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Es ist leider wahr, viel Schönes habe ich von dem jüngsten meiner Freunde noch nicht berichten können. Ich habe mitteilen müssen, daß er vor dem Schlafengehen seine selbstverständlichsten Pflichten nicht erfüllen wollte, daß er sich dann mitten in der Nacht auf einen Löwen, auf ein Nashorn, kurz auf eine ganze Menagerie kaprizierte. Ich bitte Sie, mitten in der Nacht! Ich habe das alles ohne Beschönigung erzählt, denn das war kein Benehmen für einen wohlerzogenen jungen Mann, und ich hatte es ihm angedroht; freilich 45 ohne besonderen Erfolg damals, aber Strafe muß sein, und seither hat er sich doch ganz gewaltig geschämt, daß seine Schande publik geworden.
Wir werden alt, es ist nicht zu leugnen! Nicht wahr, ein sehr sinnreiches Mittel, mich durch so weise Sentenzen einschmeicheln zu wollen. Was kann man machen? Der Wahrheit kann man sich doch nicht verschließen. Die Kinder machen uns alt, wir können's nicht ändern. Wie sie um uns herum in die Höhe schießen; wie sie nachdrängt, die junge Brut – kann man sich dagegen wehren?
Wie rasch ist die Zeit verflogen, seit ich von Rudis Jugendstreichen berichten konnte! Nun sind die Jugendstreiche abgetan, die Periode des Sturmes und Dranges ist überwunden, die Zeit des ernsten Studiums, die Zeit der Wissenschaft ist angebrochen – Rudi lernt lesen. Der Anbruch einer so wichtigen Epoche im Leben meines jungen Freundes verdient doch bemerkt und besprochen zu werden. Das Steinchen ist im Rollen, wer weiß, was es da noch für eine Lawine geben wird! Die Tore sind aufgetan zu einer weiten unbekannten Zukunft – Rudi lernt lesen.
Was daraus noch werden kann, das ist ja gar nicht abzusehen. Was wird Rudi mit seiner Wissenschaft beginnen, welchen praktischen Gebrauch wird er davon machen? Am Ende wickelt sich da noch ein Konkurrent für mich heraus – dumm genug wäre er dazu. Ja, er ist dumm; reden Sie mir nicht auch noch darein, wie seine Mama, die ihn für einen Ausbund von Weisheit hält. Oder ist das nicht dumm, wenn 46 er jetzt schon in edler Besorgnis für die Zukunft die Befürchtung hegt, daß ihm nichts mehr übrig bleiben werde, in der Schule zu lernen, wenn man ihm jetzt schon so viel beibringe?
Sie wissen, daß ich mit Herrn und Madame G., dem würdigen Elternpaar Rudis, sehr gut stehe. Ich gehe aus und ein bei G.s, und wenn ich um die Mittagszeit erscheine, wird ohne weitere Bemerkung ein Kuvert für mich aufgelegt und ich bleibe ohne weitere Bemerkung. Es gibt Dinge und Verhältnisse, die sich zu angenehmen Selbstverständlichkeiten herausentwickelt haben. Bei Tische nun haben auch die zwei Buben das Wort. Sie erinnern sich ja doch, daß es ihrer zwei waren; der ältere Béla, Belus oder der Kürze halber auch nur Beludschistan genannt, und Rudi. Da reden die beiden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und da können sie am unauffälligsten beobachtet werden.
Beludschistan hat eine leichte Neigung zur Aufschneiderei. Er kommt immer mit Mordgeschichten aus der Schule nach Hause und gefällt sich in der Schilderung von Gefahren, die er oder seine Freunde glücklich überstanden haben. Die Wirkung dieser abenteuerlichen Geschichten ist zumeist auf Rudi berechnet, der von der Welt noch gar nichts weiß und der daher mit ungeheurem Respekt all diese seltsamen und großartigen Dinge vernimmt, die er ja auch dereinst erleben soll. Mit seiner letzten Erzählung hat Beludschistan allerdings kein rechtes Glück gehabt. Neulich, berichtete er, habe sein Freund Novotny eine ungemein interessante 47 und gefahrvolle Landpartie gemacht. Im Walde auf dem Leopoldsberg liege der Schnee noch mannshoch, der Novotny sei aber kühn vorgedrungen. Plötzlich sei er im Schnee ausgeglitten, sei einen Abgrund hinuntergestürzt und unten endlich mitten in den Brennesseln liegen geblieben. Es sei ihm aber nichts geschehen. Die eigentliche unausgesprochene Pointe aller dieser Geschichten, die Belus auftischt, ist der stille Vorwurf, daß ihm so beneidenswerte Erlebnisse nicht gestattet seien. Die Einwendungen, die gegen diese Geschichte erhoben wurden, brachten den Erzähler in Verwirrung. Herr G. fand nämlich, daß da etwas aufgeschnitten sein müsse, entweder der Schnee oder Brennesseln – beides gedeihe nicht gleichzeitig.
Bei Tische, man kann es nicht anders sagen, ist Rudi der Märtyrer seiner Bravheit. Es ist ja genugsam bekannt, daß die Ansichten der Menschen über den Wohlgeschmack der verschiedenen Gerichte sehr verschiedene sind. Obschon nun Beludschistan, wie sein Rabenvater nicht müde wird zu behaupten, ein großer Fresser ist, ist er doch sehr wählerisch hinsichtlich aller Gänge, welche über das Repertoire der Fleischnahrung und aller erdenklichen süßen Speisen hinausgehen. Er hat da seinen eigenen Kopf, den setzt er auf, und alle Bitten, Versprechungen, Drohungen, ebenso wie alle Hinweise auf das unglückliche Los des armen Suppenkaspers verfangen nicht mehr. Man hat gut sagen, er werde ein Schwächling bleiben und alle seine Kameraden würden ihn schmählich durchprügeln, wenn er dem Spinat nicht die gehörige Ehre erweisen werde. Es 48 nützt alles nichts, er kennt schon zu viel von der Welt, und er prügelt schon selbst tapfer mit.
Daran trägt zum guten Teil Herr G. die Schuld, man kann ihn nicht freisprechen davon. Eines Tages sitzt Beludschistan ganz still und gedrückt, wir sagen »dasig«, bei Tisch. Die Sache scheint unerklärlich, und Madame G. sieht schon in tiefer Besorgnis eine Typhusepidemie oder die schreckliche Diphtheritis im Anzuge. Herr G. inquiriert hart und erbarmungslos, was es gegeben habe. Beludschistan kämpft mit den Tränen, er weiß, daß Papa die Heulerei nicht mag und darüber wütend wird, aber der Kampf ist erfolglos, die Tränen brechen hervor.
»Nicht weinen!«
Beludschistan benutzt die Serviette als schmerzstillendes Mittel, sein Taschentuch hat er wieder einmal verloren, und die arme unschuldige Mama erhält dafür von Herrn G. einen Blick zugeworfen, den sie sich nicht an den Spiegel stecken wird.
»Augenblicklich sagen, was es gegeben hat!«
»Der – der Novotny hat mir eine Ohrfeige gegeben.«
Herr G. ist starr.
»Und du Esel hast sie ihm nicht sofort zurückgegeben? Du bist ein Feigling; jetzt schau' ich dich nimmer an!«
Nachmittags kommt Belus mit strahlendem Gesichte aus der Schule nach Hause gestürmt, fällt Herrn G. um den Hals und ruft: »Papa! Papa! Ich habe sie ihm zurückgegeben.«
Es war eine feierliche Szene edler Rührung, deren nachwirkende Kraft dadurch allerdings einigermaßen 49 beeinträchtigt wurde, daß der Junge nun dem ihm empfohlenen Handwerk gar zu sehr auf den Geschmack gekommen ist. Seither verfängt also das durch die Ausmalung der schrecklichen Folgen des unzulänglichen Suppen- oder Spinatgenusses heraufbeschworene Gespenst der mangelhaften Wehrkraft nicht mehr, er weiß es besser.
Sie schütteln den Kopf zu dieser Erziehungsmethode – vielleicht nicht mit Unrecht; aber die Sache hat doch ihre zwei Seiten. In dem entmannenden und entnervenden, tintenklecksenden Säkulum, in dem wir leben, verschlägt es gar nichts, wenn wir es uns angelegen sein lassen, unsere Jungen möglichst hart zu schmieden. Unsere Jungen, wie hübsch das klingt! Finden Sie nicht? Oho! Gleich so schwer gereizt? Nun, nun, ich bin schon still. Um also auf unsere – auf die Jungen zurückzukommen, es geschieht ja in ihrem Interesse. Sie werden Gassenbuben, fürchten Sie. Mag sein, das schadet nichts; das ist das kleinere Übel. Geprügelt wird einmal in diesem Leben, und da habe ich mir sagen lassen und außerdem in vielen wissenschaftlichen Werken nachgelesen, daß es besser ist, selbst zu prügeln, als geprügelt zu werden. Besser Hammer, als Amboß.
Während also mit dem Älteren nichts mehr anzufangen ist im Punkte der unliebsamen Gemüse, kann Rudi noch ganz gut gefoppt werden, und er wird gefoppt. Wenn so eine verdächtige Schüssel aufgetragen wird, wird sofort mit Entzücken ausgerufen: »Ach, dieser Kohl ist aber gut, ach, so gut! Und der Rudi ist so brav, ach, so brav! Geben Sie nur acht, Onkel Groller, 50 wie der Rudi davon essen wird! Geben Sie nur acht, ein so braves Kind haben Sie sicher noch nicht gesehen!« Onkel Groller gibt also gut acht, und Rudi, dessen Ehrgeiz entflammt ist, legt sich nun ins Zeug. Bei jedem Bissen, den er, sehr contre coeur, hinabwürgt, ruft der kleine heuchlerische Schuft mit Emphase: »O, das ist so gut!« Diese Ausbrüche der Begeisterung sind auf den schlimmen Belus gemünzt, nicht sowohl um dessen Besserung zu erzielen, sondern um seinen Neid zu erwecken. Dabei läßt aber unser Märtyrer der erheuchelten Bravheit doch bei jedem Bissen einen Blick auf seinen mit so glücklicher Schlechtigkeit veranlagten Bruder hinüberfliegen, der sehr deutlich den Neid erkennen läßt, daß jener es gar so gut und bequem hat, da er nicht für die Aufrechterhaltung eines guten Rufes Opfer zu bringen hat. Denn in Wahrheit schmeckt ihm die teuflische Erfindung der eingebrannten Kohlsprossen ganz und gar nicht, und wenn er ehrlich sein dürfte, dann könnte man schon etwas erleben, wie er sich zu dieser eingebrannten Schändlichkeit stellen würde.
Belus wird natürlich von den entzückten Ausrufen Rudis gar nicht gerührt, er fühlt die Absicht und rächt sich dafür in nicht eben edler Weise. Er examiniert Rudi, und Rudi besteht schlecht, er blamiert sich scheußlich. Erst kommen die Präliminarien; Belus behauptet, Rudi wisse noch gar nichts, wogegen sich Rudi stolz in die Brust wirft und erklärt, er wisse alles.
»Wie viel ist denn zwei und zwei?«
Rudi verlegt sich aufs Raten, und er hat kein Glück damit. Wenn er eine falsche Angabe macht, dann tut 51 er, als hätte er sich geirrt. Er korrigiert sich rasch und versteigt sich in weitere Unmöglichkeiten. Wird nun die Geschichte gar zu fabelhaft, dann legt der pädagogische Ernst Herrn G.s sich ins Mittel.
»Rudi, wenn ich dir zwei Nüsse gebe –«
»Nein, keine Nüsse, ich mag keine Nüsse!«
»Also, wenn ich dir zwei Äpfel –«
»Ja, ja, Äpfel!«
»Gut. Also, wenn –«
»Nein, erst geben; früher rechne ich nicht!«
»Aber –«
»Nein, nein! Erst die Äpfel! Du hast mir's versprochen! Dann krieg' ich sie wieder nicht!«
»Aber man braucht ja die Äpfel nicht zum Rechnen.«
»Siehst du! Jetzt willst du sie wieder nicht hergeben. So gib mir zwei Pomeranzen dafür!«
»Zwei Pomeranzen sind zu viel für ein Kind.«
»So gib mir eine.«
Man kommt mit dem Rechnen nicht vorwärts, und Belus hat seine Schadenfreude daran, die nicht immer eine stille bleibt. Nach der Mathematik kommen andere Wissenschaften an die Reihe.
»Rudi, wie heißt der Buchstabe mit dem i-Tüpferl?«
Rudi weiß es nicht.
»Wie heißt der Buchstabe mit dem u-Stricherl?«
Rudi weiß es nicht. Diese verbotenen Suggestivfragen sind schon hundertmal an ihn gerichtet worden, er hat sie nie zu beantworten gewußt. Belus blickt triumphierend in die Runde wie ein Tierbändiger, der soeben eine prächtige Produktion mit dem Löwen geleistet. 52 Madame G. nimmt Rudi in Schutz, er könne das nicht wissen, und das sei auch nicht zu verlangen von ihm.
Allgemeines Schweigen.
Woher sollte er es denn wissen, da er es noch nicht gelernt? Solche Kenntnisse bringe man doch nicht mit auf die Welt. Man frage nur einen Australneger, wie der Buchstabe mit dem i-Tüpferl heiße, ob man von dem wohl die richtige Antwort erhalten werde.
»Rudi ist ein Australneger!« ruft Belus mit großem Hallo! Rudi protestiert, und es entsteht ein Streit, der nur durch die Intervention Herrn G.s geschlichtet werden kann.
»Der Rudi hat angefangen;« behauptet Belus zum Schluß.
Da ward es denn beschlossen, daß es so nicht länger fortgehen könne, Rudi müsse lesen lernen. Der Rudi lernt lesen! Der Beschluß wirkt wie eine erstaunliche Tatsache, man kann sich nicht gleich fassen. Dann aber verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer. Belus ist eitel Feuer und Flamme, er stürmt mit dem großen Wort in die Küche, die Köchin trägt es weiter, es gewinnt Flügel. Der Wind nimmt es auf den Rücken, bald weiß man es überall: der Rudi lernt lesen!
Onkel Groller, Baldachin Groller, wird als Schriftgelehrter und Literaturkundiger damit betraut, eine Fibel zu besorgen. Durch eine wahrhaft glühende Schilderung dieses herrlichen Buches weckt er Rudis Sehnsucht nach demselben. So viel Objektivität hat sich dieser dabei allerdings doch noch bewahrt, um flüsternd auch noch einen anderen Wunsch aussprechen 53 zu können: »Bring' mir auch wieder ein paar Briefmarken mit, aber recht ausländische!«
Armer Rudi; die Fibel ist besorgt worden. Deine goldene Jugendzeit ist dahin. – Wenn es Sie nicht langweilt – ich hoffe übrigens, daß es nicht der Fall ist, Sie geben sich ja gern mit Kindern ab – so erzähle ich Ihnen ein nächstes Mal gelegentlich, wie es in einer solchen Lesestunde zugeht. Das Wichtigste wissen allerdings auch Sie jetzt schon: Rudi lernt lesen!