Paul Grabein
Der Ruf des Lebens
Paul Grabein

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Es war am Sonntagnachmittag nach dem Essen, das Marr bei Gerboths eingenommen hatte. Nun verließ er mit Hilde das Haus, in dem der Meister verblieb. Es war gerade am Abschluß eines größeren Werkes, da trieb es ihn immer wieder in sein Atelier. Allein ließ er die beiden darum fort zu ihrem Weg; einem längeren Gang in die Berge, hinauf zur hohen Wacht, einem Punkt, von wo aus sich ein besonders schöner Rundblick über die Gletscherwelt Glurns' bot. Indessen, ein Dritter gesellte sich ihnen doch noch hinzu. Am Gartentor wartete schon der große Bernhardiner. Schweifwedelnd drängte er sich jetzt an die Herrin, und Hilde streichelte ihm den klugen Kopf, der mit seinen klaren, tiefblickenden Augen etwas Menschenähnliches hatte.

Marr blickte auf das hübsche Bild, die jugendliche Anmut des Mädchens neben dem starken, mächtigen Tier. So fragte er:

»Er wußte wohl, daß er mitkommen durfte?«

»Ja, es ist sein gutes Recht. Jeden Tag gehen wir beide miteinander; ob Regen, ob Sonnenschein.«

Marr nickte.

»Mit ihm sah ich Sie ja auch am Abend, als ich hier ankam.« Und in der Erinnerung an dieses erste Begegnen fragte er sie nun im Weiterschreiten: »Sagen Sie, Fräulein Gerboth, – was dachten Sie eigentlich damals? Sie sahen mich so unverwandt an.«

»Damals . . .?« Auch sie tauchte in ihre Erinnerung unter, und ihr Antlitz bekam dabei etwas Versonnenes. »Da ging es mir wohl wie immer, wenn ich einen Wanderer durch unser stilles Tal ziehen sehe. Dann wird mir so seltsam zumute, so bang und sehnsüchtig, daß ich am liebsten zu ihm laufen und ihn bitten möchte: Bleib doch eine Weile! Und erzähl' mir von der Welt da draußen.«

Es berührte ihn eigen. Schweigend sah er auf sie nieder. Dann fragte er:

»Von den Leuten hier oben kommt wohl nur selten einmal einer hinaus und bringt Kunde von dort?«

»Nie! Ich glaub', Haus für Haus kann man nachfragen, und da ist kein einziger, der schon einmal mit eigenen Augen eine Eisenbahn gesehen hätt' oder gar ein Auto. Telegraph, Telephon – Wunderdinge sind's für uns hier oben, von denen man nur hört wie von einem Märchen – aus irgendeinem Fabellande.«

Marr erwiderte nichts, aber das Mitleid in ihm wuchs. Sie waren inzwischen über den Wiesenplan vor dem Gerbothschen Haus gegangen und nun mitten drin im Dorf. In sonntäglichem Schweigen lag es da, aber es war nicht die frohe Stille eines nur einmal rastenden frischen Lebens, nein – etwas Trauriges, Erstorbenes war in diesem Schweigen. Auch das Aussehen der Häuser atmete diese Schwere. Es fehlte den Fenstern der freundliche Blumenschmuck, wie man ihn weiter drunten im Tal antraf. Dafür trug jedes Dach am Giebel als ernsten Gruß das Holzkreuz, das Haus und Menschen der Obhut der Heiligen empfahl.

»Es gibt wohl gar keine Blumen mehr hier oben?« wandte sich Marr an seine Begleiterin.

»O doch – aber nur ganz vereinzelt. Es ist gar zu arg rauh hier. Der Herr Kurat erzählte mir einmal, daß wir in Glurns genau das Klima des Nordkaps haben sollen, hoch oben an der Grenze des ewigen Eises. Und es ist wohl wahr. So lang und schwer ist der Winter und allzu kurz der Sommer. Dafür freilich kommt der Frühling sozusagen über Nacht. Und das ist allemal so wunderschön. Wirklich, wie ein Wunder ist's: noch deckt Schnee und Eis die Hänge, da schießt's plötzlich wie mit Zauberkraft aus dem noch starren Boden. Die Krokusse durchbrechen oft wirklich die Eisrinde. So rührend ist das, daß ich schon manchmal davorgestanden hab', ganz still, mit gefalteten Händen – wie so das Leben, das liebe, warme Leben doch siegt über den Tod des Winters!«

Ein Blick traf sie nur wieder; aber ihm war dabei zumute nicht viel anders, als sie eben sagte. Und mit vollem Grund: Brach nicht auch bei ihr selber das Leben, verlangend nach Licht und Wärme, durch all die Starrheit ihrer Umgebung?

Doch sie gewahrte nichts von dem, was in ihm vorging, in ihrer Unbefangenheit. Zutraulich plauderte sie weiter mit einem Anflug von Schelmerei und Selbstverspottung nun.

»Aber selbst im Sommer werden wir nicht selten daran erinnert, daß wir hier so eine Art Polarmenschen sind. Eben noch Sonnenglut, da, ein Wetterumschlag, und plötzlich überziehen sich Matten und Wiesen mit einer dichten, weißen Schneehülle, von der das Grün der Bäume und Sträucher gar sonderbar absticht.«

Während sie so sprach, kamen sie gerade an der kleinen Kirche vorbei. Ueber dem Portal fiel Marr etwas auf, gerade wie eine Gedenktafel aus Erz. Hilde bemerkte seinen fragenden Blick, da erklärte sie:

»Auch die Inschrift dort erzählt davon. Die Tafel gilt dem Gedächtnis unseres früheren Kuraten, des Vorgängers des jetzigen. Der Aermste ist das Opfer der Berge geworden an solch einem Tag. Als er droben über den Planferner ging zu einem Versehgang – ein Ziegenhirt lag jenseits auf der Rotmoosalm im Sterben – am 29. Juli war's, mitten im Hochsommer, da hat ihn ein Schneesturm überrascht und er hat sich verfallen in einer Gletscherspalte. Verschwunden ist er da für immer. Schon über zwanzig Jahr' ist's her, aber die Leut' im Dorf meinen, der Gletscher gäb' ihn vielleicht doch noch einmal heraus. Mit einem Viehhändler aus Meran, der zu Großvaterszeiten ebenso verunglückt ist, auf dem Planferner, hat sich's auch so begeben – an vierzig Jahr' später ist er unten am Gletscherabbruch zum Vorschein gekommen und war noch ganz wohlerhalten, als sei er gestern verstorben. Die alten Leut' im Ort haben ihn gleich wiedererkannt. – Ja,« und sie wandte sich ihrem Begleiter zu, mit einem seltsamen, schweren Ernst in ihrem jungen Antlitz – »von solchen Dingen da wissen Sie freilich nichts, drunten in den Städten. Da sind die Sommer wohl gar anders! Vom Vater und dem Franz Hilgers hab' ich ja manchmal gehört, wenn sie gerad davon sprachen, von den langen, schönen Sommertagen mit den warmen Nächten; wo man im Freien sitzen kann bis spät am Abend. All das gibt's hier bei uns nimmer. Spät wird es Tag, selbst im Juli, August. Erst in der neunten Vormittagsstunde wird die Sonne sichtbar, dort droben über dem Bergkamm, und schon am frühen Nachmittag verschwindet sie wieder. Und nun erst im Winter, wo wir sie nur ein paar Stunden mittags sehen – wenn sie überhaupt hervorkommt bei der grauen Schneeluft.«

»Mein Gott, was ist das für ein Dasein!« Mit offenem Mitleid sah Marr sie jetzt an. »Wie kann man es nur aushalten hier, zeit seines Lebens!« Und als so sein Blick über die Häuser des Ortes hinschweifte, die nun schon hinter ihnen lagen, drängte sich ihm noch weiter die Frage auf: »Was treiben die Leute denn eigentlich hier? Womit verbringen sie ihre Zeit?«

Hilde Gerboth lächelte.

»Oh, zu schaffen gibt's hier schon halt genug. Die Leut arbeiten sogar hart. Im Sommer im Heu, auf den Wiesen hier oder droben auf den Almen. Und auch das Vieh macht viel Plage. Ein jeder hat ja hier ein paar Stück Rinder, Schafe oder Ziegen. Die müssen täglich auf die Weide getrieben werden, solang sie nicht immer draußen sind, den Sommer über, droben auf den Bergweiden. Und auch als Holzfäller verdient so mancher sein Brot.«

Still hörte er ihr zu, nun aber sagte er:

»Sie sprachen vorhin von Wandrern, die hier durchkämen – verirrt sich denn wirklich einmal ein Fremder hierher?«

»Gewiß, zur Frühsommerzeit namentlich. Da kommen die Hirten mit ihren Herden drunten aus dem Passeier zu uns herauf, wenn das Joch eisfrei ist. Viele Hirten mit Tausenden von Schafen, die dann hoch oben in den Bergen die Almen abweiden. Und ebenso noch einmal im Herbst, wenn die Herden wieder abziehen. Sie werden's selbst noch erleben; es ist bald um die Zeit. Es kommen auch viel Händler hier herauf, und Kauf und Handel gedeiht.«

»Aber sonst läßt sich wohl nie ein Mensch hier sehen? Ich meine, so richtig von draußen, aus der Welt. Denn die Hirten und Viehhändler aus dem Passeier sind schließlich doch auch nicht viel anders als die Leute hier in Glurns.«

»Freilich,« lachte Hilde, »von der großen Welt haben sie wohl nicht gar viel an sich! Bisweilen kommt aber auch von dort schon mal jemand herauf. Namentlich in den letzten Jahren, seitdem für die Touristen der neue Jochübergang geschaffen worden ist, vom Alpenverein. Da wandert doch mancher hier durch oder nächtigt auch beim Herrn Kuraten. Ja, der eine oder andere hält sich wohl auch einmal ein paar Tage auf, denn es gibt hier Gelegenheit zu lohnenden Hochtouren. Der Vater sieht's zwar nicht gern und auch der Herr Kurat nicht, daß die Fremden so hierherkommen. Sie meinen beide, es wäre für den Ort kein Glück; denn mit den Fremden würde schließlich auch das Neumodische den Weg hier herauffinden und gute alte Sitten zerstören, wie es weiter draußen im Tal schon überall der Fall sei.«

»Kann mir's wohl denken«, und er nickte vor sich hin.

Hilde Gerboth aber folgte weiter seinen Gedanken:

»Uebrigens hab' ich doch auch sonst schon Stadtmenschen zu Gesicht bekommen; ich bin ja öfters mit dem Vater drunten in Innsten gewesen.«

Marr sah sie an und wollte lächeln: sprach sie von dem Landstädtchen dort unten mit seinen zweitausend Ackerbürgern allen Ernstes als von einer richtigen Stadt, wie er sie gemeint hatte! Aber dieses Lächeln verging ihm gleich wieder. So stark empfand er gerade jetzt ihre ahnungslose Unberührtheit, die etwas Reines und Heiliges an sich hatte, wie der Hauch droben von den ewigen Firnen, in deren Obhut sie aufgewachsen war. So sagte er denn nur nach einer Weile:

»Und Sie entbehren nichts bei diesem Leben hier – fühlen sich glücklich und zufrieden?«

Sie machte eine Bewegung der Zustimmung.

»Es wäre ja auch undankbar, wollte es anders sein, wo mich so viel Güte und Liebe umgibt. Hab' ich nicht einen Vater, der mir alles andere ersetzt; der immer für mich da ist, mit dem ich jede Freude teile, der mir den Sinn erschlossen hat für alles Große und Schöne, in der Kunst wie in der Natur, mit dem ich sprechen kann über jedes Buch, das ich lese, und der mir immer wieder Neues und Wissenswertes zeigt? Wie lieb sind mir gerade diese stillen Stunden zu zweit, wenn wir so traulich beisammensitzen, über den Blättern seiner Sammlung, und er mir erzählt von den Herrlichkeiten Griechenlands und Italiens, die er alle selber kennengelernt hat in jungen Jahren, und die ich nun so greifbar vor mir habe bei seiner begeisterten Schilderung.«

»Ist Ihnen denn aber dabei nie der Wunsch gekommen, das alles, wovon Sie doch nur hören, einmal zu sehen mit leibhaftigen Augen?«

Ihre Züge nahmen unter seinen Worten langsam einen anderen Ausdruck an, wieder jenes Versonnene wie vorhin schon, und so antwortete sie nun:

»Doch – das schon. Wer möchte das auch wohl nicht?« Und ihre Brust weitete sich in einem geheimen Sehnen. Hinausziehen in fremde Länder, wallfahrten zu all den Herrlichkeiten der Welt – o wunderbar! Doch nun seufzte sie leise. »Aber wem ist das denn vergönnt? Doch nur ganz wenigen Glücklichen. So müssen wir übrigen uns schon bescheiden, wie in so vielen anderen Dingen auch. Verzichten zu lernen und dabei doch glücklich zu sein – darauf kommt ja überhaupt alles im Leben hinaus.«

»Eine trübe Philosophie – in so jungem Munde!«

»Aber hat sie denn nicht recht?« Ernst sah sie ihn an. »Alle die großen Weisen der Menschheit lehren uns doch diese Erkenntnis.«

»Was beweist das? Können nicht auch die Neunmalweisen irren? Und gerade diese, weil sie dem Leben fremd sind – oder feind. Denn, vergessen Sie das doch nie: all solche Weisheit kommt erst mit dem grauen Haar! Auch diese großen Philosophen waren einmal jung – und da dachten sie sehr wahrscheinlich wesentlich anders.«

»Und irrten eben, bis sie zu einer besseren Erkenntnis kamen.«

»Besser –? Wenn die Jugend wirklich irrte in allem, was sie tut, wäre dieser Irrtum mit seiner übersprudelnden Kraft, seinem Vorwärtsstürmen nach kühnen Zielen nicht hundertmal schöner und wertvoller für die Menschheit, als jenes trübe Verzichten der Weisen, die still dasitzen und für alles nur ein wehmütiges Kopfschütteln haben?«

Betroffen sah sie ihn an und blickte dann vor sich hin, in einem tiefen Nachsinnen, mit einem veränderten Ausdruck in den Zügen; als ob da plötzlich etwas in ihr wach würde, ihr selber zum Verwundern, ja zur innersten Beunruhigung. Und als wollte sie sich dessen gewaltsam erwehren, sagte sie plötzlich – laut, mit einem starken Nachdruck:

»Aber auch der Vater ist zu dieser Erkenntnis gekommen!«

Das Wort traf Marr wie ein geheimer Vorwurf. War es recht von ihm, sie so zu beunruhigen, ihre innere Festigkeit zu erschüttern und Zweifel zu erwecken an Dingen, die ihr die heiligsten waren? Daß es doch immer wieder mit ihm durchging! Da suchte er die Wirkung seiner Einwände eben abzuschwächen, indem er mit einem scherzenden Ton erwiderte:

»Ueber diese Fragen hat nun einmal jeder gute Deutsche eine andere Meinung – wir sind nicht umsonst das Volk der Denker. Und es liegt mir natürlich ganz fern, meine Ansicht als die alleinseligmachende zu verkünden. Jeder mag nach seiner Fasson selig werden – das Wort gilt wohl auch in unserem Fall. Doch genug nun der grauen Theorie – zurück zum Leben! Zu dem der Leute hier und dem Ihren, Fräulein Gerboth. Da wüßt' ich gern noch manches.«

Weiter wanderten sie, während sie so sprachen. Längst waren sie aus dem Bereich der Wiesenmatten hinaus und schritten in stetem Steigen den Hang hinan, wo sich zwischen dem Geröll eine spärliche Grasnarbe gebildet hatte. Nun ward in der Verlassenheit der Berghalde plötzlich seitlich von ihrem Weg ein seltsamer Steinbau sichtbar – halb Höhle, halb Hütte. Marr wies darauf hin.

»Wohl eine Unterkunft für das Vieh?«

»Nein, für Menschen. Hirten aus Meran hausen hier während der Weidezeit.«

»Eine recht bescheidene Unterkunft – und wie einsam!«

Marr sagte es und trat näher an die Hütte, die im Schutz eines überhängenden Felsens wie verloren in dieser Oede lag.

»Einsam allerdings.« Hilde nickte, und ein nachdenklicher Ernst trat auf ihre Züge. »Mir fällt da eine Geschichte ein, die sich zugetragen hat in dieser Hütte. Vor ein paar Jahren erst. Im August war's, da hatten wir hier ein Gewitter, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Donner rollten zwischen den Bergen, als wollten sie alles zerbersten, und vom Leuchten der Blitze war es oft taghell in der schwarzen Wetternacht. Da geschah es, die beiden Hirten, die hier vor dem Unwetter Zuflucht gesucht hatten, wurden erschlagen – zusammen, von demselben Blitz. An zwei Wochen haben sie dann hier gelegen, ohne daß wir drunten überhaupt etwas wußten von dem Unglück. Erst als sich keiner von den Leuten mehr Sonntags im Dorf sehen ließ zur Messe, hat sich eins aufgemacht, nach ihnen Ausschau zu halten – da hat man sie denn gefunden.«

Nachdenklich blickte auch Marr auf die kleine Hütte; dann sagte er im langsamen Weitergehen:

»Die Gewitter sind sicherlich besonders schwer hier oben – fürchten Sie sich nie dabei?«

»O nein! Der Vater hat mich gelehrt, schon als kleines Kind, in einem Gewitter nur das größte und gewaltigste Schauspiel der Natur zu sehen – erhaben schön bei all seiner Wildheit. So kommt es denn, daß ich seitdem immer nur diese Schönheit empfinde und darüber nichts von den Schrecken bemerke.«

Er sah sie an mit einem Verwundern, wie sie das so sprach in all ihrer Schlichtheit und Natürlichkeit, als etwas ganz Selbstverständliches. Sie ahnte offenbar nicht, eine wie große Ausnahme sie damit machte von den meisten Frauen, die sich ängstlich zusammenduckten beim ersten Donnerschlag. So ging er ein paar Schritte neben ihr her, bis er wieder sagte:

»Ja, solch ein Gewitter im Hochgebirge muß in der Tat seine wilde Schönheit haben. Ich möchte wohl einmal eines erleben. Obwohl auch ich vielleicht schon Aehnliches kennengelernt habe, drunten in den Tropen. Ein Gewitter dort im Urwald – das hat auch seinen eigenen, dämonischen Reiz.«

»In den Tropen?« Sie blickte ihn mit großen Augen an. »So weit weg waren Sie schon? Erzählen Sie mir doch davon, ich höre ja so gern von der Welt draußen.«

Da tat er nach ihrem Wunsch und sprach ihr von seinen Reisen: von der Fahrt übers Meer, vom Brand der Wüstensonne im Suezkanal, von Indiens Märchenwundern und dann von seinem Aufenthalt in Sumatra, von seinem Leben und Wirken dort, von den halb und ganz wilden Völkern, ihrem seltsamen Treiben, und von seinem eigenen Hausen mitten in der geheimnisvoll grünen Dämmerung des Tropenwaldes mit seiner warmen Treibhausluft, der fabelhaft wuchernden Ueppigkeit der Pflanzenwelt und dem Getier darin, von Jagd und Abenteuern, von harter, mühseliger Arbeit in Sonnenglut, von reißenden Regenstürzen, die in wenigen Minuten eine Sintflut erzeugten, eben noch trockene Wasserrinnen zu wildschäumenden Bergströmen machten und Mensch und Tier trieben, sich Rettung zu suchen auf den Inseln des plötzlich zu Sumpf und See gewordenen Urwaldes. Und wieder von verträumten, stillen Nächten, vom Perlenschimmer des Mondscheins im Walddunkel mit seinem phantastischen Spuk – so wundersam und zauberschön.

Selbstvergessen erzählte Marr, und ohne daß er es wußte, belebten sich seine Worte, fand er selber eine Freude am Mitteilen, am Aussprechen innerster Empfindungen, wie er sie noch nie einem Menschen offenbart hatte. Erst als er nun zu Ende war, kam es ihm zum Bewußtsein, wie er da eben aus sich herausgegangen war. Rasch warf er einen Blick auf seine Begleiterin; doch ihr Auge hing noch an ihm, wie sie es wohl während seiner ganzen Erzählung getan hatte: weit geöffnet, gleichsam gebannt. Da war er wieder beruhigt. Nein, er brauchte sich seiner Mitteilsamkeit nicht zu schämen, und mit einem leichten Lächeln sagte er nur:

»Da habe ich Ihnen aber lange etwas vorgeschwatzt.«

»O – ich hätte Sie noch stundenlang so anhören können!«

Sie sagte es, als ob sie aus einem tiefen, schönen Traum erwachte, und ein geheimstes Sehnen klang aus ihren weiteren Worten:

»So etwas gibt es also! Das ist nicht bloß ein Märchentrug. Ach, wie glücklich Sie sind, daß Sie das sehen durften!«

Abermals hatte er das Gefühl wie vorhin schon. Wenn es auch ohne jede Absicht geschah, es war trotzdem nicht richtig und gut, dies Sehnen in ihr zu wecken nach der weiten Welt mit all ihren Wundern, die ihr doch immer verschlossen bleiben sollten. Und wieder war er unzufrieden mit sich, während er nun schweigend neben ihr weiterschritt.

Ein tiefer, brummender Laut, der plötzlich die Stille durchbrach, entriß ihn seinen Gedanken. Suchend blickte er um sich. Da wies Hilde auf eine Mulde im Hang vor ihnen, aus der jetzt auch für sein Auge der spähend hergewandte Kopf eines Rindes sichtbar wurde.

»Die Leitkuh – gleich werden wir auch die übrigen sehen.«

In der Tat, einige Schritte weiter nur, und die ganze Herde tauchte in der Mulde auf. Ein Stück abseits, auf einem Feldblock, saß der Hirt; einsam, bei der eintönigen Arbeit des Wartens seines Viehes heute am Feiertag wie alle Tage. Sein ganzes Sonntagsvergnügen war es offenbar, daß er heute einmal einen sauberen Anzug anhatte und sich nun eins auf der Mundharmonika blies. Das schien ihm völlig zu genügen, um glücklich zu sein. Mit einem leisen Staunen sah Marr zu ihm hin, während sie mit einem Gruß aus der Entfernung an ihm vorüberschritten. Nun, wo sie ihn im Rücken hatten, wandte er sich an Hilde:

»Wie eng, wie armselig ist doch solch ein Menschenleben!«

»Kann man es nicht auch anders auffassen?« Und sie blickte zu ihm auf. »Der Vater sagt immer: Beneidenswert wären diese Leute. Mehr als glücklich sein könnte der Mensch doch nicht, und sie wären es, auf ihre Art. Was nütze uns anderen die hohe Entwicklung unseres Lebens? Das alles bedeute im Grunde nur weite, ermüdende Umwege zu demselben Ziele, eben zur Zufriedenheit und Glückseligkeit. Zu diesem ersehnten Zustand auf dem einfachsten und schnellsten Wege zu kommen, das sei doch eigentlich die wahre Kunst des Lebens.«

»Dann hätten wir also in diesem Hirten da vielleicht den vollkommensten Lebenskünstler gesehen!« Lächelnd sagte es Marr; dann aber wurde seine Miene wieder ernst, wie er weiter zu ihr sprach: »Ihr Vater ist eben ein Weiser. Doch sind wir alle schon reif für solche Weisheit? – Ja, und wenn es bloß auf das Glück ankäme, jenes Glück, das er meint, diesen Zustand traumhaft-wunschlosen Dahindämmerns. Aber ist denn das wirklich das Leben? Sein Zweck, sein höchster Inhalt? Nein – sich regen, kämpfen, weiterentwickeln, fortschreiten höher, immer höher hinauf, sich seiner Kraft erfreuen und seiner Erfolge – das ist doch erst in Wahrheit das Leben!«

Wie vorhin hing ihr Ohr an seinem Munde, als käme ihr von dort eine Offenbarung. Aber sie sprach nichts, auch diesmal. Die Augen vor sich hin geheftet schritt sie weiter, so daß er nicht wußte, hatten seine Worte ihre Zustimmung oder weckten sie ihren Widerspruch. Doch nun sah sie auf. In ihrem Antlitz stand wieder jener Ausdruck innerster Beunruhigung.

»Wie sonderbar das ist! Schon ein paarmal ging mir das so mit Ihnen und nun eben wieder: Wenn Sie derartiges sagen, so außergewöhnliche Dinge das doch sind, hab' ich trotzdem immer das Gefühl, als sei es etwas mir längst Bekanntes, Wohlvertrautes – und als antworte ihm etwas, da drinnen bei mir.«

Unwillkürlich blieb er stehen, fest traf auch sie sein Blick, und er sprach – er konnte nicht anders:

»So ist es wohl die Stimme Ihrer Natur, die Sie hören! Ihrer innersten Natur, die sonst schlummert.«

Wie ein Zusammenzucken ging es durch sie hin. Als fiele plötzlich eine Binde von ihren Augen. Fast starr war ihr Blick, der ins Weite gerichtet war, und dann antwortete sie, seltsam fremd:

»Ja – das mag wohl sein.«

Ein tiefes Schweigen trat zwischen sie, während sie weiter ihren Weg gingen.

So kamen sie hinauf zum Gipfel der Hohen Wacht. Ein weiter Bergzirkus umschloß sie hier. Eine Riesenarena, die Feldspitze gepolstert mit dichten Büschen von Gras und Heidekraut; ein Teppich, der von gelbbrauner, flimmernder Bronze gewirkt schien und in prachtvoll edlen, rotbraunen Rosttönen glühte. Ein gewaltiges Panorama der Hochgipfel tat sich zugleich dem Auge auf.

Wie Kulissen schoben sich im Tal drunten von rechts und links im Vordergrund massige Bergrücken vor. Aus dem Rahmen ihrer gründunklen Waldhänge leuchtete es zauberhaft, überirdisch heraus. Blendendweiße Firnen und sonnengebleichte Felszacken, im blaßlichtblauen Aether stehend – Duft in Duft gewebt, ein Bild von unendlicher Feinheit.

Und die Wunder der Gletscherwelt gaben sich kund. Ueberall, wohin das Auge traf, wo nicht der heiße Sonnenstrahl den Firn weggefressen und nun der nackte Fels zutage trat, allüberall hing es talwärts in den Schlüften und Rissen der Hänge, in den wildzerrissenen Karen droben – Gletscher ohne Zahl. In ihrer Mitte aber, alles beherrschend, der majestätisch ruhevolle, erstarrte Strom des großen Glurnser Ferners. In stummem, ehrfurchtsvollem Staunen folgte der Blick seinem Weg talab, bis zu dem gewaltigen Abbruch drunten, scharf und unvermittelt. Da hing das Menschenauge denn gebannt, in Entzücken und Grausen zugleich, als ob es ins Märchenreich des Eiskönigs schaute.

Zauberhafte Brücken wölbten sich wie aus durchsichtigem, grünlichblauem Kristall. Darunter verbargen sich Höhlen und Gewölbe aus demselben edelsteingleichen, lichtdurchfluteten Baumaterial gefügt. Nach hinten zu verloren sie sich in unterirdische Gänge, voll tiefer, geheimnisvoller Dämmerung, als führte es dort hinein in das Innere der Erde, zu den Schlupfwinkeln der Berggeister. Ueberall tropfte es hernieder, von Decken und Pfeilern dieser leuchtenden grünblauen Gewölbe. Und der tausendfache Tropfenfall rieselte zusammen zu kleinen und größeren Gerinnen, die sich vereinten zum Abfluß des Gletschers, der, schon ein Stück weiter drunten, zum schäumenden und quirlenden Wildbach wurde.

Wortlos standen die beiden, versunken in Schauen, ergriffen von der Erhabenheit des Anblicks.

So still war es hier oben, in dieser großen Einsamkeit. Nur das dumpfe Rauschen der vielen Bäche, deren silberne Adern allenthalben von den Felshängen drüben herabrieselten, drang herauf ans Ohr. Sonst kein Laut, kein Anzeichen des Lebens. Selbst die ferne Schafherde, die das Auge dann endlich wohl entdeckte, kaum wahrnehmbar – weit drüben, auf dem sonngedörrten Steilhang, hart unter dem wildzerrissenen Grat – so winzig, so weltverloren an der Grenze des ewigen Eises, erhöhte nur noch den Eindruck dieser unendlichen Verlassenheit. Unwillkürlich suchte da der Blick wohl nach irgendeinem Halt. Aber wohin er auch irrte, er fand nichts. Nur starre Größe – eisige Unnahbarkeit. Und ein leises Erschauern ging über das Menschenherz. Wahrlich – stark und groß mußte selber sein, wer dieser Natur ins Antlitz zu schauen vermochte!

Von dem gewaltigen Bilde ab glitt Marrs Blick zu Hilde Gerboth, die neben ihm stand und unbeweglich hinübersah in die Welt der einsamen Höhen. Voll Stolz und doch in Demut. Das waren wohl die Stunden ihrer Andacht. Lautlos verhielt er da auch sich. Nur sein Auge ruhte unverwandt auf ihrem jungen Antlitz von so sonderbarer, weihevoller Schönheit in diesem selbstvergessenen Schauen. Bis endlich Bewegung in sie kam.

»Da – sehen Sie!«

Und sie deutete vor sich hin. Ueber das weite Rund des Bergzirkus glitten jetzt riesige Wolkenschatten hin und zeichneten seltsame, beständig sich verändernde, dunkle Gebilde auf den hellen Grund des goldfarbenen Teppichs.

»Wie das dort wandert – so geheimnisvoll, rätselhaft. Wie dunkle Geisterheere. Immer wieder muß ich darauf hinsehen, wenn ich hier oben für mich allein sitze, und träume mich dabei hinein in graue Zeiten, bis ich sie oft wirklich zu erkennen glaube, die alten Spukgestalten – daß mir manchmal das Herz stockt. Und ist doch alles bloß ein Spiel meiner Phantasie.«

Sie lächelte leise über sich selber. Dann aber wies sie wieder hinauf zu den Firnen droben, die sich noch im strahlenden Sonnengold badeten.

»Aber das da ist mir doch stets das Liebste!«

Ihr Blick trank sich auch jetzt wieder daran fest. Plastisch, und doch mit allerduftigsten Lichtern und Schatten nur, modellierte der Sonnenschein dort oben die Formen der Gletscher und Spitzen heraus. So überirdisch klar und zart, als wäre alles nur ein Traumgebilde und müsse im nächsten Augenblick zerrinnen im blauen Aether.

Dann wandte sie sich Marr zu.

»Nun verstehen Sie wohl, warum das mein Lieblingsplatz ist, zu dem ich oft täglich wandere. Hier sitz' ich so gern!« und unbefangen ließ sie sich auch jetzt im weichen Heidekraut nieder. »Namentlich in diesen Tagen, wo der Sommer bald scheidet, wenn da hoch droben über den Gipfeln die weißen Wolken ziehen – weit, weithin, in unbekannte Fernen. – Hier oben ist es auch immer am längsten Tag. Wenn drunten im Tal schon alles im Schatten liegt, ist auf der Hohen Wacht noch das hellste, strahlende Licht. Gerade in seiner vollen Herrlichkeit. Sagen Sie doch auch: Ist es nicht einzig schön hier?«

Marr hatte sich ebenfalls niedergelassen, nahe neben ihr; nun erwiderte er ihren aufleuchtenden Blick.

»Ja – sehr schön. Ganz gewaltig ist die Erhabenheit und Größe dieser Natur. Wie hebt sie den Menschen empor über sich selbst, wie löst sie ihn von all dem Niedern und Kleinen, das ihn sonst mit Erdenschwere zu Boden zieht. Voll empfinde ich das alles, mit Bewunderung und Andacht und dennoch – ich könnte nicht immer leben hier, wie Sie.«

Eine leise Enttäuschung malte sich in ihrem Antlitz.

»Daß Sie so empfinden! Ich dachte gerade –«

»Verwundert Sie das? Ich machte doch nie ein Hehl daraus: Ich bin ein Kind der Welt; ich kann nicht immer im Tempel sein. Dem Leben hab' ich mich gelobt; hier aber thront der Tod.«

Sein Blick streifte unwillkürlich über die sonnverdörrten Halden und öden, steinigen Hänge zu den Gletschern hinauf.

»Bei aller erhabenen Größe – liegt nicht zugleich eine trostlose Abgestorbenheit über diesem Bilde? Geht nicht ein eisiger, erstarrender Hauch von den Firnen dort oben aus? Und wie er ringsum in seiner Nähe alles ertötet, was sich lebenverlangend an der Brust der Natur festklammern will, so macht er es auch mit unserem Innern: erfrieren und erstarren muß, wer immer dem ewigen Eise nahe wohnt!«

Hilde Gerboth erwiderte nichts. Aber auch sie sah hinüber zu den Hochgipfeln mit einem bangen Forschen; zu dem Bilde, ihr so vertraut von frühester Kindheit an. Ihr war dabei zumute, als fürchtete sie etwas zu verlieren, das ihr immer lieb und teuer gewesen war. Aber nein – die alten Vertrauten dort oben, in denen sie allzeit nur Freunde gesehen hatte, veränderten ihr Antlitz auch jetzt nicht für sie. Wohl blickten sie hoheitsvoll und ernst, aber sie ängstigten sie nicht. Da atmete sie wieder freier. Marr aber fuhr fort, seine Worte jetzt etwas mildernd, da er sah, welchen Eindruck sie auf sie gemacht hatten.

»Wohl kann ich es verstehen, wenn ein Mann, wie Ihr Vater, hier oben in dieser großen Einsamkeit sein Glück findet. Er steht mit seiner Abgeklärtheit ja über dem Leben. Und seine Kunst ist Priestertum, das braucht die weihevolle Stille. Doch wir anderen, wir Kinder der Welt, wir Jungen, die noch suchen und kämpfen, noch ringen müssen nach unseren Zielen? Nein, nein – ich könnte nicht hier sein auf die Dauer! Ich liebe das Leben, wie es da draußen pulst und treibt. Ein starker, gewaltiger Strom, vorüber an Ufern mit tausend wechselnden Bildern, mit freien Ausblicken weithin über die ganze Welt. Und sich selber regen in seinen Wellen, mit rüstigen Armen, mit frischer Kraft – Zielen zu, die locken und lohnen! Freilich, wer schwimmen will in diesem Strom, der muß starke Arme haben. Die Schwachen zieht er in seinen Strudel – die bleiben ihm besser also fern.«

Sie blickte plötzlich zu ihm auf; mit einem betroffenen Ausdruck. Dann sann sie eine Weile vor sich hin und sagte jetzt:

»Ich habe mich schon manchmal gefragt, was Franz Hilgers hierhergetrieben haben mag und festhält. Nun kommt mir ein Ahnen bei Ihren Worten eben: vielleicht fühlt auch er sich nicht stark genug, in diesem Strom zu schwimmen?«

Marr horchte auf. Daß sich ihre Gedanken so getroffen hatten auf demselben Wege! Aber nun erwiderte er ausweichend:

»Es ist doch wohl seine Kunst, die ihn hergezogen hat. Zu dieser Landschaft und ihrem Verkünder, Ihrem Vater. Und dann Ihr Haus – nachdem er Ihnen und Ihrem Vater freundschaftlich nähergetreten ist. Sie haben ihm, dem Einsamen, eben die Heimat geschenkt, die er so lange entbehrt.«

Es war, als ob Marr insgeheim etwas wieder gutmachen wollte.

Hilde nickte.

»Das ist wohl wahr; er hat das ja auch selber manchmal ausgesprochen. Aber der Gedanke ist mir trotzdem bisweilen gekommen, wie sonderbar es doch eigentlich ist, daß er, der so lange da draußen gelebt, immer in den großen Städten, sich nun wohl fühlt hier oben in unserer Einsamkeit; wo er doch nichts hat von all dem, was er früher einmal gewöhnt war. – Hat Sie das nicht auch gewundert, als Sie ihn hier oben wiederfanden?«

Es war Marr unter dem fragenden Blick ihrer offenen Augen nicht ganz leicht, abermals anscheinend unbefangen zu erwidern.

»Gewiß, zunächst natürlich wohl – bis Franz mir dann sagte, was ich eben andeutete.«

Hilde Gerboth verfiel wieder in ihr Sinnen. Ihrem klaren Antlitz, dem die Kunst des Verbergens innerer Vorgänge so gar nicht gegeben war, merkte es Marr deutlich an, wie lebhaft sie beschäftigt war von innersten Empfindungen, und nun sagte sie aus diesen geheimen Gedankengängen heraus:

»Ja – schön muß es wohl sein, wie Sie es schilderten vorhin, mitten drin zu stehen im Leben. Es gibt doch so vieles, was man eigentlich kennen müßte, in den großen Städten. Manchmal sprachen der Vater und Franz Hilgers ja schon von München mit all seinen herrlichen Kunstschätzen, mit der Oper, den Theatern und Konzerten – daß man davon so nie etwas zu sehen bekommt!«

»Wirklich? Sie hätten noch niemals ein Theater, ein Konzert . . .

Sie schüttelte leise den Kopf.

»Wie sollt' ich? Wo ich doch nie über Innsten hinausgekommen bin! Alles, was ich dort gehört hab', das war einmal durch Zufall ein Grammophon. Da hört' ich Bruchstücke aus einer Oper, der ›Tristan‹ war's – ich weiß es noch heut, denn so ergriffen war ich von dem Gesang.«

Es griff auch ihm ans Herz. Das heisere, jämmerliche Gekrächz aus solch einem Leierkasten, das war ihr schon ein Erleben gewesen! Was wurde doch gesündigt an diesem empfänglichen, nach dem Leben durstenden jungen Herzen. In bitterer Ironie brach es ihm da von den Lippen:

»Der ›Tristan‹ auf dem Innstener Grammophon – allerdings nicht gerade ein überwältigender Kunstgenuß.«

Ueber ihre Züge ging es hin wie ein Schmerz:

»Nun verspotten Sie mich auch noch mit meiner Rückständigkeit!«

»Aber, liebes Fräulein Gerboth, wie können Sie das glauben! Nein – Mitleid hab' ich mit Ihnen, aus tiefstem Herzen.«

»Mitleid . . .,« und sie blickte vor sich hin, die offenen Mienen überschattet.

Eine Weile betrachtete er sie schweigend. Immer stärker ward dabei in ihm der Unwille und der Drang, ihr zu helfen. Und doch fühlte er wieder Hemmungen. Wer wußte, ob er ihr wirklich einen Dienst damit erwies, wie die Dinge hier nun einmal standen? Unschlüssig sah er so auf sie nieder, bis er endlich fragte, mit einem halben Zögern:

»Wie denkt denn Ihr Vater in diesem Punkt? Ernsthafte Kunst – man sollte meinen, er müßte sie eigentlich doch auch in der Form gelten lassen. Haben Sie denn nie mit ihm einmal hierüber gesprochen?«

»Doch – ich habe ihn einmal gefragt, ob er selber nicht manchmal Theater und gute Musik entbehrte?«

»Nun und . . .

»Er lächelte nur zu meiner Frage und sagte dann: Gewiß, gute Musik – die wünschte er sich wohl auch hin und wieder. Doch wöge ihm das immerhin nicht so schwer, daß er deswegen all das andere mit in den Kauf nehmen sollte. Da begnüge er sich denn lieber schon mit unserer Hausmusik. Wir spielen nämlich viel zusammen: Geige, Cello oder Harmonium. Und seitdem Franz Hilgers hier ist, der so gut begleitet, haben wir es sogar zu einem Trio gebracht und schon viel Freude davon gehabt. Da hat der Vater ja also wohl recht. Und was dann das Theater anlangt, so meinte er, er verzichte gern darauf. Das dramatische Kunstwerk genösse man doch weit reiner und innerlicher, viel mehr nach dem Sinne des Dichters, beim Lesen des Buches als bei der Darstellung auf der Bühne, wo die Eitelkeit des Komödianten mit dreister Hand nach dem Kunstwerk griffe, nur um die Knalleffekte herauszureißen und sich damit wirkungsvoll zu drapieren. Da verlöre man also erst recht nicht viel daran.«

Marr wiegte das Haupt.

»Wenn man alles so kritisch unter die Lupe nimmt, dann bleibt freilich nichts, was besteht. Aber solch Zerfasern zerstört einem doch schließlich jede Freude am Leben. Gewiß, vieles ist ja wohl nur Schein – aber auch der hat seine Daseinsberechtigung. Er ist bunt und lustig wie die Farbe der Dinge. Von denen behauptet die Wissenschaft ja auch, sie seien in Wahrheit gar nicht vorhanden, nur die Optik unseres Auges sähe sie. Zum Kuckuck aber – für mich ist doch mein Auge maßgebend; was ich sehe, das ist für mich eben da – trotz all der tiefgründigen Weisheit der Herren Gelehrten!«

Ihr war seltsam zumute bei diesem Ausbruch seines Temperaments. Halb bange – als taste er ihr da unbedenklich an Dinge, vor denen ihr Urteil bisher immer in kindlicher Ehrfurcht haltgemacht hatte – halb aber auch wieder froh. Als gesellte sich ihr da unerwartet ein Gleichgesinnter, ein Bundesgenosse zu einem frischverwegenen Strauß. Marr aber lächelte jetzt, über seinen eigenen Eifer eben.

»Ich bin doch noch immer der alte Kampfhahn, merk' ich – trotzdem ich eigentlich hinreichend Gelegenheit hatte, in den letzten zwanzig Monaten mich auszuleben in dieser Beziehung. Sie waren vermutlich sänftiglicher und gaben sich alsbald zufrieden mit jener Erklärung Ihres Herrn Vaters?«

»Einmal hab' ich doch noch die Rede darauf gebracht. Das war, als wieder eines Tages eine Einladung an den Vater kam zur Eröffnung einer Sonderausstellung seiner Werke, drunten in München. Es kommen nämlich öfter einmal solche Aufforderungen, auch zu anderen Gelegenheiten; ja, selbst eine Professur haben sie dem Vater schon angetragen an der Akademie.«

»Aber Ihr Vater hat sie abgelehnt?«

»Ja – ihm liegt nichts an äußeren Ehren, und er braucht die Menschen dort nicht. Er hält nicht viel von ihnen. Er sagt immer, das Leben in den großen Städten mit seiner Hast, seiner Oberflächlichkeit verflache auch den Menschen dort. Nur in der Stille könne Großes und wirklich Wertvolles reifen.«

»Daran ist gewiß viel Wahres. Nur, was zwingt einen denn, an diesem Treiben teilzunehmen? Davon halte auch ich nichts. Aber die Großstadt bietet doch auch innere Werte. Kunst und Wissenschaft haben dort ihre Stätten, zu denen soll man den Weg finden, im übrigen es aber so machen, wie Ihr Vater es sehr mit Recht rät. Denn auch in der Großstadt kann man Ruhe und Sammlung finden, wenn man nur will. Freilich, auch hier wieder gilt, was ich vorhin sagte: Nur der Starke vermag es, der genug Widerstandskraft hat, seinen eigenen Weg zu gehen.«

Sie wandte den Kopf zu ihm und sah ihn nun fest an.

»Sie sagen das nun schon zum zweitenmal, und so eigen. Es ist fast, als wollten Sie mir damit eine Mahnung geben.«

»Dazu hätte ich doch wohl kein Recht,« und Marrs Blick wich ihr aus.

Ueber ihre Mienen glitt es wie ein Schatten.

»Warum reden Sie plötzlich so fremd mit mir? Mir war's doch, als kennten wir uns schon lange.«

Das Wort traf ihn seltsam. Lebhaft wandte er sich wieder herum.

»Auch mir ging's so! Nun freut es mich, das von Ihnen zu hören, und wenn Sie mir denn wirklich das Recht geben wollen, trotz unserer kurzen Bekanntschaft, zu Ihnen zu reden wie ein Freund – so will ich's gern tun.«

Da erhellten sich ihre Züge rasch wieder.

»Ja, tun Sie es, und ich will es Ihnen danken.«

»Nun denn, es war eben doch wohl etwas wie eine Mahnung für Sie – wenn auch halb wider Willen – ein Weckruf! Entweder, Sie verstanden ihn nicht, nun so war es weiter kein Schaden. Oder aber Sie verstanden ihn, dann freilich –«

»Ein Weckruf? Was wollten Sie wecken in mir?«

»Ihr Selbst.«

Gedankenschwer wurde ihre junge Stirn.

»So wäre ich also nicht ich selber, wie ich jetzt bin?«

»Nein – nie und nimmer!«

»Sie sagen das so sehr bestimmt – kennen Sie mich denn so gut?«

»Ich glaube wohl.«

Da beugte sie langsam ihr Haupt zur Brust und verfiel in Schweigen. Aber ihr schwergehender Atem verriet, wie es in ihr aussah.

Er saß eine Weile neben ihr, unruhig, in einem letzten Kampf mit seinen Bedenken; dann aber begann er entschlossen:

»Fräulein Gerboth – was ich eben sagte, ich tat es mit vollem Bewußtsein. Und es war nicht leicht für mich. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, hier nicht einzugreifen, sondern alles dem Schicksal zu überlassen. Obwohl mir das erst recht schwer geworden wäre, denn vielleicht kam der entscheidende Anstoß von außen her sonst nie, dann wären Sie verkümmert mit all Ihrer Lebenskraft. Nun ist es eben anders gekommen, wider meinen Willen. Doch wo es einmal so weit ist, da wäre es sinnlos, auf halbem Wege stehenzubleiben. Darf ich also weiterreden – ganz offen?«

»Noch einmal: ich kann es Ihnen nur danken.«

»Wenn ich es tue, so rechtfertigt mich vor mir selber die Tatsache, daß bei Ihnen doch auch bisher schon manchmal geheime Stimmen gesprochen und Ihnen das gleiche zugerufen haben – Ihre innerste Natur, die man mit Gewalt hier oben unterdrücken wollte.«

»Herr Marr!«

»Verzeihen Sie –ich will Ihrem Vater damit keinen Vorwurf machen. Ich achte ihn sehr hoch und seine guten Absichten mit Ihnen. Er hatte ganz gewiß nur Ihr Bestes im Auge, wenn er Sie so aufgezogen hat und weiter erhalten wollte in dieser Weltfremdheit. Es ist der Ausdruck seiner innersten Ueberzeugungen und Erfahrungen, wie er sie nun einmal gewonnen hat. Aber es liegt dem eben ein Irrtum zugrunde.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ihr Vater zieht aus einem besonderen Fall einen falschen, verallgemeinernden Schluß.« Marr sprach etwas zögernder. »Er hat vielleicht einmal erlebt – aus nächster Nähe –, daß das Leben mit seinen Lockungen einem Menschen verhängnisvoll geworden ist. Nun gibt er, statt dem Betreffenden selber und seiner mangelnden Widerstandskraft dem Leben die Schuld und will Sie vor ihm hüten.«

»Das also wär' es!«

Wie zu sich selber rief sie es, mit einem Blick, als sähe sie dabei zum erstenmal ein ungewisses Etwas, das sie schon oft beschäftigt hatte, nun unverhüllt. Endlich strich sie sich langsam über die Stirn, als wollte sie diese ganz frei machen. So sagte sie, und es war, wie wenn sie aus einem langen, dumpfen Schlaf erwachte:

»Jetzt versteh' ich dies alles, was ich manchmal in mir fühlte – aber nur dunkel und unklar. Wenn ich so hier oben in der Einsamkeit saß und immer den Wolken nachschauen mußte, wie sie dahinzogen über die Berge, weit, weit fort, mit einem solchen Sehnen in der Brust! Oder wenn es mich beim Gesang eines Vögelchens, das sich verirrt in diese Felsenöde, überfiel – ein Bangen, eine so tiefe Traurigkeit, und wußte doch selbst nicht warum. Meine Seele war's, die unbewußt ihre Schwingen regte, nach der Welt da draußen – nach ihrer Freiheit!«

Ergriffen schwieg er, bis sie dann wieder sagte, aber so schwer und beklommen:

»Jetzt weiß ich es – aber was nun?«

In dem Blick, der ihn dabei traf, lag etwas Ratloses. Da beugte er sich zu ihr vor.

»Wenn ich Ihnen das alles nur sagen wollte, um Sie aus Ihrem sicheren Frieden aufzustören, das wäre ja unverantwortlich! Also lassen Sie mich denn Ihnen nun auch Ziel und Weg weisen – darf ich?«

Sie nickte stumm.

»Sie müssen der Stimme in Ihrem Innern folgen, die Sie so oft gehört haben. Der Stimme Ihrer Natur, die ihr Recht fordert. Und ich habe das Vertrauen zu der Güte und Weisheit Ihres Vaters, daß er Ihnen nichts mehr in den Weg legen wird, sobald er merkt, daß Sie aus Ihrem Traumdasein erwacht sind zum wirklichen Leben. Gehen Sie also getrost zu ihm und sagen Sie ihm alles, was Sie eben zu mir gesagt haben. Er wird, er muß Sie ja verstehen, und Sie selber werden ihm am ersten die Besorgnis zerstreuen können, die er etwa noch haben wird. Vielleicht entschließt er sich auch, nun, wo ein so ernster Grund dafür spricht, doch dazu, mit Ihnen nach München zu gehen. Wenn auch nur für einige Zeit im Jahr, im Winter vielleicht, wo die Natur hier oben im Todesschlaf liegt, da drunten in den Städten aber das Leben gerade besonders rege ist. Das wäre doch wohl kein zu großes Opfer, das er Ihnen gewiß auch bringen wird, so einmal für eine Weile aus seiner Einsamkeit wieder zurückzukehren in die Welt. Und dann könnte er ja auch weiter seine Hand über Sie halten, alle Einflüsse, die er für schädlich erachtet, von Ihnen fernhalten, Sie nur das Schöne und Wertvolle kennen lehren von dem Leben da draußen. Damit wäre Ihr Sehnen erfüllt und Ihnen doch kein Schaden getan. Im Gegenteil, Sie würden nur gewinnen, reifer und tiefer werden, und der feste Grund Ihres Wesens, der sich aufgebaut hat hier oben in der Stille unter seiner Obhut, würde ganz gewiß weiterbestehen, ihm und allen zur Freude, die es gut mit Ihnen meinen. So zögern Sie denn nicht, reden Sie mit Ihrem Vater – bald, gleich, und machen Sie sich damit frei und froh!«

Während er so sprach, wurde es in ihrem Antlitz, das ihm unverwandt zugekehrt war, immer klarer. Nun erhob sie sich, von innerster Bewegung getrieben, und stand so vor ihm, der ihrem Beispiel gefolgt war.

»Wie raten Sie mir recht! Wie kommt es nur, daß Sie so gut zu mir sind?«

Ihre großen, klaren Kinderaugen drangen in die seinen, ohne jede Befangenheit, nur mit einem überströmenden Dank, und ihre beiden Hände streckten sich ihm entgegen. Er ergriff sie, und es durchrieselte ihn seltsam, wie er nun den Druck ihrer lebenswarmen Finger fühlte. Aber es war ein Empfinden von höchster Reinheit, so heilig war sie in ihrer unberührten, vertrauensvollen Unschuld. Da erwiderte er, schlicht und offen wie sie:

»Sie haben mir nichts zu danken, liebes Fräulein Gerboth. Ich bin froh, daß ich Ihnen helfen konnte. Und möchten Sie, auch wenn Sie nun in das Leben hinausgehen werden, so bleiben, wie Sie sind – immer!«

Fest drückte er ihre Hände, dann gab er sie frei und sah um sich. Die Schatten waren inzwischen im Tal drunten schon langsam über die Matten gefallen und begannen nun auf den jenseitigen Höhen an den Bergflanken emporzusteigen, mit leisem, unaufhaltsamem Schritt. Er wies dort hinüber:

»Es wird wohl Zeit, daß wir heimgehen. Aber das Erinnern an diese Stunde nehme ich mit mir.«

Noch einmal warf er einen Blick zu den Hochzinnen droben, rosig übergossen im letzten Nachglühen der schon versunkenen Sonne. Da sagte er und atmete mit tiefer Brust:

»Schön ist es doch hier oben in Ihren Bergen – sehr schön!«


Am Abend war es, und Marr saß ganz still auf seinem Zimmer. Er hatte es abgelehnt, auch das Nachtmahl mit Gerboths einzunehmen, sondern den Kuraten, der ständiger Sonntagsgast im Hause Gerboths war, allein hinübergehen lassen. Er wollte lieber für sich sein heute. So saß er denn jetzt beim Lampenschein am offenen Fenster, mit seiner Zigarre, in Gedanken versunken.

Noch einmal durchlebte er den Gang am Nachmittag mit Hilde Gerboth und alles was sie gesprochen hatten. Ein ernstes Nachprüfen. Er war sich voll bewußt, welche Bedeutung diese Unterredung für sie hatte und welche Verantwortung er damit auf sich genommen. Aber wie gewissenhaft er es auch abwog, jetzt in der Stille vor sich selber, er kam immer wieder zu demselben Schluß: Recht hatte er getan, daß er ihr den Weg gewiesen. Nun war es an ihr, zu zeigen, daß sie auch die Kraft hatte, ihn zu gehen. Und ein zuversichtliches Gefühl sagte ihm, sie hatte diese Kraft und sie würde nicht zögern, davon Gebrauch zu machen. Marrs Auge suchte die erleuchteten Fenster dort drüben im Dunkel. Vor kurzem hatte er auch hier die Haustür gehen hören, der Kurat war also schon zurück – nun stand sie wohl gerade dort vor ihrem Vater und sprach das entscheidende Wort, das zum Wendepunkt ihres Daseins werden sollte.

Seine Gedanken malten sich den Augenblick aus und waren bei ihr wie gute Freunde. Um sie anzufeuern, ihr beizustehen. Denn leicht würde es nicht sein, Karl Gerboth umzustimmen. Auch für ihn bedeutete diese Stunde ja etwas: seinen Lebensplan mit der Tochter hieß es umzustoßen. Ein ganzes, wohlgefügtes Gebäude, an dem er zwei Jahrzehnte hindurch sorgsam und unverdrossen Stein um Stein zusammengetragen hatte. Umzustoßen dies alles, nun gerade kurz vor der Vollendung, wie er sie sich gedacht – wahrlich eine harte Zumutung war es für den alten Mann. Fast konnte er einem leid tun. Doch mit einer entschlossenen Bewegung stiebte Marr die Asche von seiner Zigarre. Konnte alles nichts helfen, es mußte sein. Wo die Frage stand: Jugend oder Alter, Leben oder Absterben – da gab es immer nur eine Entscheidung!

Und sein Sinnen war wieder bei Hilde Gerboth. Er freute sich für sie dieser Stunde, die ihr die Tür aufstieß zum Leben. Freute sich, wie sich der Starke und Stolze in einem Gefühl natürlicher Bundesgenossenschaft mit dem Gleichgearteten freut, wenn er diesen im siegreichen Kampf sieht mit dem gemeinsamen Feinde, den hemmenden Gewalten, die enge Schranken ziehen wollen um die froh überquellende Kraft. Ja, dies Bewußtsein einer inneren Kameradschaft und Zusammengehörigkeit, das war es wohl auch, was ihn so zu diesem Mädchen hinzog; ihm selber zum Verwundern, denn bisher war er den Frauen meist aus dem Wege gegangen. Er wußte nicht viel mit ihnen anzufangen. Seiner Natur lag das tändelnde Spiel nicht, das sonst jungen Leuten so reizvoll erscheint – der Flirt. Dazu war er zu sehr Vollmensch. Seine Kraft verpuffte sich auch in dieser Beziehung nicht in vielen kleinen Bewegungen. Sie blieb gesammelt; bereit, sich voll einzusetzen, wo es einmal lohnen würde. Eine Hochspannung angespeicherter Gefühlsenergien. Würden sie sich einmal entladen, so mußte es mit elementarer Wucht geschehen, gewittergleich.

Aber auch dazu war es nie gekommen. Es war ihm noch keine begegnet, die den Funken hätte überspringen lassen in sein wohlgehütetes Innere. Und es war ihm nur lieb gewesen. Marr sah klar auch in diesem Punkte: Wer noch sein Ziel verfolgte als Mann, sich noch durchsetzen wollte im Leben, der blieb besser ohne Frau. Das band Hemmschuhe an im Wettlauf. Die Ehe, der eigene Herd, das war erst für den, der schon am Ziel war – der Siegespreis. Dieses Erkennen war also nur ein Grund mehr für ihn gewesen, bei den Frauen zurückhaltend zu sein. So war er denn keiner gegenüber je hinausgekommen über ein kühles, förmliches Verkehrsverhältnis, wie es der unvermeidliche, gesellschaftliche Umgang mit sich brachte. Nirgends hatte er tiefere Eindrücke empfangen, keine Erinnerungen gingen ihm nach.

Hier bei Hilde Gerboth nahm er jetzt zum erstenmal wirklich inneren Anteil an einer Frau. Rein menschlich – das verstand sich. Eben nur, wie an einem Kameraden. So legte er es sich selber klar, als er nun nachdachte, auch darüber. Und sie war es wert, daß er ihr diese Ausnahmestellung einräumte. Jenes tändelnde, heimlich lockende Gehabe, das er bei Mädchen, mochte es nun bewußt oder unbewußt sein, immer als unlauter empfand – was war es denn anders als verkappter Männerfang? – All das war ihr so ganz fern. Ihr Wesen war klar wie die Sonne, rein wie der Firn droben auf den Höhen. Sie gab sich frei und rückhaltlos mit dem arglosen Vertrauen eines Kindes. Da war auch nicht der Hauch von jenen trüben Dingen. Das war es, was an ihr so wohl tat: man konnte sich auch ihr gegenüber selber zeigen, wie man war. Ohne das stete Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, daß nicht etwa ein Wort, ein Blick falsch ausgelegt werden möchte von jenem ewig nur auf das eine gerichteten Weibessinn, dem häßlichen Ergebnis einer tausendjährigen Züchtung.

Wirklich, ein ganz selten wertvoller Mensch war diese Hilde Gerboth. Insofern mußte man es dem Vater schon Dank wissen, daß er sie hatte aufwachsen lassen in dieser vollen Natürlichkeit und Unberührtheit. Schwerlich wäre sie wohl so geworden drunten im Staub der Städte. Aber nun, wo sie gefestigt und gefeit war in ihrem Wesen und ihr keine Berührung mit der Welt mehr diesen Schmelz nehmen konnte, nun gehörte sie hinaus. Glückauf also zu dieser Stunde der Entscheidung! So rief er es ihr zu, in seinem stillen Sinnen.

Um dieselbe Zeit stand Hilde Gerboth vor ihrem Vater. Im Atelier, wohin er sich heute auch nach dem Abendessen noch einmal zurückgezogen hatte. Er rang offenbar schwer mit seinem Werk, gerade in diesen Tagen, wie so oft schon, wenn es dem Ende einer Arbeit zuging. Dann konnte er sich selbst nicht genug tun. Hilde hatte daher lange geschwankt, ob sie zu ihm sollte. Vielleicht lieber warten – bis morgen? Aber wer wußte, ob sie es dann besser traf, und es drängte sie, zur Entscheidung zu kommen in ihrer eigenen Sache. So entschloß sie sich denn doch und ging nun hinüber ins Atelier. Ein wenig erstaunt – es war ungewöhnlich, daß Hilde ihn bei der Arbeit aufsuchte – sah Gerboth von seiner Staffelei auf, vor der er im Schein des mächtigen Lichtwerfers stand, ganz vertieft in sein Werk.

»Nun, Hilde . . .

»Ich störe dich gewiß, Vater – aber ich hätte dich so gern einmal gesprochen. Vor Tisch warst du ja auch beschäftigt, und dann war der Kurat da, so warte ich schon lange auf den Augenblick – und es liegt mir doch so viel auf dem Herzen!«

»Das seh' ich dir an. Also –,« er legte Palette und Pinsel aus der Hand – »was ist denn, Kind?«

Sie stand vor ihm, ganz im Licht. Eine Haltung, voll ihrer gewohnten Ruhe und dennoch lag in ihren Mienen etwas Neues, das Gerboth sofort bemerkte, wenn er es auch nicht erkannte. Nun suchte ihn ihr Auge.

»Es sind alte Gedanken wieder über mich gekommen, Vater. Ich habe ja auch schon zu dir darüber gesprochen – weißt du, damals, als ich dich fragte, ob wir denn nicht doch einmal wenigstens ein paar Wochen während des Winters in München verbringen könnten?«

»Ist es das!« Gerboths Antlitz nahm sofort einen großen Ernst an. »Und nun beschäftigt dich das wieder, sagst du? So habt ihr wohl heute über diese Dinge gesprochen, du und Marr, auf eurem Gang?«

Sie bejahte schweigend. Da nickte er vor sich hin; nicht weiter überrascht, nur dem Ernst seiner Züge gesellte sich jetzt noch die Sorge. Eine Weile stand er so, gedankenverloren, während seine Rechte über den lang herabwallenden Bart strich. Dann wies er auf eine Sitzgelegenheit.

»Ja, Hilde, – wir wollen denn noch einmal darüber reden,« und er zog die Tochter auf den Diwan nahe an sich heran. »Sag' mir also alles, was du auf dem Herzen hast.«

»Es ist bald gesagt, Vater, und doch schwer; denn es geht gegen alle deine Wünsche und Ueberzeugungen. Dazu mußt du mich eben recht verstehen, – und ich glaube – du kennst mich doch nicht so ganz, gerade in diesem Punkt.«

Karl Gerboth lächelte leise vor sich hin; ein ernstes, wissendes Lächeln.

»Laß weiter hören, Kind, dann werden wir ja sehen.«

»Sieh – du hast doch bisher gewiß immer gemeint, ich sei bei dem Leben, wie wir es hier führen, ganz glücklich und zufrieden – wirklich glücklich.«

»Nun, und warst du es denn etwa nicht?«

»Ich glaubte es zu sein, aber jetzt weiß ich es: ich war es nicht

»Das denkst du – seit heute.«

»Doch nicht bloß seit heute. Empfunden habe ich es schon immer, freilich unbewußt. Ich hatte so manchmal Stimmungen, mir unerklärlich, so traurig und sehnsüchtig, nur ich sprach nicht darüber.«

»Warum tatst du es nicht, Hilde?«

Ein leiser Vorwurf klang aus dieser Frage.

»Ich fürchtete – aber du mußt nicht böse sein?«

Sie legte ihm bittend die Hand auf seine Rechte. Er schüttelte den Kopf, da fuhr sie fort:

»Ich fürchtete eben, du würdest mich doch nicht verstehen . . .«

Der Meister sagte nichts. Aber wie er so langsam sein Haupt senkte, preßte sie ihm die Hand.

»Nun bist du doch böse, Vater!«

»Nein – nur traurig, daß du mich nicht besser kanntest und zu mir kamst, auch damit.«

»Ich hatte es ja schon getan – das eine Mal, wovon ich vorhin sprach. Als du mir aber damals den Gedanken so ausredetest, da dachte ich, da fühlte ich: in diesem einen gerade würden wir uns nicht verständigen. Warum sollte ich dir also von solchen Stimmungen sprechen? Es hätte dir nur Sorge gemacht und mir nichts genützt.«

Eine Weile schwieg Gerboth, dann sah er wieder auf.

»Es wäre aber doch besser gewesen, du hättest gesprochen. Nun hat sich etwas eingenistet bei dir, was beizeiten wohl noch leicht hätte beseitigt werden können.«

Hilde schüttelte entschieden den Kopf.

»Da irrst du, lieber Vater; dafür sitzt das viel zu tief. Es war falsch, wenn ich eben von Stimmungen sprach. Es war viel Ernsteres, viel Bedeutsameres, was sich in mir regte in solchen Stunden – meine innerste Natur kam da zum Durchbruch!«

Karl Gerboth machte eine Bewegung. Es war wie ein geheimes Erschrecken. Abermals versank er in seine Gedanken. Doch nun war er entschlossen. Wieder fest ruhte sein Blick auf der Tochter.

»Ich weiß schon, wie es in dir aussieht; auch das, was jetzt in dir vorgeht, ist mir nicht fremd. Ja, nun kann ich es dir wohl sagen – ich war im stillen immer darauf gefaßt, daß diese Stunde einmal kommen würde, wo du so zu mir sprechen würdest.«

Befremdet sah Hilde zu ihm auf. Da nahm er ihre beiden Hände, und mit tiefem, nachdrucksvollem Ernst fuhr er fort:

»Damit du das alles begreifst, mein liebes Kind, müssen wir heute einmal von Dingen reden, an die ich bisher nie gerührt habe. Nun aber muß es sein. Sag' – hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, warum ich so selten, eigentlich fast nie, von deiner toten Mutter zu dir sprach?«

Ein stummes Verneinen.

»Ich hab' immer nur gemeint, du tätest es nicht, um uns beide nicht traurig zu machen.«

»Gewiß, auch das – nur daß die Trauer, die dies Erinnern geweckt hätte, noch anderer Art gewesen wäre, als du ahnen konntest.«

Er brach ab. Eine Weile ehrte sie sein schmerzliches Empfinden, dann aber forschte sie leise:

»Was ist es denn mit der Mutter? Du hast mich nun so unruhig gemacht.«

Er holte tief Atem.

»Eine traurige Geschichte ist es, Hilde, und du mußt sie richtig verstehen. Was ich jetzt auch sagen werde – ich klage nicht an. Tiefstes Mitleid hab' ich bei allem mit deiner Mutter gehabt. Keine Schuld sehe ich an ihr, nur Verhängnis. Jeder Mensch muß so sein, wie er ist – das ist ein unumstößlicher Glaubenssatz für mich geworden, wie ich die Welt erkennen gelernt habe – so seh' ich das alles, und so mußt auch du es sehen.«

Und dann erzählte er ihr von dem Schicksal seiner Ehe, von all den Kämpfen, dem unendlichen Herzeleid, das die Verschiedenheit ihrer Charaktere, die unglückliche Veranlagung seiner Frau über sie beide gebracht hatte. Ihr Hang zu einem oberflächlichen Genußleben, der beständig nach Anregung von außen, nach Gesellschaft, Unterhaltung, Zerstreuung, Vergnügen, rauschenden Festen verlangte, so daß sie schließlich wie eine Morphinistin war, die ohne diese Reizmittel gar nicht mehr leben konnte, der die Stille ihres Hauses ein Schrecken war, dem sie entfloh, wo immer sie konnte. Diese Stille, die ihm Grundbedingung seines Schaffens war, die er nicht länger mehr entbehren konnte, sollte er nicht zugrunde gehen, künstlerisch, wirtschaftlich – in jeder Beziehung überhaupt!

Lange genug hatte er es wahrlich ja mit angesehen, mit steigender Ungeduld wohl aber immer hoffend, sie würde doch endlich einmal von selber haltmachen auf diesem Wege; nachdem er sie geraume Zeit mit einem nachsichtigen Lächeln hatte gewähren lassen, wie ein spielendes Kind in seinem Uebereifer. Ja, er hatte wohl gar mitgetan, wollte nicht Spielverderber sein – so reizend war sie auch bei diesem Tun und Treiben als ganz jugendliche Frau. Eben ganz wie ein Kind, das mit hellem Entzücken von einem Ding zum andern greift und dem man diese naive Freude nicht trüben mag.

Nachher freilich hatte er sich wegen dieses allzu nachsichtigen Gehenlassens die schwersten Vorwürfe gemacht – mitschuldig hatte er sich da gemacht an allem, wie es dann kam. Einem Kind läßt man eben nicht so seinen Willen; man nimmt es bei der Hand – fest, ja selbst hart, wenn es sein muß, zu seinem eigenen Besten. Und es war keine Entschuldigung für ihn, daß er es ja nur gutgemeint und auf ihre allmähliche eigene Einsicht gehofft hatte. Nun war es darüber zu spät geworden. Als er dann endlich, in einem geheimen Erschrecken, nun doch eingreifen, hemmen und ablenken wollte, da gelang es nicht mehr – zu tief schon eingefressen war die Gewohnheit dieses Lebens bei seiner Frau.

Zwar gelang es seinem verzweifelten Rütteln an ihrer Seele, sie wachzurufen für Augenblicke. Dann erschrak sie wohl über sich selber, wenn er ihr so in seiner Herzensangst zeigte, wohin sie trieb – immer weiter ab von ihm, dem Verderben entgegen, seinem und ihrem eigenen Ruin. Dann klammerte sie sich wohl an ihn, leidenschaftlich, fassungslos, auch hierin wieder ganz hilfloses Kind, und gelobte weinend Besserung. Aber es hielt nie lange vor. Sie war eben eine jener unglücklichen Halbnaturen, mit dem Willen zum Guten, aber zu schwach zur Tat, die jeder Versuchung immer von neuem wieder unterlag, trotz aller Vorsätze.

So war denn von da ab ihr ganzes ferneres Leben eigentlich nur noch ein unausgesetzter und doch fruchtloser Kampf mit sich selber gewesen, eine ständige Zerrissenheit, trotziges Auflehnen, brennende Reue und doch wieder ein haltloses Untersinken in den Strudel, der stärker war als alles andere in ihr – die Welt da draußen, die lockte und winkte, die ihr keinen Frieden, kein stilles Genügen im eigenen Hause ließ, sondern sie immer wieder antrieb, daß sie hinter einem Irrlicht herjagte, das Glück suchte von außen her, bei anderen, Fremden, und es doch nie fand – ein armes, abgehetztes, müdes und wundes Leben, dem dann der frühe Tod als ein Erlöser kam.

Hilde hörte ihm zu, ohne Laut, ohne Tränen; aber in ihrem Antlitz spiegelte sich voll das tiefinnerste Miterleben. Erschüttert stand sie vor dem vermoderten Grab eines Glücks, das so schön, so verheißungsvoll begonnen hatte. Eine ganze Weile, nachdem der Vater schon geendet hatte, saß sie noch regungslos. Nun aber suchte ihre Hand die Gerboths, der den Kopf abgewandt hatte, um ihr sein Antlitz nicht zu zeigen, das aufgewühlt war von der Uebermacht schmerzlicher Erinnerungen.

»Armer, lieber Vater – was hast du leiden müssen! Gerade du mit deiner namenlosen Güte!« Innig schmiegte sie sich an ihn. »Aber auch die Mutter – die Unglückselige.«

Und in Trauer verloren gleich ihm, sann sie vor sich hin. Zum erstenmal schaute ihr Blick, dem treusorgende Obhut bisher alles Trübe ferngehalten hatte, in die dunklen Rätseltiefen des Lebens. Doch dann sagte sie:

»Nun weiß ich also, warum du mir diese traurige Geschichte erzählst, gerade heute. Warnen willst du mich, vor mir selber, willst mich vor einem Schicksal bewahren, wie es die Mutter traf. Du fürchtest also – es könnte mir gehen wie ihr.«

Gerboth hatte sich wieder aufgerichtet. Er blickte die Tochter an, mit einem tiefen Ernst.

»Ja, Hilde – die Sorge hat immer auf mir gelegen, es möchte in dir einmal das Blut deiner Mutter zum Durchbruch kommen, trotz all meiner Bemühungen. Und ist es nun nicht auch geschehen? Der alte, unselige Sirenensang, der deine Mutter betörte und ihr zum Verderben ward – nun hörst du ihn auch!«

»Nein, Vater!« Fest sah sie ihn an. »Du sorgst dich ohne Not. Das, was ich höre, ist kein Sirenengesang – es ist nur der Weckruf des Lebens.«

Seine Brauen zogen sich zusammen.

»Das Wort hast du nicht aus dir. Ihn hör' ich, der dir heut in deine arglose Seele das Gift geträufelt hat.« Und leidenschaftlich fuhr er auf: »Aber noch soll es ihm nicht geglückt sein – noch bin ich da! Und keine falsche Nachsicht soll mich diesmal beirren. Einmal hab' ich den verhängnisvollen Fehler begangen, einem Menschen, dessen Wohl und Wehe mir anvertraut war, seinen Willen zu lassen, der Stimme seiner Natur zu folgen, zu seinem eigenen Verderben – nicht zum zweitenmal soll es mir geschehen!«

So unerschütterlich und unerbittlich klang es, daß Hilde leise zusammenschrak. Doch nun richtete sie die klaren Augen wieder voll auf ihn.

»Du tust Marr unrecht, Vater; er sprach erst zu mir, als ich ihm mein geheimes Sehnen offenbart. Und wie kannst du das Gift nennen? So gut sprach er, so viel Kraft und Licht war in seinen Worten. Nur von Großem und Schönem war zwischen uns die Rede, und das ist's doch auch nur, was ich suche, was ich mir gewinnen möchte draußen in der Welt. Daß ich nicht länger mehr dastehe, so dumm und arm – daß ich mich fast schämen muß vor mir selber. Ach, lieber, guter Vater –,« und sie hob bittend zu ihm die sehnsüchtigen Blicke, »schenk' mir doch das, der du mir so viel, so unendlich viel schon geschenkt hast in deiner Güte! Und mach' mich reich, so überreich, damit!«

Karl Gerboth sah zu ihr hinab, nun mit einer müden, schmerzlichen Ergriffenheit. Langsam sprach er:

»Mir ist, als hätt' ich das alles schon einmal erlebt! Ueberhaupt, wenn ich dich so vor mir sehe – gerade wie deine Mutter, damals, als ich sie kennenlernte. Ganz so war sie, ein lebenshungriges, großes Kind, und ist es geblieben bis zu ihrem unseligen Ende. In aller Harmlosigkeit geriet sie in ihr Verderben; ein Kind, das mit sehnenden Händen hinter einem bunten Schmetterling herlief und des Abgrundes nicht achtete vor seinen Füßen. So viel Aehnlichkeit seh' ich bei dir, Hilde – wie ich dich heut sehen muß. Eine Angst packt mich da – ganz unsagbar!«

»Nein, nein – nicht doch!« Beruhigend und liebkosend strich sie ihm über seine, von tiefster Sorge gefurchte Stirn. »Von keinem gaukelnden Falter will ich mich je verlocken lassen, Vater – glaub' mir's doch. Ganz gewiß nicht! Ernst will ich bleiben; immer, auch da draußen. Nur das wirklich Wertvolle will ich mir suchen, und das gibt es dort doch auch.«

»Gewiß, das gibt es. Aber es ist so überwuchert von dem anderen, von den Schlinggewächsen mit ihren tausend Fangarmen, daß es schwer ist, sehr schwer, es zu finden, ohne Schaden zu nehmen.«

»Hab' doch ein wenig Vertrauen zu mir – zu meinem guten Willen und zu meiner Kraft! Ich finde mich schon zurecht.«

»Hilde – es wäre ein Spiel, ein furchtbar gewagtes. Wenn es nun anders kommt? Lohnt der Gewinn auch den Einsatz? Du überschätzt doch diese Dinge zu sehr. Annehmlichkeiten sind sie, richtig genossen – das will ich gern zugeben. Aber sind sie wirklich zu unserem Glück nötig? Das kommt doch aus tieferen Quellen, und namentlich bei einer Frau. Sieh, du wirst ja nicht immer Mädchen bleiben,« – sein Blick traf sie bedeutsam – »und dann, wenn du erst dein eigenes Heim besitzt, einen Mann hast, für den du sorgen kannst, Kinderchen – sollte das nicht dein Leben ausfüllen – ganz, restlos – dir ein Glück geben, die höchsten Freuden, wie sie eben nur ein gefestetes, ausgefülltes, reiches Leben gewährt? Braucht es da wirklich erst noch vorher eines solchen Experiments? – Glaub' mir's nur: du verlierst nichts, nichts wirklich Unentbehrliches, wenn du auch das ganze Leben da draußen nie kennengelernt hast. Glaub' es mir und Franz Hilgers, der sich auch einmal hat betören lassen, nun aber froh ist, daß er sich noch beizeiten hat retten können. Wahrhaftig – wer es kennt wie wir – der weiß, was daran ist!«

Er blickte sie erwartungsvoll an, aber sie schüttelte leise das Haupt.

»Du meinst es herzlich gut – und ich danke es dir innigst! – Aber deine Worte können mich nicht überzeugen. Und selbst, wenn es so wäre – es könnte doch alles nichts helfen; nur seiner eigenen Erfahrung glaubt man wirklich.«

»Das scheint wohl so.« Schwer nickte er vor sich hin. »Wozu da aber eigentlich all unser Kämpfen und Durchringen zur Erkenntnis? Wenn man denen, die man liebt, damit doch nicht helfen kann. Umsonst alles!«

»Nein, lieber, guter Vater – umsonst war es ganz gewiß nicht, dein treues Sorgen um mich. Du hast den festen Grund in mir gelegt in all diesen Jahren. Nun hab' doch Vertrauen zu deinem eigenen Werk, daß es sich bewähren wird auch in Wind und Wetter!«

Es war, als ob ihre Worte ihm wirklich Hoffnung geben wollten, aber gleich kam wieder die alte Sorge:

»Das Blut deiner Mutter, Hilde – wenn das nicht wäre!«

»Ich hab' doch auch Blut von dir. Traust du dem so wenig?«

Er antwortete nicht gleich. Dann aber sah er sie an, mit rückhaltloser Offenheit.

»Auch ich habe kämpfen müssen mit der Welt, und es ist mir nicht immer leicht geworden. Ich hatte ja nicht von vornherein die Ruhe und Abgeklärtheit, die du heute an mir siehst. Im Gegenteil, mein eigenstes Wesen schuf mir oft Not. Es war ein schweres Ringen. Gerade darum aber, weil ich die Gefahr kennengelernt habe an mir selber, darum ist meine Sorge doppelt. Hilde –,« und er griff jetzt nach ihrer Hand –, »soll ich denn das alles wirklich noch einmal durchleben? Zusehen müssen, wie das Liebste, das Letzte, was man noch auf Erden hat, da mit dem Strudel kämpft und immer weiter abtreibt, dem Verderben entgegen – und man kann nicht helfen? Nein, das darfst, das kannst du mir nicht antun!«

So erschütternd klang es, daß ihr jedes Wort, jedes weitere Bitten und Drängen verstummte. Langsam ließ sie da das Haupt sinken, und nun sagte sie, aber mit einer müden Traurigkeit:

»So soll denn also alles nur ein Traum bleiben – nie werde ich etwas sehen von dem Schönen und Großen da draußen!«

»Du wirst darüber hinwegkommen – ganz gewiß, mein liebes Kind – und wirst es mir noch einmal danken. Wenn dein Leben sein wahres Ziel erkannt haben wird. Und ist das erst geschehen, hast du damit deine natürliche Bestimmung und Erfüllung gefunden, so werden jene Trugbilder bald verblassen, und du wirst selber darüber lächeln, wenn dann so ganz andere, hohe und heilige Freuden über dich kommen werden.«

Karl Gerboth sprach es mit einem fast feierlichen Nachdruck. Wie ein Ankündigen eines Entschlusses war es, der sich da eben in ihm durchgerungen hatte. Hilde aber, in ihrer tiefen Niedergeschlagenheit, hörte nichts davon. Als ob seine Worte aus einer weiten Ferne kämen, matt und wirkungslos nur, drangen sie an ihr Ohr. Und nun erhob sich der Meister. Sehr bewegt schloß er die Tochter in seine Arme. Sie ließ es willig geschehen. Doch wie sie dann von ihm ging, hinauf in ihr Zimmer, da war alle Frische und Schwungkraft aus ihrem Gang gewichen.



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