das ihr Handel mit Caffee-Surrogaten doch sonst an der Levante nicht nehmen konnte. Ihre Phantasie sah nur türkische Kriegsschiffe unter Brandern in die Luft springen und griechische Kinderköpfe, von den Türken zu Tausenden abgesäbelt. Es schien ihr unwiderleglich, daß »Boneparte« jetzt ebenso die Griechen gegen die Türken commandirte, wie er späterhin bei Varna und Schumla die Türken gegen die Russen commandirte. Die Cichorien-Liese sprach von den Congressen in Carlsbad und Verona, vom Fürsten Hardenberg und, auf innere Angelegenheiten übergehend, von der Erhöhung der Miethsabgaben mit derselben Gewißheit, wie sie regelmäßig unter einem seufzendabwehrenden »Ach lieber Gott!« der Mutter auf ein Hereinragen der Geisterwelt in die unsrige so ruhig und glaubenfest überging, daß Justinus Kerner seine Freude daran gehabt hätte. Die Cichorien-Liese bewohnte eine anständig eingerichtete comfortable Kellerwohnung, von der sie behauptete, daß es in ihr »spüke.« Es war dabei seltsam, daß sie stocktaub doch Geister immer deutlich hörte, auch ohne ihre Trompete. Mit überzeugungstreuer Sicherheit erzählte sie, daß es erst vorgestern wieder in der Nacht, wo sie nicht hätte schlafen können, ganz deutlich und vernehmlich hinter, in oder an der Wand gerufen hätte: »Wilhelm! Wilhelm! Ach Wilhelm!« Sie erzählte, daß sie zwar gegen das »Spüken« ein Bannungskraut, die »Spieke«, in ihre Betten verstecke, aber da sie ein Sonntagskind wäre, hülfe es nicht viel. Es kämen ihr die Gesichter wie über den Weg. Wenn sie allein säße und sich nur umdrehte, so könnte sie Köpfe mit langen Bärten sehen, die sie um Erlösung anbettelten. Sie ging ohne alle Metaphysik rein durch Erfahrung von der Idee des Zwischenreiches aus, in dem eine Menge von Seelen haltlos umherirrte und ihre Stunde oder passende Unterkunft suchte. Längst verstorbene Verwandte nicht nur, sondern auch noch lebende, nur nicht grade anwesende, sah die Cichorien-Liese sehr deutlich hinter ihrem Kachelofen sitzen, andre beim Aufblicken vom Studium ihrer Vossischen Zeitung »justement in die Kammer« gehen. Die Geisterseherin schritt nach ihrer Erzählung gewöhnlich auf die Erscheinungen herzhaft zu und verjagte sie eben nur durch diese Herzhaftigkeit. Es stand ihr fest, daß die Seelen der Todten die unglaublichste Unruhe hätten und sich um jeden Preis gern wieder in dieser Welt zu schaffen machten. Auch könnte man überzeugt sein, es lägen so viel geheime Schätze in der Erde vergraben, so viele Verbrechen blieben unentdeckt, daß es schon darum keinen Menschen Wunder nehmen könnte, wenn es des Nachts an ihrer Wand raschelte und mit herzzerreißendem Jammer riefe: »Wilhelm, Wilhelm, ach Wilhelm!« Unser Apokalyptiker, der wirkliche Vetter Wilhelm, wenn er »arbeitslos« war, traf oft mit der geistersehenden Cichorien-Liese zusammen und es entspannen sich dann die schauerlichsten Gespräche über das dunkle Dießseits und das allerklarste Jenseits. Beide hatten die gleiche Neigung für die Politik, für »Boneparte«, die Griechen, die Türken, den Papst und die Miethsabgaben, allein in ihren Prinzipien wichen sie von einander ab. Die Cichorien-Liese war durchaus weltlich und beinahe heidnisch. Der Apokalyptiker dagegen ließ die Geister nur unter gewissen Umständen gelten – kannte er doch Swedenborg und sprach mit Ehrfurcht von ihm! Er verlangte eine religiöse Färbung dieses Geisterglaubens. Er unterschied die Selbsttäuschung und die Offenbarung. Vetter Wilhelm erklärte, es gehörte zum Geistersehen mehr als nur Taubheit oder ein Geburtstag am Sonntage oder der narkotisch betäubende Duft der gebrannten Cichorie; es gehörte ein reines Herz dazu und gottseliger Wandel und Gottes besondere Geneigtheit und spezielle Vorliebe für irgend einen zum Geistersehen erwählten Menschen. Ihm war das Geistersehen eine pure Gottesgnade. Die Cichorien-Liese pflegte solche Einwendungen im schnarrendsten Schreitone abzuweisen und blieb bei ihren Visionen, die ihr auch ohne Kirchenbesuch und Bibel kämen und nur destomehr kämen, je mehr sie »Spieke« legte. Die Spieke und das »Spüken« blieben seither dem Knaben wieder so Eins, daß ihm noch in allen Stunden, wenn er ein Gartenbeet mit Lavendel eingefaßt sieht, die Dämonologie der Cichorien-Liese einfällt, ebenso wie beim Namenszuge der Preußischen Könige auf Kanonen und Patrontaschen, wie schon erzählt, der alte Cantor Rex.
Bei den Wanderungen nach Lichtenberg wurde in den Geisterkeller der Cichorien-Liese ein rascher Blick geworfen; aber nur flüchtig; denn ihre Lebhaftigkeit, ihre Abgeschlossenheit von der Welt durch die Taubheit hätte zu langen Aufenthalt gekostet. Man wanderte weiter. Zum Landsberger Thor hinaus. Flach, flach, kahl, kahl ist der Weg nach Lichtenberg! Und doch lebt er im Jugendgedächtniß nur als eitel wogendes, sonnenbeglänztes Kornfeld, als Schmetterlingstummelplatz, als blauer Cyanen- und rother Mohnblumengarten. Dies Durchschreiten durch hohe Aehren, die sich in der Sonne wiegen und schwadenweise bald auf diese oder auf jene Seite sich im Winde senken, wie wonnevoll dem Knaben, der noch so klein, daß er in ihrem Schatten wandelt, nur blauen Himmel über sich sieht und neben sich die Kornblumen mit ihrem blauen Johanniterkreuz auf der grünen Basthülle der Knospe, die rothen Flatterrosen, die Mohnblüthen, die er pflückt und dabei über die Löcher der Maulwürfe stolpert. Rings die wogende gelbe Saat. Dies freundliche Grüßen der Vorübergehenden, diese schallende höfliche Erwiederung der ganzen Karavane. Die Männer ziehen die Röcke aus und tragen sie auf Stöcken. Die Frauen drängen zur Eile, um bei einem Bauern noch einen guten Gartentisch oder einen Sitz dicht unten seinem strohgedeckten Giebeldache zu erobern. Endlich sieht man das Dorf mit seinem Kirchthurm und dem seit Jahren bekannten großen Storchennest, das so unvordenkliche Rechte und Erbpachtsansprüche der dorthausenden Storchenfamilie zu haben scheint, wie einst der alte General Möllendorf hier in seinem Schloßparke am Ende des Dorfes hatte, oder jener Liebhaber von Pfauen und türkischen Enten, die linker Hand einen großen hellen Wirthschaftsraum und ein stattliches Anwesen zieren. Eine spröde Opposition des märkischen Bauern gegen Berlin und Berlinerthum macht sich auch darin geltend, daß fast bis dicht unter die Thore der Stadt der Landbewohner seine allgemeine bäuerliche Art behalten hat und daß man sich auf eine halbe Meile von Berlin schon wie mitten in die Altmark oder die Priegnitz versetzt glaubt. Kleine niedrige Lehmhäuser mit dichten Strohdächern, eine düsterschattende Linde vor dem Thor, Räder, Deichseln, Latten den Eingang hemmend. Die Tracht ganz ländlich, kurze Jacken, lederne Hosen, bunte Nachtmützen, die Sprache plattdeutsch, frei von dem scheußlichsten aller deutschen Dialekte, dem der Hauptstadt, auf dessen nicht unmögliche Ausrottung eine Regierung, die wahre Volksgröße liebt, Prämien setzen sollte. Was gab es bei einer solchen Wanderung nicht zu behorchen, zu belauschen! Der Knabe steckte die Nase in alle düngerduftenden Ställe, in alle so eigenthümlich trockenlustigen Scheunen, kletterte auf die würzigathmenden Heuböden, sammelte im Garten an den Kirschbäumen vergessene gedörrte, von Vögeln angepickte Reste, sammelte Harz, das man mit den Fingern zu kunstvollen Geweben abspann, ging auf die Raupenjagd im Kohl- und Rübenfeld und dämmerte so hin in jener traumseligen Gedankenlosigkeit der Kinder, die das Große und Wichtige übersieht und sich an einer kleinen aus Steingeröll hervorgesuchten Blume oder einem Brombeerheckengewirr, durch das sich blaßrothe oder blaue Winden schlängeln, oder einem Marienkäfer, den man sich in irrender Emsigkeit über die Hand laufen läßt, die größten und beneidenswerthesten Welten ausspinnt.
Die Kraft der geistigen Sinne wächst. Sechs Jahre war der Knabe alt, als ihn schon ein Weltereigniß aus dem dumpfen Chaos des kindischen Ichs wachrief. Es war dies die Jubelfeier der Reformation. Die Bedeutung dieses Festes wurde vollkommen verstanden. Der lebhafte Sinn des Vaters wußte das Verbrennen des Tezelschen Ablasses, das Anschlagen der freien Glaubenssätze an die Wittenberger Kirchenthür und alle Fingerzeige Gottes in dem Leben des großen und deutschesten Volksmanns so anschaulich zu machen, daß diese Glockentöne, die drei Tage lang wie ein bewegtes Meer der Lüfte zu wogen und zu brausen nicht aufhören wollten, auch die ganze Seele ergriffen und zum protestantischen höchsten Hochgefühl hoben. Voll eitel Sonnenschein und wie ein einziger dreitägiger Glockenton ist diese erste historische Erinnerung. Ihr folgte die Kunde von Napoleons Tod, der auf den Straßen nicht eben mit Siegergroßmuth ausgerufen wurde. Dann der Kampf der Griechen und Türken, nachgeahmt in allen Kinder-Spielen, wo Jeder Grieche, Niemand Türke sein wollte und zuletzt das Abzählen entscheiden mußte. Sand's Ermordung Kotzebues fand dann schon im Knaben die ganze parteiische Würdigung, der selbst berühmte und ernste Männer wie De Wette nicht widerstehen konnten. An allen Bilderläden, hinter Fenstern und auf offener Straße hingen die Darstellungen der Ermordung Kotzebues, wiedergegeben in allen Einzelheiten, bald im Moment der Anmeldung Sand's, bald im Ueberfall und Niederwerfen des Schlachtopfers oder in der Gefangennehmung des Mörders, wo dieser vergebens sich zu tödten suchte. Dann noch gesellten sich später alle Momente der Urtheilsverkündigung, die Fahrt zum Hochgericht und des »Richtens« hinzu. Ueberall hing Sand's Bildniß. Von hundert Rauchern hatten fünfzig gewiß einen Pfeifenkopf mit dem Abbilde des Mörders, der vom Vater mit unbedingtem Abscheu verurtheilt, von der Mutter mit den Worten bemitleidet wurde: »Der schöne junge Mensch!« Die Nähe der Universität brachte mit der damaligen Studentenschaft in die unmittelbarste Berührung. Der Vater nahm an der altdeutschen Tracht den entschiedensten Anstoß, verspottete mit der bittersten Abneigung Jahn, den Turnlehrer, und erstickte die heißeste Neigung des Knaben, sich im Zwillichkittel für die Hasenhaide anwerben zu lassen, unbedingt. Der Altpommer that dies mit einer Fluth von Verwünschungen so gottlosen, hochmüthigen »Narrentreibens«. Es stellte sich schon allmälig in der Zeit der Bruch zwischen Stillstand und Bewegung heraus, ein Bruch, der einem nun in die Nähe von hohen Stabsoffizieren gerückten Manne früher zum Bewußtsein kommen mußte, als der Masse, die erst durch die Einkerkerungen der akademischen Jugend stutzig wurde. Auch die bis zum neuesten Datum so angewachsene Verachtung der Volkswehr durch die disciplinirte Armee gab sich in den Worten kund, daß diese jungen Boxer und Balger in der Hasenhaide, mit ihrem »Hansnarrn«, dem Professor Jahn, an der Spitze, beim ersten Kanonenschuß, den sie von den Franzosen hören würden, alle davonliefen. Das Turnen wurde für die überflüssigste Spielerei erklärt, die noch dazu die Gefahr der Verwilderung brächte, wofür es freilich Beispiele genug gab. Der Kriegstaumel spukte noch so in allen Köpfen nach, daß von der Schuljugend in den Straßen die wildesten Scharmützel geliefert wurden. Vor dem eignen Hausthor erlebte man eine dieser Schlachten, die von einem Turner mit einem grünen italienischen Fischernetze auf dem langbehaarten Haupte masanielloartig befehligt wurde und einige blutende Opfer zur Folge hatte. Dem militärischen Sinne des Vaters waren schon diese langen Haare ein Gräuel. Er nannte diese neue Mode Lichtstecken, Talglichte, Besenreiser, Flachswocken – Junker Tobias von Rülp konnte von Junker Christoph von Bleichenwangs Perrücke nicht anzüglicher reden. Die grauen Kittel und Hosen der Turner wurden mit den Zwillichkitteln der Festungssträflinge verglichen. Von Jahn hieß es, dieser Mann »sollte sich der Sünden schämen, so niederträchtige Narrenstreiche mit den Kindern aufzuführen.« Ein einziger »Bauerjunge aus Klempenow oder Löcknitz bräche diesen Taugenichtsen in der Hasenhaide alle Rippen entzwei.« Stangenklettern, Reckspringen, Boxen und Ringen waren diesem Zuchtprediger »brodlose« Künste. Und als dann Kotzebue von einem solchen Turner, von einem solchen Studenten in altdeutschem Rock und langen »Lichtstecken« wirklich ermordet wurde, da »hatte man die Bescheerung.« Die Hasenhaide wurde geschlossen, Jahn gefänglich eingezogen, die Turnerei als staatsgefährlich für lange Jahre verbannt.
Ein Weltereigniß war ferner der Brand des Schauspielhauses. Wie sich das Reformationsfest eingeprägt hat als ein ewiges von den Linden abwärts herübersummendes frommes Läuten und Brausen im glücklichsten Sonnenschein, so zwei Jahre später der schwarze wieder von den Linden abwärts wallende den ganzen Himmel schwärzende Rauch, der Tagelang nicht weichen wollte. »Ihr bleibt zu Hause!« Dieß mächtige Mutterwort steht wie in Erz geschrieben aus dem Getümmel noch jetzt im Gedächtniß. Das war ein Trommeln, ein Blasen, ein Fahren, ein Lärmen, ein Sturmläuten und diese Flammen, diese knisternden tausend Funken, diese verwehten angebrannten Papierstreifen, Ifflands alte Rollen, Kotzebues beliebteste Stücke, alle herumfahrend, diese Zindelschnitzelchen, die der Knabe weit vom Schauplatze des Brandes entfernt noch auf dem Boden glitzernd fand, diese ihm noch unbekannte »wirkliche Welt« der Bühne, diese Wunder des Geheimnisses so ausgestreut und verzettelt über alle Straßen im Tageslicht ... es war eine Begebenheit, die sich noch in ihren Folgen lange durch die Knabenzeit hinzog, denn auf den Brand folgte das Besichtigen der Brandstätte und der Schinkelsche Wiederaufbau, der zwei Jahre die Straßen versperrte. Beide Eltern, uneinig über die Turner und Kotzebues Ermordung, waren in der Abneigung gegen die »Komödie« einiger. In den Kirchen predigte der immer mehr um sich greifende Pietismus gegen die Bühne und nahm den Brand der Stätte, wo der sündige Iffland gehaust hatte, für ein Zeichen der endlich einmal erschöpften göttlichen Geduld und Langmuth.
Der in der größeren Welt noch völlig blinden Umsicht ging für die kleinere doch immer mehr das Auge aus. Es wird eine entsetzliche Erfahrung des Kindes, daß die Welt so voll schlimmer Elemente ist! Diese Erfahrung wird nicht auf einmal gemacht, sie kommt langsam, sie schleicht sich erst allmälig in das gläubige, überall nur gute Menschen voraussetzende Gemüth. Man fürchtet wohl Böses, aber erst sind es doch nur Hunde oder Katzen oder Schornsteinfeger, von denen man Schlimmes gewärtigen kann. Dann hört man aber von wirklichen Uebelthätern, sieht sie sogar im nächsten Kreise, wird gewarnt, soll sich vor ihnen hüten. Und nun bei erwachender größerer Denkkraft werden Neid, Mißgunst, Verläumdung, Hinterlist, Verstellung, Schmeichelei, Geiz und Habgier an den täglichen Begegnungen unverkennbar. Welche Scenen, wenn böse, lügnerische Ankläger zur Rede gestellt werden! Die väterlichen Dienstverhältnisse zeigten eine Menge Menschen im Wettlauf nach demselben Ziele der Anerkennung und Auszeichnung. Einer sucht den Andern zu überflügeln und nicht selten wird nach schlechten Mitteln gegriffen. Schmeichelei gegen Vorgesetzte verfehlt selten ihren Zweck. Liebedienerische Unterwürfigkeit wird willkommener geheißen als biedre Gradheit und eine dem Vater eigne humoristische Vertraulichkeit selbst mit den vornehmsten Personen, mit Excellenzen und Hoheiten. Den Meisten der Untergebenen geht der Blick für das Menschliche auch an den Vornehmen gänzlich ab und die Vornehmen sehen es gern, sehen es lieber, daß sie als Begriffe, nicht als Menschen genommen werden. Wie liebte und rühmte man die wenigen gemüthlichen Ausnahmen! Und wieviel Wunderkraft, glücklich zu machen, besitzen doch die Großen! Sie brauchen Nichts zu thun, als sich würdevoll menschlich zu geben. Da schon gewinnen und beseligen sie.
Das Beklemmendste war, daß aus dem Bann der überlieferten Ordnung und der Leidenschaften der Existenzförderung heraustretend der Mensch sogleich auf klippenreicher Schwindelbahn erblickt wurde. Die grübelnden, brummischen, geizigen, gehässigen Berufsmenschen zogen den Knaben nicht an; aber von denen, die immer Lachen, immer Freude verbreiteten, stellte sich nur zu bald heraus, daß doch alle ihre Lust eine schlimme Kehrseite hatte. Der warf blanke Thaler auf den Tisch und rief nach Geigen und Flöten; der kam mit blitzenden Geschenken und gewann sich jedes Herz allein schon durch seine blitzenden, frohgemuthen Augen. Aber wehe! Bald ergab sich, daß der liebenswürdige Schelm ein Spieler, ein Schlemmer war. Seine Heiterkeit wurde frostiger, sein Auge matter, seine Hand magrer, seine Rede zerstreuter, sein Kleid ärmlicher. Der, der sonst gab, nimmt nun. Der, der sonst lustig tanzte, sitzt nun grübelnd hinterm Ofen, glücklich, wenn man ihn duldet und Niemand ihn um sein Befinden anredet. Das Volksleben ist so reich an diesen traurigen Gegensätzen. In jener Hauptstadt zumal, wo die Mehrzahl der Bewohner aus Armen und Unbemittelten besteht, giebt es die reichste Chronik verkommener Menschenschicksale. Der Strudel des Elends, der diese Menschen verschlingt, ist vorzugsweise die allgemeine Gewerbefreiheit, das viel zu leicht erworbene Meister- und Bürgerrecht. Der Trieb der Isolirung, der auf dem Lande auch Halt und Zusammenhang schon in einzelnes Elend aufgelöst hat, reizt auch hier zum selbstständigen Lebensversuch die schwächsten Kräfte. Der Gesell, nach Freiheit, Besitzstand trachtend »etablirt« sich und wirft den Köder seiner am Hause angeschlagenen Stiefeln oder Kämme oder Nägel wie in ein großes Meer aus. Oft beißt der Zufall an, noch öfter strömt aber nur die große Woge vorüber. Die erste Meisterschaft wird nicht ohne Selbstgefühl empfunden. Man hat ein Mädchen, eine Wittwe geheirathet, die einige hundert Thaler einbrachte. Gesellen arbeiten nun sogleich statt des Meisters. Dieser genießt seine Freiheit, lebt unter dem Vorwande des Kundenbesuches außer dem Hause und geräth in die Unsumme der kleinen Verführungen, die aus Kellern und Spelunken heraus ihre verderbenbringenden Arme strecken. Und Gott, was sind diese Verführungen! Wie unschuldig scheinen sie! Wie erlaubt dünkt ihr Genuß! Eine in einer Pfanne schmorende brenzliche übersalzene Bratwurst ... warlich, in, einer Stadt, wo man um zwölf Uhr zu Mittag ißt, kann eine um eilf Uhr genossene Bratwurst der Ruin eines ganzen Lebens werden. Ihr lacht? Aber der Stufengang ist einfach. Der »kundenbesuchende« junge Meister tritt in eine jener »Frühstücksstuben,« wo die Bratwurst in der Pfanne so verlockend schmort. Er wird sich ein »zweites Frühstück« geben lassen. Mit diesem »zweiten Frühstück« beginnt sein Verderben. Das scharfe Salz und der Pfeffer weckt den Durst. Der Trunk und der halb schon gesättigte Appetit hebt die Kraft und Unternehmungslust des sonst so genügsam dahinschlendernden Gesellen. Auf einen Exceß folgt der andre. Die Mittagszeit, wird sie nicht versäumt, kommt nun zu früh, der häusliche Tisch mundet nicht. Nichts verletzt die Gattin mehr, als das Verschmähen ihrer Kost. Vielleicht auch überbietet sie ihre Kraft. Im günstigsten Falle löst der Nachmittagsschlaf die Verstimmung. Der Meister erwacht gegen Abend, wo die angezündeten Straßenlichter zu neuem Leben außer dem Hause reizen. Wer in dieser Stufenfolge den allmäligen Ruin eines Handwerkers schildern und diese Schilderung mit den einfachen Worten: »Das zweite Frühstück« überschreiben wollte, würde das Elend von Tausenden treffen und ein Volksbuch liefern.
Es ist so wohlthuend und so erschreckend zu gleicher Zeit, daß unter diesen wildwachsen aufschießenden Meistern der wahre Stachel des Fleißes und der guten Sitten so oft entweder nur die Umsicht der Frau oder die Religion oder nur der Geldgeiz ist. Der letztere Trieb muß in der Natur des Betreffenden angeboren liegen und findet sich, in diesem Falle glücklicherweise, oft genug. Die Religion aber stirbt immer mehr als Bindemittel des Hauses ab und schlimm genug ist es, daß man die Form, in der man von Oben her jetzt diese so bedeutungsvolle Stütze des Volkslebens vor dem Wanken und dem Zusammenbrechen sichern will, als Freund des Bildungsfortschrittes nicht im Geringsten billigen kann. An die Stelle dieses schwankenden Haltes der positiven Religion sollte man entweder das tiefreligiöse Gemeinschaftsgefühl des Deutschkatholicismus und der freien Gemeinden, oder die politische Emancipation, das Bewußtsein bürgerlicher Rechte, das veredelnde, den ganzen Menschen hebende Gefühl einer unmittelbaren Beziehung zum großen Ganzen sehen. Das freie unverkümmerte Stimmrecht, das Stimmrecht, das uns die Reaction verkürzte, das Stimmrecht in einem wahrhaft neugebornen Staatsleben wird auch eine rückwirkende Kraft auf die religiöse und sittliche Weihe des Volkes üben. Denn unwiderleglich ist es, daß die unverkümmerte gesetzlich organisirte Theilnahme am Staat die untern Stände hebt, läutert, zur innern Sammlung führt, den Wetteifer in allem Guten fördert. Die Proletarier des Handwerks, zu denen man die kleinen Meister zählen muß, hat man sich zu unversöhnlichen Feinden gemacht, als man ihnen das eine Zeitlang genossene Stimmrecht wieder nahm. Es ist nicht das beleidigte Ehrgefühl allein, das in ihnen auf Rache sinnt, sondern das Gefühl der weggezogenen Stütze ihrer sittlichen Erhebung. Sie ahnten, daß sie leichter entbehren, leichter arm sein konnten, wenn doch irgend etwas an ihnen geachtet wurde, ihr Name, ihr Gewerbe, ihr Miethzins, ihre Miethsteuer, ihre Gewerbsteuer. Sie ahnten, daß durch das erst so glückliche, dann unterbrochene Experiment an ihrem sittlichen Menschen gerüttelt wurde, und werden noch lange unversöhnte Feinde unsrer jetzigen Ordnung bleiben, während die Intelligenz sich längst in ihre Verstimmung gefunden und in andern Erleichterungen für das, was auch in ihr verletzt wurde, Trostgründe gesucht hat.
So ist denn nur der einzige wahre Halt des kleinen Handwerkers noch seine häusliche Ordnung, sein Heerd, seine Familie, sein Weib. Die königliche und priesterliche Kraft des Weibes, einst so heilig gehalten von den alten Celten und Germanen, hat sich wohl in der Hysterie, der Nervenschwäche und der Salonbildung des modernen Frauenthums, aber doch noch nicht ganz im Strickstrumpf und dem Nähzeug verloren. Zum Glück findet der Handwerker, wenn er ein Weib nimmt und dazu entweder eine dienende Magd oder eine Nätherin wählt, in den meisten Fällen ein Wesen, das ihm den gewagten Schritt, ihr zu Liebe sein Gesellen- mit dem Meisterthume zu vertauschen, nicht bis zum Untergang gefahrvoll macht. Diese Frau nimmt sich der Küche, der Ordnung und Reinlichkeit des Hauses, der Wäsche ebenso an, wie des Geschäftes. Sie drängt zum Fleiß, sie spekulirt auf Kundschaft, sie kauft Vorräthe und hat ihr Auge überall. Der Mann, oft ein Simpel, steht verlegen da, wenn sein Weib Kunden zu gewinnen, zu vertrösten, ihnen zu »flattiren« sucht. Ihr Mundwerk hilft da ebenso nach wie ihre rührige Hand. Diese Frauen sind die Musterbilder ihres Geschlechts. Sie tragen alle Tugenden und alle Fehler der Gattung an sich. Sie erzürnen sich in dem Grade rasch, wie sie nur langsam zu gewinnen sind. Sie sind der Verstand und die Leidenschaft des Mannes, der nur in einzelnen Fällen wild, dann bis zum Thiere wird, sonst aber weit mehr, als das Weib, das Herz des Hauses darstellt. Mildthätig sind diese Frauen mit vorsichtiger Prüfung. Geben sie, so rührt sie das allgemeine Loos menschlichen Elends, das sie überhaupt mehr zu fürchten haben, als der Mann. Dem allgemeinen Fluch des Menschengeschickes steht das Weib näher, als der Mann, der nur das Einzelne sieht. Die Paradieseserinnerung lebt in dieser Sphäre lebendiger, als in der Region der Bildung. Bei dem Arbeiter ist die Frau wirklich die »Gehülfin« des Gatten und hält am Baume der Erkenntniß wirklich die Wache. Sie kann des Mannes Glück, sie kann sein Verderben werden.
Nur einzelne, glücklicherweise seltene Ausnahmen sind diejenigen Frauen im Volke, die sich in die Lage ihres arbeitenden Mannes nicht finden können. Putzsucht und die Näscherei bleiben glücklicherweise seltne Klippen. Die Frau des Armen spreche immerhin viel und nütze ihr Mundwerk! Sie besitzt oft nicht mehr an Bildung, als eben diese Sprache, deren Worte sie sich als einzigen Luxus nun auch recht zu Statten kommen läßt. Ueberschreitet sie aber auch hier das Maaß, so fängt mit der Schwätzerin der Ruin des Hauswesens an. Die Schwätzerinnen reden ein »Loch in die Wand«. Der Mann muß ihnen oft drohen, ihnen »das Mundwerk zunähen« zu lassen. Sie verschwätzen die Zeit auf dem Markt, am Brunnen, mit der Nachbarschaft. Sie überrühmen sich selbst, ihr Hauswesen, ihre Ordnung, und doch geht alles »hinter sich«. Die allzu lebhafte Phantasie, die solche ungebundene Zunge oft allein entfesselt, bricht »Rand und Band«. Nicht selten hilft schon der Trunk den erschlaffenden Geistern nach, die das Bedürfniß haben, so immer außer sich zu sein. Dann ergiebt sich das jammervollste Bild des Volkslebens. Ein ehrsamer, friedlich-still arbeitender Mann und ein Weib, das ihm Schande bringt, das er züchtigen muß, das ihm das »Bett unterm Leibe« verkauft, versetzt und überall Unsegen stiftet. Im glücklichsten Falle wird ein solches Weib zuletzt geistesschwach, kindisch, verkehrt und erlischt wie ein Licht unter ihren Kindern, die mit dem Vater gegen die eigne Mutter wie in einer angebornen Verschwörung aufwachsen müssen. Scheidung von einer unglücklichen Wahl durch die Gerichte? Wie kostspielig das! Der spätere Aushalt einer Geschiedenen ist gar nicht zu erschwingen. Nicht selten erbittern sich zwei ungleiche Ehegatten zu solchem Haß, daß Einer des Andern überdrüssig wird und ein Verbrechen sich entweder leise in die Seele einschleicht oder rasch einmal die verzweifelnde Leidenschaft überkommt. Und wie tief liegt dann meist im Volke das Bewußtsein des ewigen Unrechtes und der nie zu vergebenden Schuld! Selten, daß der Mörder eines Weibes, das ihm zur Lebensplage geworden, von seiner unerträglichen Qual, seinem tiefsten und sich von Gott zum Richteramt berufenglaubenden Abscheu vor dem Opfer seiner Wuth spricht. Er giebt seine Schuld ruhig zu, bietet sein Leben zur Sühne, hält sich an sonstige Fehle seines Innern, die wohl auf sein Armensünderbild passen und erst das stille Forschen des Menschenfreundes kommt auf die Spur, wie grauenhafte Thaten so allmälig wachsen und in der Vorstellung wurzeln konnten von dem angebornen, »von Gott eingesetzten« Richteramt der Familie unter sich selbst.
Oft führt der Dämon der Eitelkeit und des Vergnügens, der nun auch den Mann ergreift, dann zum Bettelstab. Die Zwischenstationen dieser Wanderschaft sind mannigfach und nicht alle sind sogleich von zerrissenen Lumpen behangen. Da schmettert die Trompete zu einem Ball, da klimpert ein geschniegeltes Töchterchen am Klavier, da bricht bei einem Gastgebot fast der Tisch von Speisen und den rauchenden Punschbowlen. Die kleinen Meister, die es leidlich »zu etwas gebracht« haben, werden meist durch ihre Weiber zur Theilnahme an einem Grundverderb des Volkslebens geführt, den »geschlossenen Gesellschaften«. Diese unschuldigen »Kränzchen« sind Ketten, die in's Armenhaus zerren. Irgend ein verdorbener Gelegenheitspoet, irgend ein Privatschreiber, ein Winkeladvokat, ein leichtsinniger Schulmeister, der seine Stelle verlor und Groschenweise bei diesen Volksklassen Stunden im Französischen und im Klavier ertheilt, giebt den Namen zu diesen Kränzchen, die zehn, zwölf, zwanzig armselige Familien von eingebildet wohlhabenden Handwerkern (eingebildet, weil momentan ihre Gesellen zu thun haben) zu Sommer- und Wintervergnügungen vereinen. Lebte hier die unschuldige Freude und die harmlose Erholung, wer würde diese »Uranias«, »Thalias«, »Odeons«, »Museums«, »Erheiterungen«, »Erholungen«, »Eintrachten« u. s. w. verpönen! Aber sie werden die traurigen Tummelplätze des allmäligen sittlichen und gesellschaftlichen Verderbens. Da werden die Läden eines einsamen Tanzbodens geschlossen, um acht Uhr finden sich aufgeputzt die Familien ein, Mann und Weib und Kind, die Geige lockt, der Brummbaß schnurrt, die Trompete schmettert, der Tanz beginnt. Noch jetzt wären die Wirbel und Strudel zu passiren, noch hat das Fahrzeug keinen zu großen Leck. Aber der tolle verdorbene Sprachmeister oder Winkeladvokat, der den herrlichen Namen dieser Freuden erfunden hat, ohne ihn richtig aussprechen zu können, ruht nicht. Sein Genius will noch eine ganz andre freie Zeche haben. Er macht den Petitmaitre, den Tanzmeister des Clubbs, den Kuppler. Er bringt die Gesundheiten aus, läßt die Subscriptionsbogen wandern zu einem Extraball, an dem auch andre »Anständige« für Entree Theil nehmen können. Die Ansprüche der Rivalität steigern sich. Die Frauen, ihre Töchter, überbieten sich in Ausschmückung ihrer welkenden oder knospenden Reize, die Männer zechen nicht mit jenem Maaß, das ihnen die Börse oder der Durst mißt, sondern in dem erwachenden altdeutschen Trinkmaaß des Uebermuthes, der Wettlust und der leeren hirntollen Prahlerei. Diese Ressource, dies Kränzchen, dies Casino, das als eine »Erholung« von zwölf ehrbaren Schlosser-, Tischler- und Schneidermeisterfamilien anfing, hat nach drei Jahren kein einziges Mitglied der ersten Stifter mehr, sondern wuchs über die entweder zur Erkenntniß Gekommenen oder die bürgerlich Gescheiterten zu einem immer üppigeren Gelage empor, das ganz in die Hände der Gesellen, der Schwindler, der Lustigmacher, der Friseure, Barbiere gerieth und in Berlin meist mit Errichtung eines Liebhabertheaters endet. Dies Unwesen duldet man in Berlin seit fünfzig Jahren und zählt jetzt mindestens dreißig solcher erschlossenen Spelunken der komischen Muse. Wie würdig ernst wollte doch auch da die neueste Zeit aufräumen! Wie hatten die Handwerkervereine auch das Familienleben des Arbeiterstandes zu veredeln gesucht! Die Männer vereinigten Weib und Kind nicht nur zu Vergnügungen, sondern auch zu einer mit der geselligen Erholung verbundenen geistigen Anregung. In den neuesten Revolutionszeiten brachten die »Bezirksversammlungen« den gemeinen und gebildeten Mann zusammen; der Handwerker sah in seinen Reihen den Gelehrten, den Beamten, den Kaufmann und eine Stimme nur herrscht darüber, wie veredelnd für den Niedrigen, wie anregend für den Höhergestellten diese harmlosen, oft wissenschaftlich eingeleiteten »Bezirks-Kränzchen« der Handwerker und kleinen Leute wirkten. Die Gewehrkolben der Reaction haben aber auch mit diesem Fortschritt der Volksbildung den bekannten staatsrettenden Kehraus gespielt und die alte Bettelwirthschaft der Ueppigkeit ist wieder in solcher Blüthe aufgeschossen, daß wir aus innerster Ueberzeugung erklären müssen, Religion und Christenthum im Volk sind nur noch durch die sinnigste Cultur der freien Gemeinden, Bürgertugend und Volkssittlichkeit nur durch die staatsrechtlich begründete Demokratie zu retten.
Der Ruin der um ihren innern sittlichen Halt gekommenen Handwerkerfamilien ist kein plötzlicher Bankerott, wie bei dem Kaufmann. Der schleppt sich eine Reihe von Jahren in bald ab- bald aufsteigender Linie so hin. Die aufsteigende Linie ist zuweilen ein plötzlicher Credit, ein Lotteriegewinn, eine Lieferungsarbeit mit eroberten Vorschüssen, ein vermietheter Halbtheil der Wohnung, eine zweideutige Hausfreundschaft, eine unzweideutige Bekanntschaft des inzwischen aufgeschossenen »Fräulein Tochter«. Die absteigende Linie ist das Mißverhältniß zwischen der Einnahme von den Kunden und der Abzahlung an die Lieferanten des Materials und des Handwerkzeuges, ein Zusammenstürmen der Forderungen von allen Seiten, ein sittlicher Eclat, den entweder die Eifersucht des Ehegatten oder ein andres Urrecht der Natur bei der Tochter herbeiführt. Dann sieht man plötzlich Handwerker ihre ganze arbeitende Existenz aufgeben. Sie springen in die zweideutige Gesellschaftsklasse der kleinen Spekulanten und Krämer und werden entweder »Restaurateurs« oder »Kafetiers«, Gastwirthe oder Händler mit täglichen und gemeinen Lebensbedürfnissen; meist eröffnen sie Läden mit Cigarren. Der Taback ist nicht nur in seiner Consumtion ein neuer Culturhebel geworden und hat in der Denkungsart der Zeitgenossen Revolutionen hervorgerufen, sondern auch seine Production, sein Betrieb wenigstens in den großen Städten, ist da, wo die Gewerbefreiheit herrscht, der gewöhnliche Uebergang zur sozialen Misere geworden. Einige Jahre schleppt sich so ein neuer »Kaufmann« durch das Mißverhältniß von Kundschaft, baarer Auslage, Credit, Kündigungsfrist der auf Accord gelieferten Waaren hin, bis sich sein Lädchen schließt, ihm einige Kisten Cigarren von seinem Bankerott zu eignem Consumo noch übrigbleiben und er auf der Wanderschaft durch's Leben eine neue Station betritt, nicht selten die des bewußten Schwindlers, des Spielers, des Gauners in feineren Umrissen, worauf sich bald auch die gröberen einstellen und all der Müh und Sorge das Zucht-, im glücklichsten Falle das Arbeitshaus ein Ende macht.
Das großstädtische feinere Gewerb- und Handelsproletariat ist besonders deßhalb so schwer zu bekämpfen, weil seine vorzüglichste Eigenschaft in dem Heldenthum besteht, das im Volke gemeiniglich »das große Maul« genannt wird. Dies feine Proletariat klagt nicht. Es geht nicht in Lumpen, blickt nicht hohläugig, schleicht sich nicht furchtsam an den Häusern entlang. Dies Proletariat des Schwindels und des »großen Mauls« trägt Siegelringe an den Fingern, goldne Ketten über rothe Sammetwesten, schnurbesetzte Paletots über dem wohlgenährten Embonpoint. Es ist überall zugegen, im Theater, in den Weinstuben, auf den Promenaden, es führt das große Wort und war das eigentliche Verderben auch der Märzbewegung. Die Gesinnungslosigkeit dieser Menschenklasse ließ sie das, was grade die Ordnung des Tages war, gleich »großmäulig« proklamiren, ob es sich nun um die Demokratie oder die Reaction handelte. Dies lasterhafte, freche Menschengeschmeiß von existenzlosen Schwindlern, halben Bankerottirern, Goldarbeitergesellen, die sich Juweliere nennen und Läden mit erborgtem Krame eröffnen, verdorbenen Bäckern, die sich zu Kornmäklern aufwerfen, Schreibern, die Häuser administriren, Pflastertretern aller Art vom »bummelnden« Geheimsekretär an, der seine eigne Frau zu den vortragenden Räthen schickt, wenn er um eine Gratification eingekommen ist, bis zum wirklich begüterten, wirklich verdienenden Maurer-, Steinmetzen-, Bäcker-, Fleischermeister, der aber aus Eitelkeit seine Kräfte überspannt, wenn er sich Pferde, Wagen, Bediente hält, dies ganze feine Proletariat der Großstädte griff ebenso rasch nach den Büchsen der Bürgerwehr, wie sie sie wieder wegwarf, gab Adhäsionsadressen den Advokaten oder den Soldaten, den Märzministern oder den Novemberministern, fügte sich in Alles, was ihm nur erlaubte, sich mit seinem hohlen, übergoldeten Elend immer in den Vordergrund zu drängen und durch sein im Volke bekanntes »großes Maul« den tiefinnern Schaden der ächten Bürgertugend und des häuslichen stillen Wirkens zu verdecken.
Das Wühlen und Ringen um Existenz auf diesem Gebiete erschien selbst dem Kindesauge schon wie etwas Ungeheuerliches und dem Leben alle Farbe und allen Duft Abstreifendes. Ein schwerer, furchtbarer Druck, der auf dem ganzen Dasein ruht, wurde bis zum Jammer gefühlt. Ein naturwüchsiges Walten des Fleißes verbirgt sich still in seiner friedlichen Werkstatt. Die Rouerie aber lärmt auf dem Schauplatz und schneidet den Blick ins ächte Leben ab. Am Staate nun vollends will eines jeden Scheiternden Hand zur Rettung sich klammern. Dem Staate und seiner Aemterfülle trägt sich diese Menschheit mit ihrer ganzen Käuflichkeit und um jeden Preis zu habenden Gesinnung an. Da wird nicht untersucht, wer da giebt, in welchem Sinne gegeben wird, in welcher Voraussetzung; man nimmt nur, langt nur zu und beschwört Alles, thut Alles, was der »Brodgeber« fordert. Was sollen auch die Sprossen jenes goldenen Proletariats thun, wenn auch sie nicht untersinken wollen? Der Vater lügt und heuchelt für den Sohn. Der Sohn, im glücklichsten Falle, quält sich ab, die Verheißungen des Vaters wahr zu machen. Ein ungeheurer Jammer stöhnt sich so leise ächzend aus der Brust von Tausenden aus, wenn sie diesen Jammer nur noch fühlen, aber die Meisten haben schon den Fluch eines solchen Lebens für seinen Segen hingenommen, spielen mit den Ketten, klirren sich mit ihnen eine angenehme Musik, denken total nur nach dem allgemeinen Nonsens, fühlen in Selbstabtödtung nur nach dem herrschenden Kanon der öffentlichen Moral und bringen Urtheile zu Tage, die alle Menschenwürde in Frage stellen.
Der Knabe entdeckte mehr Servilismus bei den Gebildeten, die er bald kennen lernen sollte, als bei den Armen, die ihm charaktervoller schienen. Die dienenden Volksklassen besonders sind auf ein frühes Herausstellen wirklichen inneren Werthes angewiesen. Eines Handwerkers Tochter, die nicht zu dienen nöthig hat, scheidet sich ihre sittlichen Momente nicht so früh und selten so rein aus, wie es die zu thun vom Leben gezwungen wird, die dienen muß. Fleiß, Güte, Treue, gehorsame Charaktererforschung, Fügen in fremde Art erfordert eine höhere sittliche Kraft, als das einfache Vegetiren selbst des noch Aermeren, der aber zufällig für sich freier dasteht. Ein Handwerker, der eine Dienende heirathet, sorgt besser für sich, als wenn er die Tochter eines Meisters gewinnt. Ein guter Diener ist besser, als ein schlechter Freiherr. Wir sind mehr in den Händen Derer, die uns leiblich bedienen, als Derer, denen wir geistig gehorchen. Daß aber Kleider Leute machen, sieht man am ersten an Dienenden. Je schmucker die Uniform, desto leerer der Inhalt. Je mehr der Herr verräth, daß sein geputzter Diener eine Erfindung seiner Eitelkeit ist, desto mehr wird sich auch der Diener als bloßer Statist zeigen. Wer Diener wie Herren kleidet wird des Dieners Diener, wenigstens muß er ihm noch geringere Kräfte miethen, die das thun, was der geputzte Hallunk selber thun sollte. Jede blanke Tresse am Rock ist ein gereinigtes Tischmesser weniger. Köchinnen sind komische Figuren der dienenden Welt. Sie ersparen in kleinem Betrug und werden im Großen selbst betrogen. Schwarz am Heerde, glänzen sie gern bei Licht. Sie haben die kostbarsten Kleider, tanzen am eifrigsten, müssen aber, je älter sie werden, für ihre Liebenswürdigkeit desto stärkere Ausgaben machen. So mancher Soldat, so mancher junge Handwerker betrügt sie um ihre Ersparnisse. Eine dem Knaben fast unverständliche Klasse von Dienstboten waren die Ammen. Es gab ihrer von allen Sorten. Ammen, die wie scheue Tauben ängstlich auf einem Hofe schlichen, Andre, die wie aufgeblähte Kalekuten einhertraten. Wie es möglich war, daß diese geputzten, in den besten Zimmern verweilenden Wesen außer dem vornehmen Kinde noch ein eignes daheim haben konnten, war vom Kinde schwer begriffen, aber manches Weinen wurde doch beobachtet, wenn ein junges Wesen, das »als Amme diente,« irgend in einem dunklen Dachstübchen erschien und rasch ein gleichsam im vornehmen Hause Erspartes an Nahrung ihrem eignen verschmachtenden, bei ärmsten Leuten oder Verwandten »auf die Ziehe« gegebenen Kinde darreichte.
Vom Volke kann man nicht sprechen, ohne die Juden zu erwähnen. Man hat sie für den Landbewohner recht als die Boten der Hölle geschildert, die mit Mephistopheles, dem Seelenfänger, in nächstem Accord stünden. Von seiner Vaterstadt kann der Knabe so grelle Jugendbilder nicht heraufbeschwören. Der Jude ist wohl dem Kinde früh ein Wort des Schreckens; nähert er sich aber, selbst im Barte, der früher noch öfter getragen wurde, und das Kind hält Stand und wechselt die Hand und einige Worte des Vertrauens mit dem Juden, so gewinnen die blitzenden Augen, die scharfen bestimmten Mienen des Antlitzes, die wohlklingenden Accorde der Betonung jedes Kind für den seltsamen Freund. Der bärtige Mann steht, das ist wahr, dem Kinde in unmittelbarer Descendenz von den »Jüden«, die den Heiland kreuzigten und des Guten möchte man sich von dem lauernden scharfen Blicke nicht eben viel versehen, noch weniger in seiner Christen-Herrlichkeit begreifen können, daß ein Getaufter mit solchem Völkerüberbleibsel auf einer und derselben Menschheitsstufe stünde. Aber ein freundlicher Gast wird der Jude doch. Er bringt Schalkhaftigkeit im Gespräche mit, Neuigkeiten, Wunder aus der Welt, er frägt so beflissen nach den Fortschritten in der Schule und spricht so liebevoll von seinem eignen Jungen, der grade so groß wäre wie der da und das nächste Mal woll' er ihn mitbringen. Freilich wenn er ihn mitbringt, ist die Art doch eine sehr andre. Der kleine Moses ist gar verstimmt, gar verdrießlich, frägt vorwitzig, fäßt Alles an, kennt keinen Respekt und macht dem Vater zu schaffen, der an seinem Moses Etwas zu tadeln oder zu strafen niemals in Versuchung kommt und doch auch will, daß Moses bei den Leuten, wo der Vater handelt, einen guten Eindruck hinterläßt. Früh bemerkt der Christen-Knabe, daß sich die Juden, selbst die ärmsten und ihre Kinder vollends, für vornehmer halten, als die Christen, selbst wenn sie den Christen schmeicheln. Es ist keine Täuschung, wenn die Christen klagen, daß sich die Juden für das auserwählte Volk Gottes halten. Es liegt ein Stolz selbst im niedrigsten Juden, ein Stolz auf seinen einigen Gott, seine lebensweise Religion, sein, man möchte sagen, diätetisch-kosmetisches Ceremonialgesetz. Der ärmste Trödeljude hat etwas vom Gefühl seiner Verwandtschaft mit den Erzvätern. Das Blut Abrahams rollt in ihm, sein erweislicher Stammbaum macht ihn nach Christensitte zum Adligen. Aber noch mehr, der ärmste Jude hat einen Zusammenhang mit seinem Volke, der nicht blos im Allgemeinen, sondern auch durch die Familie im engeren Verbande für ihn erhebend ist. Es sind »Leute« seiner Verwandtschaft, seines Namens wohlhabend, oft reich. Sein Moses hat Vettern und Onkel, die ihn vielleicht einst in ihr Geschäft nehmen. Diese Rückwand, wenn auch ohne Vortheile für den Augenblick, giebt eine Anlehnung für die Fälle des Unglücks. So treibt der Jude denn ganz vertrauensvoll sein Geschäft von Haus zu Haus, von Thür zu Thür. Er kauft Kleider, altes Geräth, er leiht auf Pfand, er giebt Vorschüsse auf Theilnahme am Gewinn, er bringt Loose zur Lotterie. Der weise Vater des kleinen vorwitzigen Moses kann mit der Zeit ein wichtiges Moment eines armen Christenlebens werden. Er klappert mit den »harten Thalern« und gebehrdet sich freilich oft genug als eine Art Seelenverkäufer, wenn er auch den Mund voll herrlicher Sprüche über seine Mäßigung, seine Liebe zu ehrlichen Leuten und seine enthaltsamen Zinsen hat. Aber zwingt ihn nicht wirklich der eigene Vortheil zur Mäßigung? Was hilft ihm der Ruin einer Familie, die zuletzt das Hemd vom Leibe versetzen müßte? Käme es zum völligen Bruche, was hätte er? Was sagten die Gerichte zu seinen »Zetteln«? Freilich sind diese Zettel klug abgefaßt. Wer zehn Thaler entleiht, schreibt nicht selten zwölf, wohl auch fünfzehn. Er nimmt statt der gesetzlichen Prozente der Fünf vom Hundert, Sieben, Zehn vom Hundert. Aber was konnte der Vater des kleinen Moses dafür? Hat er denn das Geld selbst? Ist er nicht auch ein »armer Mann«? Er bringt wohl das Darlehn, aber von Freunden, von »guten Freunden«, von denen er selbst borgen muß! Was ist zu thun? Der Bedürftige giebt dem Schelme nach, weil er muß, verschreibt Fünfzehn und erhält nicht einmal Zehn, sondern nur Neun, denn auch sogleich der Zins muß im Voraus abgezogen werden. Nun freilich, am nächsten »Ersten« beginnen die Rückzahlungstermine von Zins und Kapital .... Das heitergeschlossene Geschäft nimmt, wie Shylock sagt, »zu oftermalen«, eine tragische Wendung, aber es giebt auch weise Daniels und freundliche Levis. Sie mäßigen sich und spielen, wenigstens sagen sies, ein Stückchen göttliche Vorsehung bei ihren Freunden. Sie lieben, wenigstens sagen sies, die braven, redlichen Arbeiter, die zuverlässigen Kunden, die ehrlichen, wenn auch zuweilen rauhen Familienväter, die schmucken Hausfrauen, die reinlichen Kinder, die dem kleinen Moses kürzlich ihr Spielzeug mittheilten, und die braven und sorgsamen Hausstände. Und über Alles geht ihnen das Glück, das goldene Glück, Fortuna, die holdlächelnde, die blinde Gunst des Nummerrades und das große Loos! Denn gespielt muß doch werden, Menschen müssen doch da sein, die das Glück versuchen. Was hülfen ihnen, wenn sie sie auch allein spielen wollten, alle Loose ihrer Collection, was hülfe ihnen der Versuch? Sie kommen nicht heraus, sie haben kein Glück, sie sind nicht geboren unter dem und dem wunderthätigen Sterne, bei der und der Constellation des Himmels; denn ohne Aberglaube keine Lotterie. Einen blinden Zufall giebt es in einer Volkscollecte nicht. So »zieht« denn eine reine Jungfrau oder ein dummer Knabe oder ein alter Großvater oder man träumt das zu spielende Loos, eine Nummer mit drei Sieben nebeneinander oder nicht nebeneinander, je nach den Neckereien des Gottes Morpheus. Ist der Jude wohl jemals Atheist? Glaubt der Sohn der Erzväter nicht am gläubigsten an Gotteswunder und an himmlische Rathschlüsse? Das Lotto bindet was der Wucher trennen würde. Geduld, Sanftmuth, Nachsicht dürfen nicht fehlen. Die Wechsel werden prolongirt und die Ziehungen der Lotterie schweben über dem dunklen Lebenshorizont der Armuth und Entbehrung wie siebenfarbige Hoffnungsbogen, zerstiebend oft in Nieten und doch wieder neu sich bunt zusammenziehend, bis einmal ein wirklicher Gewinn aus den Wolken niederfällt, ein Gewinn, von dem zehn Menschen ein Jahr in Wirklichkeit leben, tausend Menschen aber, die nicht gewannen, doch den Gewinn sahen, geistig zehren, denn alle zünden ihre Hoffnungslämpchen an diesem Phosphorscheine an. Die Lotterie! Man bekämpft sie, nennt ihre Einwirkung verderblich. Möglich beim Uebermaaß der Leidenschaft. Mäßig aber angerufen scheint diese Versuchung des Glücks in der That im Leben der modernen Menschheit etwas auszudrücken, was sie sonst nicht besitzt und doch so innig bedarf. Bei aller Mühe, allem Trachten nach dem vom Auge festgehaltenen, von der arbeitenden Pflicht nothwendig erstrebten Ziele doch eine einzige Hoffnung auf die aus den Wolken langende Hand des Geschicks! Bei allem Nothwendigen, dem der Arme nicht entgehen kann, ein Zufälliges, das in sein Leben so reizend hineinspielt, wie in das Leben des Gebildeten nur seine Hoffnungen auf die Liebe eines schönen Weibes, die Gunst eines Großen, die Berechnungen öffentlicher Umstände! Mit der Abschaffung des Lottos, zumal bei der Verbesserung desselben und der Abdämpfung der allzugespannten Erwartung durch das Klassensystem, stirbt selbst dem bessern Theile des Volkes ein letzter Rest von Poesie, eine letzte Vergoldung seines dunklen Erdenlooses. Man muß sich aus Erfahrung überzeugt haben, wie das im Schrank verwahrte Loos, an dem vielleicht drei, vier Nachbarn spielen, gehütet wird, wie sorgfältig die Einsätze gespart, aufgesammelt, berichtigt werden, wie erwartungsvoll die Ziehungsliste in der Hand des Juden begrüßt wird, der selbst wenn er die Niete bringt, seine ganze angeborne Geisteselastizität zu unverzagtem Glauben an künftiges besseres Geschick in Thätigkeit zu setzen weiß. Und bringt er endlich wirklich einen Gewinn, wie kann man die seltnen Beispiele toller Anwendung des großen Looses bei den Armen für einen Beweis der Verwerflichkeit eines mit Besonnenheit überwachten Lottos nehmen? Wohl, das große Loos fällt in zwanzig Parcellen auf kleine Leute. Seine Wirkungen sind wundersam. Der Eine wird Verschwender, der Andre Geizhals, der Eine läßt sich von seiner Frau scheiden, der Andre, eben im Begriff, sich von ihr scheiden zu lassen, versöhnt sich mit ihr (durch das Glück! Denn das Glück macht die Menschen der Liebe und Güte zugänglicher); ein Letzter erhängt sich wohl gar, weil er vergessen hatte, die fünfte Klasse zu berichtigen. Das ist Alles vorgekommen. Aber diese seltenen Fälle entscheiden nichts. Der kleine Gewinn kann heben und wirklich fördern. Der Knabe sieht noch jetzt jenen Tisch, der einst mit einigen Doppelfriedrichsdoren belegt war, die die Eltern gewonnen hatten. Er war so geblendet von dem Glanz, so überrascht davon, daß ein einziges dieser kleinen Stücke mehr als eilf »harten« Thalern gleichkommen sollte, daß er eines davon nahm und genauer betrachten wollte. Der Vater des kleinen Moses, aufgeregt von der Erwartung seines Gewinn-Antheils, verwies die Neugier mit dem kurzen scharfen epigrammatischen Wort: »Nun? Sind sie nicht ächt?« Die Mutter bekräftigte diese Goldprobe des Vertrauens durch einen gewaltigen Schlag auf die Hand des vorwitzigen jungen Kritikers, bei dem man wie später im Leben oft Kritik voraussetzte, wo er nur harmlos und glücklich sein wollte. Diese Aufwallung des Augenblicks war die einzige Unbill, die jener Gewinn ins Haus brachte. Sonst ging alles seinen geraden Weg fort, wie immer. Nur die Hoffnung auf jene himmlischen Mächte, die doch vielleicht unser Erdenloos so eigen führen, hatte zugenommen.
Damals wurden die Sparkassen eröffnet. Sie erregten unter den von Hause aus zum Geiz geneigten Gemüthern nicht geringen Antheil. Unter den minder Geldbegierigen, nur Sparsamseinwollenden, ließ aber der Eifer bald nach. Man bringt, man holt wieder. Das geht einige Male, bis die Lust erkaltet. Könnte man in den Einfluß der Juden auf die untern Volksklassen eine gewisse Ordnung, eine Regel, eine Art Organisation bringen! Die Bilder von Juden, die die Treppe heraufschleichen und an die Küchenthüren pochen mit freundlichem Gruß und auch wie Sendboten einer schöneren Weltordnung von den Armen empfangen werden, wollen dem Knaben nicht vom Auge weg. Er sah zu oft, daß diese Auserwählten Witz, Laune, Heiterkeit, goldne Lebensfarben mit sich brachten und wie Kuppler des Glücks die Armuth aus ihrer aschgrauen Welt in eine schöne leuchtende der Feen versetzten! Oder bleibt ihr, die ihr das Bild von »blutsaugenden Wucherern« festhalten zu müssen glaubt, doch bei dem Spruche: »Sie lispeln englisch wenn sie lügen?«
Sie lispeln englisch, wenn sie lügen! Ein Engländer übersetzte den Vers: They lisp in English, when they lie. Das führt den Erzähler auf die Freihändler. In den städtischen untern Volksschichten ist vom Freihandel schwerlich eine gute Meinung verbreitet. Das Seufzen über »die englischen Waaren« verband sich beim apokalyptischen Vetter nicht selten mit seinen Weherufen über die eigne sündige Brust. Er war sehr ergeben in Gottes Fügungen, der Vetter; aber zu eifrig las er doch in den Büchern der Geschichte, um zuzugeben, daß Gottesverfügungen und Ministerverfügungen gleiche Verehrung verdienten. Die Lieblosigkeit des Staates gegen seine Kinder entsprang ihm aus dem allgemein herrschenden Unglauben, der nach ihm nirgends finstrer waltete als in den Köpfen der Staatsmänner. Und nicht nur die kleine Zahl der Musselinweber klagte über die Politik der Hardenberge und Kleewitze, sondern durch alle Stände der Arbeitenden ging dies Seufzen und Jammern und Trauern über die »hereinkommenden« Waaren. Wenn diese Menschen sich auf der andern Seite selbst gern ein wohlfeiles Pfund Fleisch vom Lande hereinschmuggelten und die Zollstätten und die Metzger betrogen, so kamen sie unbewußt auf den reinen politischen Naturzustand zurück: Schütze die Arbeit, erleichtre die Nahrung! Freilich sagen unsre Nationalökonomen, daß hierin ein sich selbst auflösender Gegensatz läge, aber der Volksverstand könnte erwiedern: Diese Selbstauflösung verschuldet nur das Budget des Staates. Und diese Schlußfolgerung bleibt auch im Volke selbst nicht aus. Das Volk sagt ganz einfach: Die Soldaten und die Beamten kosten zu viel. Und um dieser auf der Hand liegenden Wahrheit zu entgehen, erfindet man so viel nationalökonomische Systeme, die der Lüge a posteriori den Schein der Wahrheit a priori geben! Die Consumenten, die Bauern und Rittergutsbesitzer sollten dem Staatsbudget die Polemik widmen, die sie dem Produzenten widmen. Man lehrt uns das Evangelium von der Ausgleichung und freilich, der apokalyptische Vetter starb nicht Hungers, er hatte keine Familie und hätte von Wasser und Brod leben können, da ihn weit mehr nach himmlischer Speise hungerte und dürstete. Aber ganze Vorstädte verschmachteten doch im Elend. Man sagt: Setzt die Zölle herab im Interesse der Consumenten! Allein man vergißt, daß im Staatsleben es nicht darauf ankommen sollte, wer zuletzt lacht, sondern auf den, wer zuerst weint. Oder beruht der moderne Staat nicht auf einer solchen Gesittung, daß man den Satz aufstellen könnte: Im Leben leidet immer der am meisten, der den ersten Stoß empfindet –? Die Avantgarde ist immer am übelsten daran. Die spätere Ausgleichung kommt allerdings, aber sie kommt auf dem Kirchhof. Dem gesitteten Staate muß erst an der Arbeit und dann erst am Genuß gelegen sein. Wo Werthe geschaffen werden, wo Menschenhände thätig sind, da ist es Pflicht des Staatsmannes, so behutsam und zart aufzutreten, wie in der Nähe von Kranken, die geschont sein wollen. Ferner: Es ist nicht nur grausam, auf die Ausgleichung der sozialen Kirchhöfe, Hunger und Elend zu verweisen; es ist auch höchst prekär mit dieser Lehre für dasjenige selbst beschaffen, was sie anstrebt. Die Consumtion und die Production gehen nicht mit gleichem Schritt. Sie marschieren, wenn es also auch über Leichen gehen soll, nicht in gleichem Takte. Die Production hat ein rasches Tempo, sie schafft, um zu leben. Die Consumtion geht unendlich langsamer, träger. Man kann tausend Produzenten getödtet haben, ehe ein Consument sich entschließt, den Vortheil, den der Tod Jener ihm eintrug, wirklich zu genießen. Denn wie sich der Mensch gewisse Dinge, und wenn sie noch so theuer sind, dennoch kauft, so versagt er sich wiederum andere und wenn sie noch so wohlfeil werden. Ihr bietet dem sterbenden Arbeiter wohlfeile Kleiderstoffe. Gütiger Himmel, ist das Eure Ausgleichung? Er kann von wohlfeilerem Kattun nicht leben, wenn seine Hand überhaupt nichts verdient. Freihändlerische Gutsbesitzer thun, als wenn sich ein Fabrikarbeiter mit Baumwollenzeug nähren könnte. Aber das Handwerkszeug wird wohlfeiler, sagt man dem Arbeiter, der eiserne Geräthschaften braucht. Ihr Lieben, das Handwerkszeug ist für einen Arbeiter meistentheils eine Ausgabe, wie wenn Ihr alle fünf Jahre einmal Euch eine Badereise gestattet! Alle Tage schafft sich der Tischler keine Stemmeisen und Sägen an. Die Lehre von der Ausgleichung macht sich auf dem Papiere so richtig wie ein mathematisches Exempel, aber in der Wirklichkeit geht sie nicht auf; denn der, der den ersten Stoß einer Neuerung empfindet, soll und muß im gesitteten Gesellschaftsleben so viel voraus haben, als hätte er statt eines Stoßes deren so viele erhalten, als ihm fast den Tod bringen. Es ist leider sehr betrübend, daß man, wenn man gegen die Freihändler schreibt, in die Lage kommt, scheinbar jenes Schutzsystem zu vertheidigen, daß nur für unsre Heere von Soldaten und Beamten erfunden ist.
In alle diese Schauer einer nun schon immer bewußter hindämmernden Jugend, in diese oft physischschmerzende Sehnsucht nach einem Leben voll reinerer und höherer Anschauungen, in diese gebundene ohnmächtige Knechtschaft eines schon früh mit seinen gegebenen Lebensbedingungen zerfallenden Jugendmuthes fiel endlich ein Sonnenstrahl, der Licht, Erlösung, Freiheit brachte. Die Geschichten von Feen und mildthätigen Zauberern, die der Knabe aus entliehenen Märchenbüchern der Mitschüler las, schienen sich plötzlich zu verwirklichen. Es rauschten Pforten einer bunten Zauberwelt auf, goldne Pforten eines Lebens, wo man die Armuth, die Leidenschaft, den Fluch der ewigen Mühe nicht kannte. Wohl hatte das zitternde Verlangen des Kindes schon oft wie durch Thürritzen aus seinem Dunkel in die Regionen des Lichtes und der Schönheit geblickt. Da und dort zeigten sich leise Schimmer, daß das immer mehr im tiefsten Innern aufrauschende Singen und Klingen von einer gewählteren Welt kein Traum, sondern ein durch das Leben wirklich zu ermöglichendes Ahnen sein konnte. Die zerstreuten Glasscherben auf der Straße, die in der Sonne oder Nachts im Sternenlicht schimmerten, mußten irgendwo sich zu ganzen Krystallen vereinigen. Wahre Columbushoffnungen weckt ein buntes Glas, durch das sich das Kind die Bäume und Häuser in gelbem oder blauem Lichte ansieht. Diese bunten Flimmer sogar, die angebrannt vom alten Schauspielhause herüberflogen, mußten Sendboten einer andern Weltpracht sein. Ja einmal war es dem Knaben geschehen, daß er am Opernhause in ein Fenster lugte und er entdeckte wunderschöne Männer in Harnischen und andre mit schwankenden bunten Feder-Kronen auf dem Haupte. An dem Eingang des Opernhauses las er fiebernd über diesen Götter-Anblick aufgeregt: Heute: Ferdinand Cortez. Aber nicht nur die Welt des Scheines blitzte zuweilen wie durch eine rasch sich öffnende Thür, sondern auch die wirkliche der Größe des Reichthums und der Bildung sollte sich erschließen. Es war die Knospe zum Zerspringen reif, um aus der Dumpfheit der Kirche, der Betstunden, der schweizerischen Mystik und des zitterndbeängstigten Kleinlebens im armen niedrigen Volke erlöst zu werden zu endlicher Freiheit. Diese Erlösung kam wunderbar.