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Das zweite Frühstück ging zu Ende. Der Notar Loysel schob seine Kaffeetasse zurück, warf seine Serviette auf den Tisch und erhob sich in der heitern Stimmung eines guter Verdauung gewissen Menschen.
Frau und Sohn standen gleichfalls auf. Frau Loysel trat an ihres Mannes Platz, faltete sorgfältig seine Serviette und steckte sie in den schweren silbernen Ring, was er lächelnd beobachtete.
»Du wirst heute Besuche machen?« fragte er in einschmeichelndem Tone.
»Ich?« gab sie verwundert zurück. »Ich hatte es nicht im Sinn ...«
»Thu's nur. Einen schöneren Tag als den heutigen findest du nicht, und es kommt mir vor, als ob du deine Freunde in letzter Zeit etwas vernachlässigt hättest. Auch ist ja Frau Firminys Empfangstag, und Armand wird sich nicht lange bitten lassen, dich zu begleiten, oder ...? Du hast zwar deine Braut heute früh erst gesehen ...«
Armand lächelte. Berthilde nach diesem köstlichen Morgenausflug wiederzusehen, hatte seinen besonderen Reiz.
»Aber ich habe vielerlei im Haus zu thun,« wandte Frau Loysel etwas unschlüssig ein. »Ich wollte meinen Wäscheschrank einräumen, alte Briefschulden los werden ...«
»An diesem herrlichen Tag! Davon kann nicht die Rede sein!« erklärte der Gatte aufs entschiedenste. »Das kannst du ebensogut morgen thun, heute machst du Besuche. Du nimmst in Clermont-Ferrand eine gesellschaftliche Stellung ein und mußt sie behaupten, außerdem machst du mir eine Freude damit, Marie,« schloß er mit einem Blick, gegen den er sie wehrlos wußte.
»Dann soll es geschehen,« versetzte sie errötend.
Armand verließ das Zimmer, und der Notar legte leicht den Arm um die rundlichen Schultern seiner Frau.
»Ja, es macht mir Freude,« wiederholte er noch zärtlicher.
Seine Lippen berührten ihren weißen Hals, und sie wandte rasch den Kopf, um seinen Kuß leidenschaftlich zu erwidern.
»Du weißt es wohl, daß ich dir alles zuliebe thue,« sagte sie mit fröhlicher Stimme.
»Darum liebe ich dich auch so,« versicherte er, sich etwas zurückziehend.
Sie blickte zu ihm auf wie ein treuer Hund, der seinen Gebieter bewundert.
»Ich erwarte Klienten,« sagt er, ans Fenster tretend. »Der ganze Tag ist besetzt, aber der Abend gehört uns, und morgen, denke ich, werden wir zusammen nach unserm Landhause sehen können.«
»Wie es dir paßt,« erwiderte sie mit verliebtem Blick.
Der Notar lächelte. Er war, was man einen schönen Mann nennt, und trug seine sieben- oder achtundvierzig Jahre mit bemerkenswerter Leichtigkeit. Das ergrauende Haar dämpfte das jugendliche Feuer seiner etwas unsteten und spöttischen Augen keineswegs. Seinen schmalen, scharfgeschnittenen Lippen wurde das Lächeln leicht, liebenswürdige Redensarten waren ihnen geläufig. Loysel war ein erfolgreicher Mann. Er hatte in jungen Jahren diese ebenso hübsche als reiche Frau geheiratet, und nichts hatte je das Glück seiner Ehe getrübt. Sein Wohlstand hatte sich von Jahr zu Jahr vermehrt, der einzige Sohn hatte ihm keine trübe Stunde bereitet. Wohl gab es in Clermont etliche Leute, die ihn nicht sehr günstig beurteilten, aber er that, als ob er davon keine Ahnung hätte, worin immer eine Macht liegt, und trug als begüterter, schöner und auch einflußreicher Mann seinen Kopf sehr hoch.
»Also abgemacht!« sagte er. »Nun geh und kleide dich an, Marie, es ist schon zwei Uhr. Mach dich schön, damit ich Ehre mit dir einlege! Du siehst merkwürdig jung aus. – Kein Mensch würde dir den großen Jungen zutrauen! Schade, schade, daß du übers Jahr vielleicht schon Großmutter werden kannst!«
»Wenn ich nur in deinen Augen jung bleibe, mach' ich mir gar nichts daraus!« rief sie.
Er küßte ihr ritterlich die Hand und sagte herzlich, aber mit einer gewissen Herablassung: »Immer jung, immer hübsch, immer nach meinem Herzen!«
Als der Notar die Thür nach der großen, auf die Hausstaffel mündenden Vorhalle öffnete, fiel sein Blick auf einen jungen Menschen, der ihn, barhäuptig und stehend, erwartete. Zwei Landleute unterhandelten mit einem von seinen Gehilfen.
»Du bist's, Grésil?« sagte der Notar verdrießlich.
»Ja, ich bin's, Herr Notar ... es freut Sie wohl nicht?«
»Wie man's nimmt ... Du bist also aus dem Gefängnis entlassen?«
Die Bauern spitzten die Ohren; der junge Mensch wurde dunkelrot.
»Ja, Herr Notar, heute früh bin ich entlassen worden, wie Sie zu sagen belieben.«
»Und dein erster Besuch gilt mir? Sehr schmeichelhaft!«
»Ja, Herr Notar, zu Ihnen komme ich ... gerade vom Gefängnis ... Sie wissen's aber wohl, daß ich nicht hineingehört hätte, und wenn Sie hätten sagen mögen, wie sich die Sache verhielt, oder dem Herrn Armand erlauben, daß er's gesagt hätte ...«
»Zur Sache, Grésil, ich bitte dich,« unterbrach ihn der Notar mit finsterer Miene.
»Ich bleibe bei der Sache, Herr Notar ... ich bin mitten drin! Ich habe vierzehn Tage sitzen müssen zur Strafe für Hiebe, die ich bei einer Rauferei ausgeteilt haben soll, und in Wahrheit war ich gar nicht dabei, wie Sie genau wissen.«
»Das heißt, wie du sagst!« versetzte der Notar höhnisch.
»Ich sag's, und Sie wissen so gut als ich, daß es wahr ist. Wer gehauen hat, das war der Brichol, Herr Notar, aber es paßte Ihnen nicht, daß er's sein sollte.«
»Was sollte mir daran liegen?« fragte der Notar obenhin.
»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen ... ich hatte ja vierzehn Tage Zeit zum Nachdenken.«
»Und wie erklärst du's dir?«
»Das ist meine Sache ... nichts für ungut, Herr Notar ... die Hauptsache ist, daß ich unschuldig bin ...«
»Bist du bald zu Ende mit deiner Litanei?« herrschte ihn der Notar an.
»Alsbald, Herr Notar,« versetzte der junge Mensch mit energischem Selbstgefühl, das sogar den Notar verblüffte. »Ich war unschuldig, und Sie wußten es. Ein Wort von Ihnen, und ich wäre frei ausgegangen. Sie wollten dieses Wort nicht sprechen, ja, Sie haben Herrn Armand, der für mich eintreten wollte, daran verhindert, indem Sie ihm weis machten, ich wäre schuldig. Jetzt habe ich eine Gefängnisstrafe abgesessen, und das ist für einen anständigen Menschen kein Spaß, so etwas läuft einem nach.«
»Ach! Wenn man ein gutes Gewissen hat ... und es war ja kein Diebstahl ...«
»Nichtsdestoweniger habe ich eben gesessen, weshalb, danach zu fragen, ist den Leuten zu umständlich. In meiner Werkstatt nimmt man mich nicht mehr ... was soll ich anfangen? Andre Meister werden mir auch die Thür weisen, und was soll aus meiner alten Großmutter werden, wenn ich ohne Verdienst bin?«
»Da geht man eben anderswo hin ... wo man nicht bekannt ist.«
»Ich, jawohl, aber die Großmutter? Sie ist, wie Sie wissen, gebrechlich und kann nicht mit dem Ränzel auf die Wanderschaft ziehen und Arbeit suchen.«
»Meine Frau und die Firminyschen Damen haben in deiner Abwesenheit für sie gesorgt.«
»Die Frau Notar ist gut wie die liebe Sonne ... und wie Fräulein Berthilde ist, weiß ich ... auch Herr Armand hat sie besucht. Deshalb muß ich aber doch mein Brot verdienen. Von Almosen wollen wir nicht leben.«
»Ich werde mich nach einem Platz für dich umsehen, aber so im Handumdrehen geht das nicht. Heute fängt der Jahrmarkt an ... du weißt, daß mir die Geschäfte überm Kopf zusammenschlagen, und da willst du mir noch deine Angelegenheiten aufhalsen! Ich will dir behilflich sein, aber verschone mich mit deinen Klagen und gib dir Mühe, dich anständig zu benehmen.«
»Das sind Sie mir wohl schuldig!« brummte Grésil mit finsterem Blick.
»Hm?« machte der Notar, sich umdrehend.
Ein Schreiber, der eben mit Akten in der Hand aus der Amtsstube getreten war, blieb stehen. Wortwechsel waren im Hause des Notars keine Seltenheit und bildeten für die Gehilfen ein Studium, denn sie konnten dabei lernen, wie man die Klienten je nach Zahlungsfähigkeit und Willigkeit behandelt. Die beiden Landleute, die der Schreiber indessen abgefertigt hatte, entfernten sich nur widerstrebend und blieben unter der Hausthür stehen.
»Ich meine,« fuhr Grésil fort, »daß es einfach Ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, Herr Notar, sich meiner anzunehmen, nachdem Sie mich für einen andern sitzen ließen ...«
»Was soll das heißen?« fuhr ihn der Notar an, der Widerspruch nicht ertrug, am wenigsten, wenn er im Unrecht war. »Weil ich thöricht genug war, mich von deiner Kindheit an für dich zu verwenden, wirst du jetzt frech und anmaßend?«
»Frech nicht, Herr Notar, und anmaßend ebensowenig. Ich fordere nur, was recht und billig ist.«
»Jetzt hab ich's aber satt ... mach, daß du fortkommst!«
Grésil sah dem Notar voll ins Gesicht. Er war klein, aber gut gewachsen; sein fester, sicherer Blick war frei von Frechheit.
»Ich gehe schon, Herr Notar,« erwiderte er ruhig. »Sie haben viel Gutes an mir gethan, und dafür bin ich dankbar, aber in dieser Geschichte mit dem Brichol haben Sie unrecht gehandelt ...«
Die Bauern waren endlich hinausgegangen, aber sie standen noch auf der Hausstaffel, um zu lauschen; ein zweiter Gehilfe hatte sich dem ersten beigesellt.
»Genug!« rief Loysel, auf den einstigen Schützling zutretend.
»Sie haben einen Unschuldigen verurteilen lassen,« sagte Grésil unerschrocken, »und das werden Sie noch bereuen.«
»Auch noch Drohungen?«
Grésil hörte das mit erstickter Wut hervorgestoßene Wort nicht mehr; er war hinausgegangen und stieg die Staffel hinunter, wobei er für sich wiederholte: »Früher oder später werden Sie's bereuen!«
»Was gibt's?« fragte Frau Loysel, durch die erhobene Stimme ihres Mannes herbeigelockt.
»Dieser Esel, der Grésil, kommt aus dem Gefängnis und macht mir eine Scene ... wohl zum Dank für das, was du an seiner Großmutter gethan hast!«
»Der arme Junge! Die Strafe war hart ...«
»Hart? Der Mann ist auf dem Platz geblieben und hat sich heute noch nicht ganz erholt.«
Frau Loysels Gerechtigkeitsgefühl besiegte für einen Augenblick die blinde Vergötterung des Gatten.
»Bist du denn gewiß, daß er der Thäter war? Ich habe mir immer eingebildet, und Armand glaubt auch, daß er für einen andern die Zeche bezahlt habe.«
»Wird man mir immer und ewig mit diesem Geschwätz in den Ohren liegen?« rief der Notar außer sich. »Das ist ja allmählich nicht mehr zum Aushalten! An Ihre Arbeit, meine Herren!« sagte er zu den eilends verschwindenden Schreibern.
Er selbst trat in sein Arbeitszimmer, dessen Thür auch auf die Vorhalle ging und zum Schutz seiner Klienten mit einer gepolsterten Doppelthüre versehen war.
»Diese eklige Geschichte,« dachte er, »Brichol hätte auch etwas Gescheiteres thun können, als sich betrinken und wie ein Dreschflegel auf einen Unbekannten einhauen! Solche Geschichten sollten nur unter Kameraden vorkommen! Wenn dieser Grésil klug genug wäre, reinen Mund zu halten, würde ich ihn gern entschädigen, wenn er aber Lärm schlägt ... ›wehe dem, der Aergernis gibt‹, heißt's in der Bibel!«
Mit einem höhnischen Lächeln setzte er sich an den Schreibtisch, als leise an eine Zwischenthür gepocht wurde, die der Familie Zutritt in sein Allerheiligstes gewährte.
»Herein!«
Armand betrat das Zimmer.
»Verzeih mir, Papa, wenn ich noch einmal zu gunsten des armen Grésil mit dir sprechen möchte ...«
»Ein höchst unbequemer Flegel, der eben vor Zeugen Drohungen gegen mich ausstieß ... der Augenblick ist nicht glücklich gewählt!«
»Du mußt ihm seine Gereiztheit zu gute halten! Wenn ich mir vorstelle, ich wäre unschuldig verurteilt worden ...«
»Wieder das alte Lied? Nimm dich in acht, Armand!«
»Du weißt, wie ich dich verehre und an dir hänge, Papa! Nicht aus Widerspruchsgeist bin ich so beharrlich, sondern nur, um dich aufzuklären ...«
»Aha! Der Sohn ist klüger, unterrichteter und gerechter als der Vater! Das fängt hübsch an! Hast du im Sinn, in dieser Tonart fortzufahren?«
Armand schwieg eine Weile, während der Notar Akten durchsah. Er war ein guter Sohn, der seinem anspruchsvollen Vater nie eigentlichen Grund zur Unzufriedenheit gegeben hatte, der aber zuweilen, wenn er sich im Recht glaubte, etwas halsstarrig sein konnte.
»Vater,« begann er jetzt, »es thut mir furchtbar leid, wenn ich dir unehrerbietig oder eigensinnig erscheine, aber mein Gewissen läßt mir keine Ruhe. Du hast mir immer versichert, Grésil in der Nähe des Niedergeschlagenen getroffen zu haben, und ich bin fest davon überzeugt, daß es dir Ernst damit ist, aber bedenke, daß ich fast gleichzeitig mit dir an den Ort der That kam und daß ich ihn von der neuen Straße herkommen sah, während ein andrer sich in entgegengesetzter Richtung davon machte.«
»Du hieltest den Begegnenden für Grésil, während es der Polizeikommissar war, der ihm an Wuchs gleicht.«
»Und doch ...«
»Glaubst du, daß ich irgend ein Interesse daran gehabt hätte, Grésil unrecht zu thun?« fragte der Notar bedächtig, indem er sich umwandte und dem Sohn fest ins Gesicht sah.
»Gott bewahre mich vor einem solchen Gedanken, Vater,« rief Armand mit Wärme, »aber man kann sich doch täuschen ...«
»Dann gib zu, daß du dich getäuscht hast, und die Sache ist abgethan. Jetzt geh und grüße deine Braut von mir ... ist die Mutter fertig?«
»Ich glaube, ja. Daß du in diesem Lärm arbeiten kannst!«
Das Haus des Notars lag an der Ecke des Marktplatzes, und die letzten Vorbereitungen für die alljährliche Augustmesse verursachten in der That einen Höllenlärm. Hammerschläge auf die Planken einer Seiltänzerbude, das Gebrüll der Tiere einer Menagerie, Probeschüsse in der Schießbude und das Gedudel eines Orchesters tönten durcheinander.
»Wenn du's auch fertig bringst,« setzte Armand hinzu, »deine Klienten brauchen sicher ein Hörrohr!«
»Das wird schon nachlassen,« versetzte der Notar lächelnd. »Unterhalte dich gut und mach dir keine Sorge um mich ... da kommt die Mutter!«
Frau Loysel trat durch die innere Thüre herein, wie vorhin ihr Sohn. In dem geschmackvollen Anzug hätte man sie für eine Dreißigjährige halten können, obwohl ihr zweiundvierzigstes Jahr bald zu Ende ging.
»Auf Wiedersehen!« sagte sie, ihrem Mann die Wange zum Kuß bietend, die er kaum berührte.
Sie war überrascht, ihn nach der liebenswürdigen Anwandlung nach Tisch so kühl und zerstreut zu finden, doch ihr Befremden gewahrend, wurde er sofort wieder verbindlich und begleitete sie bis zur Hausthüre. Dann trat er in sein Vorzimmer und sagte zu dem dort sitzenden Amtsdiener: »Ich bin für niemand zu sprechen, außer für eine Dame Namens Fort.«