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Ein kühler, stürmischer Frühlingstag neigt sich seinem Ende zu.
Überall liegen graue Schatten; sie sinken vom wolkenbedeckten Himmel nieder, sie steigen von der nebelverhüllten Erde auf, und die tausend und aber tausend qualmenden Schlote der Großstadt tragen das Ihrige dazu bei, die Luft zu verfinstern.
Aber auch im hübschen Villenviertel der Metropole tritt schon die Dunkelheit ihre Herrschaft an.
»Können Sie denn noch sehen, lieber Röhling?« fragte ein Herr in vornehmem Gesellschaftsanzug, sich über die Schulter eines anderen beugend.
Dieser andere erhebt respektvoll den Kopf und antwortet: »Sehr gut kann ich noch sehen, Herr Baron, und mit Ihrer Erlaubnis möchte ich die Abschrift heute vollenden.«
Der Baron nickte.
»Meine Erlaubnis haben Sie, nur müssen Sie allein arbeiten Meine Gäste kommen in einer Viertelstunde, und somit kann ich mich heute meiner Sammlung nicht mehr widmen. Sie sind sich doch über alles klar? Verstehen die Charaktere? Diese alten Mönche hatten ja zuweilen ganz merkwürdige kalligraphische Grillen.«
»Ich habe mich vollständig orientiert. Herr Baron können mir die Schriften ruhig überlassen Auch werde ich mir, wenn es Ihnen genehm ist, erlauben, morgen abend vorzusprechen, um Ihr Urteil über meine Abschrift vernehmen zu dürfen.«
»Morgen? Nein, von morgen bis Samstagabend bin ich auf dem Gut meines Schwiegersohnes, der mich zur Jagd geladen hat; aber Sonntag können Sie kommen; da arbeiten wir weiter. Das Kloster will ja seine Schriften bald zurück haben.«
»Sonntag ...«, beginnt Röhling zögernd, und rasch fällt Baron Merburg ein: »Ah, den Sonntag geben Sie nicht gern her! Ganz gut, Röhling! Ich bin der letzte, der die wenigen freien Stunden, die Ihnen Ihr Dienst läßt, kürzen möchte. Also kommen Sie wie gewöhnlich, Montag um sechs Uhr.«
Röhling neigt verbindlich lächelnd sein Haupt. Merburg drückt auf den Knopf einer elektrischen Klingel und befiehlt dem sofort erscheinenden Diener, eine Lampe zu bringen.
Inzwischen prüft er noch einmal die krausen Züge der uralten Mönchsschrift, welche Röhlings geschickte Hand auf einem für die reiche Handschriftensammlung des Barons bestimmten Pergamentblatt täuschend ähnlich nachgeahmt hat.
»Schade, daß man nicht alles Interessante in der Urschrift besitzen kann«, meint der Baron, »aber Ihre Kunstfertigkeit ersetzt mir schließlich doch jedes Original, was ich haben möchte.«
Röhling lächelt geschmeichelt.
Der alte Franz stellt in diesem Augenblick die hell brennende Lampe auf den Arbeitstisch, dann schließt er die Vorhänge und wirft hinter Röhlings Rücken seinem Gebieter einen fragenden Blick zu.
Merburg versteht diesen Blick und antwortet ihm: »Herr Röhling wird dir klingeln, wenn er fertig ist. Du verschließt alsdann die Papiere, die er dir geben wird, in meinem Wandschrank. Hier ist der Schlüssel dazu.«
Der Baron grüßt Röhling, der sich erhebt, und verläßt das Gemach.
Franz folgt ihm.
Von unten her hört man das Rollen eines Wagens.
»Aha – man kommt schon!« sagt Merburg im Hinausgehen. Gleich danach ist es still im Arbeitszimmer des Barons sowie auch in dem davorliegenden Gemach, worin der reiche Gutsbesitzer und angesehene Politiker seine Herrenbesuche zu empfangen pflegt. Es ist ein behaglich aussehender Raum, den teilweise Sammelkästen mit zahlreichen Schubfächern, teilweise bequeme Sitzmöbel füllen.
In seiner Mitte steht ein Tisch, von dem eine Decke bis auf den Boden niederhängt.
Eine tiefe Wandnische birgt einen schmalen, dunklen Schrank, dem man es nicht ansieht, daß seine Wände aus Stahl sind und daß es eine Kasse ist.
In Merburgs Arbeitszimmer herrscht eine tiefe Stille, nur von dem Prasseln des Feuers im altdeutschen Ofen und zuweilen von einem eigentümlichen trockenen Hüsteln Röhlings unterbrochen.
Langsam, bedächtig, über alle Maßen genau ahmt Röhling Strich für Strich seine Vorlage nach und unterbricht sich nur, wenn er mit streng kritischen Blicken seine Leistung mit der Vorlage vergleicht.
Bei solchen Gelegenheiten erhebt er den Kopf – es ist ein ausdrucksvoll geformter Kopf mit hoher, stark gewölbter Stirn, über welcher sich schwarzes Haar ringelt. Röhlings Gesicht – das Gesicht eines Vierzigers – ist nicht unschön, aber es wirkt nicht angenehm, trotz der Intelligenz, welche sich darin ausprägt
Eine Härte liegt darin, die sehr wohl zu dem scharfen Blick seiner Augen paßt und zu dem kräftigen, schier viereckigen Kinn, das von einem dunklen, kurzen krausen Bart nur schütter bedeckt wird
Übrigens hat er etwas Soldatisches an sich – ein gewisser Drill, der sich in allem zeigt, sowie eine Narbe auf der Stirn geben ihm dieses Aussehen.
Er mag etwa eine Stunde lang allein gearbeitet haben, da öffnet sich die Tür des oben beschriebenen Vorgemachs.
Röhling kümmert sich nicht darum, sondern schreibt fleißig weiter. Nur einmal blickt er flüchtig auf – das geschieht, als er die Stimme des Barons erkennt, welcher jetzt bei seinen Gästen sein sollte. Es ist ja Wagen um Wagen vorgefahren, und die Soiree muß längst begonnen haben.
»Warum kommen Sie noch heute? Noch so spät?« hört Röhling den Baron fragen, und eine andere, fremde Männerstimme erzählt von Geschäftsschluß, Abreise des Chefs und so weiter und bittet schließlich Merburg, »die Summe« entgegenzunehmen.
Franz muß ebenfalls zugegen sein, denn Röhling hört auch seine Stimme. Der Alte kam gewiß mit, um seinem Herrn irgendwie zu Diensten zu stehen.
Jetzt tritt er in das Arbeitszimmer und holt eines der Tintenfässer.
Draußen werden Banknoten abgezählt.
Rohling schreibt ununterbrochen weiter, während Franz draußen das bronzene Tintenbehältnis klirrend auf die marmorne Konsole stellt.
Mit dem Zählen ist man fertig.
»Darf ich nun um Ihre Unterschrift bitten, Herr Baron?« ersucht der Herr von dem Bankinstitut, und Merburg antwortet: »Gewiß! Es ist alles richtig, und ich bin Ihrem Chef für die rasche Erledigung dieser Angelegenheit dankbar, doch hätte er sich nicht so sehr zu beeilen brauchen, denn ich kann den Kauf des Landgutes erst in der nächsten Woche abschließen. So, und hier meine Unterschrift. – Wie arg es regnet! Sie haben doch einen Wagen?«
»O gewiß, Herr Baron. – Und auch einen verläßlichen Mann darin. Bei solch hohen Summen stellt man sich gern sicher.«
»Das versteht sich. Also gute Nacht! Franz, begleite den Herrn!«
Franz murmelt irgend etwas, der Baron lacht und ruft: »Geh nur! Geh!«
Papiere rascheln, der Tritt Merburgs macht sich hörbar, dann vernimmt man ein Geräusch, als würde etwas auf- und wieder zugeschlossen.
Röhling schreibt ununterbrochen weiter. Jetzt steht der Baron hinter ihm.
»Na – noch immer bei der Arbeit?« fragt er freundlich, und wieder erhebt sich Röhlings Gesicht, und seine Augen blicken ruhig in die des Fragers.
»In einer Viertelstunde kann ich fertig sein«, antwortet Röhling. »Ich beginne eben die letzte Zeile.«
Sein Gönner nickt ihm zu und geht.
Nach einer Viertelstunde steht Röhling auf, wischt sorgsam die Feder aus und tritt dann an das Fenster. Nachdem er eine Weile in den finsteren Vorgarten hinuntergeblickt, kehrt er wieder zu dem Arbeitstisch zurück und drückt auf die elektrische Klingel. Gleich darauf erscheint Franz, übernimmt die Klosterschrift und deren Kopie, sperrt sie in den Wandschrank und begleitet dann Röhling hinaus.
Dieser zieht draußen seinen Überrock an, nimmt Schirm und Hut und geht.
Im Korridor draußen hört man ein wenig von der Musik. Röhling summt unwillkürlich den Walzer mit, der eben gespielt wird. Es gibt sicherlich derzeit keinen ruhigeren, harmloseren Menschen als ihn.
Franz geht mit ihm die Dienertreppe hinab, denn er hat dem Portier etwas zu sagen. Eben kommt das neue Stubenmädchen mit einem Tablett voll Backwerk ihnen entgegen. Es ist eine sehr hübsche Blondine. Sie achtet nicht auf die beiden Männer. Röhling aber singt nicht mehr – er steht wie erstarrt und blickt auf das vorüberschreitende Mädchen.
»Diese Ähnlichkeit! Ganz wie sie!« entfährt es seinen bebenden Lippen, und seine Wangen röten sich dabei, und seine dunklen Augen flackern.
Wilder Haß und wilde Begehrlichkeit schauen zugleich aus ihnen.
Röhlings heftig gerötetes Antlitz erblaßt wieder, seine geballten Hände lösen sich, und das Zittern seines Körpers weicht der gewohnten Ruhe.
Aber er ist doch nicht ganz bei voller Besinnung; er vergißt sogar das »Gute Nacht« des alten Dieners, dem seine heftige Gemütsbewegung und sein Ausruf nicht entgangen sind, zu erwidern.
Franz und der Portier schauen ihm verwundert nach. Er bietet aber auch einen seltsamen Anblick, wie er, gleich einem Träumenden, in dem strömenden Regen dahinwandelt, unter dem Arm den Regenschirm, den er aufzuspannen vergessen hat.
Es regnete in Strömen. Von allen Dächern raschelte es nieder, sauste in den Gossen als schlammige Flut dahin und ergoß sich aus den Röhren, die an den Hauswänden niederführten. In der breiten baumbesetzten Straße, in deren Mitte des Barons Haus lag, herrschte tiefe Dunkelheit, denn zu dicht war der Regen, als daß das Licht der Laternen zu voller Wirkung hätte gelangen können.
Röhling war noch nicht bis an den Vorgarten des nächsten Hauses gelangt, als ihm eine rauhe Stimme zurief: »Veit, halt ein. Ich muß mit dir reden.« Röhling blieb unwillig stehen und entgegnete zornig: »Schon wieder!«
Ein großer, hagerer Mann in einem Regenmantel und einem ebensolchen Regenhut stand nahe der Laterne und trat jetzt auf Röhling zu, der unwirsch dreinschaute. Die Männer gingen nebeneinanderher und sprachen lebhaft.
Veit Röhling schritt mit seinem unwillkommenen Begleiter schnell dem nächsten Wagen der Pferdebahn zu und schwang sich hinauf.
Der Mann im Regenmantel, der ihm gefolgt war, nahm verdrossen in einem Winkel des Wagens Platz und warf zuweilen Röhling einen zornigen Blick zu.
Er mochte wissen, warum jener so rasch nach anderer Gesellschaft als der seinen gestrebt.
Röhling sah jetzt ganz anders aus als im traulichen Arbeitszimmer seines Gönners. Um seinen Mund hatte sich ein verbissener Zug eingestellt, und seine Augen zeigten einen stahlharten Ausdruck.
Je weiter der Wagen fuhr, desto mehr Passagiere stiegen ein, und der Mann mit dem Regenmantel, der so lange im widrigen Wetter auf Röhling gewartet und ihm kaum die Hälfte dessen gesagt hatte, was er ihm zu sagen gekommen war, machte keinen Versuch, sich Rohling zu nähern. Er ließ es sogar ruhig geschehen, daß dieser den Wagen verließ und in der Dunkelheit in einer stillen Seitengasse verschwand. Doch ballte er hinter ihm die Hände, und seine aufflammenden Augen verrieten, daß es kein friedfertiger Gedanke war, welchen er Röhling nachsandte.
Dann griff er in eine seiner Taschen, zog einen verknitterten Brief hervor und überlas mit finsterer Miene den lakonischen Inhalt desselben.
Er war eine letzte, eindringliche Aufforderung, eine Schuld zu bezahlen, widrigenfalls der Gläubiger, ein ziemlich bekannter Wucherer der Stadt, zur Pfändung schreiten würde.
Adressiert war dieser höchst unangenehme Brief an »Herrn Friedrich Pfeffermann, Gärtner«.
Auf den Beruf wiesen allerdings die arbeitsrauhen Hände des Mannes mit dem Regenmantel hin, keineswegs aber verriet es sein hartes Gesicht, daß er im Dienste der friedlichsten aller Göttinnen, Horas und Pomonas, stand.
»Na, du kommst mir diesmal doch nicht davon«, murmelte er in sich hinein, als er den widerwärtigen Brief wieder einsteckte.
Der Wagen hatte inzwischen das Stadtende erreicht und sich ziemlich geleert.
Pfeffermann erhob sich und trat auf die Plattform hinaus. Der Regen hatte nachgelassen, und der Himmel zeigte sich ziemlich klar, es schaute sogar der Mond zuweilen zwischen den Wolkenfetzen hervor.
Eben jetzt fiel sein Schein auf ein massiges Gebäude. Es war eines der Krankenhäuser der Großstadt. Friedrich Pfeffermann nickte dem Hause zu, als ob er Beziehungen zu demselben hätte. Noch zwei Stationen und das Ende der Tramwaystrecke war erreicht.
Pfeffermann hatte aber sein Ziel noch nicht erreicht. Sein Häuschen lag etwa zwanzig Minuten weiter draußen vor der Stadt Eine gutgehaltene Straße und ein schmaler Gehweg führten darauf zu. Der Fußpfad hielt sich in fast schnurgerader Linie auf Pfeffermanns Grundbesitz zu, doch führte er hügelab und endete nicht am Hause, sondern an der tiefst gelegenen Seite des lang gedehnten Gartens.
Diesen Fußpfad schlug Pfeffermann ein.
Man könnte völlig ungesehen auf ihm weiterkommen, denn rechts und links säumten ihn Sträucher ein, und überdies führte er, wie schon erwähnt, in eine Bodensenkung. In dieser dehnte sich ein frisch umgelegtes Feld. Hier und da ragte ein Pfahl mit einer Tafel empor, auf welcher zu lesen war, daß diese Gründe für Bauplätze bestimmt seien.
Pfeffermann hat sein Besitztum erreicht. Er zieht einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet damit die Gartentür.
Vor dieser zieht sich ein schmaler Graben hin, der jetzt halb mit Wasser gefüllt ist. Pfeffermann hat ihn mit einem weiten Schritt überstiegen, ehe er das Pförtchen öffnet. Seine schweren Stiefel sind dabei tief in das Erdreich geraten.
»Verdammter Morast!« knurrt der übellaunige Mann. Langsam geht er alsdann dem Hause zu. Bald ist alles still, nur der Nachtwind singt sein trauriges Lied, und von den Bäumen fallen klatschend die Tropfen.
Die Uhr auf dem Türmchen der Spitalskirche zeigt fünfundvierzig Minuten nach sieben.
Der Portier, welcher am Fenster seiner Loge steht, weiß das ganz genau – auch ohne nach der Uhr zu sehen –, denn Herr Röhling tritt ja soeben in den kleinen Hof des Leichentraktes – so genannt, weil hier die Totenkammer des Spitals liegt.
Man sieht es den düsteren, grauen Wänden sofort an, daß sie Trauriges verbergen.
Allnächtlich rollt ein oder rollen mehrere schwarze Wagen durch das große Tor dieses Hofes, um die Überreste der arm und verlassen im Spital Verstorbenen zum Friedhof zu bringen, während die Leichenbegräbnisse derer, denen Angehörige die letzte Ehre erweisen, am Tage stattfinden.
Eine eigentümliche Trauer liegt über dem Hof. Sie weicht auch dem lieblichsten Sonnenlicht nicht; aber sie scheint sich zu verdichten, wenn – wie jetzt – feuchtes, nebliges Wetter herrscht.
Der Spitalsportier hat auch etwas Trauriges an sich. Seine dunkle Livree und sein fahles Gesicht passen sehr wohl zu seinem Posten, geradeso wie seine stille, trübselige Art, sich zu bewegen.
Er hat einen leicht zu versehenden Dienst. Wohl ist er Wächter, aber Kostbarkeiten gibt es hier nicht – und so hat sich noch nie einer eingeschlichen oder etwas von hier fortgetragen, das hierbleiben sollte.
Franz Lechner hat also nichts zu tun, als auf das Pförtchen, dicht vor seiner Loge, zu achten, die Eintretenden nach ihren Wünschen zu fragen und sie zurechtzuweisen und das Haupttor auf- und zuzuschließen, wenn die Leichenwagen den Hof verlassen.
Es gibt in der dicken Mauer, welche den Leichenhof von der Straße trennt, noch einen dritten Ausgang, ebenfalls ein Pförtchen, von Lechners Häuschen aus jenseits des großen Tores gelegen. Doch dieses Pförtchen, von einer uralten Trauerweide beschattet und halb verborgen, wird niemals geöffnet, und das Schloß ist verrostet. Es ist so gut wie gar nicht vorhanden.
Dies der Umriß von Lechners Aufenthaltsort und Pflichten.
Sicher ist, daß er noch immer auf seinem Posten gefunden wurde, geradeso wie Röhling, der zu den pflichtgetreuesten Beamten des Krankenhauses gehört.
Mit der Pünktlichkeit eines bestgehenden Chronometers betrat Röhling heute, wie alle Tage, 15 Minuten vor 8 Uhr den Hof des Spitals. Er grüßt den Portier, und bald erscheint seine Gestalt deutlich hinter dem Fenster seiner Amtsstube.
Lechner schaut Röhling, einer alten Gewohnheit folgend, zu, wie dieser das Fenster öffnet, auf dem Tisch allerlei ordnet und sich dann zum Schreiben niedersetzt. Zu gleicher Zeit schlägt es acht Uhr.
Es hat damit für den pedantischen Röhling das Tageswerk begonnen; jetzt ist er nur noch Amtsmaschine, was er bis Punkt zwölf Uhr bleibt, um dann zwei Stunden lang ein freier Mensch zu sein, und nachher seine Tätigkeit bis sechs Uhr abends fortzusetzen.
So ist es in den drei Jahren, während der Röhling hier angestellt ist, ohne Ausnahme gewesen. – Heute aber sollte es anders kommen.
Kaum hatte sich Röhling an seine Arbeit begeben, als ein großer, hagerer Mann in einem Regenmantel in den Spitalhof trat.
Lechner steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief: »Wohin wollen Sie?«
»Zu meinem Vetter, Herrn Röhling«, war die Antwort.
»Dort drüben im Gang, rechts, die erste Tür«, gab Lechner Auskunft.
Daraufhin ging der Vetter Röhlings über den Hof und verschwand im Gang.
Röhling hatte schon beim Hören seiner Stimme den Kopf erhoben, und – Lechner sah es genau – sein Gesichtsausdruck war dabei ein sehr unfreundlicher. Als sein Besuch eintrat, schloß er die Fenster, so daß Lechner von dem Gespräch der beiden nichts hören konnte, doch ließen ihre heftigen Gesten auf eine große Erregung schließen.
Eine Viertelstunde später kam Röhlings Besuch wieder über den Hof. Er war ganz rot im Gesicht und warf, indem er die Hände ballte, einen giftigen Blick nach Röhlings Fenster, als er daran vorüberschritt.
Mit Röhlings Ruhe war es heute vorbei.
Lechner, der, wie alle gelangweilten Menschen, sehr froh war, daß sich endlich einmal etwas in der stillen Kanzlei da drüben ereignet hatte, worüber man sich allerlei Gedanken machen konnte, beobachtete Röhling und bemerkte, daß dieser oft aufstand, um mit hastigen Schritten das Zimmer zu durchmessen und, zum Schreibtisch zurückgekehrt, müßig vor sich hin zu stieren.
So ging es bis gegen Mittag. Röhling hatte das Fenster wieder geöffnet. Er mochte Kopfweh haben, denn schon eine Weile saß er da, den Kopf in beide Hände gestützt.
Da trat wieder jemand in die Kanzlei – es war ein Diener, der die sogenannte Totenmappe brachte. Lechner wußte, was nun folgen würde, und da ihn dies nicht interessierte, ging er an sein Mittagsmahl, das ihm eben eine Wärterin brachte.
Die »Totenmappe« war eine lederne Tasche, in welcher der Beamte der Aufnahmekanzlei seinem Kollegen im Leichentrakt die Papiere jener übermittelte, welche im Spital gestorben waren.
Röhling hat dann die Namen der Verstorbenen einzutragen und ihre etwa hinterlassenen Dokumente in mit Buchstaben versehenen Fächern für die Hinterbliebenen, die ein Interesse daran haben, aufzubewahren.
Nachdem der Diener sich wieder entfernt und Röhling die Dokumente der jüngst Verstorbenen in den dazu bestimmten Fächern untergebracht hatte, wollte er sich zu Tisch begeben. Da fiel sein Blick auf ein noch auf dem Pult liegendes Päckchen Papiere, die aus Versehen liegengeblieben waren.
Wieder öffnete Röhling den Kasten. Ungeduldig zitterten seine Hände, und das Päckchen, das er in eines der Fächer schieben wollte, fiel zu Boden, wobei ein Papier herausflatterte. Ärgerlich hob Röhling beides auf. Als er das Papier, welches herausgeflattert war, wieder in dem Päckchen bergen wollte, sah er, daß es ein Paß war. Ganz interesselos überflogen seine Augen das Papier – dann schloß er es zu den übrigen Papieren der Verstorbenen. Und nun wollte er gehen.
Er geht auch bis zur Tür, aber dann bleibt er stehen, tritt zurück und schließt die Tür mit einer seltsam hastigen Bewegung, schiebt sogar den Riegel vor und geht langsam zum Tisch zurück, auf den er mit der Miene eines völlig Geistesabwesenden Schirm und Hut legt.
Da weht es kühl vom Fenster her. Das erinnert ihn daran, daß man ihn beobachten könnte.
Er schließt also das Fenster. Seine Hände beben dabei, und sähe Lechner jetzt herüber, so würde er wahrnehmen, daß Röhlings Gesicht jetzt wachsbleich ist und daß seine Augen wie im Fieber glühen. Vom Fenster wankt Röhling zu seinem Sessel, in welchen er wie ein todmüder Mann sinkt. Lange verharrt er so – regungslos vor sich hin starrend, endlich blickte er um sich, mit einem schier verwunderten Ausdruck, wie einer, der sich unvermutet in einer ihm völlig fremden Umgebung findet.
Ein Zittern überläuft ihn, er erhebt sich und geht zu dem Kasten. Anfangs sind seine Schritte zögernd, bald aber werden sie entschlossen, entschlossen wie der ganze Mann.
Rasch öffnet er den Kasten und entnimmt ihm das zuletzt hineingelegte Päckchen, mit welchem er sich alsdann zu seinem Schreibtisch zurückbegibt.
Es enthält die Papiere eines Schiffsmannes, welcher heute im Spital gestorben ist. Röhling durchfliegt sie, um sie dann gleichgültig wegzulegen, bis auf das letzte, welches seine ganze Aufmerksamkeit fesselt. Es ist der Paß, den er schon vorhin flüchtig durchgelesen hat.
Er ist in portugiesischer Sprache ausgestellt; dieser ist Röhling allerdings nicht mächtig; allein er hat als Soldat einige Jahre in Italien gelebt und sich die Sprache dieses Landes angeeignet, und da diese dem Portugiesischen verwandt ist, so fällt es ihm nicht schwer, den Paß zu übersetzen. Wieder und wieder liest er das Signalement, aus dem hervorgeht, daß Pedro Orfante, geboren zu Evora in Portugal, 43 Jahre alt, mittelgroß, schlank, brünett und von krausem Haar sei. Sein Gesicht ist dunkel und kräftig geformt, seine Zähne gesund, sein Kinn mit einem schütteren, krausen Bart bedeckt, und an der Stirn hat er eine Narbe.
Veit Röhling sieht ihn vor sich, ganz deutlich, aber er will ihn noch deutlicher sehen, deshalb steht er auf, nimmt einen Schlüsselbund vom Haken und verläßt, nachdem er die Papiere geborgen hat, das Zimmer.
Sein kurzer Weg führt ihn zu der Totenkammer. Er bleibt etwa eine Viertelstunde aus; dann kommt er zurück.
Seine Hände zittern, sein Gesicht ist seltsam starr, und seine Füße gehen so unsicher, daß sie an den Eisenrost stoßen, welcher zum Abputzen der Fußbekleidung vor der Kanzleitür liegt.
Und wie er so an das Scharreisen stößt, wirbelt feiner Staub auf, der ihn zum Husten reizt. Er will schon die Tür öffnen, da kommt schlurfend der alte Lechner in den Korridor, einen Brief in der Hand.
»An Sie, Herr Röhling!« sagt er und reicht dem Beamten das Schreiben. Der nimmt es, doch hütet er sich, die Tür zu öffnen, denn er spürt, daß das volle Licht, das dann auf sein Gesicht fallen müßte, seinen inneren Zustand verraten würde. Er spürt aber auch, daß es notwendig sei, eben jetzt einige harmlose Worte zu sprechen, und so würgt er denn den quälenden Pfropf hinunter, den er deutlich im Halse fühlt, und abermals an das Scharreisen stoßend, sagt er: »Sie sollten wieder einmal gründlich hier kehren, man erstickt ja fast vor Staub.«
Heraus waren sie, diese wenigen Worte, die ihn eine so große Anstrengung gekostet, und sie waren harmlos genug, nur – Röhling weiß es genau – hat seine Stimme dabei ganz anders geklungen als sonst.
Auch Lechner hat das gefunden.
»Es ist Ihnen übel«, sagt er teilnehmend, »ich hab' mir's gleich gedacht, weil Sie nicht zum Essen gegangen sind. Soll ich ihnen vielleicht etwas besorgen?«
Röhling hat sich mit Gewalt gefaßt und schüttelt den Kopf.
»Kopfweh habe ich, Kopfweh, nichts weiter. Ich danke Ihnen, aber ich brauche nichts.«
Lechner geht. Röhling betritt die Kanzlei. Jetzt erst könnte einer sehen, wie fahl sein Gesicht, wie verstört seine Züge sind.
Er verschließt die Tür hinter sich, wirft den Brief auf den Tisch, sinkt in den Sessel und birgt das Gesicht in den Händen.
Er sitzt lange unbeweglich da. Erst als die Turmuhr mit kreischenden Schlägen die zweite Stunde verkündet, fährt er wie ein aus schweren Träumen Erwachter empor und streicht sich über die Stirn. Da fällt sein Auge auf den Brief. Er greift danach und wendet ihn um. Pfeffermanns Schrift blickt ihm entgegen.
Röhlings Züge verzerren sich zu einer Grimasse der Wut, während er das Mahnschreiben – es kann ja nur ein solches sein – betrachtet, es hastig öffnet und liest, wobei seine fest aufeinandergepreßten Zähne wie die eines Raubtieres blinken.
»Es soll also durchaus sein. Er zwingt mich dazu. Nun denn, Pfeffermann – es geschieht auf deine Gefahr hin.«
So murmelt Veit Röhling, während er den Brief verbrennt.
Ein scheuer Blick noch in die Runde, und Röhling sitzt über seine Schreiberei gebeugt so ruhig da wie immer. Er hört nur dann zu schreiben auf, wenn der Hustenkrampf ihn erfaßt. Er hustet eigentlich nicht, er hüstelt nur, aber es muß ihn peinigen, das sieht man seinem verzerrten Gesicht an, wenn die rauhen Töne so seltsam heiser über seine blassen Lippen dringen.
Samstag wollte Baron Merburg wieder eintreffen. Aber es langte ein Telegramm von ihm an, das seine Rückkehr für Dienstag ankündigte. Die Jagdfreude ließ ihn nicht so leicht los.
Seine Gemahlin war durchaus nicht ungehalten darüber, ja, sie vermißte seine Gesellschaft kaum, denn sie hatte eben ihre Schwester, ein sehr liebenswürdiges, jedoch kränkliches altes Stiftsfräulein, bei sich zu Besuch.
Die beiden Damen saßen, als das Telegramm anlangte, beim Tee. Baronin Merburg lächelte, als sie es las, und reichte es dann ihrer Schwester: »Na, siehst du, Lori, ich hab's ja gewußt, es gefällt ihm bei den Kindern wieder so gut, daß er länger bleibt«, sagte sie heiter.
Gräfin Lori fand diese Tatsache so selbstverständlich, daß sie keine Bemerkung darüber machte, sie erkundigte sich nur danach, ob es in Rothausen noch immer so unheimlich dunkle Zimmer gäbe, was die Baronin bejahte.
»Möchte nicht dort wohnen. Ich hasse alles Düstere«, warf die Stiftsdame hin. »Warum nur Eugenie nicht darauf dringt, daß das Schloß renoviert wird.« Eugenie war die Tochter der Baronin Merburg, die Schloßfrau von Rothausen.
»Je nun, bei euch im Stiftshause ist es just auch nicht freundlicher«, neckte die Dame des Hauses ihre furchtsame Schwester. »So recht gemütlich ist es ja überhaupt nur in einem modernen Hause, da gibt's keine schwarzen Winkel und keine Fledermäuse.«
»Aber Mäuse«, fiel ihre Schwester ein.
»Oho! Du sprichst doch wohl nicht von diesem Hause?« »Eben von diesem, Malvine. Als ich letzthin eine Zeitlang wach im Bett lag, hörte ich ganz deutlich ihr Nagen.«
»Na, das wäre schön! – Das will ich sogleich Franz sagen, er soll Fallen aufstellen und Gift streuen lassen«, entgegnete lebhaft die Baronin und drückte auch schon auf die Glocke. Das Stubenmädchen erschien, sie mußte Franz herbeirufen.
»Gibt's Mäuse bei uns?« lautete die Frage, die ihn empfing.
»Ich habe nie etwas davon bemerkt«, antwortete Franz ein wenig verwundert.
»Aber ich habe welche im Mauerwerk nagen hören«, bemerkte Gräfin Lori. Franz, der alte Bursche, der sozusagen ein Familienerbstück war, durfte sich schon einige Freiheiten herausnehmen, das tat er denn auch jetzt.
»Täuschte sich die gnädige Komtesse auch nicht?« fragte er zweifelnd.
»Ich hörte das unheimliche Geräusch wohl eine halbe Stunde lang; vermutlich dauerte es die ganze Nacht, aber ich schlief endlich ein. Die Bowle hatte mir zugesetzt.«
»Merkwürdig, auch das neue Stubenmädchen, die Minna, will Mäusegepolter gehört haben«, bemerkte Franz und setzte dienstbeflissen hinzu: »Ich will nachsehen, ob sich irgendwo Spuren zeigen. Am besten wäre es wohl, ich stellte eine Falle in die Bibliothek, falls Frau Baronin es erlauben?«
»Warum denn eben in die Bibliothek?«
»Nun, ich denke, wenn außer unserer gnädigen Komtesse und Minna niemand im ganzen Haus Mäuse rumoren hörte, so haben sich die Tierchen vermutlich in der Bibliothek angesiedelt. Sowohl das Gastzimmer als auch Minnas Kammer grenzen daran, und das Mädel behauptet, daß von dieser Richtung her das Geräusch kam.«
»Gut, Franz! Tun Sie, was Sie für nötig finden. Jedenfalls wäre es sehr unangenehm, wenn die Mäuse über die Sammlungen meines Mannes kämen.«
Franz ging, um in der Bibliothek Nachschau zu halten, welche, wie alle Wohnräume des Barons, in dessen Abwesenheit stets verschlossen blieb, da die Baronin für die darin aufbewahrten Sammlerschätze die Verantwortung nicht übernehmen wollte; Franz, das Faktotum des Hauses, verwahrte die Schlüssel.
Nun tritt er in das erste der verschlossen gewesenen Zimmer, in dasselbe, wo Merburg seine Herrenbesuche empfängt. Franz war seit Donnerstag nicht mehr hier. Er hatte gemeint, es müsse schon eine recht dumpfe Luft hier herrschen, doch das war nicht der Fall. Gleichwohl öffnete er beide Fenster, um noch mehr erquickende Luft aus dem Garten herein zu lassen. Dann betritt er das Arbeitszimmer seines Herrn, um auch hier zu lüften. Er öffnet das dem Schreibtisch ferner liegende Fenster und geht dann in die Bibliothek, deren Türöffnung nur durch eine Portiere von dickem Wollstoff verhüllt ist. Die Bibliothek ist ein kleiner fünfeckiger Raum, der in dem Eckturm des Hauses liegt und sein Licht durch ein großes Fenster erhält, das zugleich Tür ist und auf einen kleinen, von Säulen getragenen Erker hinausführt. Die Säulen reichen bis in den Vorgarten hinab, der zwischen der Straße und der Villa liegt, und sind dicht mit wildem Wein überwachsen. Franz ist gekommen, um nach Spuren von Mäusen zu suchen, aber kopfschüttelnd und den Zweck seines Kommens vergessend, starrt er nach der Fenstertür, von der ihn ein frischer, kühler Luftstrom anweht: eine der großen Spiegelscheiben fehlt. Sie kann nicht etwa zerschlagen worden sein durch einen Steinwurf oder einen Windstoß, denn da würden sich doch Splitter finden. Aber es sind keine zu sehen.
Ein wenig blasser als sonst, geht Franz zögernd auf die Altantür zu.
Er steckt den Kopf durch den leeren Rahmen und blickt auf den kleinen Erker hinaus.
Ganz sorglich in einen geschützten Winkel gestellt, lehnt da die große, dicke Spiegelscheibe an der Wand, und an ihr klebt ein Lappen, der mit Pech bestrichen ist.
Mit wankenden Knien tritt Franz in das Zimmer zurück und sinkt auf den nächsten Stuhl. Seine Augen bemerken, wiewohl sie flimmern, nun noch etwas. Auf dem grünen, über den Fußboden gespannten Teppich finden sich Spuren von dem rötlichen Sand, womit die Gartenwege bestreut sind; sie können nicht von seinen eigenen Stiefelsohlen herrühren, denn er war heute noch gar nicht unten.
Franz sitzt eine Weile regungslos da, dann erhebt er sich und wankt durch das Arbeitszimmer nach dem Herrenzimmer. Dort tut er einen scheuen Blick nach der Nische, in welcher die Kasse steht, dann tritt er auf den Korridor hinaus und zieht an einer Klingelschnur. Der zweite Diener, Eduard, kommt herbei.
»Ich lasse die Frau Baronin bitten herüberzukommen«, sagt Franz mit auffallend heiserer Stimme.
»Ist Ihnen unwohl?« fragt Eduard, aber der Alte winkt ihm zu gehen, und der junge Mensch eilt fort.
Er stürzt förmlich in den Salon hinein, wo ihn die erstaunten Blicke der beiden Damen empfangen.
»Entschuldigen Sie, Frau Baronin, aber der Franz – er sieht so seltsam aus, und – er bittet, daß Sie hinüberkommen möchten.«
»Wo ist er?« fragt die Baronin.
»Ich fand ihn vor den Zimmern des Herrn Barons«, entgegnet Eduard. Von ihrer Schwester gefolgt, begibt sich die Baronin nach dem bezeichneten Ort.
»Was gibt's, Franz?« fragt sie mit unsicherer Stimme.
»Ich fürchte, ich fürchte –«, stammelt der Alte und kommt nicht weiter, aber er führt sie durch die Zimmer bis zur Altantür. Beide Damen und auch Eduard folgen ihm, und alle begreifen sehr schnell.
Schweigend wendet sich die Baronin um und geht zurück; ihre Blicke eilen über die Räume, welche sie durchschreitet. Es fehlt hier nichts, keine der wertvollen Waffen, keines der kostbaren Zierstücke, die ihres sammellustigen Mannes Stolz sind. Nicht eine Lücke zeigt sich. Die Baronin eilt zur Kasse. Die anderen folgen ihr. Mit zitternden Händen untersucht sie den Verschluß. Er ist intakt. Es will sich schon die Hoffnung in ihr regen, daß der Einbrecher verscheucht worden oder diesem vortrefflichen Schloß nicht beizukommen vermochte, da stößt sie einen leisen Schrei aus und deutet auf ein Papierendchen, welches aus dem Aufsatz der Kasse schaut, und dann hebt sie den Deckel dieses Aufsatzes und schlägt ihn zurück. Einzelne Eisenspäne fallen nieder.
»Also richtig bestohlen!« sagt die Baronin tief atmend, »aber was – was kann der Dieb hier herausgenommen haben? Eugen pflegte doch hier nur Schriften und Rechnungen aufzubewahren.«
Solche liegen auch jetzt noch da; teils wie in Eile hingeworfen, teils in kleine Bündel geordnet Es scheint nichts zu fehlen, denn fast das ganze Fach ist voll von Papieren.
»Was ist nun zu tun?« fragt die Baronin den Alten.
»Vor allem müssen wir, meine ich, dem Herrn telegrafieren«, antwortet Franz, und da sie nickt, geht er zum Schreibtisch und setzt das Telegramm auf.
Eduard eilt damit fort.
Die Baronin kehrt mit ihrer Schwester in den Salon zurück.
Franz sperrt die Gemächer seines Gebieters sorglich ab und begibt sich alsdann in den Garten.
In der Nähe des Eckturms forscht er eifrig nach etwaigen Spuren auf dem Boden. Er findet keine, der Regen hat wohl das Erdreich aufgeweicht, allein der rötliche Sand, der darüber liegt, verrät nichts. Franz untersucht daraufhin die laubüberrankten Säulen, die sich bis zum Erker hinaufziehen. Da gibt es denn manch geknickten Zweig an dem fast armdicken, zähen Hauptstamm der Kletterpflanze, an welcher der Einbrecher hinaufgestiegen ist Aber damit sind die Entdeckungen zu Ende.
Franz furchtet, daß es sich um den Diebstahl einer bedeutenden Geldsumme handle und daß sein Herr diesen Verlust durch seine allzu große Sorglosigkeit selbst verschuldet habe.
Er hatte an jenem Festabend, als der Bankbeamte zu so ungelegener Zeit die flüssiggemachte Summe überbrachte, wohl bemerkt, daß der Baron nur den kleinen, eigentümlich geformten Schlüssel, welcher den schreibpultähnlichen Aufsatz der Kasse schließt, von seiner Uhrkette löste. Der Baron wollte, um sich seinen Gästen nicht allzulange zu entziehen, das empfangene Geld einstweilen nur in jenem Aufsatz aufbewahren. Franz hatte sich erlaubt, seinem Gebieter abzuraten, und sich auch erboten, ihm in sein Schlafzimmer voranzuleuchten, woselbst nebst anderen Schlüsseln auch der zum eigentlichen Kassenschrank in einem sicheren Kästchen aufbewahrt wurde, zu welchem der Baron ebenfalls den Schlüssel immer bei sich trug.
Hätte der Baron den wohlgemeinten Rat seines alten Dieners befolgt, so wäre das Unglück wahrscheinlich nicht geschehen, denn zum Öffnen der Kasse gehörten denn doch ganz andere Mittel als zur Durchfeilung des weit schwächeren Verschlusses des Aufsatzpultes.
Der sorglose Herr hatte über die Skrupel des pedantischen Alten gelacht; ob er sich nachträglich noch die Zeit genommen, die Geldsumme, welche sich auf 30 000 Gulden belief, besser zu verwahren, wußte Franz nicht. Das Fest hatte bis zum Morgen gedauert, und mit dem Schnellzug, der um sieben Uhr morgens abging, war der Baron schon weggefahren.
Mit großer Unruhe sahen die Bewohner der Villa Merburg der Rückkehr des Herrn entgegen. Er traf am nächsten Morgen ein. Es war Sonntag.
Mittwoch abend hatte man Merburg das Geld gebracht. Freitag nacht hatten Gräfin Lori und das neue Mädchen, Minna, jenes Geräusch gehört, welches sie für Mäusenagen gehalten. Und heute war Sonntag.
Wenn das Geld fort war, dann befand sich auch der Dieb schon in sicherer Ferne.
Und das Geld war wirklich fort! Wie Franz gefürchtet, hatte es der Baron nur im Aufsatz der Kasse verwahrt. Jetzt machte er sich allerdings Vorwürfe über seine Unvorsichtigkeit, aber damit konnte er den Verlust nicht ungeschehen machen, der selbst für ihn immerhin bedeutend war.
Natürlich machte der Baron in eigener Person sofort bei der Polizei Anzeige, und eine halbe Stunde später kehrte er schon mit einem Kommissar in sein Haus zurück. Ein ältlicher Mann, der wie ein Kanzleidiener aussah und in einen sehr einfachen Zivilanzug gekleidet war, hatte sich ihnen auf einen Wink des Kommissars angeschlossen.
Der Baron beachtete ihn nicht, denn es war nichts irgendwie Auffälliges an ihm außer seinen scharfen, klugen Augen. Als man am Ziel war und der Baron mit artiger Handbewegung den Polizeikommissar einlud, vor ihm in den Vorgarten zu treten, zog der ältliche kleine Mann rasch eine staubgraue Brille heraus und setzte sie auf.
Es war im April, der Weißdorn, welcher sich an dem einen Ende des Gitters durch dessen bronzene Stäbe drängte, stand in voller Blüte.
Die Augen, die sich soeben versteckt, hatten das sofort gemerkt, und ihr Eigner ging bis an den blühenden Strauch heran und pflückte, noch auf der Straße stehend, eines der Zweiglein.
»Mir scheint, lieber Müller, daß jetzt kaum die Zeit zum Botanisieren ist«, rief ihm sein Vorgesetzter in verwundertem, jedoch nicht strafendem Tone zu.
Müller lächelte und sagte ruhig: »Es sind so liebliche Blüten!« Der Kommissar folgte hierauf dem Baron in das Haus.
Müller ging ihnen langsam nach, dabei legte er irgendeinen kleinen Gegenstand in sein Notizbuch.
»Was für einen seltsamen Menschen haben Sie denn da mitgebracht?« fragte lächelnd Merburg.
Der Polizeibeamte aber blieb ernst und antwortete: »Der Dieb, der bei Ihnen eingebrochen ist, Herr Baron, hat wohl niemanden mehr zu fürchten als diesen unscheinbaren Mann.«
»Ah, er ist also ein gewiegter Detektiv?«
»Der tüchtigste, den wir haben. Ich bitte, ihm jeden Vorschub zu leisten.«
»Soll geschehen, Herr Kommissar«, erwiderte Merburg und wendete sich dann zu dem Geheimpolizisten.
»Es freut mich, daß Sie mir Ihren Scharfsinn zur Verfügung stellen wollen«, sagte er freundlich und streckte dem Mann die Hand hin, aber Müller ergriff sie nicht, denn er war mit seinem Zweig so beschäftigt, daß er anderes nicht sah noch hörte.
»Es ist eine ganz seltene Abnormität«, murmelte er, »mitten unter den weißen Blüten eine gelbe!«
Der Kommissar lachte laut auf und klopfte ihm auf die Schulter: »Müllerchen! Erwachen Sie aus Ihrem botanischen Dusel; ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß wir jetzt nicht Naturwissenschaft treiben.«
Ein wenig verlegen ergriff Müller, von seinem Zweig aufblickend, das Barons Hand, welche dieser ihm noch immer lächelnd hinhielt, und schüttelte sie kräftig.
»Sie sind also ein leidenschaftlicher Botaniker?« meinte Merburg. Der Detektiv nickte.
»Ja, und wenn Sie Orchideen in Ihrem Glashaus haben, Herr Baron, so geht er für Sie bis ans Ende der Welt.« Der Kommissar lachte.
»Wer weiß, ob ich so weit werde gehen müssen«, meinte Müller ruhig.
Daraufhin traten die drei in das Vorzimmer, das zur Wohnung des Barons führte.
Franz, der darin geweilt hatte, grüßte stumm und wollte sich dann zurückziehen.
Merburg aber hieß ihn bleiben.
»Es ist Franz, mein alter, treuer Diener«, stellte er ihn vor.
Hinter Müllers Brille schoß ein scharfer Blick hervor, auch Kommissar Ehrenfelds kluge Augen studierten des Alten Züge, und dieses Doppelstudium fiel zu Franz' Gunsten aus.
»Es ist noch alles so, wie Sie es gestern fanden?« wendete sich Ehrenfeld an Franz.
»Genau so. Nur die Fensterläden der beiden Zimmer habe ich geöffnet.«
Ehrenfeld betrat das Herrenzimmer des Barons.
Auf den glattpolierten Möbeln konnte man den feinen Staub liegen sehen, den der Wind zu dem herausgeschnittenen Fenster des Erkers bis hier hereingeweht hatte.
Ehrenfeld öffnete eine schmale Tapetentür, die rechter Hand lag, und blickte in den finsteren Raum.
»Das ist mein Schlafzimmer«, sagte der Baron.
»Und Sie, Herr Franz, haben dasselbe seit der Abreise Ihres Herrn nicht betreten? Ich schließe es daraus, daß die Fensterläden darin geschlossen sind.«
»Ich war nicht drinnen und auch niemand anders.«
Müller schritt über die Schwelle. Ein schmaler Lichtstreifen sagte ihm, wo er das Fenster zu suchen hatte. Er schlug dessen Laden zurück. Ein elegant eingerichtetes Kabinett zeigte sich.
»Der Dieb war auch hier«, sagte der Kommissar, der zu dem marmornen Waschbecken getreten war, in welchem sich ein wenig rötlich gefärbtes Wasser befand. »Was haben Sie, Müller? Auch ich sehe die Bluttropfen auf der Marmorplatte. Es gab also eine Verwundung.«
Müller kniete auf den Teppich und beugte sich nieder.
»Auch Metallspäne gibt es hier, gelbe und graue«, sagte er, ruhig einige Splitter auflesend, »sie kommen von diesem Schlüsselkasten. Ganz nutzlos solch eine Arbeit. Der Mann kennt die Glasgower Technik nicht, er hat das Kästchen an seiner festesten Stelle angegriffen.«
»Wieso wissen Sie, daß dieses Kästchen Glasgower Arbeit ist? Haben Sie Studien darin gemacht?« fragte verwundert der Baron. Müller nickte. »Wie auch jeder Einbrecher sie machen soll, ehe er sein Geschäft betreibt. Wir haben es also mit einem Neuling zu tun, das vereinfacht die Sache bedeutend.«
»Also der Mann hat sich verletzt, was den Schluß zuläßt, daß er wahrscheinlich auch den unteren Teil der Kasse zu öffnen versuchte. Ich verstand doch recht? Es ist nur das Pult gesprengt?«
»Nur das Pult«
»Und dieses Schlüsselkästchen enthält auch den Schlüssel zur Kassa?«
»Auch diesen. Die weit kleineren Schlüssel zum Pult sowie zu diesem Kästchen selbst trage ich an meiner Uhrkette.«
»Wer aber kann Kenntnis davon haben, daß hier der Kassenschlüssel aufbewahrt wird?«
»Meine Hausgenossen. Sonst wohl niemand.«
»Und Herr Baron vertrauen Ihrer ganzen Dienerschaft?«
»Allen. Es sind bewährte, schon lange in meinen Diensten stehende Leute.«
»Bis auf Minna, Herr Baron, die erst in der verflossenen Woche eintrat«, berichtigte Franz, beeilte sich aber hinzuzusetzen: »Womit ich natürlich keinerlei Verdacht gegen dieses Mädchen aussprechen will.«
»In welcher Eigenschaft ist sie hier?« fragte Ehrenfeld.
»Als Stubenmädchen.«
»Räumt sie auch hier auf?«
»Ja, doch stets in meiner Gegenwart; sie war niemals hier allein.«
»Kann man sie sehen?«
Merburg drückte dreimal auf eine elektrische Klingel. Sehr bald erschien ein bildhübsches Mädchen, das ein wenig zögernd hereintrat, aber mit ruhigem Blick den Kommissar streifte und dann nach des gnädigen Herrn Befehl fragte.
»Wein und Zigarren, Minna«, befahl der Baron und wendete sich dann, offenbar um Ehrenfeld und Müller Zeit zu schaffen, an ersteren mit der Frage, welche Sorte er vorziehe.
Der Kommissar dankte für beides und bat um ein Glas Wasser.
Auf einen Wink hin entfernte sich alsdann Minna, die den Eindruck vollständiger Harmlosigkeit machte.
»Und außer Ihren Hausgenossen hatte also niemand Gelegenheit zu erfahren, was für eine Bewandtnis es mit diesem Schränkchen habe, Herr Baron?«
»Niemand – das heißt ...«
»Das wollte ich eben auch sagen«, fiel Franz, dem eine Blutwelle ins Gesicht gestiegen war, hastig ein.
»Was denn, mein guter Alter?« fragte verwundert Merburg. »Was wolltest du sagen? Weißt du denn, an wen ich denke und wessen Name mir kaum über die Lippen will?«
»Mir ist dieser Mann bist jetzt gar nicht in den Sinn gekommen, und auch sonst hat keiner im Hause an ihn gedacht. Erst die Minna, aber freilich, das weiß nur ich ...«
Franz hielt ganz verwirrt inne.
»Na, komm zu dir. Was ist's mit der Minna und – Röhling, denn der ist es; doch nenne ich ihn nur, um vollständige Auskunft zu geben, meine Herren, nicht um ihn, den ich seit zwei Jahren als Ehrenmann kenne, zu verdächtigen.«
»In welchem Verhältnis steht Röhling zu Ihnen?«
»Er ist ein ausgezeichneter Kalligraph, der mir meine Handschriftensammlung durch gelungene Kopien vervollständigt.«
»Er ist Beamter im ... Spital.«
»So. Und dieser Herr Röhling hatte ... Wie ist sein Vorname?«
»Veit.«
»Dieser Herr Veit Röhling kannte also auch die intimen Einrichtungen Ihrer Wohnung?«
»Das muß ich zugeben.«
»Er ist verheiratet?«
»Nein.«
»Und hat keine Leidenschaften, die Geld kosten?«
»Keine, soviel mir bekannt.«
»Er spielt nicht? Ist nicht verliebter Natur?«
»Er haßt die Weiber und rührt keine Karte an.«
»Erlauben – gnädiger Herr!«
»Was denn, Franz?«
»Das mit den Weibern ist vielleicht nicht ganz richtig. Er hat eine gern oder hat sie früher gern gehabt, eine, der unsere Minna gleichsieht.«
»Ah? Woher weißt du das?«
Franz erzählte in Kürze den Vorfall auf der Stiege.
»Röhling war also anwesend an jenem Abend? War vielleicht sogar Zeuge der Übernahme des Geldes?« sagte nach einer Pause des Nachdenkens Ehrenfeld.
»Er befand sich währenddessen nebenan in meinem Arbeitszimmer.«
»Und Sie dachten nicht einen Augenblick an diesen Mann, Herr Baron?«
»Sie hören, Herr Kommissar, es hat niemand im Hause ihn mit dieser Tat in Verbindung gebracht, so vollständig ist er über jeden Verdacht erhaben.«
Ehrenfeld zuckte die Schultern.
Müller lächelte.
»Wo wohnt dieser Röhling?« fragte der Kommissar.
»Im siebenten Stadtbezirk, Königsstraße fünf.«
Müller notierte sich die Adresse, dann begab man sich in das Herrenzimmer, den eigentlichen Tatort.
Der Detektiv hatte die früher gesammelten Metallspäne in ein Papier eingeschlagen, das er jetzt in seinem Notizbuch barg.
Jetzt wurde ihm allein die Untersuchung überlassen.
Kommissar Ehrenfeld und der Baron hatten sich in eine Fensternische, Franz an die Vorzimmertür zurückgezogen. Bald mußte Müller zugeben, daß der Einbrecher auch in diesem Raum nicht die geringste Spur zurückgelassen hatte, aus welcher man hätte auf seine Person schließen können.
Es befand sich alles in bester Ordnung; nur der dunkelgrüne Plüschteppich, welcher den in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch bedeckte, war verschoben, und auf einem der bis auf den Boden reichenden Zipfel fand sich eine Trittspur.
Müller kniete nieder, nicht dieser unwesentlichen Spur wegen, die keinerlei Anhaltspunkte darbot, sondern er hatte ein winziges dreieckiges Stückchen Papier entdeckt, welches auf hellblauem Grunde ein zierliches Gittermuster in Gold zeigte.
Wiewohl auf beiden Seiten beschmutzt, war doch noch deutlich erkennbar, daß es zu jenen Papiersorten gehörte, welche vorzugsweise zum Überzug von Pappschachteln und dergleichen Verwendung finden.
Müller betrachtete es genau und reichte es dann seinem Vorgesetzten mit den Worten: »Es ist an einem Stiefelabsatz hierhergebracht worden, und dieser Absatz war mit viereckigen Nägeln besetzt.«
Auch Merburg betrachtete das Papier, auf welchem mehrere kleine viereckige Nageleindrücke deutlich sichtbar waren.
Inzwischen hatte Müller noch eine weitere Entdeckung gemacht, auf der Tischdecke klebte ein Tröpflein graugelben, ordinären Wachses.
»Ein weiterer Beweis, daß wir es mit keinem Fachmann zu tun haben«, sagte Müller. »Er hat ja nicht einmal eine Diebslaterne, sondern bricht beim Scheine eines Wachsstockes ein. Sehen Sie, meine Herren, hier hat der Wachsstock gestanden.«
Es war so.
Nun ging Müller an die Untersuchung der Kassa, an welcher nichts verletzt war als das verhältnismäßig schwache Schloß ihres Pultes, aus welchem die 30 000 Gulden verschwunden waren.
An diesem war gefeilt worden, das war das Nagen der Mäuse gewesen. Es war ein Stahlschloß, die grauen Späne lagen auf dem Boden.
»Während der Mahlzeit ist ihm erst der Appetit nach mehr gekommen«, bemerkte Müller. »Als er hier fertig war, hat er das Kästchen angegriffen. Die Verletzung, die er sich dabei zugezogen, hinderte ihn dann am Weiterarbeiten.«
Müller erbat sich das Papierstückchen, welches der Baron noch in der Hand hielt, und verwahrte es sorgfältig in seiner Brieftasche.
Die Untersuchung des Arbeitszimmers, der Bibliothek und des Erkers ergab nichts Neues. Während Merburg und Ehrenfeld sich in den Salon begaben, wo die Damen schon ungeduldig des Ergebnisses der Nachforschung harrten, ließ sich Müller von Franz in den Garten begleiten. Durch den Vorgarten, direkt von der Straße her, mußte der Dieb gekommen sein.
Auf Fußspuren konnte man sich nicht mehr verlassen, da die Wege seit dem Einbruch vielfach schon von den Hausangehörigen betreten worden waren, vielleicht aber boten die Taxushecke oder das bronzene Gitter, welche den Garten nach der Straße zu säumten, einen Anhalt.
Das Gitter, durch dessen letzte Stäbe vom Nachbargarten herüber der blütenüberladene Weißdom seine Zweige drängte, schien plötzlich Müllers ganze Aufmerksamkeit zu beschäftigen.
»Was sehen Sie?« fragte Franz neugierig. Müller stieg eben, sich durch eine schüttere Stelle der Taxushecke drängend, auf den niederen Sockel des Gitters.
»Was ich sehe? Eine frische Bruchstelle an dieser Stange, an welcher die Lanzenspitze fehlt. Ich meine, hier ist der Dieb herübergekommen.«
»Über die spitzen Lanzenschäfte?« Franz lächelte ungläubig.
»Sie waren wohl niemals Turner?« fragte Müller lächelnd.
Franz schüttelte den Kopf. »Zu meiner Zeit war das nicht Mode.«
»Aber heute ist's Mode. Heute ist jeder zweite Mann ein Turner. Ich bin's auch, und da wir gerade keine Zuschauer haben«, fügte er mit einem Blick auf die sonntagsstille Straße hinzu, »so will ich Ihnen zeigen, daß man ganz leicht über diese Lanzenspitze kommt.«
Damit begab er sich auf die Straße hinaus.
Mit einem Sprung war er auf dem Sockel, dann schwebte er, sich mit der Rechten an einer der Eisenspitzen festhaltend, einen Augenblick in der Luft und war herüben.
»Aha, ich bin leichter als der Dieb, die Lanzenspitze ist ganz geblieben«, sagte ruhig der Detektiv und setzte hinzu: »Wie groß ist wohl dieser Rohling? Und ist er derb gebaut?«
»Er ist größer als Sie, aber schlank«, antwortete Franz, der statt Müller über dessen Turnerstückchen atemlos war.
Dieser zog jetzt seine Brieftasche heraus und zeigte dem Alten ein Stückchen Gummistoff, es war ein fingerlanger Streifen, außen schwarz und mattglänzend, innen ein buntkariertes Muster weisend.
Müller hatte diesen Gegenstand schon vor dem Betreten der Villa an der Weißdornhecke flattern sehen und an sich genommen, während er sein Interesse scheinbar nur den Blüten zuwandte.
Dieses Stückchen Gummistoff mochte wohl von einem Mantelsaum herrühren, und derjenige, der es etwa hier zurückgelassen, mußte auf dem Sockel des Gitters gestanden haben, denn der Fetzen hatte hoch oben am Strauch gehangen.
Davon sprach Müller allerdings nicht, aber er fragte den alten Diener, ob dieser jemanden kenne, der einen Gummimantel mit solch auffallender Innenseite trage.
Franz verneinte.
Müller schüttelte den Kopf.
Die fernere Untersuchung des Gartens ergab nichts Neues. So kehrten denn beide in das Haus zurück, wo ihnen der Baron und Ehrenfeld entgegenkamen.
Müller berichtete rasch, was er gesehen und was er vermute; nur von dem Gummistoff sagte er nichts.
Einige Minuten später verließ er mit Ehrenfeld die Villa.
»Nun? Denken Sie noch immer an diesen Herrn Röhling?« fragte der Kommissar.
»Einstweilen nur an ihn. Wir haben ja keinen anderen, an den wir denken könnten. Gestatten Sie, daß ich sofort nach der Königsstraße gehe?«
»Natürlich. Da werden wir ja gleich wissen, wie es mit diesem leidenschaftslosen Herrn steht. Da kommt ein Wagen. Nehmen Sie ihn. Also – auf Wiedersehen!«
Vor einem schmucklosen alten Hause steigt unser Geheimpolizist aus dem Wagen. Wie er vom Hausbesorger erfährt, wohnt Herr Röhling im dritten Stock, Nr. 9.
Dort setzt Müller bescheiden die Klingel in Bewegung. Nach ziemlich langer Zeit öffnet eine ältliche Frau.
Ob Herr Röhling zu sprechen sei, fragt Müller, artig den Hut lüftend.
Die Frau muß ängstlicher Natur sein, denn sie wagt es nicht, ihre Tür ganz zu öffnen. Sie spricht nur durch eine Spalte mit ihm.
Herr Röhling sei gestern abend zu einer Landpartie aufgebrochen, und da er nach seiner Rückkunft bei seinem Vetter übernachten wolle, weil er von dessen Wohnung nicht weit ins Spital habe, so werde er erst nach Schluß der Amtsstunden, also nach sechs Uhr, am Montag heimkommen.
So lautet die Auskunft der Alten, die sich nun scheu zurückziehen will. Aber Müller bringt seine umfangreiche Brieftasche zum Vorschein und bittet die Frau, ihm den Eintritt in Röhlings Zimmer zu gestatten. Dieser sei sein Freund, und er habe für ihn eine sehr wichtige Mitteilung, die er schriftlich hinterlassen wolle. Der Detektiv erreicht seinen Zweck, denn einen so achtbar aussehenden Herrn mit so einer dicken Brieftasche kann man nicht ohne weiteres abweisen.
So folgt er ihr denn in bester Laune in Röhlings Zimmer.
Es ist ein kleiner, peinlich saubergehaltener Raum, darin ihn Frau Dorn, so heißt Röhlings Quartiergeberin, einen Sessel an einen sehr altmodischen Schreibtisch schiebt.
»Sie entschuldigen wohl. Ich habe einen Auflauf im Rohr.« Mit diesen Worten eilt Frau Dorn aus der Stube.
Müller findet, daß ihr die heikle Speise eben zu rechter Zeit eingefallen sei. Er zieht eine Karte aus seiner Brieftasche und legt sie vor sich hin, dabei überfliegen seine Augen seine Umgebung. Außer den notwendigen Möbeln findet sich ein Werktisch, auf welchem ein gelb polierter, ziemlich umfangreicher Kasten steht, woran ein Schlüssel steckt; über diesem Werktisch hängt eine Etagere, auf welcher allerlei Schnitz- und Papeteriearbeiten stehen.
»Ah!« macht Müller und tritt rasch an den Werktisch, dessen Lade er herauszieht, um sie enttäuscht bald wieder zu schließen. Seine lebhafte Phantasie hatte ihm ganze Bogen blauen Papiers mit einem zierlichen, goldglänzenden Gittermuster gezeigt, aber es ist nichts damit. Die Täuschung entmutigt ihn jedoch nicht, er blickt auf den gelben Kasten, dreht den daran steckenden Schlüssel um und hebt den Deckel auf.
Es ist ein Werkzeugkasten, und ganz obenauf liegt – wie hastig hineingeworfen – ein langer, schmaler Gegenstand in Zeitungspapier eingewickelt.
Müller hebt das Paket auf. Es ist schwer. Er öffnet es. Ein Werkzeug kommt zum Vorschein.
»Nein, so dumm kann keiner sein«, murmelte er, dann aber setzt er hinzu: »Außer es hegt ihm nichts mehr an der Entdeckung, weil er sich in Sicherheit weiß oder glaubt«
Das Werkzeug ist eine Feile. Zwischen ihren Zähnen hängen graue und gelbe Metallspäne.
Gedankenvoll schaut Müller auf dieses Beweismittel Auch die Zeitung gehört dazu. Sie trägt das Datum vom 18. April und ist ein Abendblatt.
Und in der Nacht vom achtzehnten auf den neunzehnten ist der Einbruch geschehen. Der Detektiv ist so tief ins Nachdenken versunken, daß er überhört, wie die Tür geöffnet wird.
»Aber, mein Herr, was tun Sie da?« fragte Frau Dom mit angstvoller Stimme.
Müller wendet sich um.
»Ich stöbere in fremdem Eigentum«, antwortete er mit so gemütlichem Lächeln, daß sie wieder Vertrauen zu ihm faßt.
»Ach! Ich vergaß! Sie sind Herrn Rohlings Freund. Sie können sich wohl solche Vertraulichkeiten erlauben«, sagt sie verlegen.
»Ich bin nicht Herrn Rohlings Freund«, erklärt jetzt plötzlich Müller, »ich kenne Herrn Rohling nicht einmal.«
Frau Dorn weicht erbleichend bis zur Tür zurück.
»Was – was wollen Sie alsdann hier? Wer sind Sie?« stammelt sie, und Müller entgegnet ernst: »Wer ich bin? Einer, der das Recht hat, hier zu sein.«
»Mein Gott! Ich verstehe Sie nicht«
»Dort liegt meine Karte, Frau Dorn. Die wird Ihnen sagen, was ich bin.«
Die Frau geht langsam zum Schreibtisch und nimmt die große, gestempelte und sehr offiziell aussehende Karte, welche Müller vorhin hingelegt hat.
»Josef Müller, Geheimpolizist«, liest sie laut, legt die Karte langsam nieder und läßt sich auf den nächsten Stuhl sinken.
»Was hat sich Herr Rohling zuschulden kommen lassen?« fragte sie nach einer Weile.
»Das wird man Ihnen auf der Polizei sagen, werte Frau. Ich muß Ihnen leider eröffnen, daß es heute mit Ihrer Sonntagsruhe zu Ende sein wird, denn man wird Sie in dieser Sache vernehmen.«
»Ich kann nichts Schlechtes gegen Herrn Rohling aussagen.«
»Sie werden eben aussagen, was Sie über ihn wissen. Jetzt bitte ich Sie nur um eine Auskunft. Wie ich sehe, hat Ihr Mieter sich mit Galanteriearbeiten beschäftigt und recht niedliche Papparbeiten gefertigt. Wissen Sie vielleicht, ob er in letzter Zeit ein Papier von dieser Art zu seinen Arbeiten verwendete?«
Müller hielt der Frau das blaue Papierstückchen mit den Goldgittern hin, das er in Merburgs Zimmer gefunden.
Frau Dorn schaute sehr verwundert darein, aber sie nickte.
»Ja, er hat Bonbon-Schachteln in seinen freien Stunden verfertigt und sie in das Galanteriewaren-Geschäft von Rolf und Söhne am Graben geliefert, darunter auch viele, die er mit solchem Papier überzog. Er hat auch mir eine solche Knopfschachtel gemacht.«
Sie erhob sich und ging hinaus, bald mit einer kleinen Schachtel zurückkehrend, welche mit dem fraglichen Papier überzogen war.
Müller steckte mit Erlaubnis der Wirtin das blaue Schächtelchen ein. »Und jetzt möchte ich noch Röhlings Schuhe sehen«, sagte er.
Wieder schaute Frau Dorn verwundert auf, doch erhob sie sich sofort und öffnete die Tür eines Nachtkästchens.
»Außer denen, die er trägt, besitzt er nur noch dieses Paar. Hier ist es.«
»Es stimmt!« Müller nickte, nachdem er die Absätze der Stiefeletten besichtigt hatte, und stellte dieselben zu der auf dem Tisch liegenden Feile, auf welche Frau Dorn zuweilen einen scheuen, ahnungsvollen Blick warf.
»Haben Sie eine Fotografie von Röhling?« fragte jetzt der Detektiv.
Die Frau nahm eines der vielen in Gruppen geordneten Bildchen von der Wand.
Müller betrachtete aufmerksam das Porträt des Mannes, dem man so sehr vertraut hatte und der dieses Vertrauen so schmählich gelohnt. Es zeigte eine Persönlichkeit, die ungemein solid aussah.
»Ist er Dunkelhaarig?« fragte er.
»Er ist es.«
»Hat er Eigentümlichkeiten, an denen man ihn leicht erkennen kann?«
»Nein. Oder doch – muß ich es denn sagen? Muß ich denn zu seiner Ergreifung behilflich sein?« brach die Frau nervös los.
»Wollen Sie einen Verbrecher schützen?« fragte Müller ruhig. Da strich sie sich das graue Haar aus der Stirn und nickte.
»Sie haben recht Er ist mir fast wie ein Sohn gewesen, darum tut es mir weh, ihn jetzt von einer so schlimmen Seite kennenzulernen. Aber trotzdem sollen Sie wissen, was ich sagen kann. Ja, man kann ihn leicht erkennen – an seinem Hüsteln, das kaum viertelstundenlang ausbleibt und merkwürdig heiser klingt, und an der Narbe auf seiner Stirn, die sich auch auf seiner Fotografie unterscheiden läßt.«
Müller hatte sich, während sie sprach, am Schreibtisch niedergelassen und packte Röhlings Stiefeletten, die wieder in die Zeitung gewickelte Feile und das blaue Schächtelchen in einen der großen Bogen, welche Röhling als Schreibunterlage gedient hatten.
Dabei war ihm eine Vase mit einem schon welkenden Strauß weißen, stark duftenden Flieders im Weg, und indem er sie beiseite schob, ging ein förmlicher Blütenregen nieder.
Frau Dorn stellte die Vase auf den Werktisch und wischte mit ihrer Schürze die gefallenen Blüten zu einem Häufchen zusammen, das sie auf einem Stück Papier sammelte.
»Gestern nachmittag saß er noch hier und freute sich des Flieders, während er in einem Buch blätterte«, bemerkte sie dabei.
Müller fand es seltsam, daß Röhling, der doch schon Freitag nacht hätte flüchten können, sich gestern noch hier aufgehalten hatte. Freilich wußte er aus Merburgs eigenem Munde, daß dieser erst Samstag abend zurückkehren werde, und hatte daher annehmen können, daß der Diebstahl erst um diese Zeit entdeckt werden würde. Aber es mochten trotzdem sehr wichtige Gründe sein, welche ihn in der Stadt, deren Boden ihm unter den Füßen brennen mußte, zurückgehalten hatten.
»Um wieviel Uhr verließ Röhling das Haus?« wandte sich Müller an Frau Dorn.
»Gegen acht Uhr.«
»Wie war er gekleidet?«
»Er trug einen dunkelgrauen Anzug und einen braunen Überrock.«
»Hatte er Reisegepäck bei sich?«
»Nichts als seinen Regenschirm. Aber am Morgen, als er ins Spital ging, da nahm er – ich wunderte mich noch darüber – ein großes Paket mit.«
»Wenn Sie wissen, was er besitzt, werden Sie ja bald bemerken, was fehlt. Bitte, sehen Sie also nach.«
Frau Dorn tat es. An den zwei Kästen, die sich in der Stube befanden, steckten die Schlüssel, sie waren also sofort zugänglich.
Es fehlten einige Wäschestücke und eine alte Reisetasche von dunkelrotem Leder und geringem Umfang.
Müller ließ sich die Reisetasche genau beschreiben.
»Hatte Röhling nicht einen Regenmantel oder eine Jacke von demselben Stoff?«
»Nein.«
»Und wo wohnt sein Vetter, den er morgen besuchen und bei welchem er die Nacht verbringen will?«
Frau Dorn nannte die Wohnung Pfeffermanns. Den Mann selbst kannte sie nicht, sie wußte nur, daß seine Tochter, ein sehr hübsches Mädchen, einmal bei Röhling gewesen war, um ihm irgend etwas von ihrem Vater auszurichten. Röhling scheine in das Mädchen verliebt zu sein, denn er habe ihr Bild, zwar nicht sehr geschmackvoll, aber doch recht ähnlich, aus dem Gedächtnis gemalt. Das Bildchen hing an der Wand. Im Gegensatz zu den vielen anderen Bildern, welche in sehr bescheidenen, selbstgefertigten Rahmen Röhlings Stube zierten, war es von einem breiten, pompösen Goldrahmen umgeben, der wohl kaum der mittelmäßigen Malerei, sondern dem Original galt.
Müller, der jetzt das Mädchenbildnis näher betrachtete, war überrascht. Hatte er denn nicht erst heute in dieses Antlitz gesehen?
Er dachte nach, und es fiel ihm die Szene mit dem Stubenmädchen bei Merburgs ein. Ja, Minna ist es, die dem Bildchen da sprechend ähnlich sieht.
Müller wußte freilich, daß trotzdem Minna nicht das Original des Bildes sein konnte. Der alte Franz hatte ja Röhlings Begegnung mit dem Stubenmädchen geschildert: Röhlings Ausruf »Diese Ähnlichkeit! Ganz wie sie!« sprach dafür, daß Minnas Anblick ihn nur erschüttert hatte, weil sie ihn an eine andere erinnerte.
Nun klärte sich's ja wohl bald auf, was es mit dieser anderen für eine Bewandtnis hatte, denn dieses Mädchen mit den herrlichen goldblonden Haaren und den grünlichen Nixenaugen war ja die Tochter Friedrich Pfeffermanns, des Gärtners, den er heute noch besuchen wollte.
Er verabschiedete sich von Frau Dorn, ihr bedeutend, daß sie daheimbleiben möge, da bald jemand von der Polizei bei ihr erscheinen werde.
Sehr zufrieden über seinen unerwarteten Erfolg und doch auch wieder etwas nachdenklich über seine so rasch gemachten Entdeckungen, stieg er die Treppe hinunter.
Frau Dorn blickte ihm kummervoll nach. Ihr Sonntagsfriede war gründlich gestört.
Frau Dorn erwartete, zur Polizei zitiert zu werden, und machte sich zum Ausgehen bereit. Gegen zwei Uhr nachmittags ertönte wieder die Klingel, und als sie öffnete, stand Herr Müller mit noch einem anderen Herrn draußen.
»Herr Kommissar Ehrenfeld«, stellte Müller ihn vor, dann traten beide in die Wohnung.
»Ich meinte, ich würde vorgeladen werden«, bemerkte schüchtern die Frau.
»Das wird auch geschehen«, antwortete der Kommissar, »aber für heute konnte ich es Ihnen ersparen, da ich ohnehin Röhlings Wohnung kennenlernen will. War er oft daheim?«
»Immer, wenn er dienstfrei und nicht bei Herrn Baron Merburg beschäftigt war. Baron Merburg nämlich war sein Gönner. Ich weiß nicht, wo Röhling ihn kennenlernte, aber ich weiß, daß er durch des Barons Protektion die Stelle im Spital bekommen hat und daß der Baron Röhlings Kunstfertigkeit im Schreiben sehr freigebig honoriert.«
»Röhling war also diesem Mann viel Dank schuldig?«
»Er war ihm fast seine ganze Existenz schuldig. Als Röhling sich vor Jahren bei mir einmietete, lebte er von elend bezahlten Schreiblektionen. Er litt damals geradezu Hunger, und ich teilte oft mein Essen mit ihm. Da lernte er den Baron kennen, und seit dieser Zeit lebte er ganz behaglich, wiewohl er ein Knauser war und sich lieber nichts gönnte, ehe er sich von dem Geld trennte.«
Man war währenddessen in Röhlings Zimmer getreten.
Ehrenfeld überblickte es aufmerksam.
Er trat zum Schreibtisch und musterte, was sich darauf befand. Da stand ein hölzernes Fachwerk mit allerlei Sorten Papieren, auch Briefpapier und Kuverts waren dabei. Ehrenfeld zog mehrere davon heraus: sie trugen alle den gedruckten Namen des Spitals, an welchem Röhling angestellt war.
»Hamster!« warf verächtlich der Kommissar hin.
»Sie haben leider recht, Herr Kommissar«, gab Frau Dorn zu, »er ist eine kleinlich angelegte Natur, ein richtiger Hamster; er brachte Federn und Bleistifte. Papier, Gummi und Wachsstöcke aus dem Spital mit und speicherte alles auf, mir immer entgegnend, das täten alle Beamten. Sogar solches Papier, wie es in der Spitalapotheke zum Verbinden der Flaschen verwendet wird, brachte er heim, um seine Bücher damit einzubinden. Da stehen mehrere, die er so gebunden hat.«
In der Tat standen auf dem Bord des Schreibtisches etwa ein halbes Dutzend Bücher, die einen seltsam geschmacklosen Einband von gelbbraunem Glanzpapier hatten. Die Männer betrachteten sie lächelnd; sie waren wirklich ein Beleg für Frau Dorns Urteil, daß Röhling eine kleinlich angelegte Natur sei.
»Nun, gute Frau. Ihr bisheriger Mieter hat sich von solchen Kleinigkeiten emanzipiert, der ist jetzt ein Dreißigtausend-Gulden-Dieb geworden«, sagte Ehrenfeld. Frau Dorn stieß einen Schrei aus.
»Herr Gott! Und er sah aus, als ob er kein Wasser trüben könnte.«
»Und wollen Sie auch wissen, an wem er zum Diebe wurde?«
»An wem?« fragte Frau Dorn noch ganz wirr.
»Er hat Herrn Baron Merburg bestohlen.«
»Seinen Wohltäter?«
»Seinen Wohltäter!«
Jetzt war der letzte Funke von Zuneigung, welche Frau Dorn für Röhling gehabt, verschwunden, das sah man dem bitteren, verächtlichen Lächeln an, das ihren Mund umspielte.
»Haben Sie keine Ahnung, wohin sich Röhling gewendet haben kann?« forschte Ehrenfeld.
»Keine, Herr Kommissar. Jetzt würde ich alles sagen, denn für einen solchen Schuft kann ich kein Mitleid mehr haben.«
»Hatte er noch andere Verwandte außer diesem Pfeffermann? Oder nahe Bekannte? Freunde?«
»Niemanden, soviel ich weiß. Er bekam keine Briefe und schrieb auch keine, empfing und machte keine Besuche, außer bei Pfeffermann, dessen Tochter er – ich habe es schon Herrn Müller gesagt – zu lieben scheint.«
»Und das Mädchen?«
»Ich habe sie nur jenes eine Mal gesehen, als sie Röhling hier aufsuchte. Sie schien eine heftige Szene mit ihm gehabt zu haben, denn sie kam zornig erregt heraus.«
Müller hatte inzwischen in der Schreibtischlade gekramt. Ein Notizbuch, das er darin gefunden und das schon vollgeschrieben war, hatte er zu sich gesteckt.
Vielleicht enthielt es verwertbare Andeutungen.
Der Kommissar teilte Frau Dorn mit, daß der Steckbrief gegen Röhling bereits erlassen sei und daß man erwarte, sie werde ihrerseits nicht zögern, der Polizei sogleich Mitteilung zu machen, falls sie irgend etwas erfahre oder falls ihr noch irgend etwas in Erinnerung käme, das zur Ergreifung Röhlings führen könne.
Daraufhin verließ er, von Müller begleitet, das Zimmer Röhlings, welches abgesperrt wurde und dessen Schlüssel man mitnahm.
Müller begab sich nach dem Restaurant, in welchem er zu speisen pflegte. Während er sein versäumtes Mittagsmahl nachholte, beschäftigte ihn unaufhörlich der heutige Fall.
Er machte Notizen und hielt oft nachdenklich mitten im Kauen inne, um dann, wenn ein unbestimmter Gedanke sich geklärt hatte, mit vergnüglicher Miene weiterzuessen.
Als der Kellner den schwarzen Kaffee und eine Virginia brachte, deren bläuliche Rauchwölkchen Müllers Nase umschmeichelten, zog dieser das Notizbuch hervor, welches er Röhlings Schreibtischschublade entnommen hatte.
Er durchlas es von der ersten bis zur letzten Seite; es enthielt nichts, das irgendwie in dieser Sache brauchbar schien: doch zeigte sich in diesen täglichen Aufzeichnungen Röhlings kleinlicher Charakter auf allen Seiten, die oft mit nichtigen Berechnungen bis in jedes Winkelchen des Papiers ausgefüllt waren.
Bei diesem Menschen, der schier Tag und Nacht arbeitete und trotz eines sehr anständigen Einkommens sich wie ein Bettler verköstigte – was die Notizen bewiesen –, war Geld alles.
Es war fünf Uhr geworden, als der Detektiv das Restaurant verließ. Nachdem er dem Baron Merburg Bericht erstattet und noch einige andere Gänge gemacht hatte, begab er sich in seine Wohnung und steckte einen Revolver zu sich, was er immer tat, wenn er nächtliche Berufsgänge vorhatte. Und für einen solchen hatte er sich auch heute gerüstet.
Gegen neun Uhr abends pochte es an Pfeffermanns Tür. Eine ziemlich verwahrloste Magd schlurfte herbei, um zu öffnen.
»Was wünschen Sie?« knurrte sie den Draußenstehenden an.
»Kann ich Ihren Herrn sprechen?« wurde ihr erwidert. Im selben Augenblick rief eine ungeduldige Stimme aus dem Inneren des Hauses heraus: »Wer ist draußen?«
»Ein fremder Herr«, rief die Magd zurück, »darf ich ihn hereinführen?«
»Meinetwegen«, antwortete die grobe Männerstimme verdrossen.
Müller wurde durch einen schmalen Flur in eine dürftige, aber sehr saubergehaltene Stube geführt.
An einem Tisch in der Mitte saß, mit einer Näharbeit beschäftigt, ein junges Mädchen, dessen Ähnlichkeit mit Minna sofort auffiel. Doch wendete Müller nach seinem allgemein gehaltenen Gruß seine Aufmerksamkeit zunächst dem Mann zu, welcher auf dem Sofa lag und das rechte, verbundene Bein auf einen Sessel ausgestreckt hatte.
»Kann ich allein mit Ihnen reden?« fragte Müller.
»Was wollen Sie von mir?« war des anderen Entgegnung. Es entging dem Detektiv nicht, daß der Mann einen scheuen Blick besaß – nur in diesem Augenblick oder immer?
»Sie sind doch Herr Friedrich Pfeffermann?«
»Der bin ich. – Und wie heißen Sie?«
»Ich heiße Müller, wie so viele«, entgegnete lächelnd der Detektiv und setzte hinzu: »Und Herr Röhling, Veit Röhling, ist Ihr Vetter?«
Durch den Körper des Mannes ging sichtlich ein Ruck. Er hatte sich aufgerichtet und den verbundenen Fuß an sich gezogen. Müller sah, daß der Verband in der Gegend der Ferse von Blut durchtränkt war. Er sah noch etwas: Friedrich Pfeffermanns Erblassen und das Erzittern seiner Hand, die eine Zeitung hielt.
Hinter Müller wurde auch ein Geräusch laut. Das junge Frauenzimmer hatte heftig ihren Stuhl gerückt. Müller wendete sich ihr ganz zu. Sie wollte sich erheben und hatte ihre Arbeit auf den Boden fallen lassen. Unter seinen beobachtenden Blicken sank sie wieder auf den Stuhl zurück, hob ihre Näherei auf und arbeitete weiter.
Müller zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich so, daß er beide vor sich hatte, den scheu blickenden Mann und das mit unsicherer Hand arbeitende Mädchen, deren gedrücktes Wesen verriet, daß sie sehr wenig glücklich sei, und sie war doch so schön, so eigentümlich schön mit ihrem weißen Antlitz, ihrem goldfarbenen Haar und den grünlichen, traurigen Augen.
»Röhling ist mein Vetter!« beantwortete jetzt mit einem gewissen Trotz in der Stimme Pfeffermann die Frage des Detektivs. »Marie, laß uns allein!«
Doch paßte das jetzt nicht mehr in Müllers Plan.
»Bleiben Sie, Fräulein«, sagte er sehr bestimmt, und das Mädchen, dessen Augen ihn hastig gestreift, blieb.
Pfeffermann hatte sich bereits gefaßt, er lächelte sogar ein wenig, obwohl gezwungen.
»Wollen Sie mir nun sagen, wer Sie sind?« fragte er.
»Ich bin Geheimpolizist.«
»Veit Rohling.«
»Den werden Sie kaum hier finden.«
»Wenn nicht hier, dann anderswo, und Sie werden, als guter Staatsbürger, dazu behilflich sein.«
»Weshalb sucht ihn die Polizei?«
Lauernd hingen Pfeffermanns Blicke an denen des Detektivs.
»Sollten Sie das nicht wissen?« fragte dieser gleichmütig. Der Gärtner zuckte zusammen, dann aber sagte er trotzig: »Nichts weiß ich.«
Marie beugte sich tiefer über ihre Arbeit, dennoch sah Müller einen deutlich ausgeprägten Zug bitterer Angst in ihrem blassen Gesicht
Das arme Ding tat ihm leid. Er war ja ein guter, kluger Mann, und ein solcher kann ein Weib nicht leiden sehen, ohne Mitleid zu empfinden.
»Fräulein Marie«, wandte er sich in vertrauensvollem Ton an das junge Mädchen, »ist Veit Rohling im Hause?«
Marie sah ihn mit offenem Blick an und schüttelte ihren Kopf.
»Oder an einem anderen Ort, den Sie kennen?«
»Nein«, sagte sie diesmal laut
»Wann war Rohling also zum letztenmal hier?« wandte sich Müller nun wieder an Pfeffermann.
Dieser blickte rasch auf, aber er mochte wohl langsam denken, denn ziemlich lange besann er sich, ehe er sagte: »Das war am Freitag.«
»Seither nicht.«
»Seither nicht.«
»Sie erwarten ihn auch für heute nicht mehr?« fragte nun Müller.
Ein seltsam düsteres Lächeln ging über Pfeffermanns hartes Antlitz, während er sagte: »Nein, wir erwarten ihn nicht, weder für heute noch für ein anderes Mal – diesen Schurken.«
Was war das? Ein tödlicher Haß – oder ausgezeichnete Verstellung?
Müller war einen Augenblick lang überrascht.
»Er war immer ein Schuft«, fuhr der Gärtner fort. »Was wollen Sie von mir? Glaubten Sie, Veit hier zu finden?«
»Das will ich nicht gerade behaupten«, versetzte Müller, »eher ist anzunehmen, daß er, seiner Sicherheit wegen, die Stadt verlassen hat.«
»Seiner Sicherheit wegen«, knurrte trotzig der Gärtner. »Kann man denn nicht erfahren, was er verbrochen hat?«
Müller stand auf und sagte, in dem er bedeutungsvoll seine Hand auf Pfeffermanns Schulter legte: »Was er verbrochen hat? Das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Woher rührt übrigens die Wunde an Ihrem Fuß?«
»Das geht Sie nichts an!« entgegnete der Gärtner trotzig.
»So!« machte trocken der Geheimpolizist. »Nun, Herr Pfeffermann, wir werden uns wiedersehen, für heute leben Sie wohl!«
Ein ernster Blick, den Pfeffermann mit einem trotzigen erwiderte – und Müller ging.
»Gute Nacht, Fräulein Marie!« sagte er sanft, als er an dem Mädchen vorüberkam; sie antwortete ihm nicht, sie saß wie zu Stein erstarrt da; nur in ihrem schönen Gesicht zuckte es. Eben als Müller die Tür hinter sich zuzog, ließ die Spannung ihrer Nerven nach. Er tat noch einen Blick durch das in der Tür angebrachten Fensterchen, welches dem Flur ein wenig Licht zuführte. Irgend etwas glänzte vor ihm auf. Ein Gummimantel war's, der an einem Haken hing und auf den einige Lichtstrahlen fielen. Müller ergriff einen Zipfel, hielt ihn gegen den Lichtstrahl und wendete ihn um. Dann lächelte er befriedigt. Der Stoff war auf der einen Seite schwarz und von seidigem Glanz, die andere Seite zeigte ein buntkariertes Muster. Nachdem er den Stoff besichtigt, warf er durch das Fensterchen noch einen Blick auf die Zurückgebliebenen in der Stube. Pfeffermann starrte ins Leere. Seine weißen, aufeinandergepreßten Zähne blitzten unheimlich zwischen dem dunklen Bart hervor. Maries Körper war zusammengesunken, sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und erbebte unter einem qualvollen Schluchzen.
Armes Ding! dachte Müller, während er nach dem Ausgang tappte.
Jetzt befand er sich im Freien, auf der stillen Landstraße. Er schien weit und breit das einzige lebende Wesen in dieser nächtlichen Einsamkeit zu sein, aber kaum war er hundert Schritte vom Haus entfernt, als hinter einem der alten Alleebäume eine Gestalt hervortrat.
»Herr Müller!« flüsterte eine Männerstimme.
Müller blieb stehen.
»Ah, Körbler, Sie sind's? Und wen hat man noch hierhergeschickt?«
»Den Laßnitz. Er liegt hinter dem Hause auf Posten.«
»Gut«, sagte Müller. »Es ist also eure Pflicht, jeden, der das Haus betritt oder es verläßt, in sicheren Gewahrsam zu bringen.« Dann entfernte er sich im tiefen Schatten der Allee so weit vom Besitz des Gärtners, bis er, gedeckt von Büschen, zu dessen tiefstem Teil gelangen konnte.
Dort fand er den Polizisten Laßnitz, welcher einen so gutgedeckten Platz gefunden, daß Müller erst auf ihn aufmerksam wurde, als sich ihm aus einem Holunderbusch eine Hand entgegenstreckte.
Auch diesem Mann gab er genaue Weisungen, dann kehrte er zur Stadt zurück.
Gegen elf Uhr legte er sich zu Bett.
»Es ist eine nutzlose Vorsicht. Röhling kommt auf keinen Fall mehr zu Pfeffermann.«
Das war der letzte seiner klaren Gedanken, dann schlief er ruhig, wie ein kleines Kind.
Müller hatte den Gärtner und seine Tochter in sehr düsterer Stimmung zurückgelassen.
Pfeffermann stierte trotzigen Blickes vor sich nieder und murmelte zuweilen einen Fluch, und Marie weinte so trostlos, daß ihm darob das Herz fast selbst weich, aber auch seine Ungeduld geweckt wurde.
»So sei doch endlich ruhig!« rief er.
Aber sie schluchzte nur noch leidenschaftlicher, und erst nach geraumer Zeit erhob sie den Kopf und blickte vorwurfsvoll zu ihrem Vater hinüber.
»Nun. was gibt's?« knurrte dieser.
Da fragte sie ernst, kurz und scharf: »Warum hast du gelogen?«
»Wann hätte ich gelogen?« rief er erstaunt
»Du sagtest diesem Polizisten, daß Röhling am Freitag zum letztenmal hiergewesen sei.«
»So ist's auch.«
»So ist's nicht«
»Aber Marie ...«
»Ach«, unterbrach sie ihn ungeduldig, »mich brauchst du doch nicht zu täuschen! Aber auch dem Polizisten hättest du die Wahrheit sagen müssen, denn jeder Widerspruch in solchen Sachen ist gefährlich – ganz besonders für dich, Vater!«
»Warum gerade für mich?«
»Denke an deine Vergangenheit«, antwortete Marie beklommen und zögernd.
Sie bemerkte es nicht, daß ihr Vater bei ihren letzten Worten zusammenfuhr und einen bitteren Bück nach ihr sandte, sondern fuhr fort: »Röhling hat ein Verbrechen begangen, sonst würde man nicht nach ihm fahnden. Wie kannst du dich seiner annehmen, indem du seinethalben lügst?«
Pfeffermann sprang auf, sank aber sofort wieder mit einem Wehlaut zurück.
»Einfältiges Ding!« schrie er sie an. »Hast du so ganz den Kopf verloren, weil einer von der Polizei da war? Was kann die Polizei uns anhaben, weil Veit ge ..., weil Veit irgend etwas schlechtes getan hat?«
Marie hatte sich hastig erhoben und starrte ihren Vater entsetzt an.
»Was hat er getan? Du weißt es. Das Wort wollte dir schon über die Lippen. Oh, warum hast du dem Mann nicht lieber die ganze Wahrheit gesagt? Ich wagte ja nicht dir zu widersprechen.«
»Hättest du denn überhaupt widersprechen können?« spöttelte er. »Was weißt denn du von dieser Sache?«
»Nur, daß Röhling gestern nacht noch bei dir war.«
»Bei mir? Gestern? Samstag nacht? Hast du geträumt?«
»Es war kein Traum. Ich hörte ganz deutlich, wie Röhling gestern nacht mit unserem Gehilfen redete. Es mag gegen zehn Uhr gewesen sein.«
»Weiter!« drängte Pfeffermann.
»Wellner hieß ihn ins Haus treten und sagte, du könntest noch nicht zu Bett gegangen sein, denn in der Stube sei noch eben Licht gewesen. Darauf entgegnete Röhling: Ja, er erwartet mich ja. Gehen Sie nur schlafen, Wellner. Ich finde mich schon zurecht. Dann knarrte die Haustür, und somit muß er doch bei dir gewesen sein.«
»Weiter – weiter. Und wann ging er wieder?«
»Das hörte ich nicht mehr. Ich schlief bald ein und weiß nur noch, daß Wellner nach seinem Häuschen hinunterschlurfte.«
»Das ist doch merkwürdig!« rief Pfeffermann und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
Marie sah ihn voll Zweifel an.
»Was ist merkwürdig?« fragte sie endlich, als ihr Vater gar nicht aus seiner Versunkenheit erwachen wollte.
Er blickte jetzt auf. Er war sehr unruhig.
»Es ist mir unbegreiflich!« murmelte er, dann blickte er voll in die Augen seiner Tochter und winkte sie zu sich heran.
»Du hast vorhin auf meine Vergangenheit angespielt ...«
»Verzeih Vater, verzeih es mir.«
Er nickte schmerzlich lächelnd und fuhr fort: »Und du hast recht, daß ich besonders vorsichtig sein muß, denn mit – mit rückfälligen Verbrechern macht man nicht viel Umstände.«
»Vater! Wozu das?«
So herzlich, so liebevoll sagte sie das und strich dabei zärtlich über sein ergrauendes Haar.
»Du hast's ja damals, von bitterster Not gezwungen, getan«, flüsterte sie ihm entschuldigend zu.
»Damals – ja, aber diesmal ...« Er hielt inne. Marie war zusammengezuckt und wich unwillkürlich vor ihm zurück. Schon einmal hatte er sich gegen die Gesetze vergangen und dafür gebüßt; das eben gesprochene Wort ließ auf einen neuen Fehltritt schließen.
»Vater!« flüsterte das Mädchen, »Vater, es kann nicht sein! Was hast du getan – diesmal –, da dich doch nicht die Not trieb?«
Er stierte sie an, dann entgegnete er in gezwungenem Ton: »Närrchen. Es ist nicht so arg, wie du denkst. Ich habe von diesem Halunken nur mein Geld gefordert Nichts weiter, aber siehst du – auch das muß jetzt ans Licht. Ich selber muß es sagen. Morgen will ich gleich zur Polizei. Die Geschichte muß mir vom Herzen herunter. Schon ehe dieser Müller kam, drückte sie mich; jetzt, nachdem du mir erzählt hast, daß Röhling gestern abend hier war, jetzt wird es mir doppelt bang. Er hatte eine Schurkerei vor. Oh, er war immer ein scheinheiliger Schuft, und mich haßt er wie den Tod. Was er nur hier gewollt haben kann?«
»Vater!«
Pfeffermann schaute auf. Er merkte, daß Marie ihm noch immer nicht glaubte. Da nahm er ihre Hand und sagte ernst und herzlich: »Kind, glaube mir! Ich habe Röhling Freitag nacht zum letztenmal gesehen. Er hat gegen neun Uhr kommen sollen, er kam aber erst nach elf Uhr, als außer mir niemand mehr wach war. Er hat mir Geld bringen sollen – eine ihm lang gestundete Schuld. Und er brachte es auch. Woher er es genommen? Ich meinte aus seinen Ersparnissen, aber ich wurde nur zu bald eines andern belehrt; für sein Verbrechen soll er allein büßen. Für mein Vergehen freilich muß ich einstehen. Jetzt aber rufe mir Wellner. Vielleicht kann der mir über Röhlings gestrigen Besuch mehr sagen.«
Seltsam beklommen ging Marie, den alten Gehilfen zu holen.
Wellner war ein gebückt einherschreitender, schon etwas schwerhöriger Sechziger, der seit sechs Jahren, das heißt so lange, als Pfeffermann hier ansässig war, bei diesem als Gehilfe arbeitete. Wellner war ein nüchterner, verschwiegener, in allen Dingen verläßlicher Mensch.
Nach einer guten Weile trat er mit Marie in die Stube, in welcher er mit fieberhafter Ungeduld erwartet wurde.
»Wann war Herr Röhling zum letztenmal hier?« begann Pfeffermann mit lauter Stimme seine Fragen.
»Gestern so etwa um zehn Uhr nachts herum.«
»Haben Sie ihm die Gartentür aufgemacht?«
»Das war nicht erst nötig, der Herr Röhling weiß mit dem Riegel umzugehen.«
»So! Und warum haben Sie ihn denn ins Haus gelassen, da ich doch schon in meiner Schlafkammer war?«
»Ich habe ganz bestimmt gewußt, daß Sie noch munter seien. Es war sehr regnerisch, und da legte ich die Strohmatten über die neuausgesetzten Pflanzen, die ja zuviel Feuchtigkeit nicht vertragen können. Bei der Gelegenheit bemerkte ich, daß Sie noch Licht im Wohnzimmer hatten. Da kam eben Herr Röhling den Gartenweg her und sagte mir, daß Sie ihn erwarteten. Nun war freilich das Licht im Wohnzimmer soeben erloschen, aber Sie waren doch vermutlich noch wach, Herr Pfeffermann, und so sagte ich ihm denn, er solle nur hineingehen.«
»Nun – und ...?«
»Er ging ins Haus, und ich ging schlafen. Absperren mußten Sie ja hinter ihm, sobald er fortging, da hatte ich also nichts mehr zu tun.«
»So haben Sie ihn nicht weggehen sehen?«
»Nein.«
Pfeffermann versank in tiefes Sinnen.
Wellner schaute bald ihn, bald Marie verwundert an.
»Ich glaube, Sie können gehen«, sagte letztere endlich freundlich.
Der Alte ging.
Es war weit über zehn Uhr geworden.
Marie stand am Fenster und sah in die Mondnacht hinaus. So weh und ahnungsschwer war ihr schon lange nicht ums Herz gewesen.
Sie sah Röhling vor sich, diesen ihr überaus widerwärtigen Menschen, der ihr so oft leidenschaftliche Worte gesagt und sie mit seinen brennenden Blicken gequält hatte. Sie sah ihn vor sich – ihn, der zum Verbrecher geworden war –, wie er ihr väterliches Haus umschlich, sich mit irgendeinem geheimnisvollen, tückischen Vorhaben tragend.
So lebhaft dachte sie an den Gehaßten, daß sie darüber alles andere vergaß und nicht bemerkte, daß ihr Vater inzwischen schlafen gegangen war. Auch die dunkle Gestalt hatte sie nicht bemerkt, welche sich dicht an die Mauer des Hauses drückte und durch das andere Fenster verstohlen in die Stube hineinlugte.
Es war die Gestalt des Mannes, welcher beim Weggehen Müllers aus dem Schatten des Baumes getreten war.
In den ersten Morgenstunden des nächsten Tages hielt ein Einspänner vor der Gärtnerei.
Wellner hatte ihn holen müssen. Sein Herr wollte zur Stadt fahren.
Bald humpelte denn auch Pfeffermann aus dem Hause. Marie stütze ihn.
Sie war sehr bleich, ihre Augen waren vom vielen Weinen geschwollen.
Pfeffermann sah sehr ernst und gedrückt aus.
Sie streifte ihn mit scheuen und doch liebevollen Blicken.
»Warum darf ich denn nicht mit dir gehen?« fragte sie mit zärtlicher Besorgnis. »Ich möchte in dieser schweren Stunde bei dir sein.«
»Man würde dich dort nicht bei mir lassen.« Er lächelte bitter.
»Ich möchte Zeugnis für dich ablegen. Es weiß ja niemand, wie gut du bist.«
»Dein Zeugnis wird nichts fruchten.«
»Wenn du mir sagtest, was du eigentlich dort willst«
»Sei nicht zu sehr bekümmert Es ist nichts so Arges. Na, einerlei, ich werde ja bald heimkommen.«
»Gewiß, Vater. Ich darf also das Essen wie gewöhnlich richten?«
Pfeffermann blieb stehen. Er war tief bewegt. Seine Brust hob sich unter schweren Atemzügen. Die Tochter sah ihn bestürzt an.
»Was ist dir? Vater – lieber Vater!« stammelte sie, noch bleicher werdend. Er nahm sich zusammen; er lächelte verlegen und faßte ihre Hand fester.
»So bald, Kind, so bald darfst du mich nicht zurückerwarten«, sagte er langsam, »Ich fürchte – nein, ich weiß es gewiß: sie werden mich dort behalten. Zittere doch nicht so. Es kann ja nicht auf lange sein, es muß ja bald herauskommen, daß ich mit Röhlings Schuld nichts zu tun habe, und das ist die Hauptsache. Marie, fasse dich. Gott sei mit dir, Kind. Siehst du, jetzt weiß ich erst, wie gern ich dich habe. Deinetwegen allein bereue ich es, daß ich der Versuchung erlegen bin. Aber jetzt Gott befohlen.«
Er nahm nun ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte sie.
Sie standen schon an der Gartentür, vor welcher der Wagen hielt
Er drängte sie zurück, humpelte allein die paar Schritte und stieg ein.
»Zur Polizei-Direktion«, sagte er leise dem Kutscher.
Dieser nickte, und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Ein Paar wunderschöner Mädchenaugen starrte ihm verzweiflungsvoll nach.
Als er hinter den Bäumen verschwunden war, brach Marie hinter den Büschen in bitterliches Weinen aus. Auch sie hatte bis zu dieser Stunde nicht gewußt, wie lieb sie ihren Vater hatte.
Es war ein rauher Morgen; die Fensterscheiben des Wagens waren mit dichtem Tau beschlagen, aber wenn das auch nicht der Fall gewesen wäre, so hätte doch Pfeffermann, der in starres Hinbrüten versunken war, es kaum bemerkt, daß sich ein Mann, der aus einem der den Weg einsäumenden Gebüsche hervorgesprungen war, mit großer Gewandtheit plötzlich auf den Sitz neben den Kutscher schwang.
»Oho! Was soll das ...?«
Weiter kam der erstaunte Rosselenker nicht, denn der ungebetene Fahrgast hatte ihm mit einer Gebärde Schweigen geboten und schlug seinen Rock zurück. Ein Abzeichen wurde sichtbar. »Wohin geht die Fahrt?« fragte der Polizist leise.
»Zur Polizei-Direktion«, war die bereitwillige Antwort des Kutschers.
»Ah!« machte Körbler, dessen der Leser sich aus dem vorigen Kapitel noch erinnern wird, und schaute ziemlich verwundert drein.
Schweigend wurde der Rest des Weges zurückgelegt.
Als der Wagen vor dem Polizeigebäude hielt, sprang Körbler rasch vom Bock und leistete dem Insassen beim Aussteigen Hilfe. »Sie wollen zum Herrn Kommissar Ehrenfeld«, sagte er, »ich werden Sie in sein Büro führen.« Pfeffermann, der keine Ahnung hatte, daß der ihm ganz unbekannte Mann während der Fahrt sein Begleiter gewesen war, fühlte sich unangenehm berührt. Hatte man ihn in aller Stille überwacht? Stand er bereits unter polizeilicher Kontrolle?
Schweigend folgte er seinem Führer, der ihn, so schien es ihm, mehr als notwendig stützte; hielt er ihn nur so fest, weil er glaubte, daß er ihm hier noch entkommen könnte?
Mit heimlicher Qual bemerkte der Gärtner, daß der andere ihn nicht losließ, während er in einem dunklen Gang eine Tür öffnete, und noch unbehaglicher ward ihm zumute, als sein unbekannter Führer hineinrief: »Herr Kommissar, Friedrich Pfeffermann ist hier.«
»Bringen Sie ihn herein«, lautete die Antwort. Körbler ließ den Gärtner vor sich in die Amtsstube treten.
»Ich komme freiwillig, Herr Kommissar!« waren Pfeffermanns erste, trotzig hervorgestoßene Worte.
»Freiwillig. Na, das ist schön.« Der Kommissar nickte, den Ankömmling aufmerksam musternd. »Da haben Sie uns vermutlich recht interessante Dinge zu berichten.«
»Weiß nicht, ob Sie es interessant finden werden, Herr Kommissar. Jedenfalls darf ich nicht verschweigen, was ich weiß. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß es sich um Röhling handelt.«
Pfeffermann seufzte und lehnte sich an die Wand.
»Geben Sie ihm einen Stuhl, Körbler. Dann können Sie gehen und nachsehen, ob Müller im Hause ist.«
Pfeffermann warf einen dankbaren Blick auf den rücksichtsvollen Beamten.
»Also, Herr Pfeffermann, was haben Sie mir zu sagen?« fragte der Kommissar nach Kröblers Entfernung.
»Daß auch ich schuldig bin.«
»Ah!«
»Meine Schuld ist weniger schlimm, als Sie wohl für den ersten Augenblick annehmen mögen, aber schuldig bin ich doch.«
»Wie denn?«
»Röhling hat den Baron Merburg bestohlen, und ich habe das, obwohl ich es wußte, nicht sofort angezeigt, sondern sogar etwas von dem gestohlenen Gelde für mich behalten, nämlich hundert Gulden. Hier sind sie.«
Pfeffermann stand auf und legte eine Hundert-Gulden-Note tief aufatmend auf den äußersten Rand des Tisches, an welchem der Kommissar saß.
Ehrenfeld legte einen Briefbeschwerer darauf und drückte dann auf eine elektrische Klingel.
»Herr Plank soll kommen«, befahl er dem eintretenden Wachmann.
»Sie wissen doch, daß wir jetzt ein Protokoll aufnehmen müssen«, sagte Ehrenfeld zu Pfeffermann tretend, der sich ächzend wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte.
»Ich weiß es.«
Der Kommissar legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Seien Sie klug, Pfeffermann. Sie wissen, mit der Wahrheit kommt man am besten durch. Die haben ein Kind, eine brave, gute Tochter, die niemanden hat als Sie. Schon um dieser Tochter willen müssen Sie trachten, so gelind als möglich wegzukommen, und Sie wissen auch, daß Milde nur der Richter walten lassen kann, wo er Reue, wirkliche Reue, sieht und die Überzeugung gewinnt, daß der Angeklagte keine Winkelzüge, keine Lügen vorbringt.«
»Ich bin ja da, um die Wahrheit zu sagen«, entgegnete mit gepreßter Stimme der Gärtner, aus dessen Wesen aller Trotz gewichen war.
Draußen klangen Schritte.
Der Kommissar ging wieder an seinen Platz zurück.
Ein junger Mann trat ein, verbeugte sich stumm und nahm an einem besonderen, mit Schreibmaterial bedeckten Tisch Platz, um das Protokoll niederzuschreiben
Während die Personalien Pfeffermanns aufgenommen wurden, trat Müller ein. Ehrenfeld wies auf einen Stuhl, der links von seinem Schreibtisch stand.
Wer dort saß, war im tiefen Schatten und konnte das ganze Zimmer überblicken, sah auch die Züge einer Person, die so wie Pfeffermann saß, ganz deutlich im hellen Licht
Müller zog Notizbuch und Bleistift heraus.
»Sie wurden einmal in Ihrer Heimat abgestraft«, bemerkte Ehrenfeld.
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich hatte meinem ehemaligen Brotherrn einhundert Mark entwendet«
»Welche Strafe bekamen Sie?«
»Acht Wochen Gefängnis.«
»Acht Wochen weniger vier Tage«, bemerkte ruhig Müller, der in sein Notizbuch geblickt hatte.
Ehrenfeld lächelte.
Pfeffermann schaute erstaunt auf; auch er lächelte dann, aber recht bitter. Man hatte ja schon recht genaue Erkundigungen über ihn eingezogen, offenbar sogar den Telegrafen seinetwegen in Tätigkeit gesetzt.
»Ich war damals in bitterer Not«, sagte er leise.
»Seine Frau war krank, und er war ohne Verdienst. Der Gärtner Vogt hatte ihn eines geringfügigen Streites wegen fortgejagt, ohne ihm den rückständigen Lohn auszuzahlen«, las Müller mit eintöniger Stimme aus seinem Notizbuch heraus. Wieder lächelte sein Vorgesetzter.
So gründlich wie Müller arbeitete nicht leicht jemand. Überallhin streckte er seine Fühler aus, wenn es galt, einem Verbrechen auf die Spur zu kommen, und oft kam er darin seinen Vorgesetzten zuvor.
Pfeffermanns Groll gegen den Detektiv schwand.
»Und nun zu der jetzigen Sache«, begann der Kommissar wieder. »Erzählen Sie.«
Der Gärtner tat einen tiefen Atemzug, dann berichtete er: »Am sechzehnten April bekam ich von einem Wucherer, in dessen Hände ich geraten bin – der Mann heißt Lipps und wohnt in der Herrengasse siebzehn –, ein letztes Mahnschreiben, in welchem er mir drohte, mich in dieser Woche pfänden zu lassen, wenn ich ihn nicht am neunzehnten, das war Samstag, bezahlt haben werde.
Ich war dem Mann vierhundertfünfzig Gulden schuldig geworden, wiewohl ich zu Ende des vorigen Jahres nur dreihundert von ihm erhalten habe. Lipps hätte vielleicht noch Geduld gehabt, wenn er hätte fünfzig Gulden dazuschreiben dürfen. Aber ich wollte mich nicht aussaugen lassen, um so weniger, als ich selber Geld ausstehen hatte.
Mein Vetter, Veit Röhling, war mir seit sechzehn Jahren mehrere hundert Gulden schuldig, ich habe sie schon oft, aber stets vergeblich von ihm zurückgefordert, denn es ging mir oft schlecht. Röhling war freilich auch nicht auf Rosen gebettet, bevor er hier eine sichere Anstellung und reichlich bezahlte Nebenbeschäftigung bekam. Seine Schuld war, wenn ich ihm nur vier Prozent anrechnete, auf sechshundert Gulden angewachsen, und gerade soviel fehlte mir beiläufig, um mich jetzt wieder flottzumachen. Schon seit vorigem Herbst drängte ich ihn zur Zahlung. Es war nutzlos. Ich wußte ganz genau, daß er während der drei Jahre, seit er die Anstellung hat, nicht einmal sein Gehalt aufbrauchte, viel weniger seine reichlichen Nebeneinnahmen, denn er war ein Knicker, der alles in die Sparkasse trug. Dort mußte er weit mehr liegen haben, als er mir schuldig war. Dennoch zahlte er nicht.
Er hätte es wohl unter einer Bedingung getan: wenn ich ihm nämlich meine Tochter zur Frau gegeben hätte, aber diese hat keinen geringeren Abscheu vor ihm, als ihn ihre Mutter dereinst hatte, und zwingen wollte ich sie nicht.
So kam ich also nicht zu meinem Gelde.«
»Hatten Sie denn keine Schuldverschreibung, durch welche Sie ihn gesetzlich zur Zahlung zwingen konnten?« unterbrach Ehrenfeld den Erzähler.
»Nichts als einen Brief, in welchem er die Schuld erwähnte. Als ich ihm am Anfang meiner Ehe das Geld aus der kleinen Mitgift meiner Frau vorstreckte, waren wir gute Freunde. Später entzweiten wir uns ernstlich, denn er stellte meinem Weib nach, und ich wies ihn aus dem Haus.«
»Um sich nachher wieder mit ihm zu versöhnen.«
»Erst als ich nach dem Tode meiner Frau hierher übergesiedelt war, wo er seinen Wohnsitz ebenfalls nahm, kamen wir wieder zuweilen zusammen.«
»Also weiter!« warf der Kommissar dazwischen. »Rohling schuldete Ihnen, nach Ihrer Aussage, sechshundert Gulden.«
»An dem Tage, da ich von Lipps diese drohende Mahnung empfing«, Pfeffermann legte den Brief des Wucherers vor den Kommissar hin, »wollte ich von Rohling mein Geld ernstlich zurückfordern.
Ich fand ihn nicht zu Hause und suchte ihn daher bei dem Baron Merburg auf. Dort gab es gerade eine Festlichkeit, und ich zog es daher vor, trotz des regnerischen Wetters, Rohling auf der Straße zu erwarten. Als er endlich kam, war er auffallend zerstreut, und ohne mich erst ausreden zu lassen, sprang er in einen Tramway-Wagen. Zwar folgte ich ihm, doch wußte er es so einzurichten, daß immer Leute zwischen uns waren.
Plötzlich sprang er mitten im Fahren ab, und ich ließ ihn laufen.
Am nächsten Tag konnte er mir ja doch nicht wieder entwischen, da wollte ich ihn im Amt aufsuchen. Das tat ich denn auch.
Er empfing mich grob und wollte mich wieder nicht anhören, bis ich ihm drohte, mich an seinen Vorgesetzten oder an Baron Merburg wenden zu wollen. Soweit wollte er's natürlich nicht kommen lassen.
Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, fragte er mich, ob meine Tochter sich noch immer nicht zu seinen Gunsten entschieden habe.
Ich konnte nur ›nein‹ sagen. Da lachte er höhnisch und meinte, es gäbe ja auch noch andere, die seinem Geschmack zusagten. Er werde mir nun seine Schuld bezahlen, doch müsse ich bis Samstag oder wenigstens Freitag Geduld haben, er würde mir schreiben, wann er mir das Geld bringen werde.«
Pfeffermann zog aus seiner Tasche eine Postkarte und legte sie vor den Kommissar hin.
»Ich komme heute abend«, las dieser laut. »Vielleicht erst spät. Warte jedenfalls auf mich. Ich bringe Dir das Geld. – V. R.«
Die Karte war Freitag, den 18. April, mittags aufgegeben.
»Nun, und ist er gekommen?« fragte der Kommissar.
»Er ist gekommen. Zu meinem Unglück.«
»Reden Sie. Oder – warten Sie ein wenig.«
Ehrenfeld drückte wieder auf die Klingel.
»Bitte ein Glas Wasser«, rief er dem eintretenden Wachmann zu.
Als derselbe das Verlangte brachte, mußte er es auf einen Wink des Kommissars dem Gärtner reichen, der hastig das Glas ergriff und es auf einen Zug leerte.
»Ich danke, Herr Kommissar. Ich konnte kaum mehr sprechen.«
»Ich habe es gemerkt. Sie fiebern arg. Wie haben Sie sich die Wunde am Fuß zugezogen?«
Über Pfeffermanns Gestalt lief ein leichtes Zittern, und seine Wangen wurden für einige Augenblicke ganz fahl.
Er mußte sich sehr unwohl fühlen.
Seine Stimme klang heiser, als er sagte: »Ich bin auf ein Grabscheit getreten.«
Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, auf welcher Schweißperlen standen.
Ehrenfeld ließ Pfeffermann Zeit, sich zu erholen, und erst als die Farbe wieder in dessen Gesicht zurückgekehrt war, forderte er ihn freundlich auf, in seinem Bericht fortzufahren, dabei dachte er: »Entweder ist der Mann schwerer krank, kränker noch, als er selber weiß, oder es ist ihm ein peinigender Gedanke durch die Seele gefahren.«
Den gleichen Eindruck hatte auch Müller.
Pfeffermann erzählte weiter: »Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, daß Röhling sein Wort halten würde, denn es war zwölf Uhr nachts vorüber, und noch hatte er sich nicht blicken lassen. Am nächsten Morgen erwartete mich Lipps mit dem Geld.
Ich saß allein im Wohnzimmer. Meine Leute schliefen schon. Da pochte es leise an das Fenster. Ich ging hinaus und öffnete die Haustür.
›Na, bringst du das Geld?‹ fragte ich
Er nickte, trat rasch in die Stube und ließ sich nieder. Er sah erhitzt aus, und doch schüttelte es ihn, als ob er Frost verspürte.
Ich bot ihm Wein an, damit er sich erwärme. Er nickte. Der Wein stand in der Küche.
Ich ging, ihn zu holen.
Währenddessen dachte ich über Röhlings auffallenden Zustand nach. War er in dem stürmischen und regnerischen Wetter, welches draußen herrschte, so gerannt? Und weshalb? Um mich eine Viertelstunde früher in den Besitz des Geldes zu bringen, hatte er sich gewiß nicht der Gefahr einer Erkältung ausgesetzt, besonders da sein beständiger Husten ihm die größte Vorsicht gebot. Ich zerbrach mir vergebens den Kopf, was ihn in solche Erregung versetzt haben könne, und deshalb wollte ich sehen, wie er sich benehmen werde, wenn ich nicht zugegen war. Die Gelegenheit hierzu konnte nicht günstiger sein. Ich hatte leichte Schuhe an, die meine Schritte unhörbar machten, zudem rumorte die Katze in der Küche, so daß Röhling glauben konnte, das Geräusch werde durch mich verursacht.
Ich aber stand neben der Tür im finsteren Gang draußen und schaute in das Zimmer. Der Gang, den ich eben betreten hatte, erhält durch ein kleines, in der Tür des Wohnzimmers angebrachtes Fenster sein Licht. Dieses Fenster war zwar mit einem Vorhang verhüllt, doch gab es an der Seite einen kleinen unverdeckten Raum, durch den ich Röhling beobachten konnte.
Er zog hastig seinen ganz durchnäßten Überrock aus und warf ihn auf das Sofa, dann setzte er sich wieder an den Tisch, warf einen Blick nach der Tür und zog eine große Brieftasche hervor.
Die Brieftasche war zu meinem Erstaunen ganz mit Banknoten gefüllt, einige davon legte er auf den Tisch vor sich hin, dann stierte er auf den Inhalt der noch immer offenen Brieftasche. Ich hatte genug gesehen. Es war Zeit, daß ich ins Zimmer zurückkehrte, ich schlich mich zur Küche, holte den Wein und trat dann rasch in das Zimmer. Er schob eben mit zitternder Hand die Brieftasche in seinen Rock. Ich ließ mir nichts merken, stellte Flasche und Glas vor ihn und sagte: ›Ah! da ist ja das Geld.‹
Er schenkte sich ein, wobei seine Hand heftig zitterte. ›Ja, da ist das Geld‹, sagte Röhling mit einem schweren Seufzer, ›und du kannst dir denken, wie schwer es mir wurde, es zusammenzubringen.‹
Solche Heuchelei brachte mich aus der Fassung.
›Lüge nicht!‹ rief ich zornig. ›Ich habe sehr wohl gesehen, daß du ein ganzes Vermögen in deiner Brieftasche mit dir herumträgst.‹
Leichenblaß stierte er mich an. ›Du weißt's?‹ fragte er heiser.
›Ja, ich weiß es‹, versetzte ich, ›und jetzt brauchst du mir nur noch zu sagen, woher du das viele Geld hast. Auf ehrlichem Wege bist du zu einer so großen Summe natürlich nicht gekommen.‹
›Natürlich nicht‹, gab er zu und sah jetzt wieder ganz wie gewöhnlich aus – ruhig, kalt und hart.
›So hast du's gestohlen?‹
›Freilich habe ich's gestohlen, und du zwangst mich dazu. Daß ich mehr genommen habe, als ich für dich brauchte, wirst du begreifen. Wenn ich schon ein Dieb werden mußte, wollte ich auch etwas davon haben.‹
›Du willst mich in dein Verbrechen hineinziehen, aber das wird dir nicht gelingen‹, antwortete ich ihm. ›Ich weiß, daß du nur deine Ersparnisse anzugreifen brauchtest, um deine alte Schuld an mich zu zahlen.‹
Er lachte hell auf.
›Meine Ersparnisse? Weißt du nicht, daß die Weiber viel kosten?‹
›Willst du dich etwa auf den Lebemann hinausspielen? Das glaube ich dir zu allerletzt.‹
›Hättest du mir deine Tochter gegeben, so würde ich mich um keine andere gekümmert haben. So habe ich Zerstreuung gesucht, und die war kostspielig.‹
Er hatte also seine Ersparnisse durchgebracht, und ich war mit meinem Drängen, mit meiner Drohung, ihm bei seinen Vorgesetzten Unannehmlichkeiten zu machen, die Ursache geworden, daß er gestohlen hatte.
Ich warf ihm das Geld hin und erklärte, daß ich gestohlenes Gut nicht haben wollte, da schob er es mir zurück und sagte: ›Ich habe dich belogen. Diese sechshundert Gulden sind mein Eigentum, der Rest meines Ersparten. Du kannst sie ruhig nehmen. Und wenn Marie Vernunft annehmen will, so verspreche ich es dir hoch und heilig, daß die gestohlene Geldsumme in einer Stunde wieder dort liegen soll, woher ich sie genommen habe.‹
›Wenn du eine Unehrlichkeit wiedergutmachen willst, brauchst du Marie nicht dazu‹, antwortete ich ihm.
Er lachte. ›Was nützt mir die Ehrlichkeit, wenn ich das, was mir das Leben wert macht, nicht haben kann? Marie hat dich über alles gern, du brauchst ihr nur ernstlich zuzureden, und noch kann ich glücklich werden. Wenn du aber gar nichts für mich tun willst, so werde ich; Mittel und Wege finden, dich in mein Verbrechen hineinzuziehen. Also überlege dir's.‹
Und ich überlegte. Ich kannte ihn von Jugend an. Er war mir immer überlegen und seit jeher schlecht. Wenn ich ihn dahinbringen konnte, die gestohlene Summe zurückzutragen, so konnte er keine Teufeleien machen, und Marie brauchte ihn doch nicht zu heiraten.
Aber vor allem wollte ich ihn und das Geld aus dem Hause haben.
›Ich will gern mit Marie reden, und sie soll die Deine werden, wenn es nach meinem Wunsch geht, aber einem Dieb gebe ich sie nicht. Ich will Zeuge sein, wie du dein Verbrechen wiedergutmachst. Wenn du dich weigerst, so gehe ich sofort und mache die Anzeige – mich sollst du nicht ins Unglück stürzen.‹
Er war erschrocken oder tat wenigstens so. Jetzt muß ich letzteres glauben, denn hätte er das Geld zurückgegeben, dann würde ihn ja die Polizei nicht suchen.«
Pfeffermann schwieg. Es herrschte lautlose Stille in dem Raum. Nur die große Uhr tickte.
»Nun – und wie geht Ihre sehr interessante Geschichte weiter?« fragte nach einer Weile der Kommissar.
Vielleicht merkte niemand als Müller die feine Ironie, welche in dieser Aufforderung Ehrenfelds lag, den die Erzählung Pfeffermanns wie eine wohleinstudierte Rede anmutete.
Der Gärtner fuhr fort: »Ich zog mich an, und wir gingen der Stadt zu.
Wir redeten kein Wort. Mir ging Röhling zu langsam. Als ich ihn aufforderte, rascher zu gehen, sagte er, er sei müde. Das mochte wahr sein. Als wir durch den Stadtpark gingen, taumelte er so heftig, daß er sich auf eine der Bänke setzen mußte. Ich trieb ihn weiter.
Endlich bog er in die Straße ein, in welcher Baron Merburgs Haus liegt. Ich begriff. Es war gegen ein Uhr nachts.
Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen, und es war sehr finster.
Wir warteten und lauschten eine Weile. Mir schlug das Herz, als wäre das, was nun geschehen sollte, ein Verbrechen, und doch sollte nur ein solches wiedergutgemacht werden.
›Willst du mit bis in das Haus kommen?‹ fragte Röhling, der vor Unruhe zitterte. Ich verneinte. Die Sache war mir doch zu gefährlich, er mochte sie nur allein abtun.
›Wo bist du eingestiegen?‹
›Dort durch den Erker. Du kannst ihn deutlich sehen. In zwei Minuten ist's gemacht. Warte also auf mich.‹
Er schwang sich über das bronzene Gitter. ›Zum Teufel!‹ fluchte er leise, als er drüben war. ›Jetzt habe ich mich auch noch da verletzt.‹ Es war ihm eine der Spitzen des Gitters in der Hand geblieben. Vorher hatte er schon einen ledernen Fingerling am Daumen der linken Hand getragen. Er huschte durch den Vorgarten und kletterte (wir waren beide seit jeher gute Turner) wie eine Katze an einer Säule zum Fenster empor, in welchem er verschwand. Er blieb vielleicht nur eine Minute im Inneren des Hauses – mir erschien es eine Ewigkeit –, dann erschien er wieder.
Ich war, um das Haus besser übersehen zu können, auf den Sockel des Gitters gestiegen und konnte von da aus seine Bewegungen ziemlich genau verfolgen.
Bei der nächsten Laterne untersuchte ich seine Taschen. Er ließ es sich ruhig gefallen; nur sah er sehr bleich aus. Dann sagte ich: ›So, jetzt kannst du heimgehen.‹
›Und du?‹
›Ich bleibe hier, um das Haus zu bewachen. Der Dieb könnte noch einmal zurückkommen.‹
Er verstand mich und ging. Ich sah, daß er lächelte, das gefiel mir nicht, aber wenn ich bis Tagesanbruch in der Nähe von Merburgs Villa blieb, so konnte er nicht wiederkommen, ohne von mir gesehen zu werden. Am Morgen mußte man die eingedrückte Fensterscheibe und die sonstigen Spuren des Einbruchs entdecken und würde dann die Bewachung des Hauses schon selber übernehmen. So dachte ich und ging in der Straße langsam auf und ab, bis es Tag wurde. Als ich nach Hause kam, wo noch niemand wach war, sah ich im Schimmer des Morgenlichtes etwas unter dem Tisch liegen.
Es war diese Hundert-Gulden-Note.«
Pfeffermann deutete auf die Note, welche unter dem Briefbeschwerer auf des Kommissars Tisch lag.
»Und die behielten Sie«, sagte Ehrenfeld in trockenem Ton.
»Und die behielt ich«, wiederholte leise der Gärtner. »Sie bildet meinen Anteil an Röhlings Verbrechen. Er hatte sie verloren, und ich gab sie nicht zurück.«
Pfeffermann schwieg, er hielt es offenbar für überflüssig, den Kampf zu schildern, den er gegen die Versuchung geführt und welchem er unterlegen war.
»Haben Sie noch eine Fortsetzung, oder war das schon der Schluß?« fragte maliziös lächelnd der Kommissar.
Müller blieb ernst und machte sich einige Notizen.
Pfeffermann, welchem die veränderte Stimmung des Kommissars entging, starrte vor sich nieder und seufzte, dann erhob er noch einmal den Kopf und berichtete Röhlings Besuch in der Samstagnacht, von welchem er erst durch seine Tochter und Wellner erfahren hatte. Dieser geheimnisvolle, ihm unerklärliche Vorgang habe ihn veranlaßt, sich freiwillig dem Gericht zu stellen und seine kleine Schuld zu bekennen, um nicht etwa in eine größere verwickelt zu werden. Zum Schluß bemerkte er, daß er alles gesagt habe, was er wisse und was auf diesen Fall Bezug habe, aber keine Ahnung besäße, wohin Röhling sich gewendet haben könne.
»Sie wissen ja nicht, ob wir ihn nicht etwa schon haben«, warf der Kommissar hin und beobachtete dabei den Angeredeten, der ihm verdächtig geworden war, aufs schärfste.
Pfeffermann blieb ruhig, aber er sagte etwas, das ihn später bitter reuen sollte – er sagte ein wenig spöttisch lächelnd: »Ich glaube nicht, daß man ihn hat oder ihn je haben wird.«
Ehrenfeld zuckte die Achseln
»Nun, vielleicht wissen Sie das besser«, entgegnete er hart und rief, auf die elektrische Klingel drückend, abermals den Wachmann herbei.
»Schicken Sie mir den Herrn vom Tage, aus Nummer neun, und kommen Sie mit ihm zurück«, befahl er dem Eintretenden.
Pfeffermann erhob sich.
Er war sehr bleich geworden
Er wußte, daß er jetzt abgeführt werden würde.
Der diensthabende Beamte des Inquisitenspitals trat mit dem Wachmann ein.
Pfeffermann wurde beiden mit den üblichen Formalitäten übergeben und folgte ihnen schweigend.
Ehrenfeld ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Er war sehr übler Laune. Pfeffermann hatte ihn enttäuscht.
Trotz Müllers wenig günstigem Bericht über seinen gestrigen Besuch im Gärtnerhaus hatte Pfeffermann anfangs einen vorteilhaften Eindruck auf den Kommissar gemacht. Mit diesem war es jetzt vorbei.
Als der Protokollführer gegangen, trat Ehrenfeld vor Müller hin und sagte: »Na, dieser Pfeffermann versteht's! Der hat sich die Geschichte über Nacht gut einstudiert.«
Der Detektiv zuckte die Achseln. »Ich finde seine Geschichte durchaus nicht unglaubwürdig. Röhling ließ die Hundert-Gulden-Note absichtlich zurück, weil er voraussah, daß sein Vetter der Versuchung, sich dieselbe anzueignen, nicht widerstehen könne und, dadurch seine Schuld auf sich ladend, es nicht wagen würde, Röhling als Dieb zu denunzieren. Die Schwäche, von der Röhling angeblich im Stadtpark überfallen wurde, als sich beide auf dem Weg zur Merburgschen Villa befanden, kommt mir ebenfalls verdächtig vor, denn während Röhling auf der Bank saß, und zwar unter dem Vorwand, sich zu erholen, benutzte er wahrscheinlich diese Gelegenheit, sich der Brieftasche mit den dreißigtausend Gulden zu entäußern, um sie, nachdem er sich später von Pfeffermann getrennt, wiederzuholen.«
»Was Sie sagen, hat ja manches für sich«, gab der Kommissar zu. »Dennoch halte ich Pfeffermann für einen geriebenen Schuft. Mir aber soll er keinen Sand in die Augen streuen!«
Es war Mai geworden, und noch immer war man im Falle Merburg – Röhling nicht weitergekommen.
Pfeffermann war wegen der 100 Gulden, die er sich widerrechtlich angeeignet hatte, zu drei Wochen Arrest verurteilt worden, und seine Strafzeit ging nun bald zu Ende. Erkundigungen über Röhlings Lebensgewohnheiten hatten ergeben, daß er keinerlei Bekanntschaften gehabt, also für diese auch kein Geld hatte ausgeben können. Ebenso war festgestellt worden, daß er seine tatsächlich aus 900 Gulden bestehenden Ersparnisse von der Sparkasse am 18. April abgehoben hatte, und da sein aus früheren Jahren stammender Brief an Pfeffermann keinen Zweifel darüber zuließ, daß er demselben 600 Gulden geschuldet hatte, so konnte man den Gärtner wegen Annahme dieses Geldbetrages nicht zur Verantwortung ziehen.
In der Pfeffermannschen Gärtnerei dufteten die Rosen und blühte und wuchs alles prächtig, doch ging zwischen all dem frischen Leben die arme Marie blaß und hohläugig umher.
Sie durfte ihren Vater nur selten sehen, und in diesen karg zugemessenen Minuten glaubte sie zu bemerken, daß außer der Schande, welche er sich abermals aufgeladen hatte, auch noch eine bestimmte Furcht, für die er keine Erklärung hatte oder gab, ahnungsschwer auf ihm zu lasten schien. Unter einem ähnlichen Druck, von dem sie sich vergebens zu befreien suchte, litt auch Marie.
Der alte Wellner, der mit unerschütterlicher Treue seinem Herrn und dessen Tochter ergeben war, teilte mit dieser alle geschäftlichen und häuslichen Sorgen.
Die Magd hatte den Dienst verlassen: bei solchen Leuten wollte sie nicht bleiben. Marie war es erwünscht, diese lästige Zeugin ihrer Seufzer und Tränen los zu sein; zwar ruhte nun eine doppelte Arbeitsbürde auf ihr, die sie aber nur als eine wohltätige Zerstreuung empfand.
So standen die Dinge zu Anfang Mai.
Müller fing an melancholisch zu werden.
Ehrenfeld bemerkte das recht gut und unkte seinen Getreuen gar oft mit Röhling, der wie im Erboden verschwunden schien.
Eines Tages jedoch finden wir Müller in Ehrenfelds Amtszimmer mit dem eifrigen Studium eines Briefes beschäftigt, den der Kommissar ihm eben gereicht hatte.
Das Kuvert lag auf dem Tisch. Der Poststempel zeigte, daß der Brief in der Stadt aufgegeben worden war, und zwar am Abend vorher.
Das Brieflein war klein und hatte auf seiner zweiten Seite ein Wasserdruckzeichen, zwei sich kreuzende Anker vorstellend. Das Papier zeigte an den Rändern bereits jene gelbliche Färbung, welche sich einstellt, wenn es lange gelegen hat.
Der Brief enthielt wenige Zeilen in schöner, steifer, etwas gekünstelter, möglicherweise verstellter Schrift.
Der Inhalt lautete:
»Die ... Zeitung meldete unlängst die Verurteilung Pfeffermanns zu drei Wochen Gefängnis und erwähnte bei dieser Gelegenheit, daß sein Komplize Röhling bisher nicht ausfindig gemacht werden konnte. Ist denn die Polizei niemals auf den Gedanken gekommen, daß Röhling überhaupt nicht mehr unter den Lebenden weilt? Und hat sie sich in diesem Fall nicht gesagt, wer allein dessen Mörder sein kann?«
S. M.«
»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte gespannt der Kommissar, als Müller den Brief niederlegte.
»Ich denke – wie Sie wohl auch, Herr Kommissar, daß dies die ehrliche Meinung einer der Sache fernstehenden, aber mit den Verhältnissen bekannten Person sein kann. Was ich aber als wahrscheinlicher annehme, ist, daß Veit Röhling sich selber hinter diesem S. M. verbirgt. Es herrscht ein großer Haß zwischen ihm und Pfeffermann, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Röhling, der nicht wählerisch in seinen Mitteln ist, seinen Feind in noch weitere Unannehmlichkeiten zu bringen bemüht ist.«
»Vielleicht haben Sie recht, daß Röhling der Verfasser dieses anonymen Briefes ist und nicht weit von hier weilt. Liebe und Rachsucht halten ihn möglicherweise fest. Marie ist ja jetzt unbeschützt.«
»Meinen Sie nicht, Herr Kommissar, daß Röhling Marie aufgegeben hat und mehr an ihr leichter zugängliches Ebenbild, Minna, denkt?«
»Auch das ist möglich.«
»Der Brief ist hier aufgegeben, im südlichen Bezirk der Stadt, zwischen sieben und acht Uhr abends«, fuhr Müller fort, »aber das beweist natürlich Röhlings Anwesenheit hier nicht. Er kann sich ja einer Mittelsperson bedient haben. – Vielleicht kann man durch Anknüpfung einer Korrespondenz in der Zeitung mehr herausbekommen.«
»Na, wir können ihm ja antworten.«
Ehrenfeld setzte sich wieder nieder und reichte nach kurzer Zeit dem Detektiv folgenden Inseratenentwurf:
»S. M.
Ihr Gedanke ist nicht überraschend. Man war längst Ihrer Meinung, doch fehlt bis heute jeder Anhaltspunkt. Haben Sie einen solchen, so melden Sie sich an maßgebender Stelle. Diskretion ist Ihnen natürlich zugesichert.«
Diese Annonce fand sich am nächstfolgenden Tage in auffallendem Druck auf der letzten Seite der weitverbreiteten ... Zeitung
Ehrenfeld und Müller lasen sie lächelnd, wenn sie natürlich auch keinen Augenblick lang daran dachten, daß S. M. persönlich erscheinen würde.
Eine Woche verging. Ehrenfeld und Müller interessierten sich lebhaft für den Annoncenteil der ... Zeitung, aber was sie suchten, fand sich nicht darin.
Endlich brachte die Post wieder einen Brief, im selben Stadtbezirk und um die gleiche Stunde wie der erste aufgegeben. Die lange, steile Schrift mit ihrem erzwungenen Charakter fiel sogleich auf. Das am Rande vergilbte Briefpapier trug wieder das Wasserzeichen mit den gekreuzten Ankern, und wie der erste Brief, war auch dieser in ein altmodisch langes, schmales Kuvert eingeschlossen. Der Kommissar öffnete das Schreiben in Müllers Gegenwart und las folgendes:
»Man suche in dem an Pfeffermanns Gärtnerei grenzenden Grundstück. Dieses birgt das Geheimnis, das Pfeffermann für ewig begraben wähnt. Wo der Grund sich senkt, dort ist die Stelle.
S. M.«
»Er gibt nicht nach«, sagte Ehrenfeld nachdenklich. »Was halten Sie von der diesmaligen Deutlichkeit des Briefes?«
»Sie weist höchstwahrscheinlich auf irgendeine Tatsache hin. Sonst wäre sie ja sinnlos.«
»Aber auf welche Tatsachen? Auf das Grab Röhlings?« bemerkte Ehrenfeld
Müller sann nach. Er war an seinem Urteil über den Gärtner irre geworden. »Unmöglich ist's ja nicht, daß Pfeffermann ein Schurke ist«, sagte er, »daß er Röhling ermordete und das Geld an sich nahm. Er ist geldbedürftig, und die Versuchung war groß; überdies haßte er seinen Vetter. Es kamen schon ganz andere Dinge vor. Sehr seltsam ist der Umstand, daß er Röhling in jener Samstagnacht nicht gesehen haben will.«
»Denken Sie an sein Gebaren bei meiner Frage nach der Ursache seiner Verwundung. Damals sah er wie ein schwer Schuldiger aus.«
»Oder wie ein Schwerkranker, was er ja auch war. Die Verwundung beschleunigte nur den Ausbruch der Krankheit; das Fieber steckte schon früher in ihm, wie der Doktor sagte.«
»Der aber auch von großen inneren Affekten sprach, welche den zähen, starken Mann plötzlich so herunterbrachten. Nun, wenn man einen erschlägt und verscharrt, pflegt man wohl innerlich allerlei zu erleben.«
Müller mußte das zugeben, dennoch konnte er sich so leicht nicht, wie sein Vorgesetzter, in die Idee hineinleben, daß Pfeffermann ein Raubmörder und ein so vortrefflicher Schauspieler sei.
Er hatte genaue Erkundigungen über den Mann und sein Leben eingezogen und nichts sprach dafür, daß er ein schlechter Charakter sei.
Dann hatte er ihn einmal ungesehen im Gefängnis beobachtet, als Marie ihn besuchte, und die ruhige, traurige, ja demütige Art gesehen, mit der er sich gab, und sich zugleich der tiefen Innigkeit erfreut, durch welche Marie ihrem Vater bewies, daß sie – wie die Welt sich auch zu ihm stellte – ihm in treuer und herzlicher Kindesliebe zugetan sei.
Müller dachte daher gut über Pfeffermann und wußte den Kommissar zu überreden, daß dieser von einer offiziellen Untersuchung der angedeuteten Stelle abstand und es ihm (Müller) überließ, ohne Aufsehen zu erregen, in aller Stille die Umgebung des Pfeffermannschen Grundstücks zu untersuchen.
Dann ging Müller. Daheim verglich er die Handschrift der beiden Briefe, die er bei sich hatte, mit der Schrift in dem Notizbuch Röhlings.
Nirgends ein ähnlicher Zug – und doch: das W, welches sowohl in beiden Briefen als auch wiederholt in Röhlings Notizen vorkam, zeigte eine auffallende Ähnlichkeit in einer bestimmten, abnormen Verzierung, welche sich gleichmäßig wiederfand.
War Röhling wirklich der Anonymus, so setzte er sich allerdings einer großen Gefahr aus; schon daß er dem Schauplatz seines Verbrechens so nahe blieb, war bedenklich. Aber seine sinnliche Leidenschaft, die ihn in die Nähe Maries oder ihres Ebenbildes bannte, war vermutlich stärker als seine Klugheit Und was seine schwere Verdächtigung Pfeffermanns betraf, so überwog hierbei die Begierde, sich dafür zu rächen, daß dieser die gestohlene Summe bei ihm entdeckt und ihn zu der gefährlichen Rückkehr an die Stätte des verübten Einbruchs gezwungen hatte.
Das waren Müllers Gedanken, während er mit seinem Äußeren eine seltsame Metamorphose vornahm. Er vertauschte seine Kleidung mit einem Anzug, wie ihn etwa ein schlichter Handwerker zu tragen pflegt, und bedeckte den unteren Teil seines glatten Gesichts mit einem stattlichen Umhängebart In dieser Verkleidung, die ihn ganz unkenntlich machte, verließ er seine Wohnung und wanderte der Pfeffermannschen Gärtnerei zu.
Als Müller über den Zaun spähte, sah er Marie, welche eben mit einem Wäschezuber aus dem Haus trat und zu den Stricken ging, die Wellner ihr spannte.
Das Mädchen sah froher aus als sonst, und das Rot und die Blässe der Erregung wechselten, während sie flink die blendendweißen Wäschestücke aufhängte, auf ihren Wangen. Gewiß gedachte sie ihres Vaters, der in den nächsten Tagen frei werden sollte.
Müller ging zum Pförtchen und rief Wellner an, der eben mit einer Gießkanne des Weges kam.
Er öffnete diesem die Tür.
»Was wollen Sie?« fragte er mißtrauisch.
Der ärmlich, aber sauber gekleidete Fremde fragte bescheiden an, ob er wohl hier Arbeit bekommen könne.
Wellner sah sich den Mann näher an und fand, daß er doch ziemlich vertrauenswürdig aussehe, dann führte er ihn zu seiner jungen Herrin.
»Fräulein Marie, dieser Mann sucht Arbeit.«
»So? Könnten Sie gleich eintreten? Wir haben gerade jetzt viel zu tun.«
»Gleich könnt' ich eintreten.«
»Mein Vater ist – mein Vater kommt erst in einigen Tagen nach Hause, bis dahin könnten Sie es ja probieren. Er würde dann entscheiden, ob er Sie behält. Haben Sie Zeugnisse?«
»Die habe ich.«
Der neue Gehilfe reichte ihr mehrere Papiere.
Sie schaute hinein. Es war alles ordnungsgemäß ausgestellt.
Der Mann hieß Franz Schmid und hatte bis jetzt in dieser Stadt noch nicht gearbeitet.
Seine Zeugnisse waren gut.
Aber seine Hände sahen so gar nicht wie die eines Arbeiters aus, sie waren viel zu weiß. Das fiel Marie auf.
Müller hatte recht gut ihren verwunderten Blick bemerkt.
»Ich war lange Zeit im Spital«, sagte er.
»Ja, ja. Sie sehen nicht sehr kräftig aus«, meinte sie bedenklich.
»Trotzdem habe ich genug Kraft, um jede Arbeit leisten zu können«, sagte Franz Schmid und hob, um seine Behauptung zu beweisen, einen großen Korb Wäsche auf.
Marie und Wellner lächelten befriedigt; der Korb war voll und schwer. Ja, der Mann hatte Kraft.
Er wurde aufgenommen.
Nur mußte er noch einmal in sein Absteigequartier in der Stadt gehen, um seinen Koffer zu holen.
Nach zwei Stunden kam er wieder und trat sofort seinen Dienst an.
Wellner, der doch auch seine Sache verstand, war sehr zufrieden mit seinen Leistungen.
Von diesem Tage an war also Franz Schmid Gehilfe im Gärtnerhause. Es war ein Zufall, daß der Detektiv Müller der Sohn eines Gärtners war und diesen Beruf erlernt hatte, um ihn, allerdings später, für den interessanten Beruf eines Geheimpolizisten aufzugeben. So kam es, daß Franz Schmid seine Stellung zur Zufriedenheit seiner jungen Brotgeberin ausfüllte. Er zeigte sich als ein stiller, zur Einsamkeit geneigter Mensch, der wenig Fragen stellte und sich am behaglichsten fühlte, wenn man ihn in aller Ruhe seinem Tagewerk nachgehen ließ. Marie hatte ihm das Gehilfen-Häuschen am unteren Ende des Gartens zum Wohnen angewiesen, da Wellner, seit sie allein war, bei ihr im Hause wohnte.
Franz Schmid hatte eine seltsame Gewohnheit, von welcher Marie und Wellner nichts ahnten. Er pflegte plötzlich des Nachts, wenn die anderen schliefen, spazierenzugehen. Gleich in der ersten Nacht hatte er diese Promenaden begonnen.
Heute war er zum viertenmal auf diese Art unterwegs. Ganz leise öffnete er mit dem ihm stets zugänglichen Schlüssel das kleine Pförtchen, welches nach unten hin auf die parzellierten Nachbargrundstücke führte. Zwischen diesen und dem Pfeffermannschen Garten befand sich ein schmaler Graben, den Marie durch eine darübergelegte Bohle hatte überbrücken lassen, denn wenn sie in die Stadt mußte, ging sie lieber über die öden Gründe und durch den Hohlweg als an den einzelnen Nachbarhäusern vorüber, in denen man genau wußte, warum Pfeffermann so lange ferm von seinem Hause weilte.
Über diesen Notsteg ging nun schon durch vier Nächte der neue Gehilfe, nachdem er tagsüber zuweilen lange, forschende Blicke über den Zaun geworfen hatte.
Diese Blicke waren am eben verflossenen Tage immer wieder an einer Stelle haftengeblieben, welche für harmlose Betrachter vermutlich nicht das mindeste Auffallende gehabt hätte. Zu dieser Stelle begab er sich jetzt.
Er trug ein Grabscheit und eine Laterne, legte beides nieder, als er an seinem Ziel angekommen war, und zog ein Paar ganz neue, dicke Lederhandschuhe an.
Ein Bursche, der im Laufe des Tages müßig vorübergegangen war, hatte sie ihm aus der Stadt holen müssen und war für den Gang reichlich belohnt worden, ohne daß jemand aus dem Gärtnerhause die Verhandlungen mit dem Boten bemerkt hätte.
Jetzt zog Franz Schmid die Handschuhe an und machte sich dann daran, mit kräftigen Spatenstichen die Stelle des Bodens, welche ihm so viel Interesse eingeflößt, zu lockern. Aus der gelockerten Erdschicht hob er vorsichtig die in üppiger Fülle darauf wuchernden Brennesseln, gegen deren Tücke ihn die Handschuhe schützten. Die Brennesseln bedeckten eine mehrere Meter breite und lange Stelle des sonst von solchem Unkraut ziemlich freien Brachfeldes. Wohl einen Quadratmeter legte der emsige Mann von den Brennesseln frei, wobei er jeden der herausgenommenen Büschel behutsam zur Seite stellte. Dann fing er an, in die Tiefe zu graben. Die Laterne, die er auf der Brust trug und aus welcher aus einem schmalen Spalt ein Lichtstreifen auf den Boden fiel, leuchtete ihm zu seiner merkwürdigen Arbeit.
Dieser Lichtstreifen fiel auch auf sein Gesicht. Es war ein wenig bleich, und es lag ein Ausdruck großer Spannung darauf. Nachdem er eine Weile gegraben hatte, beugte er sich nieder und schnupperte prüfend die Luft ein. Es war ein scharfer Verwesungsgeruch, der aus dem Boden heraufdrang.
Franz Schmid stellte die Laterne auf den Boden, warf noch einige Schaufeln Erde zur Seite, dann senkte er das Grabscheit und starrte lange nieder, wobei ein eisiger Schauer durch seinen Leib rann. Was seine Augen sahen, war eine bleiche, halbverweste Menschenhand, die seine Schaufel bloßgelegt hatte.
Einige Minuten hindurch blieb Franz Schmid, regungslos auf die Hand starrend, stehen, dann fuhr er sich über die Stirn und tat einen tiefen Atemzug. Er war wieder der ruhige Mann wie gewöhnlich.
Rasch und mit sicherer Hand warf er die Erde wieder an die Stelle, von welcher er sie entfernt hatte, und setzte alsdann die Nesselstauden wieder ein.
Er hatte während seiner geheimnisvollen Arbeit von niemanden gesehen werden können. Vor ihm lagen die letzten Büsche des Hohlweges, hinter ihm erhoben sich die Bäume und Büsche des Gartens sowie dessen Planke.
Es war der bestgewählte Ort zur heimlichen Bergung einer Leiche.
Als der Detektiv die Spuren seiner nächtlichen Untersuchung so gut wie möglich verwischt hatte, kehrte er in sein Häuschen zurück.
Er schlief in dieser Nacht sehr wenig. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn.
Wer anders als Veit Röhling konnte der verscharrte Tote sein? Der Anonymus mußte also die Wahrheit geschrieben haben.
Welchen Sinn hätte sonst die heimliche Anzeige gehabt?
Röhling also tot! Dann war Pfeffermann sein Mörder. Dann war es nicht wichtig, daß Pfeffermann Röhling an jenem Freitag zuletzt gesehen; dann war Röhling am darauffolgenden Samstag, dem Tage seines Verschwindens, zuletzt mit Pfeffermann beisammen gewesen, in verschwiegener Nachtstunde, vermutlich auf dem Wege zur Flucht, im Besitz der gestohlenen Summe, allein mit seinem ihn hassenden Vetter, und nach dieser Zusammenkunft – nach dieser erwiesenen Anwesenheit im Hause des Gärtners war er nicht mehr gesehen worden – war er wie vom Erdboden weggefegt.
Also wälzten sich rastlos die Gedanken im Kopf des Geheimpolizisten, und wieder seufzte er: »Ich werde alt und stumpf«, und bei diesem Gedanken angelangt, errötete er und mußte sich bekennen, daß er die Entdeckung nicht seinem Scharfsinn, sondern einem Hund verdanke.
Drei Tage lang hatte Müller fleißig hinübergeschaut auf den großen, brachliegenden Grund, der nach Angabe des anonymen Briefeschreibers ein grausiges Geheimnis enthalten sollte. Er fand kein Fleckchen auf dem ganzen Grundstück, das ihm aufgefallen wäre. Nur Nesseln, Grasbüschel, kleine Hügel und Senkungen, wie sie die Wühler der Tierwelt hervorbringen, fanden sich hier und da. Einige Stellen, die sich durch Lockerheit oder fremde Färbung auszeichneten, untersuchte er während der Nächte, aber ohne Erfolg. Den ganzen Acker umgraben wäre für ihn ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Was also tun?
Am vierten Tag seines Aufenthalts im Gärtnerhaus stand der Detektiv, abermals über die Planke spähend, am Rande des Gartens. Drüben lief ein Hund über das Feld.
Da und dort schnuppernd, kam er auch in die Nähe des Brennesselstandes, und hier hielt er an, schnupperte heftiger, bellte und rannte dann in die Nesseln, floh heulend vor Schmerz zurück, schnupperte wieder, bellte noch wütender als vorher und zog sich dann scheu und mit eingeklemmter Rute zurück.
Der Hund hatte das Grab entdeckt.
Müller schrieb ziemlich viel in dieser Nacht. Am nächsten Morgen, genau um acht Uhr, kam ein Hausierer an Pfeffermanns Haus vorüber. Er kam seit fünf Tagen regelmäßig um diese Morgenstunde hier vorbei; es hatte seiner niemand geachtet, auch Franz Schmid nicht. Heute rief er den Hausierer an. Wellner war in der Nähe und sah, daß Franz Schmid ein Stück Seife kaufte, aber er bemerkte nicht, daß der Hausierer statt des Geldes einen versiegelten Brief in Empfang nahm.
Der Hausierer ging pfeifend weiter, während der Gehilfe sich ruhig und unverdrossen an seine Arbeit begab.
Und wieder wurde es Nacht und punkt elf Uhr trat Schmid aus seinem Häuschen. Es war eine ziemlich stürmische Nacht Sehr gut! Sie paßte eben. Wenn der Wind heult und die Bäume rauschen, überhört man eher andere Geräusche!
Als er sich überzeugt hatte, daß in der Gärtnerwohnung alles still und finster war, ging er rasch zu dem Pförtchen hinunter. Diesmal hatte er weder Spaten noch Laterne mitgenommen.
Die Nacht war sehr finster.
Als der Detektiv das Pförtchen hinter sich sorgfältig geschlossen, damit der Sturm nicht daran rütteln könne, legte sich eine Hand auf seinen Arm.
»Müller!« sagte eine gedämpfte Stimme.
»Herr Kommissar! Guten Abend!« erwiderte Müller.
»Können wir beginnen?« fragte Ehrenfeld.
»Also vorwärts!« sprach Ehrenfeld, wie zu einem unsichtbaren Zuhörer, in die Dunkelheit hinein.
Mehrere Männer wurden sichtbar, jeder trug eine Laterne, deren Blechhülle zum Teil geöffnet war.
Müller grüßte den vornehmsten von Ehrenfelds Begleitern achtungsvoll. Es war ein ihm bekannter Spitalarzt. Den drei anderen Männern nickte er stumm zu.
Seitwärts von der schweigenden Gruppe sah man eine verschließbare Tragbahre.
Die beiden Träger, Spitaldiener, befanden sich dabei, ein dritter Mann stand, mit einem Grabscheit versehen, unweit davon.
»Hier ist es«, sagte Müller und bezeichnete dem Mann mit dem Grabscheit die Stelle, an welcher er mit dem Auswerfen der Erde beginnen sollte. Der Mann setzte das Grabscheit an, und rasch ging die Arbeit vonstatten.
Der Grabende hatte noch keine zwanzig Spatenstiche getan, da blinkte es bleich zu seinen Füßen. Die Hand, die Müller schon gestern gesehen, zeigte sich wieder.
»Jetzt recht achtsam«, sagte der Arzt, »hier und hier und hier graben Sie.«
Der Mann folgte den gegebenen Weisungen.
Er stand bald in einer länglichen Grube, die kaum drei Schuh tief war und in deren Mitte sich die Konturen einer menschlichen Leiche abhoben. Sie waren noch mit Erde bedeckt.
Endlich legte der Grabende die Schaufel fort und nahm sorglich mit den Händen Stück um Stück der Erde weg, die den Toten bedeckte.
Fünf Paar Augen folgten gespannt dem Tun des Mannes in der Grube.
Glied um Glied der Leiche wurde frei.
Seltsam, sie trug nur Unterkleider und hatte keine Schuhe an den Füßen. Aber ein dunkelbrauner Rock umhüllte ihren Oberkörper. Dieser Rock war, wie auch das Leinenzeug der Wäsche, schon halb zerfallen und hatte, wie dieses, große Löcher.
»Da ist eine ätzende Säure im Spiel«, sagte er Arzt, »sie hat auch den Körper teilweise zerstört«
Ja, das hatte sie. Man sah es ganz besonders an dem Gesicht, das eben jetzt frei wurde. Es war das von einem kurzen Vollbart umrahmte Gesicht eines Mannes von etwa vierzig Jahren. Der Bart und das längliche gewellte Haar waren fast schwarz, die Hautfarbe der Leiche dunkel: das Gesicht war halb zerstört, nicht von der Verwesung, sondern von der ätzenden Flüssigkeit.
Man konnte charakteristische Einzelheiten der Züge nicht mehr erkennen, und doch war ein charakteristisches Merkmal noch deutlich wahrzunehmen: auf der Stirn der Leiche zeigte sich eine senkrechte Narbe.
Gesprochen wurde fast gar nicht bei dieser nächtlichen Exhumierung.
Wie ein Verbrechen, so scheu und still wurde sie vollführt. Nach seiner Freilegung wurde der Leichnam auf die Bahre gelegt, dann wurde diese geschlossen, die Männer erhoben sie und setzten sich in Bewegung. Man kehrte durch den Hohlweg nach der Stadt zurück. Nahe an deren diesseitiger Grenze lag, wie wir wissen, das große Spital, darin Veit Röhling Beamter gewesen. Dahin trug man jetzt die Leiche.
Dieser mittelgroße, schlanke, sehnige Körper von dunkler Hautfarbe, dieses brünette, längliche Gesicht mit dem dunklen Vollbart und dem langen, geringelten Haar, die großen, knochigen Hände, alles stimmte, ja selbst die tiefe Narbe auf der Stirn.
Es war kein Zweifel, der Ermordete konnte nur Veit Röhling sein.
Etwa nach einer halben Stunde tat sich vor der unheimlichen Prozession das Tor der pathologischen Abteilung auf. Lechner hatte es geöffnet
Er war verwundert, als der Doktor ihn aufforderte, dem kleinen Zug zu folgen.
Die Träger setzten die Bahre in einem der nahe liegenden Seziersäle nieder. Mit einigem Grausen schaute der Portier auf die Überreste des Menschen, die man vor ihm enthüllte. Ehrenfeld, der Doktor sowie der Detektiv beobachteten ihn gespannt; war er doch, nichts ahnend, hierher beordert worden, um diesen Toten zu identifizieren.
Anfangs nur verwundert, wurde sein Blick immer starrer und entsetzter, und jetzt rief er, sich unwillkürlich zu der Leiche niederbeugend: »Herr Gott, das ist, das ist ja der Röhling!«
Die drei Männer sahen einander an. Der Doktor und der Kommissar nickten. Müller aber nickte nicht, sondern fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn, schaute gedankenvoll in irgendeine weite Ferne, und dann machte er eine Bewegung mit dem Kopf, die eher, ein Schütteln als ein Nicken war.
Kommissar Ehrenfeld hatte sich an den noch immer schreckensstarren Portier gewendet.
»Sind Sie sicher, daß dieser Tote Veit Röhling ist?« fragte er.
»Ganz sicher«, murmelte der Portier, und dabei schüttelte ihn ein Schauer.
»Sehen Sie sich die Leiche noch einmal genau an.«
Nachdem Lechner sich den Toten eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, sagte er in bestimmtem Ton: »Gewiß ist dieser Tote Röhling. Alles stimmt, und an diesen Rock habe ich ihm im Laufe des letzten Winters selber einen Knopf angenäht. Auf dem rechten Ärmelaufschlag fehlte einer. Ich nähte ihn mit grauem Zwirn an, da ich schwarzen nicht hatte. Die anderen Knöpfe sind mit schwarzem Zwirn angenäht.«
Der Doktor hob den rechten Ärmel des Rockes empor und untersuchte dessen Knöpfe.
Es waren ihrer drei, sie waren klein und standen dicht aneinander. Der mittlere von ihnen war, man sah es noch ganz deutlich, mit grauen Zwirn befestigt worden. Seine beiden Nachbarn waren mit einem Faden von schwarzer Farbe angenäht.
»Es stimmt«, sagte der Doktor.
Lechner war entlassen.
Er ging mit schlotternden Knien hinaus. Er war ganz wirr.
Jahrelang hatte er mit Veit Röhling verkehrt und sich an sein Kommen und Gehen gewöhnt wie an den Gang der Zeit, dann war dieser Mann, den er für eine Personifikation der Ehrenhaftigkeit gehalten, zum Dieb geworden und hatte sich geflüchtet, und jetzt lagen seine irdischen Reste da drinnen. Wo und unter welchen Umständen hatte man sie gefunden?
Hatte er sich selbst gerichtet? War er verunglückt? War er ermordet worden?
Das fragte sich Lechner ununterbrochen.
Als er in seinem Stübchen angekommen war, schickte er sich an, die unterbrochene Nachtruhe wieder fortzusetzen.
Da ward er sich der unheimlichen Nachbarschaft bewußt, es zog wieder ein Frösteln durch seinen Leib. Schließlich aber fiel er doch in einen unruhigen Schlummer. Plötzlich fuhr er empor. Es war ihm gewesen, als ob er ein heiseres Hüsteln hörte. Er rieb sich die Augen. Er blickte scheu umher. Unmöglich! Röhling war tot, der hüstelte nie wieder. Es war nur ein Traum gewesen.
»War das damals aber auch nur ein Traum«, fragte sich Lechner, der an eine Frühlingsnacht dachte, in der er dieselben Töne, das heisere Hüsteln Röhlings zu einer Stunde, wo dieser vorher noch niemals das Spital betreten hatte, zu vernehmen geglaubt? Das Hüsteln kam vom Hofe her. Kaum begonnen, hörte es auch schon wieder auf, als ob es gewaltsam unterdrückt worden sei. War es eine Täuschung gewesen?
Darüber hatte Lechner, seit Röhling als Verbrecher gebrandmarkt und verschwunden war, des öfteren nachgedacht Es kam ihm heute wieder in den Sinn. Gesprochen hatte er mit niemandem darüber. Er war ja seiner Sache nicht sicher und hielt sie überdies für gänzlich unwichtig.
Nach und nach siegte doch die Müdigkeit und Lechner schlief den Schlaf der Gerechten. Er wurde durch nichts mehr gestört.
*
Müller war wieder als Franz Schmid nach dem Gärtnerhäuschen zurückgekehrt Der Zweck seines Dortseins war erfüllt. Nur eines blieb ihm noch übrig.
Er berief unter einem Vorwand Marie an das untere Ende des Gartens und wußte es so einzurichten, daß sie über die Planke hinweg das aufgewühlte Grab zu Gesicht bekam. Er beobachtete sie scharf.
Sie blieb vollständig gleichgültig. Sie hatte offenbar keine Ahnung davon, was jene umhergeworfenen Erdklumpen einen Monat hindurch verhüllt hatten.
Müller atmete erleichtert auf.
Das Mädchen war ihm liebgeworden. Sie war so tüchtig, so frisch, so natürlich und, seit die Schande unter das Dach ihres Vaterhauses getreten war, so ernst und traurig.
Das rührte sein gutes, altes Herz.
Wie hätte er nicht Freude empfinden sollen, als er sich überzeugt hatte, daß sie wenigstens ganz schuldlos war an dem Verbrechen, das da begangen worden.
Am Tage, welcher der Einbringung der Leiche folgte, verschwand Franz Schmid aus der Welt, dafür tauchte der Detektiv Müller wieder auf.
Wir finden ihn in dem unheimlichen Raum, welchen der an und für sich schon unheimliche rückwärtige Trakt des großen Krankenhauses enthält – im Seziersaal.
Von breiten, hochliegenden Fenstern her fällt reichlich Licht auf die schauerliche Last, welche eine der marmornen Tafeln, die in dem weiten Raum stehen, trägt.
Die untersuchenden Gerichtsärzte haben sich soeben zurückgezogen.
Sie standen vor einem Rätsel. Sie suchten nach der Verletzung, welcher der vor ihnen liegende Körper erlegen sein konnte, doch kein Wundmal ließ sich entdecken; sie suchten im Inneren des Leibes nach Gift; es fand sich nicht die leiseste Spur eines solchen. Die ätzende Flüssigkeit, deren Spuren die Haut trug, war nicht mit dem noch lebenden Körper, sondern erst mit dem Leichnam in Berührung gekommen, was leicht zu konstatieren gelang.
Zu welchem Zweck? Sicherlich nur, um ihn unkenntlich zu machen. Ein ernstes Leberleiden war die einzige Todesursache, welche die gewiegten Ärzte nachzuweisen vermochten.
Sie befanden sich, wie gesagt, vor einem Rätsel.
Auch Müller, der sich eben mit dem Toten allein befindet, schüttelt den Kopf. Ihm hat nie ein »Fall« so viel Rätselhaftes aufgegeben wie dieser.
Hell fällt das Licht der langsam vorüberwandelnden Sonne auf den Seziertisch. Müller studiert die Gesichtszüge und vergleicht sie, Partie um Partie, mit denen der Fotografie Röhlings, die er in Händen hält.
Sie stimmen, soweit dies jetzt noch zu erkennen ist.
Müller ist aufgeregt Immer dunkler wird dieser seltsame Fall. Wieder schüttelt der alte Geheimpolizist den Kopf. Er wird ungeduldig. Und in dieser seiner Ungeduld geschieht es, daß die Fotografie seiner Hand entgleitet. Sie fällt zwischen den Körper und den Arm der Leiche. Er greift nach ihr und kommt dabei mit dem Arm in Berührung. Da zeigt sich der Ausdruck der Verwunderung in seinem Gesicht Was hat er denn da unter dem Ärmel gefühlt?
Er nimmt eines der Instrumente, die noch auf dem Tisch liegen, und schlitzt den Ärmel auf, welcher den Oberarm des Exhumierten bedeckt.
»Ah!« macht er überrascht
Um den wächsernblassen Arm spannt sich ein silberner Reif. Er war den Ärzten entgangen, da sie an diesem Körperteil nicht nach der Todesursache geforscht hatten.
Müller betrachtet den Reif aufmerksam Es ist ein sehr primitives Armband, ganz kunstlos und ohne Wert.
Aber es trägt eine ziemlich deutliche Gravierung: den Namen eines Ortes, den Namen einer Person und daneben zwei sich schnäbelnde Tauben.
Jetzt schüttelt Müller nicht mehr den Kopf, jetzt nickt er zufrieden. Das Rätsel beginnt sich zu lichten.
Müller drückt auf einen Klingelknopf an der Tür. Ein Spitaldiener tritt ein. Müller gibt ihm den Auftrag, die Herren Gerichtsärzte, die vorhin hiergewesen, noch einmal herzubitten.
Sie kommen. Nach kurzer Beratung schickt einer der Herren den Diener nach einer Feile aus.
Eine Viertelstunde später verläßt Müller den Seziersaal. Den silbernen Armreif nimmt er mit sich.
Müller, der das Gutachten der Ärzte genau kannte, stand vor einer neuen Arbeit.
Dieser Unbekannte war nicht ermordet worden, er war ganz einfach an seiner inneren Krankheit gestorben. Wann? Wo? Danach galt es jetzt zu forschen.
Er hatte grobe Hände gehabt und grobe Wäsche an seinem Leibe getragen. Er war demnach kaum ein bemittelter Mann gewesen.
Wohin aber geht der Arme, wenn er gesunden will oder wenn er spürt, daß es zum Sterben kommt? – In ein Spital.
So dachte Müller, und da er sich eben in einem Spital befand, so begann er in diesem selbst seine Nachforschungen, wofür ohnehin ein gewichtiger Grund sprach.
Er begab sich in die Abteilung für innere Krankheiten und stellte sich dort dem diensthabenden Doktor vor.
Das war ein runder kleiner Herr, der sich offenbar einer blühenden Gesundheit und des daraus resultierenden Humors erfreute. Mit diesem Mann besprach sich der Geheimpolizist längere Zeit, und am Ende der Unterredung zeigte es sich, daß jener auch sehr ernst sein konnte.
»Ich kann Ihnen keine Auskunft geben, denn ich war in der fraglichen Zeit beurlaubt«, sagte er, »aber unsere Bücher werden reden. Kommen Sie!«
Damit führte er Müller nach dem Zimmer, in welchem sich unter anderem die Journalbücher vorfanden.
Ein weißhaariger Diener war eben beschäftigt, die wenigen Möbel vom Staube zu säubern.
Er wollte sich beim Eintritt der Herren entfernen, der Doktor aber rief ihm zu: »Bleiben Sie, Berner, Sie stören uns nicht.« Dann griff er nach einem Folianten und begann darin zu blättern.
»Orfante – Pedro Orfante«, wiederholte er halblaut, während er aufmerksam das Verzeichnis der seit Februar aufgenommenen Kranken und der Verstorbenen durchging. Der Gesuchte aber befand sich nicht darunter.
Berner war bei dem Namen Orfante aufmerksam geworden. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Nach einer Weile sagte er: »Herr Doktor, darf ich mich in diese Angelegenheit mischen?«
Der gemütliche Doktor wandte sich weit rascher, als es sonst in seiner behäbigen Art lag, dem Fragenden zu.
»Ei ja, Berner, mischen Sie sich ein, wenn Sie irgend etwas darüber wissen. Nun?«
»Der fragliche Mann namens Orfante starb nicht hier in dieser Abteilung; er war bereits ein Sterbender, als man ihn herbrachte, und da hier kein Bett mehr frei war, so trug man ihn auf Anordnung des Herrn Primarius auf das Zimmer sieben. Sterben konnte er ja wo immer.«
Müller nickte, auch der Doktor nickte, sie sahen einander dabei an.
»Sie sind wohl überrascht darüber, daß Sie so schnell an Ihr Ziel gekommen sind?« fragte der Arzt den Detektiv.
»Nicht so sehr, als Sie glauben, Herr Doktor! Ich hatte Ursache zu vermuten, daß der Exhumierte eben hier in dieser Anstalt gestorben sei.«
Nach diesen Worten wandte Müller sich an Berner mit der Frage: »Wie kommt es, daß Sie sich nach so langer Zeit noch an dieses Vorkommnis erinnern? Derlei Fälle können doch hier nichts Seltenes sein.«
Berner nickte zustimmend. »Das ist schon richtig. Aber gerade bei diesem Fall kam etwas Besonderes vor.«
»Und was war das?«
»Der Mann bat – es waren seine letzten Worte –, man möge ihm ein Schmuckstück nicht nehmen, das ihm sein ganzes Leben hindurch teuer war.«
»Was für ein Schmuckstück?«
»Ein Armband, sozusagen ein Talisman, ein geweihtes Stück, das ihn viele Jahre zur See vor jedem Unglück bewahrt hatte.«
»Haben Sie das Armband gesehen?«
»Nein. Ich habe nicht einmal den Mann gesehen.«
»Woher also wissen Sie das alles?«
»Einer der Wärter von Nummer sieben hat es mir erzählt.«
»Wie heißt dieser Wärter?« fragte der Doktor.
»Goldner.«
»Ja.«
»Holen Sie ihn.«
Berner verließ das Zimmer.
»Sie haben heute einen guten Tag«, sagte lächelnd der Arzt.
Der Detektiv nickte.
Ja, er hatte einen guten Tag.
Goldner, der Wärter von Nummer sieben, trat ein.
Er erzählte klar und deutlich, wann und unter welchen Umständen der Mann mit dem silbernen Armreif gestorben war, auch daß man seinem letzten Wunsch entsprochen und ihn mit seinem Talisman begraben habe.
Bei dieser Stelle der Erzählung schauten der Doktor und der Detektiv einander wieder an. Sie wußten, daß der Berichterstatter sich in einem Punkt irrte.
Goldner wurde entlassen.
Müller verabschiedete sich bald darauf von dem Doktor, der ihm den alten Berner zur Führung auf seinen weiteren Gängen im Spital mitgab.
Müller war sehr angeregt. Er befand sich wieder im vollen Fahrwasser.
Sein nächster Gang war nach dem Zimmer Nummer sieben. Auch da hatte er eine kurze Unterredung mit dem diensthabenden Arzt, welcher ihm gestattete, sich einige Notizen aus dem Journalbuch dieser Abteilung zu machen.
Als er damit fertig war, führte Berner ihn durch verschiedene Höfe und Gänge nach dem Teil des weitläufigen Baues, worin sich die Seziersäle, die Leichenkammern und die Kanzlei befanden, in welcher Röhling tätig gewesen. Während dieser Umschau legte Müller seinem Führer verschiedene Fragen vor, auf welche dieser genaue Auskunft zu geben wußte, und zuletzt hatte er eine längere Unterredung mit Lechner, dem Portier. Nachdem alle diese Geschäfte beendet waren, machte sich der Detektiv auf den Weg nach der Stadt, wo er in einer der größten Papierhandlungen vorsprach.
Dort zeigte er einen der anonymen Briefe vor und fragte, ob man das gleiche Papier haben könne oder wo solches zu haben sei.
Man habe dergleichen Papier nicht vorrätig, wurde ihm entgegnet, es sei altes, längst nicht mehr begehrtes Fabrikat, welches vermutlich noch aus den Resten einer vor Jahren eingegangenen Papierhandlung stamme.
Zu der Verhandlung wurde schließlich auch ein ältlicher Mann gerufen, der einst als Buchhalter in Diensten jenes Hauses gestanden.
Dieser erkannte denn auch das Fabrikzeichen mit voller Bestimmtheit; er erinnerte sich, daß der ganze Vorrat dieser schlechten und billigen Ware von der Konkursmasse-Verwaltung nach Neusteinau, einer kleinen Fabrikstadt, verkauft worden sei.
Der Käufer hieß Josef Moretzky und war Papierhändler.
Müller notierte sich die Namen.
Er war zufrieden.
Der Zufall hatte ihm auch hier in die Hand gearbeitet. Freilich mochte diese Papiersorte auch noch anderswo in der Welt zu finden sein als in Neusteinau, aber da dieses Städtchen in der Nähe lag, so konnte man immerhin bei Herrn Moretzky Nachfrage halten, wer in jüngster Zeit solches Papier bei ihm kaufte, falls er es überhaupt noch auf Lager hatte.
Müller stand bereits im Begriff, die Richtung nach dem Polizeigebäude einzuschlagen, besann sich jedoch unterwegs, daß er Röhlings ehemalige Wirtin, Frau Dorn, zur Identifizierung der Leiche zu laden habe, und begab sich daher nach deren Wohnung.
»Nun? Gibt es etwas Neues?« empfing ihn die Alte gespannt.
Er teilte ihr mit, was sie zu wissen brauchte, dann betrat er das Zimmer Röhlings. Er hatte den Schlüssel dazu bei sich
Müller wollte nichts Bestimmtes in dem Zimmer, aber da er nun doch einmal hier war, so wollte er bei dieser Gelegenheit einen Blick hinein tun.
Noch lag in dem ungelüfteten Raum etwas von dem starken Duft des Straußes, der damals auf dem Schreibtisch gestanden.
Der Fliederstrauß stand noch immer auf demselben Fleck, wohin Frau Dorn ihn damals gestellt hatte. Als Müller seine Blicke über das Zimmer gleiten ließ und dabei die Bücherreihe auf dem Aufsatz des Schreibtisches streifte, bemerkte er, daß eines der Bücher mit dem Rücken über die gleichmäßige Reihe hervorragte, als sei es hastig hineingeschoben worden.
War es eben das Buch, in welchem Röhling vor seinem Verschwinden gelesen hatte, während er sich – wie Frau Dorn geäußert – am Duft des neben ihm stehenden Flieders erfreute?
Müller zog das Buch hervor. Aha, ein Eisenbahn-Kursbuch! Er hatte darin gewiß nach den abgehenden Nachtzügen geschaut, aber nach welchem wohl? Wir haben fünf Bahnhöfe. Wenn das altmodische Papier, dessen sich der anonyme Briefschreiber bedient hat, wirklich aus der Neusteinauer Papierhandlung stammt, dann hat er einen Südbahnzug benutzt, denn dieses Nest liegt an der Südbahn. Ah – und die beiden Briefe wurden im südlichen Stadtbezirk aufgegeben. Sollte er ihrethalben immer einen Abstecher hierher gemacht haben? Alles möglich. Beide wurden zwischen sieben und acht Uhr aufgegeben. Na, wir wollen sehen, ob um diese Zeit ein Zug aus Neusteinau hier eintrifft.
Müller schlug die »Südbahn« auf. Ein Blick darauf, und seine Augen blitzten, und in sein gewöhnlich blasses Gesicht stieg eine lebhafte Röte.
Was sieht er denn?
Nichts als eine weiße, jetzt ein wenig rostbraun angehauchte Fliederblüte, welche zusammengepreßt zwischen den zwei Seiten liegt, auf denen sich das Verzeichnis der Südbahn befindet.
Müller lächelt. Da ist ja der Weg ganz deutlich angegeben, der zu dem lang gesuchten Röhling führt.
Und außer der Fliederblüte spricht noch ein Zeichen dafür, daß der Flüchtige sich hier Rat holte. Die Blüte, welche an jenem Samstagabend von dem seinen Schreibtisch schmückenden Fliederstrauß unbeachtet auf die Blätter des Buches herabtaumelte, gibt das Datum an; eine schwache Bleistiftspur verrät, daß er sich für den Eilzug, des nachts um zwölf Uhr zehn in Richtung Neusteinau ging, entschieden hat.
Der Pedant konnte es, nach alter Gewohnheit, nicht unterlassen, die Stelle, die ihn interessierte, mit einem sichtbaren Zeichen zu versehen.
Auch Müller unterstreicht übrigens eine der Ankunftszeiten. Um sieben Uhr fünf abends kommt ein Schnellzug aus der Richtung von Neusteinau in der Residenz an.
Jetzt sieht er auch nach den gewöhnlichen Personenzügen, und siehe da: er findet, daß zehn Minuten nach Ankunft des Schnellzuges ein Personenzug denjenigen wieder zurückführen kann, der allenfalls nur zum Zweck einer Briefaufgabe nach der Metropole gekommen wäre.
»Es stimmt. Es stimmt ja alles!« sagte er und lächelte gutgelaunt.
Das Eisenbahnkursbuch in der Tasche, begab sich der Detektiv auf dem kürzesten Wege nach dem Polizeigebäude.
Als Müller in das Büro des Kommissars trat, war es bereits Abend geworden.
»Nun, was bringen Sie?« empfing ihn Ehrenfeld. »Sie sehen sehr abgespannt aus. Setzen Sie sich vor allen Dingen nieder.«
»Ich habe einen heißen Tag hinter mir«, sagte Müller erschöpft.
Der Kommissar schob ihm selbst einen Stuhl hin. Damit aber nicht genug, nahm er eine Flasche und ein Gläschen vom Wandschrank und kredenzte dem Detektiv ein goldgelbes Naß.
»Trinken Sie, Müller; dieser Kognak wird Sie wieder ins Gleichgewicht bringen.«
Müller kostete heut nicht zum erstenmal von Ehrenfelds altem Kognak. Als er das Gläschen geleert, war der Ausdruck der Abspannung aus seinen Zügen geschwunden.
»So, jetzt sehen Sie schon ganz anders aus«, bemerkte der Kommissar, »so siegesgewiß, als brächten Sie eine recht gute Nachricht. Betrifft es etwa den Fall Röhling?«
»Ja, Herr Kommissar«, antwortete Müller, »und Sie werden viel Neues von mir zu hören bekommen.«
Müller begann seinen Bericht mit der Entdeckung des Reifes am Oberarm des Exhumierten, welche ihm mit den weiteren Ermittlungen im Hospital den unwiderleglichen Beweis geliefert hatte, daß der Leichnam nicht der Veit Röhlings, sondern des im Hospital verstorbenen portugiesischen Seemannes Pedro Orfante sei. Hiernach konnte kein Zweifel mehr walten, daß Röhling den Leichnam aus der Totenkammer gestohlen hatte.
Jedenfalls war diese Tat unmittelbar nach Verübung des Diebstahls Freitag nacht geschehen, und Röhlings Besuch in Pfeffermanns Gärtnerei am darauffolgenden Samstagabend hatte keinen anderen Zweck gehabt, als sich dem alten Wellner zu zeigen und diesem den Glauben beizubringen, daß er hierauf noch mit Pfeffermann selbst zusammengewesen sei. Da er seitdem spurlos verschwunden und von niemand mehr gesehen worden war, so mußte auf Pfeffermann der Verdacht fallen, daß dieser, um sich die gestohlenen 30 000 Gulden anzueignen, seinen Vetter ermordet und dessen Leiche dann im Nachbargrundstück verscharrt habe. Um die Polizei auf die Spur der Leiche zu bringen, bediente sich Röhling der beiden anonymen Briefe. Gelang sein schurkischer Anschlag, so konnte er unter fremdem Namen seinen Raub ungefährdet genießen, denn als toter Mann war er vor den Nachforschungen der Polizei sicher, dann konnte er auch früher oder später mit Frau von Merburgs schönem Stubenmädchen, das einen so bezwingenden Eindruck auf ihn gemacht hatte, in Verbindung treten, um an ihrer Seite ein angenehmes Leben zu führen.
Der Kommissar begleitete Müllers Auseinandersetzungen mit zustimmendem Kopfnicken. »Wie aber war es Röhling möglich, sich in den Besitz des toten portugiesischen Seemanns zu bringen, ohne dabei entdeckt zu werden?« wollte er wissen.
»Seine Stellung und seine genaue Kenntnis aller Einrichtungen der Örtlichkeiten des Hospitals kamen ihm dabei zu Hilfe«, versetzte Müller, und wir lassen seinen weiteren Bericht, welcher das Ergebnis seiner heute im Hospital angestellten Nachforschungen war, hier folgen.
Die Särge der im Hospital Verstorbenen, welche des Nachts weggeführt werden sollten, pflegte man bereits nachmittags fünf Uhr zu verschließen. Um diese Zeit wurden auch die Seziersäle geschlossen, und niemand betrat dann mehr den Korridor, in welchen außer diesen Sälen auch die Totenkammer und Röhlings Kanzlei einmündeten. In der letzteren wurden sämtliche zu diesen Lokalen gehörige Schlüssel aufbewahrt, und für Röhling war es daher ein leichtes, sich überall Zutritt zu verschaffen. Die Särge waren aus weichem Holz verfertigt, und die wenigen Nägel, mit denen der Deckel befestigt wurde, ließen sich ohne Mühe entfernen. So konnte Röhling den Sarg des Portugiesen leicht öffnen; dann brachte er die Leiche jedenfalls in einem Sack unter, füllte den leeren Sarg mit Aktenbündeln aus, schloß ihn wieder und verbarg den Sack mit seinem unheimlichen Inhalt in dem geräumigen Schrank seiner Kanzlei, um ihn in der Nacht, wahrscheinlich nachdem er Pfeffermann bei der Villa Merburgs zurückgelassen, abzuholen.
Der Leser erinnert sich des kaum benutzten Pförtchens, welches sich, von einer Trauerweide beschattet, in der Mauer des Leichenhofes befand. Durch dieses Pförtchen verschaffte sich Röhling im Laufe der Nacht Eintritt, wozu er den in seiner Kanzlei aufbewahrten Schlüssel benutzte. Für Müller hatte sich dies aus dem Gespräch mit Lechner ergeben, welcher erst dieser Tage ganz zufällig den Schlüssel, noch im Schloß des Pförtchens steckend, entdeckt hatte. Er hatte weder diesem Fund noch dem Umstand, daß Schloß und Schlüssel frisch geölt waren, irgendwelche Bedeutung beigelegt, erst heute, als Müller eine Art Kreuzverhör mit ihm anstellte, ging ihm das Verständnis darüber auf. Von dem Pförtchen aus hatte Röhling leicht in seine nur zwanzig Schritte entfernte Kanzlei gelangen können, ohne von Lechner bemerkt zu werden, obwohl dieser das ihm wohlbekannte Hüsteln vernommen hatte. Röhling belud sich mit der im Schrank verborgenen Leiche, die nicht schwer war, und trug sie nach dem Ort, wo sie von Müller gefunden worden war.
Der Weg war nicht weit und selbst am Tage so selten betreten, daß der Leichenräuber bei Nacht noch viel weniger Gefahr lief, irgend jemand zu begegnen. Einen Spaten zum Graben mochte er sich ohne viel Mühe wohl aus Pfeffermanns Gärtnerei verschafft haben. Er brauchte nur über die Planke zu klettern, um zu der stets unverschlossenen Holzhütte zu gelangen, in welcher die Gartengerätschaften aufbewahrt wurden.
Zwar befand sich dieselbe in unmittelbarer Nachbarschaft des Häuschens, worin Wellner schlief, aber der Alte war schwerhörig und lag überdies um diese späte Stunde voraussichtlich in tiefem Schlaf. Ungehört von ihm, konnte Röhling das Werkzeug zu seiner grausigen Arbeit holen und es nach Beendigung derselben an seinen Aufbewahrungsort zurückbringen.
So lautete der Bericht des Detektivs über die überraschenden Ergebnisse, zu welchen seine heute im Hospital angestellten Nachforschungen geführt hatten. Dann erzählte er, was er im Papiergeschäft erkundet und wie im Anschluß an das hier Vernommene das in Röhlings Wohnung vorgefundene Eisenbahn-Kursbuch mit der verräterischen Fliederblüte und den unvorsichtigen Bleistiftstrichen ihm die Bestätigung geliefert habe, daß man wohl nicht fehlgehen werde, wenn man den Verbrecher in Neusteinau suche.
»Sie haben sich wieder sehr tapfer gehalten!« sagte der Kommissar, Müller die Hand schüttelnd. »Man wird sich Ihrer bei der nächsten Beförderung erinnern, und auch Merburg wird Ihnen gewiß ebenfalls seine Dankbarkeit beweisen. Ich zweifle nämlich nicht daran, daß Ihnen die Ergreifung Röhlings in nächster Zeit, vielleicht schon morgen, gelingen wird, und es ist hundert gegen eins zu wetten, daß Sie den größten Teil der gestohlenen Summe noch bei ihm finden werden, denn ein Knicker wie er pflegt auch mit dem Geld eines andern sparsam umzugehen.«
»Das glaube ich ebenfalls. Es zieht keiner seine Natur aus.«
»Inzwischen habe ich versucht«, fuhr der Kommissar fort, »dem anonymen Briefschreiber abermals eine Falle zu stellen.«
»Sie haben wieder inseriert?« fragte Müller.
Ehrenfeld reichte ihm die heutige Nummer der Zeitung hin.
»S. M. – R. noch immer nicht gefunden. Man bedarf dringender deutlicherer Anhaltspunkte«, stand da in fetten Lettern zu lesen.
»Er wird die Antwort nicht schuldig bleiben«, bemerkte Müller, »doch möchte ich die Reise nach Neusteinau nicht verschieben.«
»Ganz gut«, stimmte der Kommissar bei. »Reisen Sie morgen schon. Wie wäre es, wenn Laßnitz Sie begleitete?«
»Der Mann ist zuverlässig.« Müller nickte. »Ich nehme ihn mit.«
Am folgenden Nachmittag traf Müller, von Laßnitz begleitet, in Neusteinau ein.
Es war ein ziemlich belebter Fabriksort, aber noch sehr altertümlich ob seiner krummen Gassen und seiner unregelmäßigen Häuser, zu welchen die nüchtern erbauten Fabriken mit ihren mächtigen Schloten gar wenig paßten.
Die Papierhandlung von Josef Moretzky war bald gefunden. In dem Auslagefenster waren Schreibmaterialien aller Art ausgestellt.
Laßnitz, der in den Zweck dieses Ausflugs vollständig eingeweiht war, zeigte sehr lebhaft auf eines der ausgestellten Briefpapier-Päckchen.
»Wenn's das wäre! Es ist auch schon an den Rändern vergilbt, wie das Papier, nach welchem Sie fahnden.«
Müller trat in den Laden. Laßnitz folgte ihm.
»Kann ich Briefpapier haben?« fragte Müller.
»Gewiß, von allen Arten.«
»Also ein kleines Format: Oktav.«
»Bitte, hier sind mehrere Sorten.«
»Mir alles zu dick, zu glänzend. Dünnes, wenig satiniertes Papier möchte ich haben.«
»Davon haben wir noch einen kleinen Vorrat. Es wird wenig gebraucht und liegt schon jahrelang am Lager.«
Der treffliche Herr Moretzky öffnete das Auslagefenster und holte das Päckchen herein, wonach sein genügsamer Kunde Verlangen trug.
Müller nahm einen Bogen heraus, besah ihn genau und bemerkte mit Genugtuung die beiden gekreuzten Anker.
»Ich nehme das ganze Päckchen. Ich bin ein Liebhaber des Altmodischen, was freilich in unseren Tagen ein wenig lächerlich ist.«
»Oh, mitnichten, verehrter Herr, mitnichten! Es gibt auch noch andere Leute, welche nicht auf dem modernen, steifen Papier schreiben wollen.«
»So, also haben Sie auch noch andere Abnehmer für diesen Ladenhüter?«
»Gewiß. Der kranke Herr von dort drüben, der seit einiger Zeit im ›Goldenen Adler‹ wohnt, hat sich auch von dieser Sorte gekauft.«
»Vielleicht nur, weil es die billigste ist, die Sie haben.« Herr Moretzky lächelte.
»Mag schon sein. Das Sparen scheint er zu verstehen. So hat er sich beim Nachbar Hutmacher einen abscheulichen grünen Filz gekauft, bloß weil dieser um einen Gulden billiger war als die anderen Hüte.«
»Ja, es gibt solche Käuze, die unnötigerweise knickern. Was hat denn dieser Herr für eine Beschäftigung?«
»Er hat derzeit keine. War wohl lange krank, hat sogar eine Operation überstanden. Da tritt er eben auf die Straße. Ah, der verreist wieder einmal.«
Der gesprächige Papierhändler hatte zum Glück schon auf den Gulden, den Müller ihm hingelegt, herausgegeben, sonst wäre ihm wohl die Eile aufgefallen, mit welcher sich jetzt die beiden Herren entfernten.
»Das nenne ich Glück!« murmelte Müller, der den hageren Mann mit dem häßlichen grünen Hut und der alten roten Ledertasche nicht aus den Augen ließ.
»Ist das also Ihr Mann?« flüsterte Laßnitz ihm zu.
»Zweifellos.«
»Sie haben ihn früher nie gesehen?«
»Nur seine Fotografie.«
»Die muß demnach sehr ähnlich sein, da Sie ihn gleich erkannten.«
»Im Gegenteil«, antwortete Müller, »die Fotografie hat sehr wenig Ähnlichkeit mit dem Original. Der Mann muß sehr krank gewesen sein, denn nur ein schweres Leiden pflegt das Äußere eines Menschen so plötzlich zu verändern.«
»Der Papierhändler sprach von einer Operation.«
»Ja, und Röhling trägt, wie ich sehe, noch den linken Arm in der Binde.«
Röhling nicht aus den Augen lassend, gingen beide hinter ihm her.
Der Bahnhof lag vor ihnen.
Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zum Eintreffen des Kurierzuges. Es war derselbe, welcher um sieben Uhr fünf in der Hauptstadt eintraf, von wo man nach kurzem Aufenthalt noch an demselben Abend zurückkehren konnte.
Müller und Laßnitz hatten sich nahe der Ausgangstür niedergelassen. Sie beachteten scheinbar den ruhelos auf und ab schreitenden Röhling nicht.
»Ich möchte wetten, daß er das gestohlene Geld überall mit sich herumschleppt«, flüsterte Müller seinem Kollegen zu.
Dieser nickte. »Wozu sonst als zur steten Fluchtbereitschaft nähme er Gepäck mit sich?«
»Ja«, entgegnete Müller, »und diese alte rote Reisetasche ist's eben, woran ich ihn erkannt habe. Die Fotografie stellt ihn als einen Mann von durchaus gesundem Äußeren dar, der da aber ist ja ein Gerippe mit einem Totenschädel.«
»Er hat ein abscheulich geformtes Kinn.«
»Früher deckte es ein Bart«
»Und graues Haar.«
»Vor vier Wochen war es noch schwarz.«
»Und die Blässe?«
»Wir gaben im Steckbrief an: frische Gesichtsfarbe. Aber das alles erklärt sich durch seinen sichtlich leidenden Zustand.«
In diesem Augenblick wurde der Schalter geöffnet. Röhling war von dem Dutzend Passagieren, welche sich zur Abfahrt eingefunden hatten, der erste, der seine Karte löste.
Laßnitz, der dicht hinter ihm stand, hörte, daß er eine Karte nach der Hauptstadt verlangte, und löste für sich und Müller erst die Karten, als Röhling sich wieder vom Schalter entfernt hatte.
Die beiden Polizisten stiegen dicht hinter dem nichtsahnenden, aber doch recht mißtrauisch nach ihnen blickenden Dieb in dasselbe Abteil ein.
Laßnitz saß Röhling gegenüber. Müller hatte auf Röhlings Seite am anderen Ende des Sitzes Platz genommen. Die drei Insassen des Abteils verhielten sich schweigsam. Röhling zog sehr bald eine Zeitung aus seiner Rocktasche. Es war die heutige Nummer der ... Zeitung, worin der Aufruf an S. M. stand.
Er las wahrscheinlich gar nicht darin, aber er hielt sie zwischen sich und sein Gegenüber, dessen beobachtende Blicke ihm wohl unangenehm sein mochten.
Als man sich der Hauptstadt näherte, brach Müller das bisherige Schweigen und begann von seiner Ecke aus ein Gespräch mit seinem Kollegen. »Wissen Sie schon«, rief er diesem zu, »daß man den verscharrten Leichnam gefunden hat? Er befand sich wirklich an dem Ort, den der Anonymus S. M. angegeben hat.«
Die beiden Polizisten beobachteten verstohlen die Miene ihres Mitreisenden. Er bot das Bild eines Menschen, der mit Anstrengung all seiner Sinne lauschte.
»Ich habe bereits davon gehört«, erwiderte Laßnitz auf die Bemerkung Müllers, »wissen Sie aber auch, daß der exhumierte Leichnam mit dem Dreißigtausend-Gulden-Dieb gar nicht identisch ist?«
Laßnitz bemerkte, wie das Gesicht seines gespannt lauschenden Gegenübers plötzlich aschfahl geworden war. Auch Müller entging es nicht; wäre er bis jetzt noch nicht sicher gewesen, daß er wirklich Röhling vor sich habe, so würde jetzt sein letzter Zweifel verschwunden sein.
»Ihnen scheint unwohl zu sein«, sagte Laßnitz zu Röhling und öffnete ein Fenster.
»Durchaus nicht«, antwortete dieser, den Kopf schüttelnd.
»O doch!« ergriff Müller das Wort, indem er sich ihm gegenübersetzte. »Ihr Arm scheint Sie zu schmerzen. Kein Wunder, wenn man sich erst mit einer Feile den Finger verletzt und dann Leichengift in die Wunde bringt. Eine Blutvergiftung verbreitet sich rasch weiter. Gibt der Arzt Hoffnung, daß Ihnen die Operation etwas helfen werde?«
Röhling war gebrochen zusammengesunken.
»Ich hatte doch recht! Es ist Ihnen wirklich unwohl«, bemerkte Laßnitz.
»Ei, wie unvorsichtig!« fügte Müller hinzu, als Röhling den Hut abnahm, um sich den kalten Schweiß von der Stirn zu wischen. »Ich will nicht davon sprechen, daß Sie sich infolge des Luftzuges, der zu dem offenen Fenster hereindringt, einen tüchtigen Schnupfen holen können; aber wenn man eine Narbe auf der Stirn zu verbergen hat, behält man hübsch den Hut auf. Übrigens läuft Ihre Narbe schräg, während die Narbe des Portugiesen – Sie wissen ja, ich meine Pedro Orfante – in senkrechter Richtung verlief.«
Röhling hatte sich während dieser Rede trotzig aufgerichtet. Er war sichtlich bereit, sich gegen diesen Mann, der sich so genau unterrichtet zeigte, zu wehren.
»Herr! Wer sind Sie?« rief er.
»Das werden Sie erfahren, noch ehe Sie dieses Abteil verlassen«, gab Müller ruhig zur Antwort »Oh, bitte, bemühen Sie sich nicht«, setzte er hinzu, als er Röhling eine Handbewegung nach der Wagentür machen sah. »Es ist ja doch außen abgesperrt, ich habe schon nachgesehen und hätte das selbst besorgt, falls etwa der Kondukteur seine Pflicht vernachlässigt hätte.«
Röhling warf seinem Peiniger einen Blick zu, in dem ein so gewaltiger Haß lag, daß selbst Müller, der naturgemäß doch schon mit vielen gefährlichen Menschen verkehrt hatte, sich davon unheimlich berührt fühlte. Plötzlich fuhr Röhling blitzschnell nach seiner Rocktasche, stieß aber gleich darauf einen Schrei ohnmächtiger Wut aus.
Laßnitz hatte ihm den hervorgezogenen Revolver entrissen.
Dabei waren aus Röhlings Tasche zwei Briefe gefallen. Müller hob sie schnell auf.
»Ah, das ist die Antwort auf unseren gestrigen Aufruf in der Zeitung. Na, Mann, Sie sind prompt. Und der zweite Brief ist an Fräulein Minna Gabler gerichtet, an das schöne Stubenmädchen der Frau Baronin Merburg, wohl eine Einladung zu einem Rendezvous? Ein Heiratsversprechen, he?«
Röhling zitterte vor Wut. An einem tätlichen Angriff sah er sich durch Laßnitz, welcher beständig den Revolver schußfertig auf ihn gerichtet hielt, verhindert, aber wenn Blicke töten konnten, so wäre es den beiden Polizisten übel ergangen.
»Ich konnte mir's denken«, fuhr Müller fort, »daß Sie heute oder morgen mit diesem Zug nach der Hauptstadt fahren würden, um Ihr Geschäft am Briefkasten abzutun. Sie haben diese Tour schon zweimal gemacht. Nehmen Sie dabei stets diese Reisetasche mit? Das ist eine sehr gefährliche Begleiterin, die auch in Ihrem Steckbrief beschrieben ist, den Sie nicht gelesen zu haben scheinen. An Ihrem Gesicht habe ich Sie nicht erkannt, nur die rotlederne Tasche hat Sie mir verraten.«
Müller langte scheinbar ganz harmlos nach der Tasche, und seine scharfen Augen sahen dabei, wie Röhlings knöcherne Hand die Tasche krampfhaft festhielt.
»Sie haben also richtig das ganze Geld bei sich?« Müller lächelte. »Oder wollten Sie endlich das Weite suchen, vielleicht hoffend, daß die hübsche Minna Sie begleite?«
»Was ich wollte, kümmert Sie nicht!« knirschte Röhling, sich in sein Schicksal ergebend. »Ich bin nun einmal in Ihrer Hand. Hölle und Teufel! Und das alles habe ich für nichts getan, für weniger als nichts!«
»Ja«, Müller nickte, »das ist bei den meisten Verbrechen das Ende vom Liede, mögen sie auch mit noch so großem Raffinement ausgeführt sein. Übrigens sind wir am Ziel. Veit Röhling – Sie sind verhaftet.«
Langsam fuhr der Zug in die Bahnhofshalle.
Am anderen Morgen wurde Baron Merburg zur Polizei gerufen, woselbst man ihm das geraubte Geld, von dem nur einige hundert Gulden fehlten, einhändigte.
Das Fehlende hatte zum großen Teil die Operation verschlungen, welcher Röhling sich hatte unterziehen müssen.
Der Baron übergab Müller, dem er lebhaft dankte, einen Tausender.
Einige Tage später kehrte Pfeffermann zu seiner Tochter zurück.
Er kam aber nicht allein. Müller begleitete ihn und gab sich der erstaunten Marie als jenen Gehilfen zu erkennen, der ihr so treu – wahrhaftig treu gedient, ihr und ihrem Vater.
Müller kam von nun an häufig in die hübsche Gärtnerei, er war ein Freund Pfeffermanns und seiner braven Tochter geworden.
Röhling wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, erlebte aber das Ende seiner Straftat nicht.
Pedro Orfante hatte sich doch zu nachdrücklich an ihm gerächt.