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Als Sergeant Brackett Errol und Lady Annerley verlassen hatte, begab er sich in seine Wohnung in einem bescheidenen Gasthof auf dem Quai, wo eine schlimme Ueberraschung seiner wartete – es war dies ein Paket von der englischen Behörde mit der Aufschrift: »Dringend!« Der Detectiv öffnete es, stieß einen Schrei des Staunens und Schreckens aus und ließ das ganze Paket fallen, als ob es eine Höllenmaschine enthielte.
Dann flüsterte er: »Es ist nicht möglich!« Als er es aber nochmals ansah, war jeder weitere Zweifel ausgeschlossen. Die Dokumente enthielten einen Haftbefehl gegen einen gewissen Sammy Potts alias Sampson Potter, eines Kriminalverbrechens angeklagt, ferner ein in aller Form abgefaßtes Auslieferungsgesuch an die französische Behörde und einen Brief von der Polizeidirektion an Brackett selbst mit der Anweisung, die Sache nicht der französischen Gendarmerie zu überlassen, sondern die Verhaftung selbst vorzunehmen und womöglich Potts alias Potter ohne Beihilfe der französischen Behörde nach England zu bringen; dabei wurde er noch ermahnt, seiner persönlichen Sicherheit halber sehr auf der Hut zu sein, weil nach eilig eingezogenen Erkundigungen in Amerika zu schließen, der besagte Potts oder Potter ein sehr energischer und blutdürstiger Verbrecher und ein Mann sein müsse, mit dem ein gewaltsames Zusammentreffen sehr gefährlich werden könne.
»Gefährlich!« rief der Detectiv schaudernd. »Gefährlich! Es ist der reine Mord, mich, einen Familienvater, mit einem solchen Geschäft zu beauftragen!« Dann wandte er sich an seinen stummen Tröster und Freund und murmelte: »Schnapper, im Yard sind sie's leid geworden, deinem alten Herrn seinen Gehalt auszubezahlen, und wollen ihn von der Liste gestrichen sehen,« eine Bemerkung, die richtiger war, als Brackett ahnte. Schnapper antwortete darauf, indem er Bracketts Gesicht leckte und mit dem Schwanze wedelte, als ob er sich darüber freue, was nicht der Fall war, denn das kleine Vieh liebte seinen Herrn mit aller Wärme seines kleinen Herzens und wäre ihm durch die ganze Welt nachgegangen, welche Ergebenheit Schnapper übrigens etwas später zu Bracketts Verzweiflung durch die That bewies.
Nun erinnerte sich der Detectiv auch noch dessen, was er in der Schießhalle gesehen hatte, und stöhnte: »Herr, mein Gott, er hat sich auf mich vorbereitet. Gott steh meiner Familie bei!« ja er zog in Erwägung, ob er nicht um seine Entlassung nach England telegraphieren solle. Da geriet er aber auf einen bessern Einfall; er wollte das Gerücht verbreiten, daß er einen Haftbefehl gegen den Texaner habe, und diesem dadurch Gelegenheit zur Flucht und sich, Brackett, zum Weiterleben geben. Er hatte sich neuerdings so in seine Grenzgeschichten hineingelebt, daß er bei einem Zusammenstoß mit Potter nicht einen Penny um sein Leben gegeben hätte. Erst heute nachmittag hatte er sich noch in eine Geschichte »Potts, der Räuber der Prairieen« vertieft, und nun stand es ihm fest, daß diese mit all ihren Ungeheuerlichkeiten nichts andres enthalte als das Leben und die Abenteuer des Sammy Potts.
»Wie in aller Welt mag die Behörde nur auf ihn gestoßen sein?« brummte der Detectiv, als er ausging, um die Nachricht unter die Leute zu bringen.
Dieser Umstand fand seine Erklärung indessen ganz einfach darin, daß Herr Potter bei Herrn Portman, dem Anwalt Errols, einen Brief hinterlassen hatte mit der Nachricht, er sei Sammy Potts, und daß dieser Herr sich nach seiner Rückkehr sofort mit der englischen Polizeibehörde in Verbindung gesetzt hatte.
Sehr viel Zeit gehört nie dazu, um die Kunde, daß irgend jemand ein Verbrecher sei, in Umlauf zu bringen, und so war Bracketts Nachricht auch bald in ganz Boulogne bekannt. So drang sie auch in das Hotel des Bains und wurde von dem aufgeregten Lubbins Lady Annerley übermittelt, die sich seit ihrer Unterredung mit Errol in einem Zustand halber Betäubung befand. Schleunigst ließ sie dem Detectiv sagen, sie müsse ihn sprechen.
Konnte Potts seine Unschuld beweisen, so wurde Charley Errol ein Verrat enthüllt, der unendlich grausamer, feiger und ehrloser war, als die Mitteilung von der Anwesenheit seines Vaters in England an die Polizei, wessen er sie in diesem Augenblick allein für schuldig hielt. Der Gedanke an den Abscheu und die Verachtung, welche dies in dem Herzen des Mannes, den sie liebte, erwecken müßte, erregte Zittern und Zagen bei ihr. So lag sie auf ihrem Sofa, stöhnend und die Hände ringend, wenn sie unbeachtet war, und sich zu unnatürlicher Ruhe zwingend, falls Lubbins oder ihre Jungfer um sie waren.
Wenige Augenblicke später erschien der Exoberkellner im Zustand höchster Aufregung und meldete: »Der ehrenwerte Sammy Potts – ich – ich meine, Sampson Potts wünscht, Ihrer Herrlichkeit seine Aufwartung zu machen.«
»Schien er sehr aufgeregt zu sein?« fragte seine Herrin, auffahrend und eine sitzende Stellung auf dem Sofa einnehmend.
»Im Gegenteil – sehr kühl!«
»Schnell, führen Sie ihn herauf!« Damit verließ Lubbins Lady Annerley mit einer Verbeugung, und diese suchte sich zu sammeln zu einem letzten, mächtigen Kampf, um dem Mann, den sie liebte, etwas weniger schwarz als der Teufel zu erscheinen. Wenn Potts seine Unschuld nicht beweisen und sie ihn zur Flucht veranlassen konnte, so mochte noch alles gut gehen, wenn nicht …
Aber nun trat Herr Potter ein und bemerkte fröhlich: »Warmer Abend heute, Lady Annerley, warmer Abend!« nahm seinen Hut ab, zog ein rotseidenes Taschentusch hervor und fächelte seine Perücke.
»Herr Potts – Potter, wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte ihre Herrlichkeit, die aufgestanden war, um ihn zu empfangen, leise, indem sie etwas über seinen Namen stolperte.
Aber er beachtete dies nicht und erwiderte strahlend: »Wollen Sie nicht sitzen? Die Damen immer zuerst! Kein Mann sitzt, wenn eine Dame steht – bei uns in Texas.«
Nachdem er sie galant zu einem Sessel geführt, machte der alte Grenzler große Augen beim Anblick der Schönheit neben ihm, denn er war an Damen im Gesellschaftskleid nicht gewöhnt, und der blendende Nacken und die schönen Arme Lady Annerleys im Verein mit den blitzenden Diamanten und dem ausgesuchten Anzug machten sein Herz schneller schlagen, als er sagte: »Großer Gott, Ihre Herrlichkeit ist gerade wie eine Sirene der Nacht.«
Lady Annerley, die darauf brannte, zu ihrem Anliegen zu kommen, beachtete sein Kompliment nicht, sondern fragte, ob er seine Tochter diesen Nachmittag schon gesehen habe.
Diese Frage beantwortete er mit »nein« und mit der Versicherung, er werde sich auf ihre Fährte machen, sobald er ein kleines Geschäft mit Mylady erledigt habe.
»Geschäft mit mir?« rief sie und ging rasch nach der Thür, die sie schloß.
»Hollah! Wozu dies!« rief Herr Potter.
»Ich habe einen Diener, der seine Ohren zu brauchen weiß!«
Hier wurde sie aufs neue überrascht, denn der Texaner antwortete: »Dann würden Sie besser wieder aufschließen, denn je mehr Leute hören, was ich Ihnen zu sagen habe, desto stolzer werden Sie sein, Lady Saharah.«
»Desto stolzer werde ich sein?«
»Stolzer, als wenn Sie ein Indianer wären mit einer roten Decke!«
»Ich verstehe Sie nicht,« keuchte ihre Herrlichkeit, die einen Augenblick glaubte, Herr Potter habe Heiratsabsichten auf sie, denn seine Augen folgten ihr mit einem eigentümlich dankbaren Ausdruck, und eben erst hatte er sie für eine Sirene erklärt.
Im nächsten Augenblick enttäuschte er sie indessen: »Bis gestern nacht habe ich nicht gewußt, Lady Saharah,« sagte er, »daß Sie die Tochter des alten Edelmut in Person sind!«
»Des alten Edelmut!« wiederholte Lady Annerley höchst erstaunt.
»Ja. Des verstorbenen Sir Jonas Stevens – des edelsten Mannes, der je begraben wurde, was weit mehr besagt, als des edelsten Mannes, der lebt!« rief Potter mit vor Begeisterung flammenden Augen.
»Edel?« stöhnte Lady Sarah, die nun halb und halb geneigt war, Potter für betrunken zu halten. »Sie haben wohl nicht häufig mit ihm zu thun gehabt?«
»Nur einmal – und deshalb wurde er mit A. E. – alter Edelmut, gezeichnet. Ihr Vater war sehr gut gegen mich, und Sie haben sich meiner Doochter angenommen, und ich danke Ihnen dafür. Ihr Vater war mein Halbgott – ich habe für ihn gebetet!«
»Für meinen Vater gebetet?« und ihre Stimme klang schwach vor lauter Verwunderung.
»Für ihn gebetet!« und das Zucken jeder Fiber an ihm verriet, wie ernst ihm war, was er sagte. »Für ihn gebetet jede Nacht meines Lebens, bis ich aus der Gewohnheit, zu beten, herausgewachsen bin!« Dann hielt er inne, wischte sich zwei Thränen ab und fuhr langsamer fort: »Nach dreißig Jahren hat es mir der Tod unmöglich gemacht, Ihrem Vater – dem großen Bankier – zu danken, und nun bin ich nach Boulogne herübergekommen, um der Doochter des besten Freundes zu danken, den ich je gehabt habe.«
»Des besten Freundes?« erwiderte Lady Annerley, der es schwer ankam, irgend etwas Gutes von ihrem Vater zu glauben. Dann blitzte ein plötzliches Licht in ihren Augen auf und sie fragte: »Was hat er für Sie gethan?« und erhielt die dunkle Antwort: »Was er für mich gethan hat? Er hat aus dem Zwerg Sammy Potts den Riesen Sampson Potter gemacht!«
Sie bemerkte nichts hierauf, denn sie war ganz vernichtet von der Entdeckung, daß Potter das Bekanntwerden seiner Identität mit Sammy Potts gar nicht zu scheuen schien und folglich in der Lage sein mußte, seine Unschuld zu beweisen.
Doch er ließ ihr nicht lange Zeit zum Nachdenken. Rasch erzählte er weiter: »Es war an einem Wintermorgen im Jahre 1850 – ich, der kleine Laufjunge bei Jaffey und Stevens, der in dem Geschäftslokal schlief, wachte auf und sah Ihren Vater – er war in jener Zeit Kassierer der Bank – Sovereigns in den Pult eines Kommis legen.«
Sie sagt nichts – sie weiß ja, was kommen wird, nur ihre Lippen bilden die Worte: »Ralph Errols!«
»Er bezahlte ihm sein Gehalt aus, wie er sagte, da der Kommis früh an diesem Tag nach Australien abreisen wollte.«
»Und dann?«
Potter strahlt seine Zuhörerin an, die ihm gegenüber sitzt und ihn ansieht, als ob er ein Basilisk wäre. »Wie edel er war! Ihr Vater fragte mich, ob ich nicht vielleicht auch Lust hätte, auszuwandern und ein Mann zu werden? Ich hatte das Kaliforniagoldfieber von 1849 im Blut und noch vor Abend befand ich mich auf dem Weg nach New Orleans mit dreißig Sovereigns in der Tasche – einem Darlehen Ihres Vaters!«
Hier unterbricht sie ihn: »Einem Darlehen? Denken Sie denn, ich glaube eine solche Geschichte?«
»Sie wollen meinen Dank nicht annehmen, Lady Saharah? Dies ist höchster Edelmut!« erwidert Potter. »Aber ich werde Sie zwingen, ihn anzunehmen!«
»Indem ich Ihnen beweise, daß mir Ihr Vater dreißig Sovereigns geliehen hat!« spricht der Texaner strahlend, mit dankbaren Augen, während sie ruft: »Beweisen! Nein, das sollen Sie nicht!«
»Sie sind zu gut und zu bescheiden,« sagt er nach einem Augenblick, denn ihr Wesen hat ihn überrascht. »Aber ich will es Ihnen klar machen, Lady Annerley. Sehen Sie diesen Sovereign?« Damit hält er ihr die Münze an seiner Uhrkette vor die Augen. »So oft ich ihn ansehe, segne ich Ihren Alten. Mein Sohn trägt den nämlichen als Glücksbringer und meine Doochter läßt einen an ihrem Handgelenk baumeln, weil ich es sie geheißen habe.«
Auf den ersten Blick erkannte Lady Sarah das Zeichen auf dem Goldstück, von dem ihr Vater auf dem Sterbebett gesprochen hatte.
»Sie haben es ohne Zweifel bei Fräulein Potter gesehen,« sagt der Vater dieser jungen Dame freundlich.
»Ja!« flüstert seine Zuhörerin wie betäubt; dann fährt sie plötzlich fort: »Aber dies beweist noch nicht, daß Sie das Geld von meinem Vater erhalten haben – ich brauche bessere Beweise!«
Sie sagt dies in ganz einnehmender Weise, aber hätte Herr Potter geahnt, über was sie brütete, so würde er ihre weiße Kehle zwischen seine Hände genommen, sie erdrosselt und auf diese Weise der Unterhaltung ein Ende gemacht haben. Statt dessen erwidert er nur: »Dann will ich sie Ihnen geben,« zieht eine alte, abgenützte lederne Brieftasche hervor und stöbert nach irgend einem Papier darin herum, während sie halb ohnmächtig stöhnt: »Ein schriftlicher Beweis!«
Potter ist indessen zu beschäftigt, um auf sie zu achten. Endlich findet er zwischen allen möglichen andern Schriftstücken einen halben Bogen vergilbtes Papier, auf dem die Tinte vor Alter verblaßt ist.
»Hier,« ruft er, »ist die Empfangsbescheinigung Ihres Vaters für die dreißig Sovereigns, die er mir geliehen hat.«
Und sie stöhnt: »Nein, nein!« und war einer Ohnmacht nahe.
»Ihr Vater war schwer dazu zu bringen, seinen Edelmut anzuerkennen!« bemerkt Herr Potter. »Ich mußte ihm zwanzigmal schreiben, um dies Dokument zu bekommen, denn mein erstes Anliegen in der neuen Welt war, das edle Darlehen zurückzugeben, das er mir in der alten gemacht hatte. Aber erst im Jahre 1857, als ich Häute nach London lieferte und dort einen Agenten hatte, setzte ich meinen Kopf darauf, schickte den Agenten zu ihm, und dann sandte er mir geschlossen unter seinem eigenen Siegel dies;« und sie zwang sich zu lesen wie folgt:
»£ 30 –
Erhalten von Samuel Potts dreißig Pfund (£ 30) nebst Zinsen vom 6. Januar 1850 ab.
James Stevens.«
»Sehen Sie nun!« rief Potter triumphierend. »Dies Datum, der 6. Januar 1850, war der letzte Tag, an dem Sammy Potts in England war.«
»Ja,« murmelt Lady Sarah halb spöttisch. »Ich glaube selbst, daß es Mühe gekostet hat, dies Schriftstück von meinem Vater zu erlangen.« Doch sie faßt sich rasch und wirft anscheinend unbekümmert die Frage hin: »Dies ist wohl der einzige Beweis, den Sie haben?«
»Ja, aber ist denn der nicht genügend?« erwiderte Potter. »Ich habe dies noch gestern nacht aus meinem Koffer herausgefischt, um es Ihnen zu bringen.«
»Gott sei Dank,« sagte Lady Annerley zu sich selbst und fragte laut: »Was beabsichtigen Sie denn damit zu thun?«
»Ich wollte es einrahmen lassen und Ihnen geben, daß Sie es ihrem Vater zu Ehren auf ein Piedestal stellen könnten.«
»Lassen Sie mich meinem Vater zu Ehren einen bessern Gebrauch davon machen. Darf ich?« fragte Lady Annerley, ihn mit ihren schönen Augen bezaubernd.
Der ehrliche alte Mann verbeugt sich vor ihr mit hinterwäldlerischer Anmut, und die Dame nimmt das Dokument aus seiner Hand und flüstert: »Wahrer Edelmut besteht im Vergessen der Wohlthat! Mein Vater würde auch wünschen, daß die seine vergessen wird!« Dann verbrennt sie an einer auf dem Tisch stehenden Kerze das einzige Beweisstück, das zwischen dem armen alten Mann und einem englischen Gefängnis steht!
Er aber lächelt sie an und sagt, als die letzte Asche zur Erde fällt: »Meine Liebe, Sie sind wie Ihr verstorbener Vater – beide gleich edel!«
»Edel!« schreit sie mit wildem Blick, denn sie verflucht sich selbst als das elendeste, niedrigste Geschöpf, das die Erde trägt, allein auch Triumph liegt in ihrem Blick. Sie weiß, daß nun die einzige Rettung des Mannes vor ihr in der Flucht liegt, und denkt freudig: Charley wird nie erfahren, daß mein Vater das Verbrechen beging, um dessentwillen der seine verurteilt wurde, und daß ich es wußte und ihn trotzdem, unschuldig wie er war, den Schmerz und die Schande der Verbannung zum zweitenmal erdulden ließ! Und weiter denkt sie daran, daß der ältere Errol seine Unschuld nie wird beweisen können, und der Mann, den sie liebt, für alle Zeiten von Ethel Lincoln getrennt ist.
Unterdessen lenkt sie die Unterhaltung auf einen leichtern Gegenstand und überlegt die ganze Zeit, wie sie es angreifen solle, um dem alten Mann, der sie so bewundernd betrachtet, zu sagen, was sie ihm Entsetzliches zugefügt hatte, damit er noch bei Zeiten entkommen könnte. Sie fand aber keine Gelegenheit dazu, denn er war auf seine Tochter zu sprechen gekommen und dankte ihr für ihre Güte gegen diese junge Dame.
In diesem Augenblick klopft Lubbins an die Thür; sie geht hin, und ihr Gesicht bedeckt sich mit aschfahler Blässe, denn er meldet, daß Sergeant Brackett unten warte, um ihrem Wunsch gemäß mit ihr zu sprechen. Sie flüstert ihrem Diener zu, den Detectiv unten zurückzuhalten, und sieht sich nun gezwungen, Potter zu sagen, daß er fliehen müsse.
Sie tritt an ihn heran und sagt eilig: »Es ist ein englischer Polizeibeamter unten. Lassen Sie sich raten und entfernen Sie sich rasch, ohne daß der Mann Sie sieht!«
»Warum?« gibt Potter, dem ihr Wesen auffallend vorkommt, betroffen zurück.
»Weil er Sie verhaften will!«
» Mich verhaften? Das ist stark!« murmelt der Texaner und fühlt, ob seine Pistolen noch an Ort und Stelle sind. »Den ehrenwerten Sampson Potter verhaften!« Er wiederholt dies noch einmal, als ob es ganz unglaublich wäre, und Kampfeslust leuchtet aus seinen Augen.
Jetzt aber schlägt ihn, bildlich gesprochen, Lady Annerley nieder mit samt seinen Pistolen, denn sie sagte: »Nicht Sampson Potter, aber Sammy Potts, der vor dreißig Jahren von den Geschworenen des Diebstahls von dreißig gezeichneten Sovereigns schuldig befunden worden ist!«
»Tarantulas!« ruft er aus und dieser Ruf hallt durch das Zimmer, dröhnt durch die Hallen und dringt bis zu Sergeant Brackett. Wohl hat er noch nie ein Kriegsgeschrei gehört, aber schon oft davon gelesen. Er weiß, daß sich der Texaner oben befindet, und eilt zitternd in das Lesezimmer, und Potter ist, ohne daß er es ahnt, vor unmittelbarer Verhaftung sicher.
»Gegenstück zu dem Sovereign an Ihrer Kette,« äußert Lady Annerley mit der Münze spielend und Potter das Zeichen weisend, der nachdem er sein Kriegsgeschrei ausgestoßen hat, seinen Kopf reibt, als ob ihm schwindelig wäre.
»Aber Sie, Lady Sarah, Sie wissen und können beweisen, daß ich unschuldig bin,« sagte er nach einer langen Pause der Ueberlegung.
»Ich weiß nur, daß vor dreißig Jahren ein Schwurgericht einen gewissen Ralph Errol des Diebstahls von siebzig gezeichneten Sovereigns überführte und ihn zum Verbrecher stempelte!«
»Ralph Errol!« flüsterte Potter und scheint sich an etwas zu erinnern, denn plötzlich ruft er aus: »Ich – ich erinnere mich des Mannes jetzt! Gerechter Himmel! Der Kommis, dem Ihr Vater an jenem Morgen seinen Lohn zurückbezahlte! Dann, bei Gott, ist Ralph Errol auch unschuldig! Ihr Vater hat sie in sein Pult gelegt! Es war vorher viel Geld gestohlen worden – und man hatte es bezeichnet, um den Dieb zu entdecken! Dann, Lady Annerley, hat Ihr Vater alles gestohlen! Ihr edler Vater, der alte Edelmut, hat seine Verbrechen auf uns beide abgeladen!« Und mit einem Blick, unter dem das Weib vor ihm sich krümmt, flüstert er: »Und Errol erlitt die Gefangenschaft und die Strafverbannung, und der arme, ehrliche, kleine Sammy Potts wurde zum erbärmlichen Dieb gestempelt!«
»Wie wollen Sie all dies beweisen?« höhnte ihre Herrlichkeit.
»Wie? Durch Vorlegung –«
»Ihr einziger schriftlicher Beweis ist verbrannt!«
»Von Ihnen! O, welche Niederträchtigkeit!« Er zieht eine Pistole halb hervor, sieht sie an und knirscht: »Wenn Sie ein Mann wären!«
»Ja,« gab Sarah verwegen zurück, »dann würden Sie mich ermorden wie Ihre andern Opfer auch!«
»Gnädige Frau,« entgegnete Potter im feierlichen Ton der Ueberzeugung, »ich habe seinerzeit viele Männer getötet, aber gemordet habe ich keinen. Wären Sie einer, so würde ich ohne Gewissensbedenken die verdiente Strafe an Ihnen vollziehen! So, wie die Sache liegt, werde ich das Gericht über Sie aufklären.« Dies wurde mit der alten Kühnheit des Grenzlers gesagt, war aber auch das letzte Wort, das er im Laufe dieser Unterredung als Texaner sprach.
Als sie ihm danach die schreckliche Sicherheit der englischen Gerichte vor die Augen führt, denkt er an seine Tochter, und über den Feuerfresser Potter kommt der demütigere Geist Sammy Potts', des Lehrjungen.
Und nun zermalmt sie ihn mit entsetzlichen Thatsachen und Umständen, die er vergessen hat.
»Ich werde vor Gericht beschwören, daß Ihr Vater mir die Goldstücke geliehen hat.«
»Sie werden kaum in die Lage kommen. Ein Angeklagter hat nicht das Recht, vor einem englischen Gerichtshof ein Zeugnis abzulegen.«
»Großer Gott! Das hab' ich vergessen!«
»Außerdem,« sagt sie mit leiser, scharfer und höhnischer Stimme, »war Sir Jonas Stevens fünfundzwanzig Jahre lang ein großer Bankier, und die ganze Welt weiß, daß er in dieser langen Zeit auch nicht einen Pfennig ohne unzweifelhafte und genügende Sicherheit ausgeliehen hat. Meinen Sie denn, das Gericht würde Ihnen gegen die Erfahrungen eines Menschenalters auf Ihr bloßes Wort hin glauben, er habe einem halbverhungerten Laufburschen dreißig Sovereigns geliehen? O nein! Auf diese Weise hat der alte Edelmut seine Geschäfte nicht geführt!« und sie verleiht diesen Worten mit einem häßlichen kleinen Lachen Nachdruck.
»Nein!« grollt Potter. »Weil ich ihn erwischte, als er sein Verbrechen auf Ralph Errol ablud, lieh er mir Schande und Verzweiflung. Die kann man stets ohne weitere Umstände borgen! Lady Annerley, Sie haben den Beweis vernichtet, aber es ist noch nicht zu spät, Gerechtigkeit walten zu lassen!«
»Es ist für mich zu spät, irgend etwas andres zu thun, als Sie vor einem englischen Gefängnis zu retten!«
»In ein englisches Gefängnis?« sagt Potter schaudernd, der daran denkt, welche Angst er als Kind vor diesen gehabt hat. Dann aber schießt ihm ein entsetzlicher Gedanke durch den Kopf, und er schreit hinaus: »Meine Doochter. Dies wird ihr das Herz brechen! Meine Doochter, Lady Annerley, meine Doochter! Man wird sie verachten um ihres Vaters willen. Lady Saharah, bereuen Sie, gestehen Sie!« und er bricht in solche Verzweiflung aus, daß sie schaudert und zittert und halb bereut.
Aber er fährt fort: »Denken Sie an meine Doochter! Was würden Sie empfinden, wenn der Mann, den Sie lieben, die Schande Ihres Vaters erführe?«
Und sie schreit auf, so wild wie er, und nimmt ihm die Worte aus dem Mund: »Er, der Mann, den ich liebe? Nein, nein, das soll nicht sein! Das soll nicht sein!«
Von dem Augenblick an, in dem sie an Charley Errol erinnert worden, ist sie hart wie Diamant. Sehr kühl sagt sie jetzt: »Herr Potter, Sie würden wirklich besser thun, zu entfliehen. Suchen Sie sich dem englischen Gesetz zu entziehen; es vergißt nie! Gestern nacht ist Ralph Errol als beurlaubter Sträfling nach England zurückgekehrt und sofort wieder außer Landes, nach Boulogne, geschafft worden.« Und dann entwirft sie ihm ein solches Bild der englischen Gesetzgebung, daß ihm der ganze Respekt, den er schon als Knabe davor empfunden, wiederkehrt und er den Tagen seiner Jugend immer näher gerückt wird.
Als sie den Eindruck bemerkt, den ihre Worte auf ihn machen, sagt sie: »Sie müssen sofort nach Paris entfliehen, von da nach Marseille und von dort morgen früh auf einem Dampfer nach Havanna, New Orleans oder Galveston zu entkommen suchen.«
»Und dann –?« stottert Potter, der es nahezu aufgegeben hat, für sich selbst zu denken.
»Ist es mir einerlei, wohin, vorausgesetzt, daß Sie sich nicht mehr sehen lassen,« und Lady Sarah führt Herrn Potter zu einer Nebenthür, zeigt ihm eine Hintertreppe, sieht auf ihre Uhr und sagt: »In fünfzehn Minuten geht der Expreßzug nach Paris ab. In der Halle draußen vor meinem Zimmer wartet ein Detectiv mit einem Haftbefehl der englischen Regierung – auf diesem Weg können Sie ihn vermeiden. Haben Sie Geld genug zur Flucht? Es wäre gewagt, in Paris auf eine Bank zu gehen. Gestatten Sie mir –«
Er sieht sie einen Augenblick an und sagt dann, trotzdem er halb betäubt ist: »Nein, danke, Mylady! Keine weiteren Darlehen von der Familie Stevens!« Dann schwankt er hinaus.
Plötzlich kehrt er aber zurück, berührt sie an der Schulter und flüstert ihr mit einer Stimme, die sie kaum wieder kennt, so heiser und gebrochen ist sie vor Jammer, ins Ohr: »Noch eine halbe Sekunde, Lady Annerley, ehe ich, ein schuldloser Mann, fliehe wie ein Verbrecher! – Bedenken Sie, daß Sie, um Ihres toten Vaters Namen zu schützen, zwei Lebende vernichten.« Denn bis zu diesem Augenblick glaubt er, daß sie nur aus kindlicher Liebe so gehandelt habe. »Bedenken Sie,« wiederholt er nachdrücklich, »daß Sie, als Sie den Beweis meiner Unschuld den Flammen übergaben, nicht nur das Glück meiner Tochter und ihres Verlobten, sondern auch das Ethel Lincolns und des Mannes, der sie liebt, vernichtet haben.«
»O, deshalb war es ja gerade –« stöhnt sie. Und er keucht ihr wieder zu: »Gestehen Sie! Aus Gerechtigkeit gegen die Lebenden, aus Barmherzigkeit für uns alle!« Und nun ist es, als ob etwas in seinem Gehirn zerspränge, und er ist dem Wahnsinn so nahe, als ein gesunder Mann es nur sein kann, und schreit: »Mein Gott, lassen Sie nicht meine Tochter, wenn sie sich heute abend niederlegt, denken, daß der Vater, den sie so lieb gehabt hat, ein Dieb und ein Schurke sei!«
Und wäre es Sampson Potter gewesen, der diese Worte sprach, so hätte er Lady Annerley getötet, als er sie herausstieß, aber da er noch immer der arme, eingeschüchterte Sammy Potts war, flehte er nur.
Allein sie leidet beim Anblick seiner Qual und ruft ihm deshalb zu, er solle gehen, ehe sie den Beamten rufe, um ihm die Handschellen anzulegen.
Da rafft er sich ein wenig auf und flüstert: »Aber wenn ich wiederkomme?«
Nun aber erhebt sie, die alle Gewissensbedenken in den Wind geschlagen hat, sich triumphierend, lacht ihn aus und ruft: »Aber Sie können es nicht wagen!«
»Aber wenn ich es wagen kann, dann bringe ich mit, was Sie am wenigsten wünschen in der Welt: Gerechtigkeit!«
»Nehmen Sie sich in acht! Gerechtigkeit! Englische Gerechtigkeit! Schnell, wenn Sie den Zug erreichen wollen! Der Detectiv wird telegraphieren!« ruft sie.
Und so entflieht der wilde Held der Prairieen, der dies Zimmer als Sampson Potter betreten hatte, von unerwarteten Schicksalsschlägen niedergeschmettert, sowohl an Körper als an Geist wieder der schwache, kleine Lehrling, Sammy Potts.