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Der Bezirksarzt konnte, ohne seinen eigenen Absichten entgegenzuwirken und ohne seinen Schützling einem abträglichen Vorurteil auszusetzen, die Gertrauder Marie nicht länger der Untersuchungshaft und dem mündlichen Verfahren vorenthalten. Und um jedes Aufsehen auf der Straße zu vermeiden, sollte sich das unglückliche Kind im Hause, und eh' noch der Gerichtsdiener eintrat, von seinen Wohltätern verabschieden.
Marie zeigte sich gefaßt, ja heiter; nun sollte ihr endlich werden, was sie als eine gerechte Sühne ansah und mit grausamer Ungeduld herbeisehnte. Lächelnd sagte sie: »Ich habe zwar nie recht verstanden, was die heilige Dorothea angestellt haben muß, wenn es heißt: ›St. Dorothea mit den rauhen Füaßen ist schon einmal im Himmel g'wesen, hat wieder abher müaßen‹; doch das weiß ich: bei Ihnen hab' ich das Paradies gehabt und jetzt muß ich wieder ins Fegfeuer zurück – wenn nicht gar die Höll' draus wird.«
»Halte dich tapfer, Marie!« antwortete der Doktor darauf, und ihm wollte es selbst weich werden ums Herz.
Die Frau Schlag aber umarmte und küßte die Scheidende, als würde ihr an derselben für das schrecklichste Los eine Tochter entrissen. Sie war nun besser eingedrungen in das spröde Wesen der Verfolgten und schien nicht abgeneigt, darin eine hochsinnige Resignation zu erblicken. Wie hätte sie daher mit ihren mütterlichen Tränen zurückhalten sollen, eine edle, feinfühlige Seele, die sie war?
Marie hatte ihr Wallfahrtergewand angezogen; nichts fehlte an dieser Ausstattung als der unselige Zögger – einen Augenblick freilich hatte sie wie sinnverloren danach greifen wollen. Sie ward es auch selbst inne und raffte sich besser zusammen.
Als der Gerichtsdiener erschien, erklärte das Stubenmädchen Luise, die sich bisher abgewandt zu schaffen gemacht hatte, kurz entschlossen: »Ich gehe mit! Ich darf doch eine gute Kameradin auf ihrem schweren Gang begleiten?«
»Dieser Einfall macht deinem Herzen Ehre,« sagte beistimmend die alte Frau; auch der Doktor nickte, und in den Augen der Sünderin leuchtete es freudig und dankbar auf. Sie drückte dem wackeren Mädchen die Hand, ließ dieselbe aber im Nu wieder los, um sich ungesäumt an die Seite der Gerichtsperson zu stellen.
Letzterer holte weder Eisen noch Stricke hervor, und Marie schien sich über diese Schonung nicht wenig zu verwundern.
Zu dreien verließ man das Haus; der Häscher gönnte den Mädchen den Vortritt, schritt aber knapp hinter der Schuldigen drein.
Trotz der Morgenstunde hatten sich da und dort Schaulustige angesammelt; sie wollten die berühmte Kindesmörderin sehen, und die Weiber drängten sich in den Vordergrund, selbstverständlich. Ob sie nicht auch ihre spitzen Zungen regten und die Nägel krümmten?
Die Kärntnerin zog des Weges, als ginge es zur Kirche; sie war mit sich selbst beschäftigt und achtete nicht darauf, was um sie vorging. Nur der mutigen Gefährtin nickte sie zuweilen einen erkenntlichen Blick zu. Letztere machte auch die Wegweiserin, sonst hätte der Diener rechts! oder links! rufen müssen; der aber hatte keine Lust, aus der stummen Rolle herauszutreten.
Die Zuschauer schienen nicht recht befriedigt zu sein, und es fehlte wenig, so hätte ihre Stimmung in Mitleid umgeschlagen. Die da so ruhig vorüberging, war ja gar nicht das hochmütige, schreckliche, nichtsnutzige Ding, das man sich versprochen hatte. Wie gut ihr das Kärntnerhütl steht, hieß es da, und dort bemerkte man, daß sie eher einem Stadtmädchen gleiche als einer Bauerndirn. Nun ja, die lange Krankheit hat sie so weiß, so zart gemacht und im Doktorhause hat sie einen Schliff angenommen! ... Für eine Kellnerin schaut sie mir zu wenig lustig, zu fromm aus! bemerkte die eine, und die andere drauf: Aber denk nur, auf einem solchen Gang wird man »dasig«, und wer weiß, wie weit sie's in der Verstellung gebracht hat ... So wurde die Gertrauder Marie eingeliefert. Zum Glück hatte das Städtchen nicht viele Übeltäter im »Loch« – auf der Weiberseite war's völlig leer, und die Kärntnerin konnte allein sein; ob aber nicht schon in der nächsten Nacht ein liederliches Dirnlein aufgegriffen und ihr beigesellt würde, stand dahin.
»O je,« bemerkte Luise, einen Blick in das öde Gemach werfend, »da sieht's anders aus als bei uns! Und da auf der Pritschen wirst du's hart haben.«
»Laß gut sein,« entgegnete die Zurückbleibende; »desto weniger kann ich vergessen, was ich bei euch gehabt habe. Noch einmal dank' ich dir, und der gnädigen Frau und dem Herrn Doktor, allen, allen! Vergeßt nicht ganz auf mich!«
Weiterer Zwiesprach wehrte der Schließer. Die mitleidige Magd eilte nach Hause und der Häftling blieb sich selbst überlassen.
Nicht lange; denn der Aktuar – Steiner heißt er – brannte danach, sie dem ersten Verhör zu unterziehen. Wie wollte er ihr beikommen, der abgefeimten Person! Er hat scharf geladen; er hat sich mit Geduld gerüstet; er hat Fallen gelegt; er hat ein Fangnetz von Fragen bereit: wie sollte sie ihm da entschlüpfen können? Er wird sie entlarven, er allein, zum Triumph über so viele andere, denen sie's durch ihre Scheinheiligkeit angetan! Aber sachte, zuerst gilt's zuzusehen, in welcher Rolle sie sich gefällt.
Die Angeklagte wurde vorgeführt; sie und ihr Richter erblickten einander zum erstenmal, und ohne kleine Überraschung oder Enttäuschung beiderseits ist es dabei nicht abgegangen. Wenn dem flüchtigen Augenspiele Worte verliehen wären, so würde es auf der einen Seite gelautet haben: »Wie, dieses kleine, zuwidere Männchen sollte mein Schicksal in seiner Hand haben? Aber er ist die Obrigkeit und der ist man Gehorsam schuldig – –« und auf der anderen Seite: »Der könnte man allerdings alles andere früher zutrauen; doch der Schein trügt, und verschanzt sie sich gut, so ist der Spaß um so größer.«
Erst die Kette, dann den Einschlag, dachte sich Aktuar Steiner und er vermochte die Angeklagte bald, ihre Leidensgeschichte zu erzählen.
Einfach, klar und wahrhaft berichtete die Hartgeprüfte, wie alles gekommen. Sie hatte dort dem Pfarrer reinen Wein eingeschenkt und tat hier dasselbe dem Richter gegenüber – beide Male aus dem gleichen Grunde, weil's die Obrigkeit so verlangte, der man gehorsamen müsse.
Steiner hatte die Arme ausreden lassen; er hatte kaum nötig, ihr mit einer Zwischenfrage vorwärts zu helfen – so knapp hielt sie sich an die Sache.
»Fühlst du dich schuldig?« fragte er jetzt.
»Ja,« lautete die Antwort, was ihn nicht wenig wundernahm. So schnell ans Ziel zu kommen, hatte er keineswegs gehofft.
»Schuldig als Kindesmörderin?«
»Leider Gottes bin nur ich schuld, daß es ersticken hat müssen, das liebe Kind. Wenn ich gesehen hätt', daß es zu wenig Luft hat unterm Tüchel, hätt' ich freilich wohl helfen können. Aber ich bin halt gleich selber so viel schwach gewesen, daß ich nichts sehen und hören hab' können.«
Steiner ließ nicht merken, daß er voreilig geschlossen. Er tat, als hätte die Angeklagte den Kindesmord bereits einbekannt. Das Geständnis wird noch runder und voller ausfallen, wenn er erst ihr Gemüt erschüttert hat. Daher fragt er ernst und gewichtig weiter:
»Weißt du, was auf den Kindesmord gesetzt ist?«
»Was halt vor Gott und der Welt recht ist.«
»Wir können bis zur – Todesstrafe erkennen.«
Marie Klöckl zuckte mitnichten zusammen. Ihr Blick schien zu sagen: Das muß der Herr Richter besser wissen.
Ist dies Stumpfsinn oder Verstellung? fragte sich der Aktuar und er wiederholte mit Nachdruck:
»Bis zum Tod durch den Strang!«
Sie darauf: »Dann wird's wohl auch so sein müssen, und ich hab' schon längst keine Freud' mehr am Leben.«
»Du gestehst also,« fuhr Steiner fort, als hebe er nur Selbstverständliches hervor: »Du gestehst, das Kind umgebracht zu haben?«
»Wie, was? Das wär' weit gefehlt, Herr Richter! Ich hätt's gern gesehen, daß es gelebt hätt', das kleine Büberl; ich hätt' auch rechtschaffen drauf geschaut, und die gute Frau Groggerin hätt's gewiß nicht aus dem Haus gejagt.«
»Du fühlst dich schuldig, du bist die alleinige Schuld, daß das Kind ersticken mußte, und du willst es gern gehabt haben?«
»Das wohl, Herr Richter, das wohl! Und wer könnt' ihm denn feind sein, wenn's einmal auf der Welt ist? Aber so viel ungeschickt bin ich gewesen, und das mit dem Tüchel hätt' halt nicht so schlecht ausschlagen sollen.«
»Das mußtest du im voraus wissen, daß das Kind darunter ersticken werde.«
»Nichts hab' ich gewußt. Herr Richter! So zugedeckte Kinder hab' ich öfter schon gesehen, und ich hab' halt nichts anderes bei der Hand gehabt, und dann ist ja gleich die große Schwäche über mich gekommen.«
»Und auf der Wallfahrt hast du Zeit gehabt, dir das alles so zurechtzulegen?«
»Ist mir eh sauer genug geworden, der Weg, und umsonst ist mir gewiß nicht eingefallen, daß der Frauentag in der Nähe ...«
Um viel mehr drehte sich das erste Verhör nicht, und von diesem ersten Versuch hatte sich Steiner überhaupt nicht viel versprochen.
Gleichwohl war er unzufrieden. Er hatte sich die interessante Verbrecherin anders vorgestellt, etwa wie eine aalglatte Person, die unversehens zu fassen und festzuhalten eine Lust sein müßte. Anstatt dessen trat ihm ein schlichtes Wesen entgegen, dem er keine Tiefe, also auch keine geheimnisvolle Triebfeder zutrauen mochte.
Das war das eine; und was ihn in zweiter Linie, aber darum nicht minder befremdete, war der Umstand, daß die ihr in Aussicht gestellte Strafe, ja selbst der angedrohte Strang aufs Gemüt der Angeklagten so völlig die Wirkung versagt hatte.
Unter beiden Wahrnehmungen zerfloß der romantische Schimmer, welcher dem ersten Anscheine nach diese trugvolle Wallfahrt umgab; was zurückbleiben konnte, war vielleicht nur ein gewöhnliches Verbrechen, ein Bauernkniff und eine Apathie, wie solche in der rauhen Hochlandswelt nicht selten.
Das alles demütigte nicht wenig die Voraussicht, das berufsmäßige Vorgefühl des Kriminalisten. Und daß er aus dem gegebenen Fall in berechneten Andeutungen schon so viel Wesens gemacht, beunruhigte den Aktuar der Gesellschaft gegenüber.
Aber auf den ersten Eindruck darf's nicht ankommen. Vielleicht zeigen sich doch noch Abgründe, in welche das Senkblei nicht ungern taucht. Jedenfalls ist die einfältige Dirn schuldig, und das voll und klar herauszubringen, ist immerhin etwas.
So verhörte und inquirierte denn das Männchen weiter, vormittags, nachmittags, zu gelegener, wie zu ungewohnter Stunde. Je sicherer die Haltung der Angeklagten war, desto mehr versteifte sich die Voreingenommenheit des Untersuchungsrichters.
Vergebens bat erstere: »Gestrenger Herr, machen Sie sich's nicht so schwer; das ist wahr und das ist nicht wahr; das ist so und das ist anders, wie ich schon gesagt habe – ich lüg' nicht. Und mir is ja eine jede Straf' recht, die härteste auch die liebste.«
Steiner wurde verdrießlicher und die Sache zog sich in die Länge.
Der lange Veit hat längst wieder in St. Gertraud eingestellt. Er brachte Neuigkeiten mit, die aber so wenig erfreulicher Art waren, daß er sie am liebsten unausgekramt gelassen hätte. Sie waren auch nicht für die gewöhnlichen fühllosen Gäste, deren Neugierde sie allerdings sattsam gekitzelt haben würden.
Er saß daher auf der rückwärtigen Bank, der Tür gegenüber, geduldig und ernst, wie ein angemalter Türk', bis alles sich verlaufen hatte. Und dann wartete er noch eins so ruhig auf das Erscheinen der alten Wirtin, die nicht früher abkommen konnte, als bis sie ihrem Tagewerk die müden Augen zugedrückt; dann setzte sie sich allerdings noch gern für eine Weile, ehe sie zu Bette ging; und selbst ein nachsitzendes Plauderstündchen kostete sie keine Anstrengung, sondern tat ihr wohl, wie den Rößlein nach einer anstrengenden Fahrt der leere, gelinde Abendgang.
»Ihr bringt mir nichts Gutes, Veit!« sagte sie, indem sie sich dem langen Gast näherte; »und doch seid Ihr so lang' ausgeblieben, daß ich meinte, Ihr habt geflissentlich schönes Wetter abgewartet.«
»Ich habe mir auch gedacht,« antwortete der Fuhrmann, »du wirst der Frau Mutter nicht unnötigerweise das Herz schwer machen, Veit! Und selbst von einem seligen End´ ...«
»Sie wird doch nicht gestorben sein, die arme Marie?«
»... tät' ich lieber erzählen, als was die, die ich meine, schon ausgestanden hat und noch wird ausstehen müssen.«
»Barmherziger Gott, ihr geht's wohl recht schlecht! Aber daß sie den Heimweg nicht findet, kann ich mir völlig nicht erklären. Ich möchte sie ja mit offenen Armen aufnehmen, wenn sie halbwegs noch wär', wie sie gewesen ist.«
»Zur guten Mutter zurück, freilich wohl, ging' sie gern, für das tät' ich einstehen, aber das kann sie nicht, ganz und gar nicht.«
»Was Ihr sagt!«
»Eine Wallfahrt hat sie gemacht, lang' krank gewesen ist sie und vor Gericht steht sie ...«
»Jetzt fall' ich gleich um, Veit! Was könnt' denn die angestellt haben? Leicht hat sie nichts mehr zum Leben gehabt und den Opferstock ausgeraubt – ich muß schon aufs Unmögliche denken. Und ich hätt' ihr ja den ganzen Lohn nachschicken können.«
»Ärger, Frau Groggerin!«
»Seid Ihr heut' spaßig! Nun, so hat sie halt ein Haus angezündet.«
»Ärger, sag' ich, viel ärger!« »Dann weiß ich schon nicht mehr, bin ich verrückt, oder ist Euer Kopf schwach. Solch ein liebes, braves Ding kann doch nicht einen Menschen umgebracht haben?«
»Noch ein bißchen ärger! Ja, Frau Mutter, dann hat Sie's erraten.«
»Das kann ich mir nicht mehr vorstellen, und mir steht das Herz still.«
»Und ich möcht' mir lieber die Zung' abbeißen, als das sagen müssen, von der Marie das sagen müssen.«
»Vor Gericht also steht sie,« hob die Wirtin nach einer nachdenklichen Weile an, »als ein armes, lediges Dirnlein vor Gericht! Himmel, fall ein! ist das ein schwerer Gedanken ... es wird doch nicht eines Kindes wegen sein?«
»Es ist schon so, Frau Mutter! Und ich hätt' um alles in der Welt nicht mit der Tür ins Haus fallen mögen. Und das Kleine ist auch nicht wieder zum Leben gekommen, wie sie's zu Maria-Buch der Muttergottes auf den Altar gelegt hat, die arme Marie.«
»Und deswegen,« sinnierte die gute Alte weiter, während ihr die Augen feucht wurden, »hat sie sich geschämt vor mir ... und, wie ich sie kenn', wär' auch kein Sterbenswörtchen aus ihr herauszubringen gewesen; und deswegen ist sie Knall und Fall fort, und wegen des Frauentages hat sie sich so beeilt. Und, o du mein Gott! in diesem Zustande fort ... Da hat sie sich ja aus unmenschlicher Übermacht was antun müssen. Und hat sie denn nachher eine gute Pfleg' gefunden? Mir schwindelt, wenn ich dran denk.«
»Aus der Kirchen geht sie zum Pfarrer: er sollt' ihr das Kind einsegnen. Der Pfarrer schickt sie mit seiner Hausdirn um einen Totenschein zum Doktor in die Stadt; es ist schon Nacht gewesen. Der Doktor sieht gleich, wie sie daran ist; er läßt sie nimmer fort. Ins Bett hat sie müssen ... bei ihm selber; er und seine Frau Mutter sind so viel gute Leut'. Nun, und jetzt hat sie das Nervenfieber überstanden, ist aber noch immer im doktrischen Haus, wenn sie nicht unterweilen abgeholt worden ist.«
»Und wer sollt' sie denn abgeholt haben? Das müßt' ja ich sein. Aber Jessas na! Vor Gericht steht sie, sagt Ihr. Man wird doch nicht meinen, daß die auf ihr Kind nicht recht geschaut hätt'.«
»Und doch ist's so, Frau Mutter! Und das Garstigste denkt man von ihr; eine ... Kindesmörderin heißt's, ist sie.«
»Das ist nicht möglich!« rief die alte Frau aufspringend, so daß vom Schrei die weite Stube widerhallte. Erregt schritt sie auf und nieder, und ein übers andere Mal sagte sie vor sich hin: »Ein Unglück muß geschehen sein ... ein großes Unglück ... arme, arme Marie!«
Und sich gegen den Langen kehrend, fügte sie hinzu: »Und Ihn mag ich schon gar nimmer anschauen. Daß auch Er so was glauben kann, ist zu dumm! Ihm hätt' ich doch auch ein Herz zugetraut für sie. Aber euch Fuhrleuten kann man jeden Bären aufbinden.«
»Ich hab' mir auch keinen guten Botenlohn verhofft,« antwortete Veit ruhig. »Ich verdenk's der Frau Mutter nicht, wenn Sie sich angegriffen fühlt von der Geschicht'! Ich selber trag' sie schon lang' mit mir herum, und es ist mir doch hart angekommen, herauszurücken damit. Wenn's wo brennt, der Feuerreiter kann nichts dafür.«
»Ihr habt recht, Veit,« sagte die Wirtin, leicht beschwichtigt, »und es ist eh besser, wir überlegen, ob sich nicht doch noch was tun läßt fürs unglückliche Ding.«
Sie setzte sich wieder zum Langen und der mußte von neuem anheben, jetzt das und dann jenes umständlicher erzählen. Die Kerze brannte tief und tiefer herab, die beiden saßen aber noch immer beisammen. Endlich erhob sich die alte Frau, indem sie bemerkte: »Mit dem Schlaf ist's heut' wohl vorbei; aber vielleicht kommt uns ein guter Einfall, und der wär' g'rad nicht der schlechteste Ruhestörer. Ihr fahrt doch nicht früher ab, Veit, als bis ich morgen auf bin?«
Der Fuhrmann hatte heute nicht bei seinen Rössern Nachschau gehalten.
Am nächsten Morgen saß der lange Veit beim Frühstück, als die Küchentür aufging und die Frau Groggerin mit einem glücklichen Gesichte eintrat.
»Ich habe nichts Rechtes geträumt,« rief er ihr kleinlaut entgegen; »früherer Zeit ist's anders gewesen, aber jetzt hab' ich auch im Traume nur mehr mit meinen Schimmeln zu tun.«
»Wohl bekomm's ihnen,« erwiderte die Wirtin aufgeräumt. »Mir ist im bekümmerten Halbdusel vorgekommen, das draußige Gericht hätt' zu mir um eine Nachfrag' geschickt vonwegen der armen Marie.«
»Um eine Nachfrag' wie beim Dienstbotenwechsel?«
»Ja, könnt' eine solche das Gericht nicht auch brauchen, eh's von einem verlassenen Menschenkind das Schlechteste denkt?«
»Ich versteh'; die Frau Mutter meint, wenn sie in Judenburg draußen wüßten, wie brav sich die Marie von Jugend auf gehalten hat und daß sie gegen eine unschuldige Kreatur nicht einmal einen Finger rühren, geschweig' denn die Hand hätt' aufheben können, dann möchten sie ihr so was Schreckliches nicht zutrauen; denn der Mensch wird doch nicht leicht von heut' auf morgen ein wildes Vieh.«
»Getroffen, Veit! Und wo wär' denn so eine Nachfrage für die Marie besser zu erfragen, als bei ihrer Godl, die das Waiserl auferzogen und nicht von ihrer Seiten gelassen hat all' die Jahr' her?«
»Das ist wieder wahr, und die Frau Mutter tät' sicher ein gutes Werk mehr, wenn sie den Judenburger Herren schreiben ließe, was Sie denkt und was Sie hält von der Dirn.«
»Schreiben? Ich wüßte keinen, der mir's recht machte hier herum ... ich fahr'.«
»Nach Judenburg? Die Frau Mutter selber? Möcht' ich doch gleich, daß meine Schimmel Flügel hätten und mein schwerer Kasten ein Kogelwagen wär'!«
»Laßt's gut sein, Veit! Mein Bräunl richtet's auch, und den graubärtigen Sepp wird's freuen, wieder einmal weiter zu kommen als nach Wolfsberg ... er fährt gut.«
»Und soweit wär' auch alles gut; aber für unsereins wenigstens ist mit gelehrten Herren nicht gut Kirschen essen.«
»Meint Er, ich verlass' mich auf mein Mundstück allein? Einen Versuch ist dasselbe wohl immerhin wert, für eine rechtschaffene Sach'. Aber besser ist besser. Ich habe ja auch einen Vetter draußen; der setzt mir im Notfall schon was Tüchtiges auf. Ihr wißt es eh: von der Vogelbräuerin der Sohn ist's ... schon ein gar hochgestellter Herr ... Herr Rat sagt man zu ihm schon seit Jahren.«
»Der in Judenburg? Darauf hätt' wohl auch ich verfallen sollen, und es wär' dann vielleicht gar nicht soweit gekommen.«
»Neidhammel, will Er mir die Freud' verderben? ... Und wo fährt Er denn hin, abwärts oder aufwärts?«
»Tiefer ins Land, Draußen auf dem Murboden wär' ich jetzt ja rein überflüssig.«
Dieses Gespräch hatte eine andere Farbe als das vom Abend zuvor; Hoffnungsschimmer durchzog es, und rückwirkend hellte derselbe die Gemüter auf. Während für beide Teile gesondert eingespannt wurde, ließ sich zusammen noch manches plaudern. So erzählte der lange Veit denn auch von seinem Zusammentreffen mit dem Kohlschreiber im kleinen Dreikönigswirtshause. Er malte die Geschichte nicht übel aus, so daß der würdigen Frau Grogger das Lachen ankam. Aber schon drängte sich wieder der Ernst vor und sie bemerkte:
»Daß denn dieser Bruder Liederlich gar nicht gut tun will! Schad' ist's um ihn, denn in seinen anderen Sachen ist er sonst recht geschickt und verläßlich. Wenn er's so fort macht, richten ihn die Menscher noch ganz zugrund! Sicherlich ist er's auch, der die arme Marie ins Unglück gebracht hat ... wie er's angestellt hat, kann ich mir freilich nicht denken. Bei der hat's viel gebraucht! ... Also zum Dreikönigwirt heißt's, wo's glührote Gesichter abgesetzt hat? Ich will mir diese Resi im Vorbeifahren ein wenig anschauen, aber erst, wenn ich was ausgerichtet hab' beim Gericht.«
So trennte man sich; Veit lenkte nach Wolfsberg und weiterhin ab, die Wirtin aber bestieg nach einer Weile ihre Kalesche, sauber und warm gekleidet. Sie brauchte keinen unnötigen Staat; auf und auf bis weit ins Steirische hinein ist sie bekannt, und daß sie ein schönes Anwesen beisammen hat, daß sie gut haust, weiß man nicht minder.
Als das leichte Wägelchen tiefer in den Graben gelangte, wehte der rüstigen Alten von der Lavant her eine kühle Lust zu und ein dünner, aber feuchtfrostiger Nebel machte sich fühlbar, Grund genug, daß sich die alte Frau ins Umhängtuch schmiegte. Sie tat's unbewußt. Plötzlich aber rief sie:
»Halt, Sepp, und kehr um, aber gleich!«
Sepp gehorchte und schwieg, verwunderte sich aber nicht wenig und mochte sich denken: Was ist denn der wieder durch den Kopf gefahren?
Fragende Blicke gab's auch, als das Wägelchen so bald wieder daheim hielt.
Die Wirtin kümmerte sich aber nicht darum, sondern stieg eilends in die Mägdekammer hinauf, riß da die Lade auf, in welcher wohlgeordnet der fernen Marie Siebensachen beisammen lagen, und raffte daraus das Weichste und Wärmste an sich.
Dann atmete sie befriedigt auf, indem sie wie sich selber auszankend bemerkte:
»Daß man nur so gedankenlos sein kann! Ich hülle mich ein, als ging' es ins Bärenland, und die Unglückliche sitzt vielleicht schon in der kalten, feuchten ›Keuche‹ und hat nichts als ihr Sonntagsgewandl.«
Mit dem Bündel stieg sie wieder ins kleine Gefährte und das Rößlein davor war redlich beflissen, das Versäumte einzubringen; im garstigen Graben aber wollte es der Frau Groggerin jetzt besser gefallen als zuvor.
Einiges Aufsehen mußte die Fahrt immerhin erregen. Was will die Gertrauderin im steirischen Oberland? Hat sie nicht alles, was sie braucht, im gesegneten Lavanttal näher und besser zur Hand?
Derlei Fragen ließen sich voraussehen, und die alte Frau hatte Zeit, auf eine schickliche Antwort zu denken. Sie konnte den Herrn Rat Vogel, ihren Vetter, ausspielen, und das war ein Brocken für die gröbste Neugierde. Daß besagter Vogel kürzlich Witwer geworden, war ein Umstand mehr, der sich gut ausnahm, und mit Familienandeutungen kann man recht geheimnisvoll tun.
Nur mit der armen Marie und deren trauriger Wallfahrt wollte die Groggerin nicht gern aufwarten; und doch war vielleicht das ganze Tal voll davon. Da war guter Rat teuer; lügen taugt nichts, prahlen mit seinem eigenen Herzen mag man nicht, und eine feine Ausrede stellt sich selten zur rechten Zeit ein.
Die brave Frau brauchte aber nicht viel zu bangen. Nur die geschäftige Dachswirtin, die, wenn sie einen kärntnerischen Schrei ausstößt, aus dem Wald eine steirische Antwort erhält, machte eine Anspielung auf die Dirn, und selbst dieser Schuß ging fehl; sie sagte nämlich: »Die Frau Groggerin hat's freilich leicht; alle Wochen einmal könnt' sie ausfahren bei der Überhilf', die sie daheim zurückläßt. Unsereins muß sich alleweil selber plagen ... Sie hat doch noch die saubere Marie?«
So die Dachswirtin; und die Gertrauderin darauf: »Ja, diese Dirn wegzugeben, hätt' mir noch keinen Augenblick einfallen können; aber von der Frau Dachswirtin weiß man wohl, daß sie lieber noch ein übriges Mal selber nachschaut, als sich auf fremde Augen verläßt ... 's ist eh das Bessere.«
So darf man schon ausweichen; denn von einer, die man gern hat, und die selber durchgegangen ist, läßt sich immerhin sagen, daß man sie nicht weggegeben hätte. Und selbst darüber, daß sogar die Dachswirtin an der Straße nicht wußte, was mittlerweile mit der sauberen Marie vorgefallen, braucht man sich nicht zu verwundern; denn in der damaligen Zeit hätte die eine Provinz schlafen und laut schnarchen können, die daneben gebettete würde vielleicht nichts gehört haben davon.
In Judenburg kehrte die Gertrauder Wirtin beim Reuschl ein. Dieses Wirtshaus war zugleich Brauerei und hatte die Post. An der freien Mauerecke kam das Stadtwahrzeichen, das grüne, steinerne Jüdel mit dem Spitzhütl und den eingestemmten Armen, zum Vorschein. Die vorderen Gastzimmer hatten den Platz und den darauf abgetrennt von der Kirche stehenden Turm vor sich. Vom letzteren hat ein hartnäckiger Junggesell seinerzeit gesungen:
Z' Judenburg auf'n Platz
Steat der Turm ganz alloan:
Han die Rechte nöt g'fund'n,
Will krat a so toan!
Es war spät geworden, als sie ankam, und an diesem Abend konnte die Frau Groggerin nichts Besseres mehr unternehmen, als nach einem gemütlichen »Plausch« mit den Wirtsleuten sich zeitlich zur Ruhe zu begeben und das Vorhaben noch einmal zu beschlafen. Sie wollte, wenn sie sich's auch nicht so genau sagte, in die Gerechtigkeit eingreifen, und das war immerhin ein heikeliges Geschäft; da war's geraten, den Kopf beisammen zu haben.