Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Bisher waren alle unsere Bemühungen, Nachricht über den Verbleib und das Schicksal des vermißten Mädchens zu erlangen, vergeblich gewesen. Auch die Anzeigen, welche Frau Daniels einrücken ließ, blieben erfolglos. Ich fühlte mich sehr entmutigt, und begann schon gänzlich zu verzagen, als mir unerwartet ein neuer Hoffnungsschimmer aufging. Die hübsche Fanny nämlich, das Stubenmädchen, dessen Bekanntschaft ich seit kurzem eifrig suchte, schilderte mir eines Tages im Laufe unseres Gesprächs das wunderliche Benehmen der Frau Daniels während jener Zeit peinlicher Ungewißheit.

Wäre sie ein Gespenst, sie könnte nicht auf unheimlichere Weise im Hause umherwandern, sagte sie. Treppab, treppauf – treppauf, treppab, bis es kaum mehr auszuhalten ist. An Ruhe ist gar nicht mehr zu denken. Bleich wie die Wand sieht sie aus und bebt wie Espenlaub. Sie getraut sich keine Schüssel vom Tisch zu nehmen, so zittern ihr die Hände. Sobald Herr Blake zu Hause ist, läßt sie sich durch nichts aus der Nähe seiner Türe fortbringen, aber sie geht nie ins Zimmer, sondern immer im Korridor auf und ab, die Hände ringend und Selbstgespräche haltend, wie eine Verrückte. Mit eigenen Augen habe ich es mehr als einmal gesehen, daß sie die Hand auf die Klinke legte und sie wieder zurückzog, als habe sie sich verbrannt. Ging aber gar die Türe auf und Herr Blake kam zufällig heraus, dann hätten Sie sehen sollen, wie sie davonlief. Was das alles bedeutet, weiß ich nicht, aber ich habe so meine Gedanken. Wenn sie nicht übergeschnappt ist, dann usw. usw.

Unter solchen Umständen sah ich ein, daß es Torheit war, vor der Zeit zu verzweifeln. Meine Befürchtung war gewesen, die Sache möchte sich auf sehr einfache und alltägliche Weise aufklären. Solange es noch Rätsel zu lösen gab, dachte ich nicht daran, vom Platz zu weichen.

Bald darauf kündigte Fanny mir an, Herr Blake habe sich einen Wagen bestellt, um am Abend nach dem Wohltätigkeitsball zu fahren. Dies war so ein ungewöhnliches Ereignis, so ganz abweichend von seinen sonstigen Gewohnheiten, daß ich sofort beschloß, ihm zu folgen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Trotz der späten Stunde gelang es mir ohne Schwierigkeit, meinen Plan auszuführen. Kaum eine Stunde nach Eröffnung des Balles traf ich im Akademiegebäude ein.

Das Gedränge war groß, und ich mußte dreimal im Saal die Runde machen, bevor ich seiner ansichtig wurde. Doch sah ich ihn nicht, wie ich erwartet hatte, von einem Kreis bewundernder Herren und Damen umgeben, sondern in einer Ecke des Saales mit einem politischen Gesinnungsgenossen eifrig über die Angelegenheiten seiner Partei verhandeln, wie ich sogleich zu hören bekam, als ich mich ihnen näherte. Wenn er nur deswegen hergekommen ist, dachte ich, so hätte ich besser getan, zu Hause zu bleiben, und der hübschen Fanny den Hof zu machen. Voll Unmut blieb ich auf meinem Posten in der Nähe und begann die anwesenden Damen zu mustern.

Da fühlte ich plötzlich, daß mir der Atem stockte, und gleichzeitig verstummte auch das Stimmengeräusch hinter mir. Am Arm eines fremdländisch aussehenden Herrn schwebte eine Dame vorüber, welche ich auf den ersten Blick als das Original des Gemäldes in Herrn Blakes Haus erkannte. Sie sah um einige Jahre älter aus, als auf dem Bilde, und ihr Antlitz hatte einen gewissen Ausdruck von Geringschätzung und Weltverachtung angenommen. Sollten ihr vielleicht die verflossenen Jahre kein so ungemischtes Glück gebracht haben, wie sie es erwartete, als sie den schönen Holman Blake aufgab, um den alten französischen Grafen zu heiraten? So wenigstens erklärte ich mir den herausfordernden Blick, der aus ihren dunklen Augen sprühte, als sie langsam das reich mit Edelsteinen geschmückte Haupt nach der Seite hin wandte, wo jener Herr stand. Ihre Blicke mochten sich wohl begegnet sein; sie verbeugte sich und verlor dabei einen Moment alle Selbstbeherrschung. Zwar richtete sie ihre stolze Gestalt gleich darauf noch einmal so hoch auf, doch war jene plötzliche Gemütsbewegung nicht unbemerkt vorübergegangen.

Sie liebt ihn noch, dachte ich bei mir, und wandte mich schnell um, weil ich sehen wollte, ob die überraschende Begegnung nicht auf ihn einen Eindruck gemacht habe.

Das war allem Anschein nach nicht der Fall. Der alte Politiker lachte gerade, vielleicht über einen seiner eigenen Spässe. Herrn Blakes Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, allein seine Haltung hatte durchaus nichts Empfindsames. Verstimmt zog ich mich von ihm zurück und folgte der Dame.

Die Gräfin war bereits von einem Schwarm jugendlicher Verehrer umringt, und ich konnte nicht in ihre Nähe gelangen. Das kümmerte mich jedoch wenig; was ich wissen wollte, war nur, ob Herr Blake sich ihr im Lauf des Abends nähern würde. Langsam verstrich eine Minute nach der andern, während ich auf meinem Posten stand, aber ein Geheimpolizist kennt keine Ermüdung bei Erfüllung seiner Pflicht. Ich hatte alle Muße, die Schönheit der Dame zu bewundern, welche ich vor mir sah: die stolze Haltung des Hauptes, das zarte Rot der Wangen, die schön geschweiften Lippen, den Blick des Auges. Der war freilich nicht leicht verständlich, denn zuweilen senkte sie die Lider in unnachahmlicher Anmut, was für meine Zwecke höchst unvorteilhaft war.

Jetzt aber wandte sie sich plötzlich mit hochmütigem Achselzucken von der Schar ihrer Bewunderer ab, ihr Busen wallte unter dem rubinfarbenen Kleid, aus ihren Zügen strahlte ein Glanz – ich wußte nicht, sollte er Liebe bedeuten oder nur einen festen Entschluß. Wer es war, der jetzt auf sie zukam, erriet ich an der ganzen Haltung der Gräfin, an dem feurigen Blick des Weibes; ich hatte nicht nötig, mich umzusehen.

Er zeigte weit größere Fassung. Ueber ihre Hand gebeugt, murmelte er einige Worte, die ich nicht verstand, dann trat er einen Schritt zurück, um ihr die bei solcher Gelegenheit gebräuchlichen Höflichkeiten zu sagen.

Sie erwiderte nichts. In vornehmer Ruhe wartend, öffnete sie ihren prächtigen Federfächer langsam und schloß ihn wieder, als wollte sie sagen: Ich weiß, diese Förmlichkeiten müssen beobachtet werden, und fasse mich in Geduld. Als aber Minuten vergingen, ohne daß sein Ton wärmer ward, da schoß ein Strahl des Unwillens aus der dunkeln Tiefe ihrer Augen und das verbindliche Lächeln, das ihr bisher um die Lippen geschwebt hatte, verschwand. Die Menge schien sie plötzlich zu bedrücken, und als sie sich nach einem Zufluchtsort umsah, fiel ihr Blick auf ein abseits gelegenes Fenster. Den Moment benützend, eilte ich, mich dort in der Nähe hinter einem Vorhang zu verbergen. Gleich darauf kamen sie heran, und ich vernahm ihre Worte:

Man hat Sie ja heute förmlich mit Huldigungen überschüttet, hörte ich Herrn Blake in ruhig höflichem Tone sagen.

Finden Sie das? erwiderte sie mit einem leisen Anflug von Spott. Ich dachte eben das Gegenteil, als Sie zu mir traten.

Es gelang mir zwischen dem Vorhang und der Wand hindurchzublicken. Beide schwiegen; unverwandt ruhte sein Blick auf ihr und seine Zurückhaltung war dadurch nur noch auffallender. In ihrem prächtigen Haar strahlten die Diamanten – wohl ein Geschenk ihres toten Gatten – mit unheimlichem Glanz; ihre glatte, olivenfarbene Stirn, die halbverschleierten Augen, in denen das Feuer der Leidenschaft brannte, der Farbenschmelz auf Lippen und Wangen, die von einer Erregung glühten, welche sich nicht verbergen ließ, alle diese Reize betrachtete er genau und nicht zuletzt die ganze vornehme Erscheinung in dem rotsamtenen, mit Spitzen und Edelsteinen reich verzierten Gewande. Schon glaubte ich, er werde nun die Maske fallen lassen, die Zurückhaltung aufgeben und aus tiefstem Herzen das Liebeswerben dieser voll erblühten Rose erwidern, die nur darauf zu harren schien. Statt dessen gewahrte ich, daß sein Blick kühl geblieben war wie zuvor; noch gemessener klang sein Ton, als er sagte:

Verlangt die Gräfin de Mirac wirklich nach der Bewunderung ihrer armen, bürgerlichen Landsleute? Das hätte ich nicht gedacht.

Sie stand starr wie eine Bildsäule, das Auge ihm zugewandt.

Oder, fuhr er fort, wahrend ein bitteres Lächeln um seinen Mund spielte, hat Eveline Blake vielleicht bei der Rückkehr in ihr Heimatland die zwei letzten Jahre so weit vergessen, daß sie wieder an dem Spielwerk ihrer Jugend Gefallen findet? Er machte eine tiefe, fast spöttische Verbeugung. So etwas geschieht zuweilen, sagt man.

Eveline Blake – wie lang habe ich diesen Namen nicht gehört, murmelte sie.

Eine plötzliche Röte brannte auf seiner Stirn.

Verzeihung, wenn er Sie verletzt oder unwillkommene Erinnerungen wachruft. Ich verspreche, daß ich keinen solchen Mißgriff mehr begehen werde.

Sie irren, sagte sie, während ein fahles Lächeln über ihre jetzt bleichen Lippen flog; wenn mir mein Name auch bittere Erinnerungen und düstere Schatten heraufbeschwört, so ruft er doch auch manche süße und unvergeßliche Freude zurück. Ich höre meinen Mädchennamen gern aus dem Munde – meines nächsten Verwandten.

Ihr Name ist Gräfin de Mirac, sagte er mit Nachdruck, Ihre Verwandten müssen stolz darauf sein, ihn auszusprechen.

Ein Blitzstrahl zuckte aus ihren Augen, dann senkte sie den Blick vor ihm zu Boden.

Ist das Holman Blake, der so spricht? fragte sie; ich erkenne in dem kühlen sarkastischen Weltmann meinen alten Freund nicht wieder.

Wir erkennen unser eigenes Werk häufig nicht wieder, nachdem wir es aus der Hand gegeben haben.

Was heißt das, rief sie; was wollen Sie damit sagen –

Nichts, unterbrach er sie ruhig und hob den Fächer auf, der ihr entglitten war. Bei einem Wiedersehen, das zugleich ein Abschied ist, will ich keine Aeußerung tun, die wie ein Vorwurf klingen könnte.

Wie, rief sie, den Fächer mit stolzer Gebärde ergreifend, dies Wort bedarf einer Erklärung. Was habe ich Ihnen je getan, daß ich Ihren Vorwurf verdiente?

Was Sie getan haben? – Meinen Glauben an Ihr Geschlecht haben Sie erschüttert, mir bewiesen, daß eine Frau, welche einem Mann gesagt hat, sie liebe ihn, dies so gänzlich vergessen kann, daß sie, um Titel und Gold zu besitzen, einem Gatten die Hand reicht, den sie nicht einmal achten kann. Sie haben mir gezeigt –

Nicht weiter! rief sie mit marmorbleichen Lippen. Und Sie – was haben Sie mir gezeigt?

Er schrak zusammen, errötete tief und stand, einen Augenblick seiner strengen Selbstbeherrschung beraubt, keines Wortes mächtig vor ihr.

Verzeihung, sagte er endlich; ich nehme meine Anklage zurück.

Jetzt war die Reihe an ihr, ihn zu betrachten. Nicht ganz so kühl, aber ebenso prüfend sah sie, wie der stolze Mann das Haupt vor ihr beugte, sah jede Linie seines Antlitzes, die ernste Stirne, die fest zusammengepreßten Lippen, denen die Schwermut ihr unlösbares Siegel aufgedrückt zu haben schien. Eine Veränderung ging mit ihr vor. Holman, sagte sie mit plötzlich hervorbrechender Zärtlichkeit, wir haben beide in vergangenen Tagen mit zu viel Weltklugheit gehandelt; wir können nicht mit Freuden daran zurückdenken. Aber sollen wir unsere ganze Zukunft dahingeben, um einzig über Dinge zu brüten, welche wir, wenn auch nicht vergessen, so doch sicherlich begraben können? Wir sind noch jung genug dazu. Vielleicht hätte ich, nachdem Sie mich verließen, der Welt entsagen und mein blühendes Leben in Sehnen und Verzweiflung verzehren sollen. Aber die Welt hatte ihre Reize, auch Reichtum und hohe Stellung lockten mich. Wie hohl solche Güter sind, lehrt erst die Erfahrung. – Sie aber, der Sie das jetzt alles besitzen, weil Sie vor Jahresfrist Eveline Blake verlassen haben, Sie sind der Letzte, der mir einen Vorwurf daraus machen sollte! Ich klage Sie nicht an; ich sage nur: wir wollen das Vergangene vergessen –

Unmöglich, rief er, und düstere Schatten lagerten sich auf seinem Antlitz. Was wir damals taten, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Für Sie und mich gibt es keine Zukunft. Begraben können wir die Vergangenheit wohl, aber sie wird nie mehr auferstehen. Vielleicht würden Sie dies auch nicht einmal wünschen. Am besten ist, wir schweigen von dem, was doch für immer vorbei ist. – Einmal wollte ich Sie wiedersehen, Eveline, aber nicht zum zweitenmal. Verzeihen Sie meine Offenheit und lassen Sie mich frei.

Ihre Offenheit will ich verzeihen, aber –

Sie sprach nicht weiter; er schien sie zu verstehen und lächelte bitter. Im nächsten Augenblick hatte er sich mit einer Verbeugung entfernt, und sie kehrte in den Kreis ihrer Verehrer zurück.


 << zurück weiter >>