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Einem wonnigen Traumleben glichen die folgenden Wochen. Nun lernte ich Djayi auch kennen in der ganzen, wilden, ungezügelten Kraft ihrer tief-leidenschaftlichen Natur. Wie ein reißender Strom ergoß sich die so lange zurückgedämmte Flut ihrer Liebe über mich, die sie zart und keusch all die Zeit als heimlich und verborgen genährtes Flämmchen in sich bewahrt hatte. Schönheit und Harmonie blieben ihr aber auch dann getreu. Wie es bei ihr gar nicht anders sein konnte, fühlte sie sich so völlig und heilig mein Eigen wie irgend eine deutsche Frau, die durch Priestersegen einem Manne angehört. Und ich? Ohne irgend welchen Ballast an Gedanken und Empfindungen gab ich mich dieser Liebe hin.
Nicht rohe Begierde hatte mich dieses Kind an mich reißen lassen. Allmählich erst, mit der Erkenntnis dieser schönen, schlummernden Seele, hatte sich eine Leidenschaft meiner bemächtigt, die ihre Wurzeln in gutem Boden hatte. Und so stand ich unter Gottes freiem Himmel, barhäuptig, hocherhobenen Kopfes, mit klaren Augen und sah frei empor zu seinem Throne:
»Herr Gott, der du da droben wohnst, ich danke dir!«
Ich habe mir dann einen Tag gemerkt, einen so ganz besondern. Vom frühen Morgen an sauste und brauste der Wind, und wo die Bäume dünner standen und er sich so recht der Schneemassen bemächtigen konnte, da fuhr er in sie hinein und wirbelte toll und fauchend Wolken silbernen Staubes auf. Ganze Lawinen stürzten ins Tal, die Wände hinab, und mählich brachen sich die Wasser Bahn in den Eisrillen, durch die sie rollend und klirrend hinabschossen. Durch all den Winter ging doch schon die Ahnung eines fernen Frühlings. Mancher Bach würde dieses Jahr früher herniederrauschen als sonst, um sich der weißen Felder und Inseln zu bemächtigen und sie ihrer flockigen Decke zu entkleiden. Lehmig und grau würden sie darauf stehen, um eines Tages ein feines lichtgrünes Netz zu weisen, über dem die erste Lerche trilliert.
Ein Schreiben Binchens kam jenen Tag, und ich füge es hier ein, wie es war:
›Mein Bruderherz! So lange, lange haben, wir uns nicht gesehen und nicht geschrieben. Arvid hat eine sorgenvolle, mühsame Zeit in seinen Geschäften, jetzt, da es überall gärt und wühlt. Unser altes Düsseldorf wackelt, wie mich bedünkt, nun ebensosehr wie alles Feste, Alte ringsum im ganzen Land und noch darüber hinaus. Du bist durch Dein langes Fortsein wohl recht aus Deiner alten, deutschen Haut gekommen. Aber ich glaube wohl, daß sie stets am Nagel neben Deinem Bett hängt, wie ein guter, treuer Flaus, in den Du hineinschlüpfen kannst, wenn Du spürst, daß Dich ohne ihn Dein Fleisch brennt und Du stierst. Aber lassen wir das ›draußen‹! Ach, Gottlieb, mein alter Junge! Wie schwer ist es, eine gute Mutter und zugleich eine gute Frau zu sein. Wenn mir das in eigenem ehrlichem Streben gelang, so danke ich es großenteils der Treue und Hingebung Ursulas. In diesen Wochen habe ich das wieder so recht erkennen können. Nach den Masern wurden die Kinder sofort vom Keuchhusten ergriffen, – so kam neue Not und Sorge. Die Kleinen durfte ich nicht im Stich lassen, aber meinen Großen doch auch nicht. Der aber hatte sein schwarzes Binchen so sehr nötig. Und weil mir Ursula so schön half bei meinem Neste voll kranker Spatzen, so durfte die Alte von Zeit zu Zeit ausfliegen. Nicht lange; nur ein paar Zimmer oder ein paar Straßen weit. Aber Arvid hatte doch etwas von mir. Was kann eine Frau mit wenigem nicht alles tun?! Ein bißchen Lauschen, Fühlen, ein klein, klein weniges schüchtern Raten und – Lachen! Daß das der Mann über seinen Sorgen nicht verlerne, ist ein Großes! So blicken wir nun getroster in die Zukunft, in der sich freilich Wolken zu ballen scheinen, wenn auch nicht an dem Himmel unserer Häuslichkeit. Aber da draußen eben! Siehst Du, ich habe Angst. Ursula aber blickt mit ruhigen, sichern Augen in jene Ferne, wo die Blitze zucken, und wenn die Donner grollen, sieht sie wieder aus wie früher. Die wilde Ursel! Ihre Brauen ziehen sich dunkel zusammen, ihre Lippen schürzen sich kurz: ›Laßt sie nur kommen!‹ So steht sie da, wie ein Fels in der Brandung. Für sich, – und dabei für alle! Nach eigener Wahl ein stilles, eigentlich doch einsames Frauenleben und doch nicht still und doch nie und nimmer einsam. Und sie wird's auch niemals ganz werden. – Ach, Gottlieb, daß ich's nur gestehe, – ich habe heimlich einen heißen Wunsch begraben! Seltsam, wie die Wege des Lebens so wirr und doch so klar führen. So bald erkannte ich, daß Du nur genesen würdest an einem Herzen. Mit dieser Erkenntnis aber erklangen auch schon die Sterbeglöcklein meiner Wünsche, und ich schloß den Gruftdeckel darüber. Verzeihe, daß ich es berühre. Ich weiß dem Traum, den Du nun träumst, freilich kein Ende hinzuzudenken. Aber träume ihn trotzdem glücklich! Hoffentlich steht Deine Felsenburg, – gebe es der Himmel, daß wir Dir im Sommer Kopf und Ohren darin voll und toll jubilieren können, – hoch genug über der kleinen Welt, die unter ihr weiter ihren Gang geht und in der es kriecht und krabbelt wie überall. Also, träume, Gottlieb, mein Junge Du, lange und süß. Ich weiß. Du vergissest auch darüber nicht uns alle und vor allem nicht Dein ewig getreues
Binchen.‹
Lange behielt ich den Brief in der Hand und sah tief hinab auf das Gewirrs kleiner Dächer und Dächelchen, über das der Sturm brauste. Ja, da krabbelte und zappelte, lebte und webte es freilich emsiglich. Aber was scherte mich das? Plötzlich gewahrte ich, wie sich ein dunkler Punkt ablöste. Schwarz glitt er von einem weißlichen Hause ab, das in einer Schneehalde stand, nahe der Pfarrkirche. Einer Ameise gleichend, bewegte er sich in bestimmter Richtung. Höher, immer höher. Längs des schmalen Pfades kam er herauf. Ein Mann erklomm mühselig diesen steilen, glatten Weg, der zu meiner Felsenburg führte, über den die Wasser schossen, Eisplatten sich legten, zerbrachen, und weicher Schnee sich breitete. Der Sturm heulte auf, duckte sich dann in einen Hinterhalt, ließ einen verschnaufen und fing das wilde Spiel von neuem an.
Drüben saß Djayi vergnüglich im Palmengärtlein und studierte die für sie so seltsamen Zeichen, die ich ihr aufgeschrieben hatte; sie durfte nicht heraus zu dem schlimmen Gesellen, der da wütete und fauchte und wie ein Feind lauerte, sie sich zu unterwerfen. ›Djayi‹, schrieb ich mit spitzem Finger in die weiche Kruste, von der die äußern Scheiben der Doppelfenster bedeckt waren. ›Ein Traum‹, schrieb ich darunter. Und ich dachte dazu laut: »Ja, ein Traum! Liebes, gutes Binchen!«
Da meldete Rieke:
»Gnädiger Heer, de Heer Pastor es do!« – –
… Also ja, der Herr Pastor war dagewesen.
Freilich kurz genug; der mühsame Weg hatte sich nicht gelohnt für den alten Mann. Ich dachte viel nach über jenen Besuch, vielleicht mehr, als nötig gewesen wäre. Wider Willen kam das so, denn alles war doch so unendlich einfach gewesen. Warum ich wilde, fremde Sitten in unser nordisches Land verpflanzen wolle? Warum ich – der Greis hatte fernes mißtönendes Glockengeläute gehört – warum ich glaube, hier einer verpönten Lust besser frönen zu können als in meinem Heimatsort, aus dem ich hätte flüchten müssen und in dem man mich verachten gelernt hätte bis zum Steinewerfen? Was ich zu tun gedächte in der Zukunft? Ob ich noch immer weiter Ärgernis geben wolle? Aber es gäbe etwas, das Rettung ermöglichte. Fesselten mich unlösliche Bande an diese wilde Heidin, so sollte ich eine Christin und dann mein ehrliches Weib vor Gott und den Menschen aus ihr machen. Er wisse wohl, ich sei im katholischen Glauben geboren und dem Schoße einer gottesfürchtigen Familie entsprungen; o, er habe vieles, vieles gehört.
Aha, dachte ich, die Zungen haben bis hierher geleckt, und dann sprach ich. Es war nicht allzuviel. Ich klärte zuerst das Nötige auf, dann meinte ich: »So hoch und einsam, ohne Nachbarn steht hier mein Haus, so einsam wie ich selbst. Die Stadt ist weit da unten. Wer kann durch meine Fenster und Türen sehen? Er kann es selbst dann nicht, wenn er ganz besonders, um Ärgernis zu suchen, sich hier heraufbemüht. Seien Sie versichert, Hochwürden, ich bin kein Ungläubiger!! Aber dem einen weist das Schicksal geraden, leichten Weg dem andern steinigen und mühevollen. Durch mich geschieht keinem Menschen Leid; weder am Körper noch an der Seele. Und ich denke mir so: Sehe jeder, wie er's treibe, und wer steht, daß er nicht falle. Das hat ein großer Held des Geistes geschrieben. Es tut mir: so leid, Hochwürden, daß Sie sich diese Mühe gemacht und sich selbst diese Enttäuschung bereitet haben. Ich, weiß, daß Sie es gut meinen, und deshalb danke ich Ihnen auch recht herzlich!« – –
Der greise Pfarrer ist nie mehr auf meine Felsenburg gestiegen. Unser Riekchen ging immer seltener hinab, von mir gar nicht zu sprechen. Was wir brauchten, kam von auswärts, das meiste von Düsseldorf, wo die Meinen für uns sorgten. Verpackten sie selbst etwas, so lag fast immer für Djayi ein besonderer Gruß von Ursula dabei. Ein paar Blumen, Konfekt, kandierte Früchte oder hübsche Bilder. Aber, was immer es auch war, wir fühlten, es bedeutete einen Gruß aus ihrem warmen, starken Herzen.
Was sich Rieke Trewes wohl manchesmal denken mochte? So klar kam es nie heraus. Aber aus allem konnte ich wohl bemerken, daß sie das ›wilde Heidenmädchen‹, das freilich zu ihrem größten Erstaunen, dem sie auch, oft Ausdruck gab, so gar nicht ›wild‹ war, nicht für voll nahm. Was sie niemals, weder mir, noch einem Mädchen unserer Rasse verziehen hätte, was ihr da als unmoralisch und verbrecherisch erschienen wäre, mochte ihr bei diesem nicht so des Aufsehens wert dünken. Etwa wie ein edles Pferd, ein gutdressierter und teurer Hund oder ein seltner, kostbarer Vogel, die man sorglich pflegen müsse, wenn man sie sich zur Freude erhalten! wolle, so betrachtete sie ohne Zweifel das fremde Mädchen. Allmählich nur schien mir das ein klein wenig anders zu werden. Djayi stieg auch etwas in ihrer Achtung durch einige deutsche Brocken, die sie erlernt, und durch die sie sich ihr ein wenig verständlicher machen konnte. Damit verlor sie in den Augen der Buckligen etwas von ihrer Tierähnlichkeit.
Von der sogenannten Heimat, an die mich nur ein Gemisch von Erinnerungen band, hörte ich nichts mehr und war dessen froh. Allein, daß giftige Spinnen von dort her ihre Beine in Bewegung setzten, böse Säfte von sich gaben und ihre weiten Netze bis hierher spannten, das konnte ich ja schon aus dem Bemühen des guten Pfarrers entnehmen. Schon bald nach unserer Flucht hatte Ursula das Rote Haus verkauft. Ein Waghalsiger hatte darin trotz der unsichern Zeit eine Seifenfabrik errichtet.
So lebte ich meinen Traum, in dem wir, von Lenzesstürmen begleitet, jauchzend dem blutjungen Frühling entgegenschritten, der, wenn auch noch aus weiter Ferne, sich doch schon da und dort ankündete und Vorboten aussandte. Ich las nun viele Zeitungen, soweit solche nicht bereits verboten waren. Djayi aber mochte diese schwarz-weißen Blätter nicht leiden. Von Zeit zu Zeit brach bei ihr noch das Ungezügelte, und Wilde durch, um dann nur noch reizvollerer Sanftmut und Hingebung zu weichen. In einem jener Anfälle zerschnitt sie eines Morgens zornig einen großen Zeitungspack und streute die Schnitzel zum offenen Fenster hinaus.
»Da, da, alles fort, alles weg. Das Schreckliche, das Häßliche, das, was deine Stirn so finster macht und dich immer fortnehmen will von Djayi!«
»Törichtes Kind, das du bist! Niemals tu mehr dergleichen. Hörst du?«
Reuiges Weinen, Bitten um Vergebung, Küsse! Weib, Kind, Geliebte!
Wenige Tage später wurde sie krank und machte mir mit Husten und Fieber Sorge genug. Aber Riekchen Trewes, die mir seit einiger Zeit viel gerader geworden dünkte, half mir hingebend treu, sie zu pflegen. Mir fiel ihre Sorgsamkeit geradezu auf. Als Djayi sich wieder erholt hatte, erzählte sie mir munter lachend, daß sie etwas ersonnen habe, die schiefe Schulter des alten Mädchens, über die es sich in seinen späten Tagen noch so gräme, etwas auszugleichen. Es wäre ihr so gut gelungen, und nun sei Rieke ganz anders zu ihr. Djayi lachte besonders schelmisch, wenn sie bemerkte, wie die Verwachsene sich heimlich, erst mit forschenden, dann mit äußerst zufriedenen Blicken in jedem Spiegel besah.
Die Frühlingsstürme sausten so wild durchs Land, daß sie alles Feste zu zerstören und abzureißen schienen, Gelockertes noch lockerer machten, bis es abfiel. Köpfe und Sinne verwirrten sich aller Orten. Ich las und las immer eifriger in meinen Zeitungen und horchte immer begieriger hinaus ins weite Land. Zu meinen Füßen lag friedlich das kleine Städtchen, und der Rheinstrom, voller und mächtiger, als ich ihn je gesehen, brauste stolz da unten hin, seine Wellen rauschten zu mir herauf: ›Deutsch, Deutsch, Deutsch, Deutsch! Das andere verschlingen wir – schlingen wir!‹ Kleine Buben kamen, sangen patriotische Lieder und schwangen schwarz-rot-goldene Papierfahnen dazu. Und richtig, dort drüben, der reichste Bürger der Stadt, der hatte eine schwarz-rot-goldene Fahne auf den First seines Hauses gesteckt.
Eines Tages, da zu aller derer Verwunderung, die wie aus dem friedlichsten Schlummer auffuhren, die Arbeiter des großen Eisenwerkes plötzlich keck und wild Lohnerhöhung verlangt hatten, was ich von dem mir sehr ergebenen Briefträger erfuhr, da brachte der mir auch einen Brief von Arvid. Dieser erregte mich nicht wenig. Ich las die Zeilen und zitterte für die Meinen. Du achtundvierziger Lenz, du braustest daher auf wildem Roß, und Blut spritzte auf unter deinen Hufen! Aber ich hielt mich auch bereit. Freilich heimlich vor Djayi und nur mit Rieke verhandelnd, indem ich sie tausend Eide unverbrüchlichen Schweigens schwören ließ. Ich bat sie, sich insgeheim darauf einrichten zu wollen, eine Zeitlang mit Djayi allein zu bleiben, denn mein Schwager sei in arger Bedrängnis, und wie alles sich vermutlich gestalten könnte, würde meine Anwesenheit für die Frauen und Kinder vonnöten sein. Die Revolution stünde vor der Tür, ja, sie habe eigentlich schon begonnen.
Djayi aber merkte nichts. Sie träumte nur vom Lenz und lauschte Tag und Nacht aus seine leisen Tritte. Sollte er ihr doch jene Freiheit der Bewegung wiederbringen, die ihr der harte Winter geraubt hatte!
Der schreckensvolle, furchtbare achtzehnte März kam! Ich meinte, die Sturmglocken bis zu uns heraufheulen zu hören, die als schauriger Ruf von Berlin her durchs Land tönten. Und ein dumpfes Grollen rollte durch die weiten Gauen, Gewitter auf Gewitter zog auf, schwül und drückend lag die Vorfrühlingsluft über den Rheinufern. Die Stunde kam, da mich. die Meinen riefen – angstvoll – und ich ging. Ein kurzer, fast harter Abschied von Djayi, die wie betäubt, verständnislos dastand.
In ihrer Not faßte sie meinen Arm.
»Ein Kriegszug, Herr?«
»Nenne es immerhin so, Djayi. Siehst du, ich muß gehen, die Meinen zu beschirmen. Meine Schwester, die Kinderchen und – Ursula!«
Unbeholfen, aber unendlich innig flüsterte sie diesen Namen. Gefaßt ergab sie sich.
Schwer genug war es, bis Düsseldorf zu gelangen, mühselig, langwierig und sogar gefahrvoll. Und dann mein Einzug! Johlen und Schreien, Züge ganz und halb betrunkener Patrioten, und ab und zu Militär-Patrouillen, die sich drohend zeigten. Ich hatte den Eindruck, unter Tobsüchtige geraten zu sein. Mein Schwager atmete erleichtert auf, als ich eintrat. Er war sehr erregt und bleich bis in die Lippen.
»Gut, daß du nun da bist! Ich muß hinaus in die Fabrik. Die Rasenden! In sinnlos wilder Wut zerstören sie, was ihnen im Weg scheint und es doch gar nicht ist. Ich muß am Platze sein, das Meinige zu verteidigen und zu retten, was immer möglich ist!«
»Arvid, wenn du es nur kannst ohne Gefahr!« warf ich ein.
»Es ist Pflicht,« sagte er kurz und rauh, aber seine Augen irrten flackernd zu seiner blassen Frau.
»Du wirst an mich, – an uns denken, mein Arvid,« mahnte diese mit bebender Stimme; und dann ruhig und überzeugt: »Ich weiß, daß du gehen mußt, aber auch, daß wir dir über allem stehen.«
Ich fühlte die Einigkeit von innen heraus, die diese beiden verband im Denken und Fühlen.
Grauen, Entsetzen und Not ließen uns einen Tag erleben, der als blutiger Markstein jene drangvolle Zeit, die einen Übergang zum Großen, Freien vorbereitete, bezeichnete.
Gewehrsalven knatterten, grollend und drohend dröhnte der erste Kanonenschuß, ein zweiter und mehr folgten. Trommelwirbel, Geschrei Verzweifelter und Geängsteter, Trompetenblasen und ein schauerliches Getute, wie von vielen Nebelhörnern, vermengten sich. Nacht schien sich am Hellen Tage über die Stadt zu senken, ein Wimmern die Luft zu durchzittern, die Pulverdampf mit sich führte. Binchen stürzte ins Zimmer: »Herr des Himmels, eine Barrikade bauen sie an der nächsten Ecke!«
Ich brachte die Kinder mit der Wärterin in den tiefen Keller und verrammelte und verwahrte Türen und Fenster, so gut es ging. Jedem Schüsse, jedem Gelärm versuchten wir die Richtung abzulauschen, ob sie nicht von da kämen, wo wir Arvid wußten. Die nächste Stunde ließ uns aber nicht mehr weiter sorgen und denken als für den Augenblick. Der Kampf entbrannte an der Ecke, nicht weit von unserem Hause, wo sie die Barrikade aufgeführt hatten. Ernst und blaß legte Ursula in ruhig sichern Bewegungen frisch geladene Pistolen und eine Flinte, die sie aus Arvids Zimmer geholt hatte, auf dem Tisch bereit. Binchen wanderte in stiller, verhaltener Verzweiflung zwischen dem Keller, worin sie den weinenden Kindern und der heulenden Wärterin eine gelassen lächelnde Miene entgegenzubringen suchte, und dem ersten Stockwerke hin und her. In die Straße herein zog der Kampf. Sonderbar gemischtes Volk war mit einer Abteilung Infanterie zusammengestoßen. Ein Mensch, dessen blutgetränkter Rock schauerlich genug aussah, war in einem Knäuel Ringender in ein besonderes Handgemenge mit einem kaum dem Knabenalter entwachsenen Leutnant gekommen. Durch Ladenritzen spähend, lugten Ursula und ich hinaus, während Binchen, als ginge sie das alles nicht weiter an, im Zimmer saß und die besorgt blickenden Augen ins Dunkel bohrte. Da! Mit eins rissen Ursula und ich den Laden auf, mit eins stand auch schon der junge Offizier im Fensterrahmen des Parterres und verteidigte sich von oben her gegen eine Übermacht, der er, bis sich Hilfe durchgearbeitet hätte, unterlegen wäre. Zwei Steine zerschmetterten unsere Fenster, dicht an meinem Kopfe hinsausend, und einer drang mit lautem, wehem Ton in die Kastenuhr, die Herr Roosemann dem jungen Paare kürzlich erst geschenkt hatte. Ein Schuß neben mir, noch einer, des Offiziers Angreifer schwankte, daneben fiel ein anderer. Näher rückte die bunte Mauer, die diese Wilden zurückzudrängen suchte. Ich riß den Offizier von rückwärts herein, schwer stürzte er zu Boden, stand aber sofort heil, wenn auch verwirrt, wie ein Träumender auf. Die Läden zu, Stein aus Stein prallte an dem festen Eichengefüge ab, ein wildes Brüllen draußen, und Schuß auf Schuß. Eine kleine Pause, worauf das Kampfgetümmel ferner klang. Ich sah auf. Ursula spähte durch eine Spalte, den Lauf der geladenen Flinte an ein Loch des Ladens haltend, das bereits zwei Schüsse zugleich durchgebohrt hatten. Ursel, die wilde Ursel wie einst! Nun aber tapfer, groß und heldenhaft!
Eine seltsame Ruhe, die plötzlich um das Haus und in der Stube herrschte! Wie ferne Brandung schlug nur mehr ein grauenvolles, blutiges Leben an unser Ohr. Da ließ Ursula die Hand sinken, aus der die Waffe glitt. Sie tastete nach dem Kopfe, feucht und rot klebte es auf dem goldbraunen Gelocke.
»Um Gott! Sie sind verwundet!« rief der Offizier.
»Keine Bedeutung, ich merke es erst jetzt.«
Die Schwester war schon mit Wasser und Verbandzeug da; ich untersuchte mit bebender Hand die Wunde, die zum Glück nicht bedeutend war.
»Gibt es einen Weg nach außen jetzt? Ich muß wieder zu meinen Leuten stoßen,« fragte der Jüngling in größter Erregung.
Binchen sah ihn fest an.
»Kommen Sie. Durch den Garten wird es ja wohl gehen.«
Ich schaute verwundert auf die Schwester, die mir nun Ursula überließ und sich anschickte, den Offizier zu begleiten. Dieser trat noch rasch auf uns zu und nannte einen uns fremden, adeligen Namen. Er war ein Preuße. Stramm stand er vor uns, dann sprach er warm:
»Danken könnte da keiner, wie er sollte; möge es mir später doch noch gegönnt sein!«
Jedem drückte er die Hand. Zuletzt trat er zu Ursula und behielt deren pulvergeschwärzte Finger lange in den seinigen. In strahlender Begeisterung, von der sein Kindergesicht glühte, sah er in die flammenden Augen. Wie heller Jubel klang es:
»Vom Rhein das tapferste Mädchen, es lebe hoch! Hurra! Hurra! Hurra!« Heiß küßte er beide Hände Ursulas.
Dann wandte er sich zum Gehen. Unter der Tür klammerte sich Binchen plötzlich an seine Schultern.
»Wissen Sie nichts vom östlichen Stadtende? Wie steht es mit der großen Maschinenfabrik?«
»Haben Sie es denn nicht dröhnen hören? In die Luft gesprengt!« –
Seine lachenden Augen sandten noch einen Strahl in die dämmernde Stube zurück. Das Pochen seines jungen, hoffnungs- und kampfestrunkenen Herzens hatte ihn den Wehschrei der gebrochenen Frau überhören lassen.
Wir haben ihn nie wiedergesehen. Sein Name war einer der ersten, die ich auf einer Totenliste las.
Bleiern, eine tiefe Nacht, aus deren schwarzem Gewinkel sich Gespenster reckten und Blutgeruch zu entströmen schien. Aus den Falten ihres weiten Mantels tropfte es unaufhaltsam herab zu dem mächtigen, roten Strom aus der Erde.
Im Wohnzimmer neben der zerschmetterten Kastenuhr stand eine, mit einem Tuche bedeckte Bahre. Daneben kniete meine Schwester und, ein Zeichen starrer Verzweiflung, lagen ihre weißen, eiskalten Hände über dem verstümmelten, Leib ihres toten Mannes. Zitternd ruhten die meinigen auf dem Haupte der jungen Witwe. In einer Ecke der Nebenstube drückte Ursula die Kinder an sich. Die weiße Stirnbinde, die sie trug, leuchtete aus dem Dunkel. –
*
Die duftende Pracht in der Ecke hinten beim Rindenhäuschen war schon verblüht. Aber waren die Veilchen auch dahin, so drängte sich doch neuer Segen ans Licht und an die Sonne. Der wurde ja nicht alle, droben im Rheinerhaus! So ruhig und friedlich grünten dort unten die im Lenzeskleide stehenden Ufer, zwischen denen des Stromes sonnenbeglänzte Wellen dahinflossen, als hätte es keinen Unfrieden, kein Morden, kein Blut auf der Welt gegeben. Es war Ruhe ins Land gezogen, – ›Ordnung‹, sagte der brave Bürger.
Das Leben auf der Felsenburg war anders geworden. Hätte sich es im Wasser des Rheines spiegeln können, dann würde man dort hellstes Licht neben den härtesten Schatten gesehen haben. Jauchzende Lust – todstilles, finsteres Schweigen endloser Öde – Liebe, inbrünstiges, dankbares Erkennen eines heißen Glückes und bittere Not der Verlassenheit! Aber ein treuer Genius schwebte über der Welt der Gegensätze und spann silberne Fäden so dicht, daß sie ein unzerreißbares Gewebe, und endlich die Brücke wurden von einem zum andern. Freundschaft! Jene echte, die aus einer ewig und alles überdauernden Sympathie besteht, war Königin auf dem Felsenneste! Sie dämpfte den Jubel überströmender Jugendkraft und Lust und strich mit milder Hand über die Schärfen, die der Schmerz besitzt. Sie erstickte zu helles Lachen, aber auch zugleich den Schrei der Verzweiflung. Eine milde Güte half dem Frühling bei seinem großen Werke.
Allmählich wurde in unserer Mitte meine Schwester wieder die Mutter ihrer Kinder und unser eigen. Nicht mehr völlig blieben ihr Geist und Herz im Totenlande. Langsam wandten sie sich wieder dem Leben zu, an dessen goldenem Rande die Kinder standen und mit flehenden Blicken die Händchen hoben: ›Mutter, wo bist du? Kehre zurück zu uns!‹
Daß Ursula in ihrer einfachen Größe Segen spendete nach allen Seiten, war nichts Wunderbares. Aber wie Djayi Fühlung zu gewinnen verstand mit den Geschehnissen und Wirkungen nach innen und außen, blieb mir unfaßbar. Scheu, selbst wie verwundet, hatte sie sich erst zurückgehalten von diesem Horte tiefsten Schmerzt, den meine Schwester in sich trug. Dann aber, eines Abends, war sie es, die die ersten erlösenden Tränen aus dem, zu unserer schwersten Sorge so völlig erstarrten Herzen, lockte.
Neid- und eifersuchtslos hatte Ursula gesehen, wie die Kinder nach überwundenem staunendem Bangen sich der Fremden fast ebenso völlig hingaben mit ihren kleinen Seelen und Herzen, wie ihr selbst. Stundenlang widmete sich ihnen Djayi, stets darüber wachend, nicht nur der aus tausend Wunden blutenden Frau, sondern auch der überlasteten und der Ruhe bedürftigen Ursula die lebhafte kleine Gesellschaft etwas abzuhalten. So hatte sie sich müde damit gespielt. Dann aber war sie gegangen, hatte eines ihrer weichen, seidenen Tücher geholt und darunter das silberne Instrument verborgen. Ich sah das wohl, und auch, wie sie mit den federnden Tritten, die ihren elastischen Körper bewegten, den Garten durchquerte. Sie erstieg den terrassenförmigen Teil bis zum Ende, wo eine Bank, ans Gebüsch stoßend, einen herrlichen Blick aus den Rhein bot. Hinter dem Strauchwerk breitete sich ein alter Judenkirchhof aus.
Der Mond war bereits heraufgezogen, da suchten Ursula und ich die Schwester und Djayi. Wir erblickten ein Bild, das wir niemals vergaßen. Aus der Seitenlehne der Bank saß das Mädchen. Verklärt blickten seine Augen zum Himmel empor, und während die Saiten nur leise erklangen, sang sie halblaut, oft nur wie gehaucht, ›Das Lied vom Trost‹. Ich kannte es. Einmal hatte ich es gehört, damals, noch auf dem Schiffe. Ursula an meiner Seite mochte den Inhalt empfinden und den weichen Gesten nachfühlen, mit denen die Sängerin die Worte begleitete. Meine arme Schwester aber lag, in das Tuch gehüllt, halb im Schoße Djayis, und während ihre Arme deren Leib umklammerten, bebte ihr eigener in wildem, aber segenbringendem Schluchzen.
»Allah, deine Größe und deine Weisheit sind erhaben, denn du entsendest den heiligen Schmerzt Allah, du Höchster im All, über den Menschen, die du erkennst! Du reichst Früchte zur Erntezeit! Reich ist die weite Erde in ihrer Fülle des Lichtes, das wir nur sehen, weil Schatten sind. Allah, du hast uns die Träne gegeben, Allah, Allah! Dafür sei gepriesen!«
An jenem Abend aber blieb Binchen zum ersten Male wieder in unserer Mitte, und später, als Ursula von einer besonders komischen Äußerung des kleinen Arvid erzählte und Djayi in ihrer oft so verblüffend drolligen Art einige deutsche Worte einwarf, da war sogar ein Lächeln über das schmal gewordene Gesicht geglitten. – –
So verging der Sommer, und als es sich jährte, daß ich die Felsenburg bezogen hatte, da deuchte mich ein flüchtiger Traum, was doch in der wechselnden Fülle der Freude und des Leides Wirklichkeit gewesen war. Dreihundertundfünfundsechzig Tage – wo waren sie geblieben? Goldene Tropfen aber waren damit ins Meer der Ewigkeit geflossen. Wäre Arvids schreckliches Ende nicht gewesen und dann seiner Eltern Tod – denn rasch war Frau Roosemann dem Gatten gefolgt – so hätte ich sagen können, daß ein reines gesegnetes, ein Erntejahr damit verschwunden war.
Ende Oktober verließen mich meine Gäste. Ursula erfüllte Binchens Wunsch, ihr vorderhand zur Seite zu bleiben. So waren Djayi und ich wieder allein.
Manchmal betraf ich sie, besonders wenn das Wetter schlecht war und den Herbst ankündete, am Fenster oder aus der Terrasse stehend, wie sie mit traurigen, sorgenvollen Augen ins Weite blickte. Sah sie mich aber nur von weitem kommen, war's, als wichen graue Wolken der strahlenden Sonne.
»Djayi, hast du Heimweh?« fragte ich sie eines Tages. Das Nomadenblut in ihren Adern mochte sich rühren.
»Heimweh, Herr? Solches, das mich triebe, dich zu verlassen? Das kann Djayi nicht fühlen!
»Nun denn, dann solches nach deinem Sonnenlande?«
Sie schwieg, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich umfing sie und wies in die bunte, jetzt wieder hellbestrahlte Herbstesherrlichkeit hinaus.
»Noch ist ja die Sonne auch bei uns; und einen Winter hast du ja schon gut miterlebt. Hattest du da alle Sonne entbehrt, mein Mädchen?«
»Sie war da, Herr, und es war die meiner Seele und meines Herzens. Djayi müßte sterben ohne sie!«
»So wirst du leben so lange wie ich!«
Und sie kauerte nieder und umfaßte leidenschaftlich meine Kniee.
»Djayi, du bist als hättest du dennoch Furcht vor etwas. Ich fühle das. Willst du dich mir nicht anvertrauen?«
Sie war aufgestanden, an die Brüstung getreten, und ihr kleiner Fuß stieß an das raschelnde, welke Laub, das der Gärtner zum Wegbringen hier gehäuft. Die frischherbe, klare Luft führte den Duft des Mostes, der von unten aus den Fässern stieg, mit sich und einen leichten Moder- und Verwesungsgeruch. Da schweifte ihr Auge über all die gelben und rotbraunen Baumkronen und blieb an einer haften, die schon fast kahl, all ihres Schmuckes beraubt, in den Abendhimmel ragte. Ein Schauer überlief ihren Leib. Fester hüllte sie sich ein.
»Nun, Djayi?«
»Herbst,« murmelte sie; »Tod und Sterben! O Herr, ich fürchte mich so sehr!«
»Kind, das du bist! Herbst! Ist sein buntes Bett nicht das Lager neuer, keimender Saat? Frisches, munteres Leben blüht aus all diesem Verfall. Du hast es doch gesehen, wie der Frühling daraus erstieg, und er kommt wieder, jedes Jahr!«
Traurig starrten die dunkeln Augen ins verglimmende Abendrot.
»Frühling? Es ist zu lange, Herr, viel zu lange!«
Als aber der Abend dann milde blieb, änderte sich ihre Stimmung. Sie lachte, sang muntere Lieder, und ihre schneeweißen Zähne bissen in das Fleisch der saftigen Früchte. Sie trank begierig den süßen Most und tanzte auf der Terrasse im Mondenschein, bis sie mir in bacchantischer Lust freudetrunken und sehnsuchtsvoll in die Arme fiel.
Jetzt, da längst wieder die Ruhe ins Land gezogen war, hatten die Menschlein da unten auch wieder Zeit, sich mit mir zu beschäftigen. Aber das Gesetz konnte mir nichts anhaben. Und dennoch wurden mir nach und nach die Halbheit und die steten Angriffe aus irgend einem Hinterhalte unangenehm. Ob wohl Djayi jemals Christin werden würde?
Und in einer Nacht fragte ich sie:
»Mein geliebtes Mädchen, möchtest du mein Weib sein?«
In tiefstem Erstaunen blickte sie mich an.
»Dein Weib, Herr? Bin ich es denn nicht?«
»Nein, Djayi, nicht nach unsern weltlichen und kirchlichen Gesetzen.«
»Aber nach Allahs Wunsch und Willen, Herr! Das ist mehr, das ist alles!«
»Es wäre um unseres Friedens willen besser, die Gesetze träten in Kraft.«
»Wenn es sein muß in diesem Lande, so tue, was dir gut scheint.«
Gleichmütig rauchte sie weiter, indem sie blaue Wolken um sich blies. Auf der Ottomane wohlig ausgestreckt, die Arme über dem schönen, schmalen Kopfe verschränkt, blinzelte sie unter den langen Wimpern hervor ins lodernde Kaminfeuer.
»So ganz einfach ist das nicht, Djayi. Du müßtest das selbst wollen und vor allem,« – ich beobachtete sie scharf, – »du müßtest deinen Glauben abschwören!«
Als tönten plötzlich silberne Glöckchen, so lachte sie nun auf, hell und klingend; nur unendlich komisch wirkte auf sie, was ich in sicherer Erwartung einer tragischen Szene klopfenden Herzens ausgesprochen hatte. Wie so oft hatte ihr lebhafter Geist schon wieder einen der jähen Sprünge gemacht, wie sie mir nicht fremd an ihr waren. Als hätte ich kein Wort von irgendwelcher Bedeutung gefügt, so sprach sie nun eifrig von ihren Bienen, deren Zucht und Leben sie so unendlich interessierte und mit denen sie sich so viel beschäftigte. Ich aber wußte und fühlte deutlich und sicherer, als wenn es Djayi geschworen hätte, daß sie in ihrem Glauben verharren und nie und nimmermehr Christin werden würde.
Obwohl ich so lange Jahre rastlos tätig gewesen war, empfand ich dieses beschauliche Leben durchaus nicht unangenehm. Ich verbrachte auch keineswegs meine Tage in faulem Dahinträumen. Die Veränderungen in Haus und Garten, bis Rheinerhaus das war, was ich wünschte, nahmen mich sehr in Anspruch. Das Ordnen meiner Notizen für ein regelrechtes Reisetagebuch, das ich fein säuberlich zu schreiben beabsichtigte und dann auch wirklich verfaßte, wie das Errichten und Sammeln einer ausgiebigen, mir anstehenden Bibliothek brauchten Zeit die Hülle und Fülle. Die geschäftlichen Korrespondenzen mit Hamburg waren auch sehr umfangreich, und ich reifte einmal selbst hin, was damals noch langwierig genug war. Dann gab es ein stürmisch-wonniges Wiedersehen mit Djayi!
Sie war und blieb die Krone meines Lebens und mein größtes Glück.
Ich hatte so gut wie keinen Verkehr. Nur der Arzt, der unten in dem Neste ein unbefriedigtes Leben führte und der doch den Mut nicht fand, durchzuschneiden, was ihn dort fesselte, fand gern und oft den Weg zu mir. Wir waren uns sympathisch und verbrachten manche Stunde beim goldenen Wein, unter heitern und tiefernsten Gesprächen, während Djayi zu meinen Füßen saß. Manchmal sang und tanzte sie auch, und die Augen des Mannes, die immer nur Alltägliches geschaut, blickten dann in ein Märchenland voll leuchtender, ungeahnter Pracht, und er war glücklich wie wir. Ich hatte auch durch Zufall die Bekanntschaft eines jüdischen, sehr reichen Mannes gemacht, der eine prächtige Villa, eine halbe Stunde von Rheinerhaus entfernt, besaß. Eines Tages hatte ich ihn inmitten des Judenfriedhofes zwischen zwei Gräbern sitzen sehen, als ich auf dem höchstgelegensten Punkte meines Gartens gestanden und von der Terrasse auf den Strom hinabgeblickt hatte. Sein scharfgeschnittener Kopf mit den klugen Zügen und dem etwas melancholischen Blick seiner dunkeln Augen, die mich an diejenigen Djayis erinnerten, gefiel mir wohl. Da er still wie in tiefem Sinnen saß, vermied ich, im Gehen hart aufzutreten, um ihn nicht zu stören. Allein ein Zweig, der krachend unter meinen Füßen zerbrach, verriet meine Anwesenheit dennoch. Er schrak zusammen, sah auf und grüßte dann höflich. Ich dankte ihm ebenso. So traf ich ihn zwei- bis dreimal immer an derselben Stelle. Eines Tages wechselten wir ein paar Worte, nachdem wir üblicher- und eigentlich überflüssigerweise unsere Namen genannt hatten. Dann befragte ich ihn wegen dieses romantisch, gelegenen Gottesackers, der so dicht an mein Besitztum grenzte.
»Ja, das ist ein herrliches Fleckchen hier. Meine Urgroßeltern, meine Großeltern und ein paar Verwandte sind da noch begraben. Sie haben im Städtchen unten gelebt, gedarbt und rastlos gearbeitet als arme Handelsjuden. Wo heute meine Villa erbaut ist, stand ein kleines Häuschen. Das hatte sich mein Vater mit Selbsterworbenem errichtet, und darin gebar mich meine Mutter und – starb an mir. Sie aber durfte schon nicht mehr hier oben ruhen. Ihr Grab ist eines in der Judenecke unten, wo alle meines Glaubens liegen, die da später noch gewohnt haben. Ich aber stehe eben in Unterhandlung mit der Stadt und dem Landrat. Der Zeitraum, für den die jüdische Gemeinde diese Stätte erworben hat, ist nun um. Die Gräber, außer denen meiner Familie, sind ja alle längst verfallen und vergessen und von Unkraut überwuchert, sie sollen nun beseitigt, die Gebeine gemeinsam der Erde übergeben und dann der städtische große Weinberg hier weitergeführt werden. Es mag ja eine Schrulle von mir sein, aber diese uralten Steine mit ihrem wuchernden Efeu, die die irdischen Überreste der Meinen bedecken, und der romantische Zauber längst vergangener Zeit haben mir's angetan. Ich möchte auch die Ruhestätten meiner Vorfahren schützen können und habe große Lust, es mir ein gut Stück Geld kosten zu lassen, den Friedhof, wie er hier ist, zu erwerben. Lachen Sie mich immerhin aus, lieber Herr, aber jeder hat ja wohl irgend etwas, an dem sein Herz so besonders hängt. Ich kann's ja sagen, zu sparen brauche ich nun nicht mehr. Das liegt hinter mir, und vielleicht haben das meine Vorfahren auch schon abgebüßt!«
Die schlichte, einfache Art des Mannes berührte mich wohltuend, und dies kleine Erlebnis brachte mir Herrn Josua Hochheimer näher. Da er gleichfalls Bienen züchtete wie ich, das heißt eigentlich Djayi, tauschten wir auch darüber unsere Meinungen aus, und er gab mir manchen wertvollen Ratschlag. Von Zeit zu Zeit besuchten wir uns.
Die ›Judenschrulle‹, wie's die Leute nannten, sollte meinem Nachbar allerdings Geld genug kosten. Aber damit erreichte er auch sein Ziel, und die Stadt überließ ihm den kleinen Friedhof. Hocherfreut berichtete er es mir noch am selben Abend, während seine Hände mit den goldenen Blättern spielten, die der Wind auf den Gräbern seiner Väter zusammengetragen hatte.
Es war ein milder Winter, der ganz zag erst allmählich einsetzte, so daß wir bis Mitte November noch stundenweise draußen sitzen und täglich spazieren gehen konnten. Auf der Sonnenseite, blühten sogar noch Monatsrosen, und des Gartens bunte, mannigfaltige Pracht schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Um Weihnachten war noch kaum Schnee gefallen. Ein leiser Frost war endlich kühlem Regen gefolgt. Djayi begann nach der schönen weißen Decke zu verlangen und nach den Kristallblumen, und die schwarzen, dürren Äste, die zum Himmel ragten, fand sie ohne die zuckerige Umkleidung gar zu häßlich. Wieder kamen die Armen aufs Rheinerhaus, und abermals schwelgte Djayi in der Wonne des Gebens unter der geschmückten Tanne, auf der die vielen Lichter brannten. Aber das Schönste des Festes war doch, daß dieses Jahr meine Schwester, deren Schmerz, abgeklärt, wie eine unsichtbare Dornenkrone um ihr Haupt lag, mit den Kindern und Ursula kam. Als das Christkind noch Schnee und Schlittenbahn sandte, die Felsenburg in Sonnenschein hüllte und huldreich verklärte, da fand der Jubel kein Ende.
Am letzten Abend vor der Abreise trat Ursula ernst auf mich zu:
»Gottlieb, wie geht es Djayi? Fühlt sie sich wohl?«
Ich blickte sie befremdet an:
»Wie du siehst, sehr gut; warum diese Frage?«
»Bemerkst du denn wirklich nicht, daß sie anders geworden ist? Wir sahen es gleich. Schmäler, ihre Bewegungen eigentümlich müde, ihre Augen übergroß und von unirdischem Glanze.«
»Sie hat noch niemals geklagt und ist wie immer. Aber jetzt gerate ich in Sorge und will heute noch den Doktor rufen, der das Kind untersuchen soll.«
»Ja, Gottlieb, tu das, und noch – eines! Brauchst du die Ursel eines Tages, lieber Freund, ein Wort nur, und sie ist da.«
»Ich weiß es, Ursula!«
»So lebe wohl, und möge alles gut gehen.« Sie strich mit der Hand über die Stirn. »Man ist oft so sonderbar. Es gibt Tage, da scheint ein graues Netz sich über alles Heitere, fröhlich Farbige zu spinnen!«
»Auf und nieder eben, Ursula, Schatten und Licht! Man muß den Mut behalten!«
»Ja, Gottlieb, behalte deinen Mut und lebe wohl!«
Der Arzt hatte nichts Erschreckendes finden können, empfahl mir aber, wenn es in meinem Interesse liege, alle Sorgfalt aufzuwenden und womöglich mit Djayi später nach Algier zurückzugehen. Ich hatte dies selbst schon in mein weiteres Lebensprogramm aufgenommen; allein diese zwei Jahre, die ich Herrn Rosemann zugesichert, mußte ich aushalten. Der Doktor meinte auch, daß Djayi die kurze Spanne Zeit wohl aushalten werde. Es sei ja nichts Schlimmes zu finden.
So zog ich eines Tages ganz wohlgemut aus, um zweimal vierundzwanzig Stunden mit einigen Gästen Josua Hochheimers zu jagen und dann bei ihm ein Mahl einzunehmen. Er selbst war kein Jäger. Die Stunde meiner Heimkehr hatte ich bestimmt und wußte, daß Djayi die Minuten bis dahin zählen würde. Recht munter, mit dem Waidmannsglück, das ich gehabt, wohl zufrieden, trat ich vom Hause meines Freundes, bis wohin die Wagen uns zurückgebracht, den kurzen Heimweg an. Auf leichtes Tauwetter war Frost gefolgt, die Wege waren stellenweise spiegelglatt gefroren. Ich entsinne mich noch, daß ich nach der riesig scheinenden, merkwürdig roten Mondscheibe gesehen hatte, daß ich stolperte, einen Schuß hörte, Flammen vor den Augen sah, und dann in ein schwarzes Nichts tiefer und tiefer versank.
Ich erwachte daraus in meinem Bette, und der Arzt, Djayi und Riekchen waren um mich bemüht. Aber der furchtbare Schrecken, den ich ihnen eingejagt hatte, war unnötig gewesen. Meine Verwundung war lange nicht so schlimm, wie die Gefahr, daß ich hilflos dem Froste jener strengen Winternacht preisgegeben geblieben wäre. Djayi aber hatte mich gesucht und auch gefunden. Von äußerster Unrast getrieben, war sie den einzigen gangbaren, Weg zur Villa Herrn Hochheimers mir entgegengegangen, mein Verbot ganz vergessend, bei dieser Kälte an die Luft zu gehen. So fand sie mich blutbefleckt und starr, und wie sie mir dann selbst gestanden, hatte sie gemeint, der Schreck würde sie töten. Sie lief bis zum Hause meines Gastgebers, und die noch dort beim Weine sitzenden Gäste wurden aus ihrer frohen Zecherstimmung böse aufgeschreckt. Ich war auf dem Glatteise gestolpert, mußte vergessen haben, meine Flinte zu sichern, so war der Schuß los und zwar hart an den Rippen vorbeigegangen. Ich erholte mich rasch wieder, und die Fleischwunde schloß sich in kurzer Zeit. So trug ich weiter keine schlimmen Folgen, sondern nur einen tüchtigen Schnupfen davon.
Dafür aber erwuchs mir eine andere Sorge. Riesenhaft stand sie vor mir, und dieses graue Weib wich und wankte nicht mehr aus Rheinerhaus. Mit den Stürmen, die der Februar sandte und die uns umbrausten, kam auch ein Gespenst auf schwarzen, mächtigen Schwingen daher und setzte sich auf den First meiner Felsenburg. Die Sorge aber wies mit bleichen Fingern darauf und starrte mich an aus trüben, glanzlosen Augen. Und eine Nacht, da ich schlaflos lag, die Atemzüge Djayis zu belauschen, jedesmal zusammenschrak, wenn sie hustete und dabei stets einen solchen Anfall krampfhaft zu ersticken suchte, da ging ich endlich in kummervoller Ratlosigkeit in den Garten hinunter, der erstarrt lag und in dem die Bäume sich ächzend bogen. Ich hatte gemeint, das Tor in den Angeln gehen und Laden, vom Sturme gelockert, schlagen zu hören. Jedoch alles war in Ordnung. Das Gespenst aber sah ich sitzen, und seine schwarzen Schwingen legten sich breit über das Dach meines Hauses. Es hob den gebeugten Kopf und sah mich aus tiefen, leeren Augenhöhlen an. Es war der Tod!
»Djayi,« schrie ich auf. Hinein ins Haus, die Stufen empor, schon stand ich wieder vor ihrem Lager. Mattweiß brannte die Ampel und legte einen friedlichen Schimmer in das kleine Gemach. Mit weit offenen, großen Augen lag das Mädchen ruhig und hatte die Hände über der Brust gefaltet, wie man eine tote Christin zu betten pflegt. Ein Schluchzen wollte mir die Kehle hinaufsteigen, furchtbar und eifern umklammerten mir kalte Finger Brust und Herz. Nein, nimmermehr! Warum, – warum? Sie war ja nicht krank, und der Arzt hatte nichts zu entdecken vermocht. Es konnte nur dumpfe, unbegründete Sorge sein, verbunden mit den Schrecken einer wilden Sturmnacht. Wehrend hob ich die Hände gegen den Giebel meines Hauses, aber ich fühlte, daß der stumme Gast dort nicht wich. Die Sorge stand und grinste mich an!
»Gut, Herr!«
»Aber du kannst nicht schlafen?«
»Warum auch? Wenn man so glücklich ist, sollte man es gar nicht tun. Man müßte so viel als möglich wachend genießen, statt sich selbst so vieler herrlicher Stunden seines Lebens zu berauben. Ich liege und denke.«
»Du denkst, – und an was?«
»An all mein Glück, das mir Allah bescherte durch deine große Liebe, o Herr! Was war Djayi? Und was ist sie jetzt? Sie war ein Nichts und nun Herrliches!«
»Ja, wahrlich, du bist Herrliches!«
Meine Stimme zitterte.
»O Herr, nur weil du mich dazu gemacht!«
»Djayi, mein Glück, mein Alles! Meines Lebens Kranz und Krone, bleibe bei mir.«
Ich umschlang sie zum Nimmerlassen. Ein Leuchten schien von ihr auszugehen, welches das der Ampel zu überstrahlen vermochte. Um den feinen Mund legte sich ein rührender Zug namenloser Zärtlichkeit, mit seinen Linien des Schmerzes. Müde schlossen sich ihre Augen, und das dunkel umlockte Haupt schmiegte sich dicht an meine Brust, meine linke Hand ruhte auf ihrem Herzen. So gab mir Djayi stumm ihre reiche Seele.
»Blumen sehe ich, – so viele Blumen, und sie haben herrlichen Duft,« murmelte sie, halb im Schlummer, »ja, Djayi wird immer bei dir sein und bei dir bleiben!«
Sie versank in tiefen, ruhigen Schlaf. Langsam verschwand das graue Bild der Sorge im blassen Lichte der Ampel, das des Mädchens Antlitz übergoß. Mir aber war, als verjage der heulende Sturm den schlimmen Gast über uns, und ich glaubte seine Schwingen zu fühlen, die er wider Willen breitete zur Flucht.
Gierig zog ich den Duft ein, der von den Möbeln auszuströmen und das Gemach zu erfüllen schien. Wie in einen warmen Mantel eingehüllt kam ich mir vor, von all den Dingen, die die Geliebte gebraucht und berührt, umschlossen von diesen Mauern und Wänden, die tausend und abertausend Atome ihres Körpers und Atems bewahrt haben mußten. Ich fühlte, ihr Sein war das meinige geworden, mehr als ich gewußt und geahnt, lind da ward es mir auch zur Gewißheit, daß es keinen Tod geben könne für das Große, Erhabene und Seltene, was mir das wundersame Geschöpf gespendet hatte. Therese Meinhardt hatte ich völlig vergessen können, die Erinnerung an sie war zum Schemen verblaßt. Djayi aber würde mit mir leben, und leben bis an mein Ende. Sie war die Liebe, die Liebe in einer großen, einzigen, dauernden Flamme!
Viele, viele Wochen kam es mir kaum mehr zum Bewußtsein, in welcher Jahreszeit wir uns befanden, welcher wir entgegengingen. Ich verließ Djayi kaum mehr auf Stunden, und tat ich es, so schritt ich wie geistesabwesend im Freien dahin, ohne die wärmer werdenden Strahlen der Vorfrühlingssonne, die wie spähend durch Wolkenfetzen lugte, zu verspüren, oder den bald lauen, bald wieder eisigen Wind, der launisch das Land durchzog. Eines Tages entdeckte ich, daß die Veilchenecke mit einem blau-violetten Teppich bedeckt war und eine Duftwolke von ihr aufstieg, die sich weit in den Garten hinzog. Ich pflückte mit dem Gärtnerjungen so lange, bis keine offene Blume mehr zu sehen war. Die ganze Pracht streute ich über Djayi und ihr Lager.
»Hier, hier und hier! Nun ist der Frühling da, mein Mädchen. Noch ist er gar zu jung, wild und wetterwendisch. Aber, wenn er erst ein wenig älter und zuverlässiger geworden, dann darfst du auch wieder herausgehen.«
»Ja – ja – das wird schön!«
Sie schloß die Augen, die so viel tiefer in ihre Höhlen eingesunken schienen. An den langen seidenen Wimpern glänzte es feucht.
»Noch einmal schön!«
»Djayi!« rief ich beschwörend.
Aber schon wieder lächelnd wehrte sie ab und erhob sich lebhaft. In Tanzschritten bewegte sie sich ins Palmenzimmer und wieder zurück zu mir.
»Siehst du, Herr, wie kräftig ich geworden bin? Djayi ist nicht mehr krank; nicht wahr, bald ist alles wieder völlig gut?«
»Ja, gewiß, aber du mußt sehr folgsam sein und dich auch schonen!«
Sie nickte und setzte sich auf meine Kniee. Die stets leicht gewesene Last war noch viel geringer geworden. Ernst sah Djayi aus zwei massive, mit Zeichen geschmückte Reifen herab, die angeschmiedet, immer enge ihre Oberarme umspannt hatten. Nun fielen sie klirrend vor, bis an das Handgelenk.
»Was machen meine Bienen? Fliegen sie schon fleißig aus, um Honig zu saugen aus all den Veilchen? Sie sollen nur arbeiten, damit wir Vorrat haben für die kleinen Kinder der armen Frau, wenn sie mit ihnen wiederkommt. Sie werden wohl lustig an der weißen Kost schmecken.«
»Du selbst issest den Honig ja auch so gern!«
»Ich? Ich? Ja – ja – früher! – Ist's nicht lange, lange her, daß das war?«
Sie wischte über die nachtdunkeln Brauen. Enge an mich gedrückt, sprach sie dann mit leiser Stimme von allem, was ihr durch den Sinn kam. Von dem, was gewesen, wie es geworden, von ihrer Kinder- und Jugendzeit im Sonnenlande, wie sie damals gedacht oder da und dort gehandelt hatte und wie sie glaube, durch das Gewordene sich verändert zu haben.
»Und dennoch, Djayi ist geblieben was sie war, wenn sie sich auch bisweilen so herrlich und groß dünkt. Das aber ist nur bei dir, ohne dich ist sie nichts!«
»Sage das nicht! Liegt nicht gerade darin der unendliche, ungebrochene Zauber, den du ausübst, daß du nur im Kleinen und Äußerlichen Fremdes angenommen hast und sonst geblieben bist, was du gewesen? Es ist soviel in dir Schlummerndes ans Licht gekommen. Ein warmer Sommer zog herbei und hat Knospenhüllen des Lenzes gesprengt!« –
Immer wieder kam mein Freund aus dem Städtchen herauf und untersuchte, befühlte und behorchte diesen schönen, kaum sichtbar und doch so rettungslos dahinschwindenden Leib. Er hatte nun längst allerlei festgestellt, fühlte aber seine Machtlosigkeit. Kopfschüttelnd und betrübt ging er wieder. Ich fragte ihn nichts mehr. Jeden Tag aber, da mir diese Blume noch blühte, empfing ich als ein Geschenk des Schicksals. Der Doktor sagte mir eines Tages: »Lassen Sie einen Klügern kommen als mich, lieber Freund; ich bin am Ende meiner Wissenschaft!« Aber auch der Klügere, es war jener Arzt aus Düsseldorf, der mich damals in meinem schweren Nervenfieber behandelt hatte, wußte nichts anderes und Besseres. Er murmelte ungefähr dasselbe von kranker Lunge und krankem Herzen, Änderungen durch klimatische Einflüsse, und gab wohl mehr pro forma einige Verhaltungsmaßregeln. Er war mit dem andern Arzt einig, daß man am besten und am menschlichsten handle, wenn man das junge Leben, das sich unzweifelhaft zu früher Rüste anschickte, so sonnig, süß und sanft wie möglich an das dunkle Tor geleite. Ich verzweifelte innerlich, gebunden und dadurch unfähig zu sein, mit Djayi nach dem Süden zu reifen. Aber mein Freund hatte den schrecklichen Trost für mich, daß auch das nichts helfen würde.
Wenige und traurige Zeilen zogen in jener Zeit aus dem Rheinerhaus hin zu meinen Lieben. Als gäbe ich Tropfen für Tropfen meines Herzblutes hin, so bettete ich jeden Abend wieder ein Stück Leides in den Schoß der Ewigkeit. Meine Schwester schrieb mir einmal:
›Bei uns ist der Frühling eingezogen, und mir und meinem Schmerze will er wohl. Die Kinder blühen um die Wette mit den Blumen, die auf meines Arvids Grab duften. Ein Hauch seines Wesens segnet schon die Seinen! So will ich tapfer sein in der verklärten Erinnerung an ihn; jeder neue Lenz soll und muß mir ein Stück weiter helfen. Und ist es nicht auch Frühling auf Rheinerhaus?‹
Und ich schrieb an die Liebe, Tapfere zurück:
›Ich will mich nicht beschämen lassen durch Dich und Deine Kraft. Aber es ist nicht Frühling auf der Felsenburg! Herbst, Niedergehen, Verfall! Ach, Binchen, der schönste und herrlichste Traum meines Lebens, er geht zu Ende!‹
Es sah aus, als träte in der Krankheit ein Stillstand ein und als erhole sich Djayi wieder. Jeden Tag konnte sie ein bißchen mehr die Maienpracht genießen, in die der Garten gehüllt war, jeden Tag ein bißchen weiter und kräftiger in sie hineinschreiten. Wenn sie ihre Zimmer verließ und ich sie auf meinen Armen die Treppe und die Steinstufen hinabtrug, mußte ich ihr vorher helfen, sich in ihre schönsten Gewänder zu hüllen und zu schmücken.
Und die Tage schwanden. – –
An einem leuchtenden Junimorgen hatte ich sie dann wieder so im Arme, und als ich mit meiner leichten Last an der Tür des Souterrains vorüberging, stand Riekchen mit gefalteten Händen da und sah mit nassen Augen auf uns. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht.
»Et is nit möglich, – nit möglich, so jong se is, so schön un jut se is, nee, nee, sowat! Un minem Buckel hat se mich beinoh jerad jemat, dat jote Dink!«
Laut aufschluchzend stürzte sie weg.
Draußen dufteten die Rosen leuchtend ums Haus, dessen ganze Schmalwand sie mit ihren Ranken bezogen. Hochstämmig blühten draußen ihre Schwestern in allen Farben, und da, wo sie am Vergehen waren, flatterten sammetne Blätter auf den frischgrünen Rasen. Ich bettete Djayi auf ein Lager und sammelte die zarten, zerfallenen Blumen, mit denen ich sie, wie sie es liebte, bestreute. Sie war frisch und lebhaft, wie sie nie mehr die ganze letzte Zeit gewesen. Es war so warm und schön, daß wir den ganzen Tag draußen bleiben und die Mahlzeiten dort nehmen konnten. Dann bat sie mich flehentlich, auch den Abend noch verweilen zu dürfen. Ich möge ein ganz besonders feierliches Mahl rüsten lassen; es wäre ja ein Fest zu feiern.
»Sonnen- und Rosenfest, Herr, und Djayis Genesung. Siehst du, das Blut fließt mir ganz anders durch die Adern, frischer, rascher, meine Glieder sind wieder straff und elastisch!«
Jauchzend sprang sie auf, und die Arme über dem Kopfe kreuzend, warf sie sich dann übermütig wieder auf die Kissen zurück.
»Küsse mich, Geliebter, küsse mich!«
Keine Rose im weiten Garten blühte und leuchtete so wie Djayis Mund – – –
Riekchen rührte wacker die Hände und schalt und lachte abwechselnd mit dem Gärtnerjungen, der ihr half.
»So reit, so reit, – o du dommer Jong. No spring eens, her mit de Schöttel. Nee, nee, so'n Freud, och so'n Freud! Dat Prinzeßche da wurd wedder jesond. Jekocht, gebrate und jejesse, on düchtig jetronke derbei, do kann se wedder stark werde. Och Jott, so verjnögt jeärbeit hat ech schon lang net mihr!«
Es gab kein feineres Damasttuch mehr in meinen Schränken, kein schöneres Stück Silber, als die, die unsere Gartentafel gierten. Alter, schwerer Rheinwein funkelte in den Römern, und jedes Gericht sprach von der Liebe, mit der Rieke es gekocht. Djayi aß von allem ein wenig und nippte immer wieder von dem goldenen Wein. Von mir dicht in weiche, warme Tücher eingehüllt, arbeiteten sich diese schlanken, beweglichen Glieder doch immer wieder daraus hervor. Sie waren nicht mehr kalt und schwach.
Der aufsteigende Mond sandte am Gartenende seine ersten Strahlen durch die ehrwürdigen, feierlichen Bäume; um uns aber fliegen da und dort winzige Lichterchen aus dem taufrischen Rasen auf, zwischen Büschen und Sträuchern, und mehr und mehr flogen herbei in lautlosem, traumhaft schönem Reigen.
»Ob es arme, irrende Seelen sind?« flüsterte Djayi, »oder Erlöste, Glückliche, die uns erzählen wollen, was war und sein wird?«
Ich küßte sie nur stumm und heiß und sah in die herrlichen Augen, die den Flug der Leuchtkäferchen mit Wonne verfolgten. Weder des Mondes bleiche Pracht, noch die Feierlichkeit der rosenduftdurchwobenen Nacht konnten heute Djayi traurig machen. Ein unablässiges Beben und Zittern verhaltenen Lebens schien durch ihre Adern zu rieseln.
»Ach, Herr,« seufzte sie verlangend auf, »lasse mich heute tanzen und singen!«
»So tue es, Djayi!«
Da zog sie auch schon das silberne Musikinstrument hervor, dem sie so harmonische Laute zu entlocken vermochte. Von den duftigen Gewändern umflattert, schlank und licht stand sie im Mondschein, der wie ein Mantel ihre Gestalt umfaßte. In plötzlicher Bewegung griff sie nach meinem vollen Glase, und ehe ich es hindern konnte, leerte sie es auf einen Zug. Ein übermütiges Lachen, hell und klar wie ein Glöckchen, war die einzige Antwort auf meine ängstliche Warnung. Dann tanzte sie in hinreißend schönen Bewegungen voll anmutiger Leidenschaft und Kraft. Plötzlich aber, unvermittelt, hielt sie inne. Die Hand aus das Herz gedrückt, stand sie still, und mit einem Ausdruck des Entsetzens und der Qual zugleich sah sie starren Auges in den Mond. Dann schwankte sie und lag mir gleich darauf in den Armen, der ich, von Schrecken ergriffen, die bitterste Reue über meine Nachgiebigkeit empfand. Aber nur wenige Augenblicke währte ihre Erschöpfung. Ihre Kräfte kamen wieder.
»Wie herrlich, o Herr, wie schön! Atmest du den Duft und den Zauber dieser Nacht wie ich? Allah sandte sie uns, dir und mir!«
Und dann sprach und sprach sie mit süßer, leiser Stimme; oft war's nur mehr ein Flüstern, oder so, wie ein Vogel zwitschert im Traume. Sie erzählte von sich, was sie gefühlt und gedacht bei ihrem Erwachen, das durch mich geschehen. Wieder und wieder malte sie in leuchtenden, wechselvollen Farben aus, wie jene überwältigende Macht gekommen war, die Größe ihres Gefühls in ihrer verarmten, vernachlässigten Seele auszulösen.
»So gibt es keinen Dank für Djayi, den sie dir spenden könnte. Nur ein großes, großes Weh wird sie dir antun müssen zum Lohne und damit scheidet sie von dir!«
Ich wollte, von dumpfer Angst erfüllt, nach ihr haschen und sie an mich ziehen, wie um mich ihres warmen Lebens, ihres Besitzes zu versichern; aber sie wich von mir zurück. Langsam, wie schwebend ging sie vor mir auf und nieder und begann leise zu singen. Es war wieder: ›Das Lied vom Troste‹:
»O Allah, sei bedankt, du hast uns die Träne geschenkt und die Wehmut; lind und süß steht sie zwischen Freude und Leid; sie ist die sanfte, ewige Flamme, die uns läutert! Allah, Allah, du bist groß!«
Sie hielt inne, kauerte sich zusammen und schmiegte sich an meine Kniee. Halblaut, als erzähle sie einem Kinde Märchen, sprach sie dann:
»Weißt du, Herr, von den beiden lieblichen Schwestern, die die weite Erde durchziehen? Die eine ist die Hoffnung, die andere ist die Erinnerung. Die erste gleicht der Morgenröte. Lange, ehe die Sonne erscheint, lächelt sie schon. Die andere umspielt uns wie des Abends Schein, wenn auch die Sonne längst untergegangen ist.«
Sie umschlang mich.
»Wie liebe ich dich, o du mein Herr und Gebieter, wie liebe ich dich!«
Mit einem tiefen Seufzer schloß sie die Augen; ich küßte sie wieder und wieder, dann bettete ich sie warm auf ihrem Lager.
Eine feierliche Stille breitete sich um uns aus. Nur leises Geraschel kleinen Getiers in den Büschen unterbrach sie. Manchmal erstarb auch das; dann hörte man, als wär's ein Hauch aus Menschenmund, die Blätter sich loslösen aus den Kelchen der verblühten Rosen. Tief unten rauschte der Rhein, der deutsche Strom! Und dennoch war mir plötzlich, als wäre ich mit Djayi weit, weit weg. Über uns ein tiefdunkel gefärbter, besternter Himmel, rings herum weiße Häuser mit flachen Dächern, auf denen die Leute saßen, standen und lagen und veratmeten von des Tages großer Schwüle. Vor mir auf stieg die Seele des unerschöpflichen Orients, und ich erfaßte diese Seele voll Poesie und tausendfältiger Legenden. Auch das Wesen und den Charakter dieser Menschen mit ihren farbenreichen, gedankenvollen Bildern. In ihnen herrscht die heißblütige Phantasie als Königin, wenn bei uns längst der kühle Verstand König ward.
Taghell lag der Garten vor uns ausgebreitet; jedes kleinste Winkelchen darin schien geheimnisvoll belebt zu sein; so auch die dunkeln Zweige der ernst aufstrebenden Bäume, die dicken, undurchdringlichen Blattdächer, die zahlreichen Büsche und die saftigen Wiesen, die wie silberbereift gebettet lagen. Dazwischen wie kleine Bäche, die gewundenen, kiesbestreuten Pfade. Die Berge über dem Strom, in dem es golden dahinfloß, dräuten dunkel, und weiß konnte man das kleinste Winzerhäuschen zwischen den Reben leuchten sehen. Als Wächter all der ruhenden Pracht strebte der uralte Römerturm in die Lust.
Djayi lag still, zuerst mit weitoffenen, auf mich gerichteten Augen, dann blieben diese geschlossen. Erschreckt fuhr sie aber gleich zusammen, als einer der Hunde kurz anschlug. Ein Wiesel, oder sonst ein Getier, mochte seinen Weg gekreuzt haben. Ich tastete nach ihren Händen, mit Schrecken fühlte ich sie brennend heiß und trocken in den meinen ruhen.
»Djayi, komme nun ins Haus und zu Bette. Schon allzulang überließ ich dich dieser Nacht!«
Ich schlang meine Arme um sie, um sie hineinzutragen. Aber starr und schwer lag mir der sonst so geschmeidige Körper im Arm.
»Djayi!!«
Entsetzen ergriff mich. Glanz- und ausdruckslos schienen mir auch ihre Augen zu sein. Gleich darauf begann ihr Leib sich zu winden und zu krümmen, wie in Schmerzen. Ohne einen Laut von sich zu geben, verzog sie ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, und wie Halt und Stütze suchend, griffen ihre Hände in die Luft. Ich hatte sie aufgehoben, aber eine Zentnerlast schien sie wieder niederzuziehen. Da rang sich auch ein Wehlaut zwischen den blauschwarzen Lippen hervor. Jeder Zug dieses, so ganz veränderten, Antlitzes ließ sich im klaren Lichte des mir jetzt erbarmungslos scheinenden und sonst so milden Gestirnes scharf erkennen. Mich überrieselte es eisig. Kalt wehte es mich von diesem Körper an. Mir war, als ströme er bereits Grabesluft aus, statt all der herrlichen Lebensglut, die er mir noch so kurz vorher geschenkt hatte.
Ein Windhauch, so sanft und wohlig wie eine linde Frauenhand, brachte die Jasmindüfte herüber von dem Judenfriedhof, auf dem die Büsche im ersten bräutlichen Schmucke standen. In ernstem Zuge glitten helle Wolken am Firmament dahin und verhüllten den Mond. Als er sein Licht in alter Reinheit auf uns herabsandte, beschien er das bleiche, aber nun ruhige Antlitz Djayis, dessen feine Züge wie aus Marmor gehauen schienen. Jeglicher Schmerz mußte jetzt von ihr gewichen sein. In unendlicher Liebe blickten mich diese traurigen Augen an.
»Ich gehe von hinnen, Geliebter, – küsse mich noch einmal.«
»Djayi, mein Mädchen!«
»Du warst meine Sonne, fern der Heimat, die mir doch nur fremd und ein Nichts geworden wäre, ohne dich! So möchte ich dich scheidend einhüllen in meine Liebe und meinen Dank, wie das Mondlicht uns in seinen Strahlenmantel.«
Sich an mich schmiegend, seufzte sie tief und schloß aus einen Augenblick die Lider. Unten rauschte der Strom:
›Dein Traum, – dein Traum, – Traum, – Traum!‹
Wie in alter Kraft hob sich dann der schlanke Leib, ihre Arme schlossen sich fest um meinen Nacken; angstvoll, berückend und verlangend zugleich, bohrte sich ihr dunkler Blick in meine Augen. Leidenschaftlich, heiß wie eine letzte, mächtige Flamme aufstrebt, bevor sie in Asche versinkt, stieß sie hervor:
»Komm, o Herr! Komm, – komm mit in mein Land!«
Dann fiel sie auf das Lager zurück. Stumm geworden, schien sie des Endes zu harren. Ihre Hände lagen kalt in den meinigen. Ein langer, brechender Blick:
»Dank, Herr, – Djayi, – liebte – dich – so sehr! Komm!« – –
Ich drückte ihr dunkles Haupt an mich, mir war, als blutete ich aus tausend Wunden. Wie ein Kind lag sie in meinen Armen. In unzähligen Perlchen stand kalter Schweiß auf ihrer Stirne, die scharf hervortrat. Schwärzliche Schatten machten sich breit um Nase und Mund.
»In – das – Sonnenland!! – – –«
Ein tiefer Seufzer. Ich lauschte und lauschte, stumm, tränenlos.
Stille, Stille ringsum, als hielte selbst der Nachtwind den Atem an, der erst in den Blättern geraunt und gerauscht hatte. Dämmerung zog in langen Schleiern schwarz vom Himmel herab, wenn wieder eine Wolke eine Sekunde lang den Mond verhüllte. Die Umrisse der Bäume und Sträucher verschwanden völlig. Immer neue Sterne schienen am Firmament aufzutauchen aus ferner Unendlichkeit.
Einem Schlafwandelnden gleich, mit weit aufgerissenen Augen, setzte ich dann mechanisch Fuß vor Fuß. Zudem feuchten, langen Grase glommen wie Phosphorfunken die ruhenden Glühwürmchen. An Rispen und Zweigen und an den Kelchen der Blumen hingen klare Tränen.
So trug ich meinen toten Traum durch die taghelle Nacht! – –
*