Paul Grabein
Nomaden
Paul Grabein

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Hallo – nehmt uns in Schlepp! Wir kommen sonst nicht mehr rechtzeitig hinauf.«

Elga Tenbrink gab dem Kutscher ein Zeichen, und der Schlitten hielt. Mit ihrem Begleiter schaute sie zurück zu den beiden drüben auf dem beschneiten Hang, von denen der Ruf eben zu ihnen hergeklungen war, der Komteß von Treysa und Axel Nibüll, den Hausgenossen aus dem Hotel »Supérior«.

»Wir nehmen Ria natürlich in den Schlitten«, erklärte Heinz Bracke, der an Elgas Seite saß, stieg aus und holte sich die Skier vom Kutschersitz. Während er sie anlegte, kam das andere Paar heran.

»Mit meiner Kunst ist es doch noch nicht weit her!« Ria von Treysa rief es lachend. »Wir hätten auch lieber fahren sollen.«

Gern nahm sie daher, nachdem sie abgeschnallt hatte, im Schlitten neben Frau Elga Platz, während die Herren nun ein Leitseil, das ihnen der Kutscher gab, hinten am Schlittengestell befestigten und in die Hand nahmen.

»Fertig – los!« kommandierte Bracke; die Rosse zogen schnaubend an, und in schlankem Trab ging es weiter. Die roten Federstutzen auf den Schulterstücken der Pferde tanzten auf und nieder, lustig läuteten die Schellen an ihren Gurten. Eine frohe Fahrt! Die Kufen glitten spielend über die ideale Schneebahn. Strahlend lachte die Sonne vom tiefblauen Äther über den blendend weißen Hang unterm Mattenwald. Eine milde und doch würzig frische Luft fächelte die Stirnen. Man hätte sich kein schöneres Wetter wünschen können zu der Sprungvorkonkurrenz, die heute nachmittag auf der Bolgenschanze ausgetragen wurde.

Als sie droben auf dem Schlittenplatz anlangten, war dort schon ein bewegtes Leben. Es bot sich von hier die beste Schau über den Hang mit der Sprungbahn, die rechts und links von den sperrenden Leinen von dichten Menschenmauern eingerahmt war. Bunt und froh leuchteten die farbigen Sportjacken der Damen aus dem schwärzlichen Gewimmel. Über das steil aufsteigende, in der sommerheißen Sonne flimmernde Schneefeld, kreuz und quer durchfurcht von bläulich schimmernden Skispuren, flog der Blick ungehindert hinauf zur Sprungschanze ein paar hundert Meter weiter oberhalb, die, mit rotem Tuch verkleidet, das weiße Kreuz der Eidgenossenschaft zeigte.

Nibüll und Bracke verabschiedeten sich nun von den Damen, die im Schlitten blieben, während sie hinauf zum Absprung wollten. Es war Zeit, gleich sollte das Springen beginnen.

»Na, dann Hals- und Beinbruch!«

Scherzend rief Elga Tenbrink diesen vom Sportaberglauben diktierten, eigenartigen Heilwunsch den Scheidenden nach, und die zurückbleibenden Damen verfolgten den Aufstieg der beiden, die nun, die Skier auf der Schulter, auf den seitlichen Serpentinen eilends zur steilen Höhe hinaufklommen. Unwillkürlich verglich Frau Elga die beiden Gestalten: Nibüll, zwar auch gut aussehend in seinem Sportdreß, aber doch nicht aufkommend gegen Brackes ganze Erscheinung, rassig, schlank, federnd, sonnengebräunt – ein Sportsmann durch und durch.

Eine Weile später, und droben von der Richtertribüne kam ein lauter Ruf, der sich durch die lange Gasse der Zuschauer fortpflanzte, bis zu ihnen und weiter zu den ganz drunten Stehenden hin: »Bahn frei!«

Die Konkurrenz begann. Schon sah man hoch oben am Berghang, von der Waldlichtung her, den ersten Fahrer herniedergleiten zur Sprungschanze hin, sich dort abschwingen und nun nach einem gewaltigen Schwung im blitzschnellen Sausen weiter zu Tal fliegen, barhäuptig, Haar wie Jacke wild im Winde flatternd, ein mannhaft kühnes Spiel. Nun war er drunten im Auslauf. In einem riesigen Bogen glitt er nahezu bis an den Fluß im Tal und, den Schwung ausnutzend, wieder ein Stück den Hang hinauf – tadellos im Stand landend.

Ein tausendstimmiges Bravo; dann dröhnte droben von der Richtertribüne her, durch ein mächtiges Sprachrohr, der Name des Springers »Der Stauffer-Bueb!« und wieder »Bahn frei!«; und der nächste kam an die Reihe. Es waren zunächst lauter Einheimische, Jungmannen, darunter aber auch einige Senioren, ja, selbst ein paar Meisterspringer. Alle ohne Ausnahme machten ihre Sache ausgezeichnet, Riesensprünge bis zu fünfzig Metern wohl, manche sogar einen Doppelsprung – es war eine Freude, diese hervorragenden Leistungen zu sehen. Größer aber ward die Spannung unter den Zuschauern, soweit sie nicht Landeskinder waren, als dann auch die Kurgäste an die Reihe kamen. Das sportliche Ergebnis stach allerdings ab von dem vorangegangenen: mäßige Sprünge, viele schlugen gleich dabei ihren Purzelbaum, sonst jedenfalls aber unfehlbar drunten beim Auslauf. Ein heiteres Auflachen der Menge begleitete jedesmal solch Mißgeschick.

Eine ganze Anzahl dieser angehenden Sportjünger war schon abgefahren, als Ria, die, das Glas vorm Auge, mit steigender Spannung Ausschau hielt, plötzlich nach oben wies.

»Da kommt Nibüll!«

In der Tat glitt droben von der schwarzen Tannenwand ein dunkler Punkt ab, wuchs zusehends, war nun an der Sprungschanze schon dem bloßen Auge erkennbar, ein gewaltiges Aufschnellen, hoch hinaus in die Luft, als sollte es in den unermeßlichen Äther hinausgehen – unwillkürlich stockte den Frauen der Atem – ein heftiges Rudern mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und pfeilschnell sauste der Fahrer tief unterhalb der Schanze dem Schneefeld entgegen, in aufrechter Haltung.

»Famos!« Mit aufleuchtendem Auge verfolgte Ria den Gleitenden, da – noch im letzten Augenblick – ein Überschlagen nach vorn, noch einmal, zum drittenmal, schwerfällig rollte der Körper seitlich den Hang hinab.

»Mein Gott –!«

Halblaut klang es von Rias Lippen in die atemlose Stille hinein, die entstanden war, und sie riß ihr Glas vor die Augen. Nun ein Laut der Erlösung, und dann die Worte:

»Es ist nichts weiter – da steht er schon wieder aufrecht!«

In der Tat: Nibüll winkte drunten den Leuten, die hilfreich zu ihm eilen wollten, ab – die allgemeine Spannung löste sich wieder.

»Gott sei Dank!«

Frau Elga hörte das tiefe Aufatmen neben sich und sah zu ihrer Gefährtin hin.

»Wie blaß Sie sind, Ria – so erschrocken?«

Besorgt legte sie den Arm um die schlanke Gestalt der neben ihr Stehenden und sah ihr mit einem verständnisvollen Blick ins Auge. Über Ria von Treysas Wangen flog eine feine Röte.

»Meine elenden Nerven!« suchte sie ihr Erschrecken zu erklären. »So was kannte ich früher nicht. Aber sehen Sie doch!« Schnell hob sie ihr Glas wieder vors Gesicht. »Ist das nicht Bracke?«

Auch Frau Elga stellte ihr Sportglas auf die Höhe droben ein. Auf der Tribüne bei der Schanze wurde die rote Fahne geschwenkt, das Zeichen zum neuen Start, und droben am Ablauf glitt der nächste Läufer den Hang hinab.

»Ja – er ist's!«

Mit doppelter Spannung verfolgten die Frauen nach dem Vorkommnis Brackes Abfahrt. Nun nahte er sich der Schanze. Deutlich konnten sie alles wahrnehmen: Ein langsames Indiekniegehen, plötzlich aber ein Aufschnellen zum Sprung, und steil aufgereckt schoß Bracke hoch in die Luft. Der kritische Augenblick: Ein paar balancierende Bewegungen der Arme, während der Körper in gewaltigem Bogen niederflog, sich wieder dem Boden nähernd, ein wenig vornübergeneigt, aber nun ein Zurückwerfen, die Skier hatten die Bahn berührt, straff aufgerichtet glitt der Läufer weiter zu Tal, in sausender Fahrt. Jetzt war er in der Kurve des Auslaufs, eine Wolke von Pulverschnee stob auf, seine Gestalt für Augenblicke ganz verhüllend. Aber da war er wieder, noch immer im Stand. Und schon glitt er in verlangsamter Fahrt wieder den Hang herauf, dann ein kurzes Niederducken, ein Schwung – er stand!

Ein Bravo brandete aus den dunklen Massen der Zuschauer auf. Ohne Frage – es war die beste Leistung, die bisher von seiten der Kurgäste gezeigt worden war. Und der Beifall geleitete Bracke bis hinauf zum Schlittenplatz, wohin er nun wieder mit Nibüll kam, der ihn unten erwartet hatte. Jetzt standen sie vor ihren Damen.

»Haben Sie sich auch wirklich nichts getan?« empfing Ria von Treysa den Gestürzten, und aus ihren weichen, dunklen Augen sprach zarte Besorgtheit.

»Gut gemacht – gratuliere!« In ihrer gewohnten Art huldvoller Herablassung reichte Frau Elga Bracke die Rechte. Schweigend, aber mit einer tiefen Verneigung, beugte er sich über die Hand im weichen dänischen Leder, von dem jener leise, diskrete Parfümhauch ausging, der sie stets umschwebte. Als er sich wieder aufrichtete, leuchtete es in dem beherrschten Mannesantlitz.

* * *

Der große Mittag-Korso in Davos-Platz war auf seiner Höhe. Wohlig überstrahlt vom warmen Sonnenschein – es hätte des Sportpelzes gar nicht bedurft – saß Ewald Wilms auf einem der Stühle vorm Kurhaus und ließ das bunte, kaleidoskopartig sich jeden Augenblick ändernde Straßentreiben an seinem Blick vorüberziehen.

Winterlich froh war dieses Bild unter dem tiefblauen Himmel, überall der blendend weiße Schnee auf Bürgersteig, Fahrdamm und Hausdächern, bis fernhin zu den Bergkämmen überm Mattenwald drüben an der andern Talseite, ein einziges Flimmern, Glitzern und Leuchten, wohin das Auge fiel. Und dies unablässige, lustige Schlittengleiten auf der Straße mit silberhellem Klingklang! Zwischen den eleganten Luxusgefährten plumpe Lastschlitten mit Kisten, Kohlen oder wohl auch einmal mit Möbeln beladen, die großen Hotelomnibusse auf Kufen mit ihren offenen Anhängern, für das Gepäck, dort wieder ein schlanker, hochgriffiger Rennwolf. Ja, selbst die Kinderwagen glitten auf Kufen. Und durch dies Gewimmel wand sich in behendem Gleiten auf ihren Skiern die Jugend, von der Schule heimkehrend, Buben wie Mädels gleich geschickt, wie verwachsen mit ihren Schneeschuhen.

Dann nahte ein seltsames Gefährt. Der hohe Muschelaufbau vorn mit seinem Schwanenhals endete in einem Greifenkopf, alles bunt bemalt, auch das schwere Holzkummet des Gauls mit dem Schellengeläut und die altersbraunen Lederstränge. Mit einer langen Geißel lenkte der Kutscher das Tier rittlings von einem Bock hinter dem Kutschkasten aus.

In reizvollstem Gegensatz stand dieser alte, historische Graubünder Schlitten zu den unmittelbar dahinter folgenden Gefährten, Erscheinungen allermodernsten Sports: ein weitausgreifender Traber vor eine Rodel gespannt, im Wettlauf mit einer Ski-kjöre, einem anderen Renner, der von einem Schneeschuhläufer mit der Leine in der Hand gefahren wurde. Dann wieder ein sehr eleganter Selbstfahrer, federleicht, auf beängstigend hohem, schwankem Eisengestell; den stolz hintrabenden Rappen, der übermütig ins Gebiß schäumte, steuerte ein kühl dreinblickender Kavalier im kurzen, silbergrauen Sportpelz, knallrote Dogskins an den Händen. Die Dame neben ihm in fliederfarbenem Kostüm, koketten Atlasschleifen im gleichen Farbton am Kopfende ihres hohen Incroyable-Stocks wie am Halse ihres allerliebsten schneeweißen Schoßhündchens.

Nun wieder nahte im kurzen Galopp ein Reitertrupp. Hochauf stob bei jedem Hufschlag der Schnee. Lauter junge Leute, froh lachend und einander zurufend. Auch die jungen Mädchen saßen im Herrensitz; in ihren weißen Sweatern, karierten Breeches und hohen Wickelgamaschen, waren sie von den Herren kaum zu unterscheiden. Alle barhäuptig, ihre Stirnen Sonne und Winterluft freigegeben.

Das kraft- und lebensprühende Bild erfreute Wilms, aber es mischte sich ein Unterton in dieses Empfinden: Alle um ihn her waren froh und gesellig, nur er war einsam. Wohl hatte auch er schon in seinem Hotel, im »Supérior«, den und jenen kennengelernt, doch er kam sich zwischen ihnen etwas überzählig vor. Im Grunde nur zu natürlich. Die andern kannten sich bereits gut und hatten sich, wie dies hier nun einmal Sitte war, paarweise gruppiert. Da war er in der Tat nur eine Art Anhängsel und viel auf sich allein angewiesen. Er verstand das durchaus, nahm es den andern auch gar nicht übel, aber schön war so etwas doch gerade nicht. Namentlich wenn man ohnehin schon etwas angekränkelt war von der grauen Melancholeia, wie er in seiner gegenwärtigen Seelenverfassung.

Einen skeptischen Zug um den Mund, sah Wilms in das Treiben, auf das große Flirten rings umher. Dieser ewige Wellenschlag der Empfindungen – Hoffnung, die zu Enttäuschung, Liebe, die zur Gleichgültigkeit wurde – bis die Welle schließlich matt im Sande verrann! Lohnte es wirklich erst der Mühe? Und wieder stiegen jener Widerwille, jene Müdigkeit in ihm auf, die er nun schon zu gut kannte; die ihn gerade dann überkamen, wenn er wieder einmal unter die Menschen ging mit einer letzten Hoffnung, vielleicht doch noch etwas bei ihnen zu finden. Es war ja vergebens, ihm hatten sie nichts mehr zu geben; ihm, der ihre Armseligkeit nur allzusehr erkannt hatte, der des ewigen Einerlei ihrer Irrungen und Wirrungen überdrüssig war.

Am besten also, man blieb ihnen fern, flüchtete sich in seine Einsamkeit, zu seiner Arbeit und seinen Büchern. Da vergaß man das alles. Und es ging auch ganz gut, im allgemeinen. Nur manchmal freilich, da kamen so Stimmungen – ein Gefühl von Vereinsamung, eine Leere und Kälte in einem und um einen. Und etwas wie eine geheime Angst. Die Jahre rannen dahin. Bald würde es ohnehin vorbei sein mit allem Hoffen. Dann kam das Alter. Ein ödes, trostloses Alter, vor dem ihm graute. Ein allmähliches innerliches Verknöchern und Erstarren, beiseite geschoben von der Welt, vergessen, von niemandem entbehrt.

Nein – nicht das! Und fort mit solchen Gedanken! Es waren zum Teil wohl nur Grillen, die Folgen seiner Überarbeitung. Der Arzt daheim hatte ihm das bestätigt und dringend geraten, einmal ordentlich ausspannen, nicht bloß ein paar Wochen, nein – Monate hindurch. Ein Winter in der Sonne des Hochgebirges, mit viel Sport, unter frohen Menschen, das würde die beste Kur für ihn sein. So war er denn hierhergereist, um sich helfen zu lassen. Nun mußte er aber auch das Seine dazu tun.

»Ist's erlaubt?« Ein Herr stand vor Wilms, ein Hausgenosse aus dem Supérior-Hotel.

»Ich bitte, Herr Nibüll.«

Der andere ließ sich auf dem freien Stuhl neben ihm nieder, indem er lächelnd sagte: »Ich störe hoffentlich nicht? Sie machten offenbar gerade Studien, analysierten die Davoser Gesellschaft.« Wilms nickte. »Und das Ergebnis, wenn man fragen darf?«

»Schwer zu sagen so nach dem ersten Blick. Nur eins vielleicht: Das Vorurteil, das man gemeinhin unten gegen Davos hat, scheint mir unbegründet. Man ist ja hier wie an einem großen Sportplatz. In der Öffentlichkeit wenigstens merkt man nichts von den Kranken.«

»Kranken?« Um Nibülls Lippen flog es ironisch: »Verzeihung, aber man merkt Ihnen in der Tat den Neuling an, sonst würden Sie wissen: hier ist niemand »krank«. Alle sind wir gesund, die wir hier oben weilen, nur daß wir halt ein bißchen vorsichtig sein – vorbeugen müssen!« Wilms nickte verstehend. »Im übrigen haben Sie recht: Davos ist längst ein großer internationaler Erholungs- und Sportplatz geworden.«

»In der Tat, recht international.«

»Ja,« Nibüll folgte dem Blick, den Wilms über das Treiben auf der Promenade hin sandte, »tutti frutti di mare!« Sein Lächeln machte aber schnell einem sinnenden, fast schwermütigen Ausdruck Platz. »Wenn ich dieses Bild so in mich aufnehme, kommt mir immer wieder – ich bin beiläufig schon den zehnten Winter in Davos – die Empfindung, ein Vergleich: all diese Menschen, die gleich mir seit langem von Hause fort sind, die ein ewiges Wanderleben führen, je nach der Saison: Davos, Arosa, Leysin, Gruyon, Lugano, Zuoz oder drunten an den Seen, wir alle – sind wir nicht Nomaden geworden, Heimatlose, die nichts mehr wissen von Haus, Familie, Vaterland?«

»Ich bin überrascht! Sind denn so viele in Ihrer Lage? Kehren die meisten nicht wenigstens im Sommer wieder nach Haus zurück?«

»Manche wohl, aber doch nicht alle. Und selbst diese? Ist denn das in Wahrheit noch ein zu Hause? Acht, neun Monate ist man draußen, Jahr für Jahr. Da wird man daheim wurzellocker, die Bande des Bluts lösen sich, man wird sich fremd, versteht einander nicht mehr. Das ist eben der Fluch des Nomadenlebens: Man gewinnt die Welt und verliert die Heimat.«

Wilms sah Nibüll in das ernst gewordene Antlitz. Doch schon zeigte dieses das gewohnte Lächeln, und leichthin sagte er:

»Man muß das alles aber nicht zu tragisch nehmen. Dieses Leben ist ja auch wieder ganz lustig, namentlich hier oben. Sie zweifeln? Oh, Sie werden schon sehen, wenn Sie sich nur erst ein bißchen eingewöhnt haben – sogar sehr lustig. Wenn es auf seiner Höhe ist, ein einziges Fest. Vielleicht ein Tanz am Abgrund, aber Rosen verkleiden ihn anmutig. Und frei ist dies Leben, frei von den engen Schranken drunten im Tiefland. Man ist weitherzig hier, versteht alles. Wir Nomaden, die wir hinter uns gelassen haben, woran die andern hängen, haben uns eine eigne Welt aufgebaut mit eignen Sitten und Gesetzen. Einem Neuling in Davos, wie Ihnen, im Anfang vielleicht etwas verwunderlich, ja bedenklich – am Maßstab der Sitten drunten gemessen.«

»Ich hörte schon allerlei – von dem freien Verkehr hier zwischen Mann und Frau. Zimmerbesuche zum Beispiel sollen ja zu jeder Stunde erlaubt sein.«

»Ganz recht, aber es ist keine Sittenlosigkeit; nur eine Freiheit, geboren aus der Not. Wer viel ruhen muß, seiner Gesundheit wegen, hat eben nur die Wahl, Besuche notfalls auch im Bette zu empfangen oder vielleicht wochenlang auf Verkehr ganz zu verzichten.«

»Ich verstehe das durchaus.«

»Überdies – Mann und Frau sehen ineinander Schicksals- und Leidensgefährten; daher ihr enger Anschluß. Der Heimatlose braucht ihn doppelt. So entstehen denn die berühmten Davoser Freundschaften – entstehen und vergehen.«

Nibüll sagte es beinahe melancholisch. Wilms sah fragend auf, und der andere erklärte:

»Es ist ja nur zu natürlich: Da kommt im nächsten Jahr der eine Teil nicht wieder, oder in der Zwischenzeit hat man sich auseinandergelebt – kurzum, die Freundschaften, die eine Saison überdauern, sind Seltenheiten. Man kennt als ständiger Gast diese wenigen ganz genau und respektiert sie. Aber zumeist geht's den einzelnen mit ihren Beziehungen wie dem Kreise, in dem man hier lebt: Man lernt sich kennen, schätzen, teilt getreulich Leid und Freud' und gewöhnt sich aneinander, bis der Saisonschluß kommt – das Ganze auseinanderflattert nach allen Richtungen der Windrose. Auch in den Herzen finden wir keine bleibende Stätte.«

Den Kopf in die Hand gestützt, sann Nibüll vor sich hin, dann sagte er aus seiner Versunkenheit heraus:

»Freilich – auch das andere ereignet sich bisweilen: die große Liebe, die ganz große, die die Treue hält bis zum Grabe und darüber hinaus, alles opfernd, alles tragend. Aber wem ist dieses seltene Glück beschieden?«

Wilms verharrte eine Weile schweigend, dann sagte er, nachdenklich über das heitere Treiben hinblickend:

»Wenn man dies Bild sieht, ahnt man gar nichts von seinen tiefen Hintergründen.«

»Zum Glück sind die Tiefen den meisten nicht bewußt.« Wieder lebhafter entgegnete es Nibüll. »Ich sagte es Ihnen ja schon: Das Leben hier ist an seiner Außenfläche bunt und lustig, ein ewiger Karneval. Schauen Sie nur um sich!« Nibüll ließ den Blick über die Gruppen der Vorüberwandelnden oder auf den Promenadenstühlen Sitzenden hingleiten; aber plötzlich stutzte er:

»Wie denn – wär's möglich?« Betroffen rief er es aus, so daß Wilms aufsah. »Wahrhaftig – sie ist's! Also auch wieder hier!«

Ein frohes Staunen malte sich in Nibülls Zügen. Aber auch Wilms war überrascht. Er sah nun, die Worte galten einer der drei Personen, die dort auf der Bank vor dem Sportmagazin saßen. Ein Herr mit blaßgelbem, scharf geschnittenem Gesicht im lebhaften Gespräch mit einer lachenden, rundlichen Dame an seiner Seite, und daneben, als gehöre sie gar nicht zu ihnen, die dritte.

Unter dem Schatten des schwarzen Seidenhuts ein Gesicht, das seltsam anzog. Ein jugendliches, überaus fein geschnittenes Frauenantlitz, aber von einer müden Traurigkeit. Ihrer ganz vergessen, blickte die junge Frau ins Gewühl der Menschen, doch ohne jede Teilnahme, mit einem leeren, verdunkelten Blick, unbeweglich, bis nun plötzlich das Promenadenorchester, das gerade pausiert hatte, sich wieder hören ließ; diesmal ein Tanz, ein weicher Valse Boston – lockend, Erinnerungen, Sehnsucht weckend. Da ging es durch die Gedankenverlorene wie ein heimliches Erwachen und Verlangen. Sich der Musik entgegenschmiegend, hob sie den Kopf, die feinen Lippen öffneten sich ein wenig, und aus den Augen brach es heiß: ein Durst nach Leben. Hinreißend schön war das junge Frauenantlitz in diesem kurzen Sichvergessen. Aber eben nur einen flüchtigen Pulsschlag lang, dann senkte sich gleich wieder der Schleier über ihre Mienen. Es zuckte um ihre Mundwinkel, und ihre Augen sandten einen Blick ins Weite, der Wilms sonderbar ergriff. So trostlos, so hilfesuchend sah das aus. Er mußte plötzlich an einen armen kleinen, gefangenen Vogel denken.

Was mochte es mit dieser Frau sein? Eine unglückliche Ehe – der Gedanke lag am nächsten. Und Wilms durchforschte die Züge des Mannes drüben in ihrer Gesellschaft. Ein Gesicht von ausländischem Typ. Nun wo er genauer hinsah, fiel ihm auch eine scharf ausgeprägte Linie um Mund und Kinn auf, etwas Kaltes, Hartes, fast Brutales. Und flog nicht gerade eben, wo er anscheinend ganz in die Unterhaltung mit der Rundlichen vertieft war, verstohlen ein Blick zu der jungen Frau hin, mit einem höhnischen Aufleuchten der schwarzen Augen, die etwas Stechendes hatten?

In wenigen Momenten hatte Wilms all diese Beobachtungen gemacht; nun wandte er sich an seinen Gefährten:

»Sie kennen die Dame?«

»Aber ja, eine sehr gute, liebe Bekannte sogar! Da muß ich doch gleich einmal hinüber. Sie entschuldigen mich wohl solange.«

Wilms Augen verfolgten Nibüll, der nun drüben vor den dreien stand. Mit freudigem Erstaunen erkannte und begrüßte ihn die junge Frau, sich rasch von ihrem Sitz erhebend, und stellte ihn ihren Begleitern vor. Dann trat sie an Nibülls Seite und, des mißmutigen Blicks des dunkelhaarigen Herrn nicht achtend, ging sie mit dem alten Bekannten, in ein Gespräch vertieft, langsam die Promenade entlang. Nach dem ersten freudigen Aufstrahlen hatte sich ihr Antlitz bald wieder beschattet; die beiden waren anscheinend in einer ernsten Unterhaltung begriffen. Nachdem sie ein paarmal die Straße auf und ab geschritten waren, näherten sie sich dem Platz, wo Wilms saß, und wollten nun an ihm vorüber. Doch Nibüll bemerkte, aufsehend, den Bekannten und grüßte leicht zu ihm hin. Mit Rücksicht auf die Dame an seiner Seite erhob sich Wilms, den Gruß erwidernd. Die junge Frau, aus ihren Gedanken aufgestört, hielt unwillkürlich den Schritt an, und ein fragender Blick aus den schönen, traurigen Augen traf den Unbekannten. Das gab Nibüll Veranlassung, Wilms vorzustellen, der so erfuhr, daß es eine Landsmännin, Frau Dietmar, war.

Ein paar Worte der Höflichkeit wurden gewechselt, dann wollte Wilms sich taktvoll zurückziehen, aber Nibüll versicherte:

»Sie stören uns nicht – unsere Unterhaltung war ohnehin zu Ende – im Gegenteil, es tut uns vielleicht ganz gut, wenn unserm Zusammensein ein Ende gemacht wird. – Nicht wahr, Frau Fränze? – Wir hatten nämlich eine Unterredung, die uns schließlich recht ernst stimmte. Ich versuchte zwar, meiner verehrten Freundin eine leichtere Auffassung der Dinge nahezulegen, die sie bedrücken, aber –« er lächelte resigniert – »ich bin wohl kein Demosthenes. Ich darf jedenfalls ein gänzliches Fiasko feststellen.«

»Das ist doch nicht Ihre Schuld, Axel,« wandte sich Frau Fränze diesem zu. »Sie haben sich ehrlich Mühe mit mir gegeben – es liegt also nur an mir. Mir kann halt keiner helfen.«

Traurig, ihre Umgebung vergessend, sagte sie es und ließ den Blick ins Weite irren.

Ein Gefühl wie schon vorhin bei ihrem ersten Anblick überkam Wilms. Ein seltsames, verstehendes Mitgefühl mit der ihm doch ganz Fremden. Kein Zweifel, sie zerquälte sich in einer Lage, die sie aufrieb, aus der sich selber zu befreien sie aber nicht die Kraft fand. Unwillkürlich, aus einem dunklen Drang von Hilfsbereitschaft heraus, sagte er da, an ihre letzten Worte anknüpfend:

»Im Grunde kann auch keiner dem andern helfen – nur die eigene Kraft, der eigne Wille vermag uns frei und glücklich zu machen.«

Die Worte, mit fester Überzeugung vorgebracht, machten die junge Frau aufhorchen. Ihr Auge hob sich zu dem Sprecher hin.

»Was Sie da sagen, klingt sehr schön, aber sind nicht auch dem Willen Grenzen gesetzt mit den Schranken unsres Wesens? Über sich selber hinaus kann doch niemand.«

»Gewiß nicht, aber meist täuscht man sich über diese Grenzen. Man kann mehr, als man sich selber zutraut.«

Ihre Augen, die an ihm hingen, klammerten sich fester an ihn. Über die schönen Züge ging es wie ein Aufleben. Aber dann kamen gleich wieder die Schatten, und so sagte sie mit einem müden Ton:

»Der Wille wäre vielleicht schon da, wenn da nicht noch ein anderes wäre – das Mitleid.«

»Mitleid ist Schwäche!«

»Ist es das immer, Herr Doktor? Sind Sie nicht etwas hart mit diesem Urteil?«

»Schwäche oder Narrheit – Frevel an uns selber! Wenn es uns nämlich dazu verführt, etwas zu tun, was uns das wohlbegründete Recht auf uns selber, auf unsere Persönlichkeit verkümmert.«

Abermals zuckte es im Antlitz der jungen Frau. Ihre Augen suchten die seinen wie in einem aufsteigenden Hoffen, dort plötzlich einen Halt, einen rettenden Weg zu finden. Ihre Brust hob sich, als ob sie ansetzen wollte zu einem befreienden Wort; doch dann dachte sie wohl daran, wo sie war, mitten zwischen fremden Menschen – da besann sie sich anders und sagte zögernd, abwägend zu Wilms:

»Zu dem, was Sie eben sagten, ließ sich mancherlei bemerken – ich würde mich gern einmal eingehender mit Ihnen darüber unterhalten – aber es ist hier nicht der Ort. Ich muß auch zu meinen Bekannten zurück.«

Ihr Blick verdunkelte sich, wie er unwillkürlich zur Bank drüben hinglitt. Mit einer etwas hastigen Bewegung verabschiedete sie sich von Nibüll und gab nun auch Wilms die Hand.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor!« Aus dem leichten Druck ihrer Rechten, aus dem Blick, der ihn traf, entnahm er, es war mehr als die übliche Höflichkeitsphrase; sie hatte wirklich den Wunsch, ihm wieder zu begegnen.

Nachdenklich sah Wilms der Davonschreitenden nach. Dann fragte er seinen Begleiter:

»Sie kennen Frau Dietmar schon länger?«

Ein Nicken. »Sie ist schon das viertemal hier oben, und namentlich den letzten Winter haben wir im engeren Kreise verlebt.«

»Ist sie aus Gesundheitsgründen hier?«

»Sie war es die ersten Jahre, nun aber ist es wohl mehr die liebe Gewohnheit.« Nibüll lächelte. »Davos ist ja eine große Sirene. Wer ihr einmal verfallen ist, kommt nicht mehr von ihr los.«

»Also kein ernster Grund, ich glaubte schon –«

»Wieso? Frau Dietmar macht doch eigentlich nicht den Eindruck –?«

»Ihr Ernst fiel mir auf – bereits vorhin, wie sie drüben mit ihren Bekannten saß; aber auch eben wieder. Es liegt über ihr wie ein geheimer Kummer, eine Sorge.«

Nibüll antwortete nicht gleich. Dann aber sagte er:

»Sie sahen ganz recht, die kleine Frau fühlt sich in der Tat bedrückt – nur aus anderer Ursache. Sie befindet sich in einer schweren seelischen Krise.«

Eine Seelenkrise – also offenbar ein Ehekonflikt. Unwillkürlich suchte Wilms Blick den dunkelhaarigen Herrn drüben, der vorhin so unsympathisch auf ihn gewirkt hatte. Ob er der Mann war? Nibüll mochte es wohl wissen, aber Wilms wollte nicht taktlos erscheinen mit einer Frage. So schwieg er, und auch der Gefährte hing seinen Gedanken nach, während sie langsam die Straße hinabschritten.

* * *

Wilms nahm heute seinen Tee in der Diele des Kurhauses, die schon voll von Gästen war. Von seinem Eckplatz am Fenster aus, wo er bequem im weichen Gobelinsessel lehnte, bot sich ihm ein freier Ausblick über den ganzen Raum.

Ein seltsam bunter Wirrwarr für Auge und Ohr: Zwischen Smokings, Cuts und Abendtoiletten die Lederwesten, farbigen Wolljacken und Breeches der Sportsleute, die von der Ski- und Rodelbahn kommend, hier eingefallen waren – ein Stimmengeschwirr in allen Zungen, Typen aus aller Herren Länder – Menschenschicksale bunt durcheinandergewürfelt, weiße und schwarze Lose.

Gleich dort am Tisch die ältere Dame und der junge Mensch ihr gegenüber, die miteinander Bézique spielten, ohne Notiz von ihrer Umgebung zu nehmen, offenbar beide ständige Gäste in Davos. Beste alte Kultur. Allein schon die Hände der Frau, unnachahmlich vornehm und schön in ihrer durchsichtigen Blässe. Und ein stiller Leidenszug war an ihnen. Ebenso wie in dem feinen, vor der Zeit gewelkten Antlitz: Mater dolorosa! Sie lebte offenbar hier oben dem kranken Sohne zur Gesellschaft, der wohl das letzte war, das ihr ein grausames Schicksal gelassen hatte.

Am Nachbartisch ein anderes Paar – nein, ein Pärchen. Er ein ganz kalter Genießer und Geldmacher, sie von einem weichen odaliskenhaften Reiz, ihre abenteuerliche Vergangenheit im gepuderten Antlitz ebenso selbstbewußt zur Schau tragend wie die Riesenboutons im rosigen Ohr. Dicht neben dem Herzeleid der leichtsinnige Genuß!

Ein anderes Bild dort hinten vor dem Kamin. Zwei Familien saßen da beisammen, alles dunkelfarbige, schöne Menschen. Die Männer bei der Zigarre plaudernd, die Frauen über Stickereien gebeugt, die Kinder ein Buch vor sich – wahrhaftig ein Familienidyll! Woher die Fahrt dieser Glücklichen, die es verstanden, sich ihren häuslichen Frieden selbst hier in die Unrast der internationalen Karawanserei hineinzuretten? Spanier vermutlich, denn Italienerinnen hätten – so schloß Wilms nach seinen Erfahrungen – sicher nicht so brav und ehrbarlich bei ihrer Hände Arbeit gesessen, wo ringsumher das Leben und der Flirt lockten.

Weiter streifte sein Blick über die Gruppen hin, aber plötzlich stutzte er: Die Dame, die dort eben eingetreten war und dann, einen Platz suchend, den Mittelgang durchschritt, das war doch Frau Dietmar? Ja, kein Zweifel, stellte er fest, als sie näher herankam. Zugleich aber merkte er auch, daß, soweit er sehen konnte, alle Tische schon besetzt waren; da erhob er sich und ging der Suchenden entgegen. Sie erkannte ihn nun, und eine frohe Überraschung trat in ihre Züge. Schnell schritt sie heran und bot ihm die Hand, indem sie lebhaft ausrief:

»Wie merkwürdig – gerade wie ich so nach einem Platz Umschau hielt, mußte ich an Sie denken. Und nun stehen Sie auf einmal vor mir! Ist das nicht sonderbar?«

»Vielleicht nicht gar so sehr. Sie fühlten möglicherweise meinen Blick, mit dem ich Sie schon von der Tür her begleitete.«

»Also Gedankenübertragung.« Sie sah ihn an, halb lächelnd, halb ernst; eine Bemerkung wollte sich ihr aufdrängen, doch nun bot er ihr einen Platz an seinem Tisch an, und gern machte sie davon Gebrauch.

Sie saßen dann beisammen am Fenster und tauschten einige Bemerkungen über den Raum und das Publikum. Nun aber sah die junge Frau zu Wilms hin und sagte unvermittelt:

»Mir geht immer noch der sonderbare Zufall durch den Kopf. Er erklärt sich doch anders, als Sie annehmen. Ich habe nämlich in diesen Tagen, seit wir uns auf der Promenade kennenlernten, mehrfach an Sie gedacht und mir gewünscht, daß wir uns wieder einmal begegnen möchten. Sie wissen, wir haben neulich ein Thema angeschnitten, über das ich gern noch weiter mit Ihnen gesprochen hätte. Als ich nun hier den Saal betrat, wo sich ja alle Welt trifft, da kam mir unwillkürlich der Gedanke, es wäre doch möglich, daß ich Ihnen hier begegnete. Und dann kam es wirklich so!«

Wilms lächelte. »Ein liebenswürdiger Zufall, dem ich nur dankbar sein kann. Noch mehr aber freut mich, daß er die Gelegenheit zu der Unterhaltung bietet, die Sie wünschten. Ich stehe also ganz zu Ihrer Verfügung.«

Frau Dietmar antwortete nicht gleich. Gesenkten Hauptes sah sie vor sich hin, und nun sagte sie, etwas beklommen:

»So sehr ich mir diese Unterredung wünschte, jetzt, wo der Augenblick da ist, wird es mir doch schwer zu sprechen – wo wir beide uns doch eigentlich völlig fremd sind.«

»Gewiß, meine gnädige Frau, es liegt mir daher auch ganz fern, Sie etwa zu drängen. Nur eines möchte ich sagen: Ich weiß ja nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber mir ist es im Leben schon mehrfach begegnet, daß ich mich zu einem wildfremden Menschen mehr hingezogen fühlte und mich besser mit ihm verstand als mit manch anderem, der mir nahestand. Ausschlaggebend dafür ist also eine längere Bekanntschaft wohl nicht, sondern vielmehr der seelische Kontakt, den man mit dem andern fühlt.«

»Da sprechen Sie mir aus dem Herzen!« Impulsiv kam es der jungen Frau von den Lippen. »Und gerade darum hatte ich den Wunsch nach einer Fortsetzung unserer Unterhaltung neulich. Sie war ja nur kurz, aber die wenigen Worte, die Sie sprachen, mehr aber wohl noch die Art, wie Sie sprachen – Ihre ganze Persönlichkeit hat einen merkwürdigen Eindruck auf mich gemacht. Ich hatte sofort das Gefühl: hier ist ein Mensch, zu dem du Vertrauen haben könntest, zu dem du dich einmal aussprechen möchtest.«

Wilms verneigte sich leicht zu ihr hin. Sein Blick hatte noch etwas Abwartendes, Prüfendes. Sie mochte es fühlen, denn sie fuhr fort:

»Ich weiß, daß ich falsch verstanden werden könnte; aber ich habe die Zuversicht, Sie werden das nicht tun. Und auf die Gefahr hin – ich bin nun mal so! Bei mir entscheidet der erste Blick.«

Fränze Dietmar sah ihm frei ins Auge, so offen und zutraulich, daß er von dieser kindhaften Natürlichkeit besiegt wurde. Es klang ehrlich, wie er erwiderte:

»Ich verstehe Sie schon recht, meine gnädige Frau, und darum: Machen Sie sich nicht länger Bedenken! Wenn Sie glauben, ich könnte Ihnen irgendwie helfen mit meinem Rat oder Urteil, sprechen Sie sich ruhig aus. Außerdem, ich bekomme von Berufswegen vieles zu hören. Als Rechtsanwalt bin ich ja häufig sozusagen Seelsorger meiner Klienten. Nehmen Sie also an, ich sei Ihr Anwalt, und reden Sie vertrauensvoll zu mir.«

Ein Blick dankte ihm. Seine Worte, ebenso seine ganze Art flößten ihr ein Vertrauen ein, das die Widerstände in ihr beschwichtigte. Sie war ja auch lange genug in Davos gewesen. Man maß hier mit anderen Maßstäben als drunten in der Welt der strengen Konvention. Schicksalsgefährten, wie es die meisten waren, die sich regelmäßig hier oben trafen, öffneten einander schneller die Herzen, als es sonst wohl bräuchlich war; man konnte ja leichter auf Verstehen und Anklang rechnen. So entschloß sie sich denn nun, von dem zu sprechen, was sie bedrückte. Damit er es richtig beurteilen konnte, mußte sie freilich etwas weit ausholen. So erzählte Fränze Dietmar denn von ihrer stillen Jugend droben in dem kleinen norddeutschen Landstädtchen, und wie sie dann geheiratet hatte. Noch während des Kriegs, gerade noch im letzten Jahre. Im Grunde hatte ihre Ehe nur ein paar Tage gewährt. Ihr Mann mußte gleich wieder ins Feld, nach Rußland, und noch nicht ein halbes Jahr später, sie hatten sich inzwischen überhaupt nicht mehr gesehen, starb er am Typhus.

»Mein Gott, da waren Sie ja eigentlich gar nicht verheiratet.«

»Ja, es war mir, als ob sich gerade eine Tür vor mir aufgetan habe, die nun gleich wieder zuschlug.«

»Wie traurig!«

»Gewiß – und doch –« aufrichtig sah sie ihn an – »es klingt vielleicht gefühllos, wenn ich es sage, aber es ist doch so: der Tod meines Mannes hat eine fühlbare Lücke in mir nicht hinterlassen. Wir hatten uns ja vorher nie gekannt. Unsere Heirat war, wenigstens von meiner Seite, ein Entschluß so aus der Kriegsstimmung heraus – etwas Romantik, Schwärmerei – ich war ja noch ein halbes Kind damals – und auch Mitleid mit dem armen Menschen, der schon vier Jahre draußen war und aller Fürsorge entbehrte. Vor allem meine Eltern rieten dazu, und so sagte ich halt ja. Aber ich bin meinem Manne nie wirklich nahe getreten, wir waren nicht innerlich verwachsen – wie hätte es auch sein sollen!«

Wilms nickte verstehend. »Es ist das ja nur natürlich.«

»Es hatte sich also mit meiner Verheiratung im Grunde gar nichts für mich geändert. Ich lebte als Haustochter im Elternhause weiter, im Kreise der Meinen. Bis dann die Krankheit kam. Ich war als Kind immer ein bißchen zart gewesen; nun eine schwere Grippe, und plötzlich war ich reif für Davos. – Das war ein schlimmer Winter, damals jener erste,« mit beschatteter Stirn blickte sie vor sich hin, den Kopf in die Hand gestützt. »Ich fühlte mich grenzenlos einsam und verlassen hier oben. Noch nie in meinem Leben war ich allein von Haus fort gewesen, und nun unter solchen Umständen! Ich lebte droben im Sanatorium, ganz streng nach der Vorschrift. O, was war ich unglücklich in jener Zeit! Jede Nacht hab' ich mich in Schlaf geweint. Meine einzige Beschäftigung waren Bücher; von den fremden Menschen wollt' ich nichts wissen, und meine einzige Freude war der Briefwechsel mit meinen Lieben daheim. – – Das Glück, als ich endlich im Frühsommer wieder heim durfte! Nur, es währte nicht lange. Ein paar Monate später mußte ich schon wieder hier herauf. Die Ärzte hielten es für nötig. Mir graute vor diesem zweiten Winter – und nachher kam doch alles so ganz anders.«

Sie sagte es mit einem schweren Ton, und ihr Antlitz wurde noch ernster.

»Ich ging diesmal nicht wieder ins Sanatorium. Der Arzt daheim erklärte das nicht mehr für erforderlich. So ging ich ins »Alberti«, doch hielt ich mich auch dort anfangs noch für mich, lebte nur meiner Gesundheit, ganz gehorsam den Vorschriften meines Hausarztes. Aber der Doktor hier war anderer Meinung. Er sah mich ewig melancholisch, genau wie im Vorjahr. Das ginge so nicht weiter, sagte er mir da, dann hätte die ganze Kur keinen rechten Zweck. Ich müßte gesellig leben, vergnügt sein, wie alle Welt hier, wollte ich wieder richtig auf den Damm kommen. Und er selber nahm dann alles in die Hand, sorgte für Anschluß – und so kam ich denn hinein in das Davoser Leben.«

Ein Seufzer brach sich von ihren Lippen, und das junge Frauenantlitz hatte etwas Bekümmertes.

»Ich fand mich nur allmählich zurecht in dieser neuen Welt. Wie anders war das alles! Man lachte über mich, verspottete mich gutmütig – denn sie nahmen mich alle von vornherein sehr nett auf – als ich mein Erstaunen, ja mein Erschrecken zu erkennen gab. Ich, die brave Haustochter mit meiner schrecklich guten Erziehung, aus dem kleinen Nest droben im steifen Hannoverschen! Aber allmählich begriff ich, daß es eine große Welt gab, in der man über die engen Anschauungen und Schicklichkeitsbegriffe der Heimat längst hinaus war, daß man dort seine eignen Gesetze hatte und daß es sich danach auch leben ließ. Recht angenehm sogar und viel bequemer als nach unserm verstaubten Sittenkodex zu Hause. Ja, es war vielleicht sogar nötig, sich frei zu machen von allem Altüberkommenen, wenn das Schicksal einen doch einmal aus der normalen Bahn herausgeholt und in diese andere Welt versetzt hatte.«

Wieder versank Fränze Dietmar in ein Schweigen. Langsam fuhr sie dann fort:

»Es ging das für mich freilich nicht ohne innere Kämpfe ab, die recht schmerzlich waren. Ich war es ja gewohnt, die Meinen teilnehmen zu lassen an allem, was mich anging. So schrieb ich ihnen denn auch getreulich von diesen, für mich so bedeutungsvollen Dingen. Das Echo war natürlich dementsprechend. Helles Entsetzen, Empörung, Warnungen, Bitten, Beschwörungen! – Im Widerstreit meiner Empfindungen vertraute ich mich meinen neuen Freunden an – und das Ergebnis? Ich wurde skeptisch, kritisch gegenüber den Meinen. Ihr Horizont erschien mir eng, ihre Gesinnung ungerecht und unduldsam. Die Folge war, ich wurde zurückhaltend in meinen Mitteilungen und mit meiner wahren Meinung ihnen gegenüber. So kam denn, was kommen mußte, und unser persönliches Zusammentreffen dann im Sommer, zu Hause, beschleunigte nur noch diesen unaufhaltsamen Prozeß. Wir verstanden einander nicht mehr. Sie quälten mich mit ihren wohlgemeinten Bekehrungsversuchen und ich sie mit meiner Verschlossenheit, meiner »Verstocktheit«, wie sie es nannten. So lebten wir uns schließlich auseinander. Das spricht sich so leicht hin, aber,« und in ihrem Blick stieg es auf, »es kostet einen allerlei, wenn man früher einmal so innig zueinander stand – namentlich zu der Mutter.«

Ihre dunklen Wimpern senkten sich unwillkürlich über die Augen. So verharrte sie eine Weile. Mit warmem Empfinden sah Wilms auf sie nieder. Ein liebes, großes Kind diese Frau, noch heute! Doch dann sprach sie weiter mit einem veränderten, entschlossenen Ton:

»Es kam schließlich zu einem offnen Konflikt. Meine Eltern wollten im nächsten Winter nicht mehr, daß ich nach Davos ginge; wenn überhaupt noch etwas nötig sei, tue es wohl auch ein deutscher Winterkurort. Sie hatten damit wohl recht, aber ich widersetzte mich. Ich war schließlich doch eine selbständige Frau und ließ mir nicht mehr befehlen. Aber auch noch ein anderes – der Geist von Davos hatte Wurzeln in mir geschlagen, die ließen sich nun nicht mehr ausrotten. Es packte mich eine Sehnsucht nach der ewigen Sonne, nach dem freien, frohen Leben hier oben, nach meinen guten Freunden und Bekannten, kurzum – ich fuhr her, gegen ihren Willen.«

»Und dann?«

»Dann« – sie holte tief Atem – »ja, dann kam, was wohl mußte, auch sonst. Gerade weil ich im Unfrieden mit denen daheim geschieden war, schloß ich mich nun doppelt hier an, stürzte ich mich diesmal vom ersten Tage an unbedenklich in das Leben hier. Ich ging wieder ins »Alberti«, aber es war dort ein anderer Kreis, nur ein paar von den vorjährigen Bekannten, sonst viel Ausländer, namentlich Spanier und Südamerikaner. Wir wurden allesamt bald gut bekannt, es wurde eine riesig fidele Saison, so ausgelassen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Und in diesem Kreise – lernte ich Pedro Ruaz kennen.«

Eine feine Falte erschien zwischen ihren Brauen, und sie heftete die Augen auf das Täschchen, das sie im Schoß hielt.

»Es war der erste, der als Mann Eindruck auf mich machte. Er hatte etwas in seinem Wesen, vor dem ich mich fürchtete und das mich doch insgeheim erzittern ließ. Ein fabelhaft leidenschaftlicher Mensch, alle seine Freunde sagten es und erzählten davon. Aber ich fühlte es ohnehin auf den ersten Blick. Wie er mich ansah – gleich bei der Vorstellung mit seinen beinahe unheimlichen, schwarzen Augen – so hatte mich noch nie im Leben ein Mann angesehen. Das war wie ein Besitzergreifen, so herrisch und selbstverständlich. Natürlich bäumte sich alles in mir dagegen auf, ich war abweisend, unnahbar, beinahe ungezogen zu ihm, aber er lächelte dazu nur, mit seinem überlegenen Siegerlächeln, das mich in helle Empörung versetzte. Und dennoch –,« es war ein eignes Schwingen in der nun unvermittelt abbrechenden Stimme.

»Pedro Ruaz ist der Herr, mit dem ich Sie neulich hier sitzen sah?«

Der ruhige Ernst, mit dem Wilms die Frage stellte, gab ihr die Sicherheit wieder.

»Ja,« fest war ihr Ton, auch nun, als sie weiter berichtete. »Er gewann bald einen geradezu dämonischen Einfluß auf mich. Unser ganzes Begegnen war ein einziges Locken und Fliehen. Je verzweifelter ich mich wehrte, desto heißer nur glühte es in mir, und endlich geschah es: ich suchte eine Aussprache mit ihm, schleuderte ihm all meine Empörung ins Gesicht, verbot ihm, mir wieder vor Augen zu kommen, und – lag ein paar Momente später in seinen Armen.«

Das feine Antlitz der jungen Frau war blaß, wie sie so regungslos dasaß und entschlossen ihr Bekenntnis zu Ende führte.

»Es war nicht Liebe, die mich zu ihm zwang, nur zu bald erkannte ich es, zu meinem eignen Erschrecken. Ich kann nur noch einmal sagen: es war wie ein dämonischer Bann, der mich zwar immer wieder von neuem zu ihm zwang, der aber mein Herz ganz unberührt ließ. Und mein Verstand sagte mir klar, daß Ruaz und ich im Grunde innerlich nichts gemein hatten, nichts gemein haben konnten. Er war ganz Südländer, Romane, in seinen Formen blendend, aber innerlich wertlos, ja in vielen Dingen sogar von einer sehr häßlichen, niedrigen Gesinnung. Und erschreckend unbeständig. Eben noch konnte er mich verwöhnen, mich auf Händen tragen und vergöttern, und im Handumdrehen war er kalt und brutal bis zur Roheit. Ja, es schien ihm geradezu eine Lust, mich seelisch zu mißhandeln und sich an meinen Schmerzen zu weiden. Freilich nur so lange, bis die Stimmung bei ihm abermals umschlug und eine wahnsinnige Leidenschaft bei ihm hervorloderte. – Kurzum, es wurde mir immer klarer, daß ich ihn nie würde heiraten können, obschon er deswegen täglich in mich drang.«

»Warum machten Sie denn aber kein Ende, wo Sie das so klar erkannten?«

Eine Befangenheit malte sich in ihren Zügen, doch tapfer bekannte sie:

»Die Gewalt, die er über mich hatte, war immer noch sehr stark – ich erlag ihr immer wieder. Und dann – ich fürchtete mich vor ihm! Sie ahnen ja nicht, wessen er fähig ist. Er selber hat mir zur Warnung Beispiele erzählt, und seine Freunde haben es mir bestätigt. Trotzdem habe ich den Versuch gemacht, mich von ihm zu befreien, im letzten Sommer, wie ich wieder daheim war. Da habe ich ihm geschrieben, daß wir uns nie wiedersehen würden, daß ich nicht mehr nach Davos käme, und da ihn seine Gesundheit zwingt, hier zu leben, so wähnte ich mich vor ihm gerettet.«

»Es kam aber anders?«

Sie nickte. »Dreißig Stunden später stand er vor mir, in einer Fahrt von Locarno heraufgekommen. Stellen Sie sich das nun vor: bei mir zu Hause in dem kleinen Nest, wo einer den andern kennt! Kaum, daß ich überhaupt diese Unterredung unter vier Augen ermöglichen konnte. Und er drohte mir, den Browning in der Hand, er würde sich erschießen, hier vor meinen Augen, wenn ich ihm nicht schwöre, im Winter wieder nach Davos zu kommen.«

»Und dann?«

»Warf er sich mir zu Füßen, umschlang mich und weinte wie ein Kind. Er könne doch nicht mehr ohne mich leben – wie ich nur so grausam sein könne!«

»Da haben Sie ihm denn alles versprochen?«

»Wie konnte ich anders!«

Wilms nickte schweigend, dann aber sagte er: »Und nun ist's die alte Geschichte: Sie leiden unter ihm, möchten fort von ihm und kommen nicht los.«

Sie bejahte stumm, aber in ihren Augen stand ein angstvolles Bitten und Erwarten. Er gewahrte es wohl, hielt aber noch mit der Antwort zurück. Mit einem ernsten Prüfen forschte er in ihren Zügen. Endlich sprach er:

»Ich sehe, Sie wünschen meinen Rat; doch vorher eine Frage. Sagen Sie mir ganz ehrlich: Ist es auch wirklich Ihr Wille, von Ruaz frei zu kommen?«

»Herr Doktor!«

»Nun – Sie erklärten doch vorhin selber: die Gewalt, die er über Sie hätte, sei immer noch sehr groß. Vielleicht fühlen Sie sich also doch noch zu ihm hingezogen trotz aller Widerstände.«

»Nicht mehr!« Entschlossen warf sie den Kopf in den Nacken und hielt seinem Blick stand. »Der Bann ist gebrochen. Ich habe ihm und mir den Beweis dafür erbracht. Wohl bin ich auf sein Betteln wieder hierhergekommen – aber es ist nicht mehr wie früher. Nur noch das Mitleid hält mich bei ihm.«

»Davon müssen Sie sich frei machen. Ich sagte es Ihnen neulich schon: Sie haben doch ein Recht auf sich selber. Wie kommen Sie dazu, sich diesem Menschen zu opfern? Welche Anrechte hat er an Sie? Keine, nicht die mindesten! Und seine Persönlichkeit, wie Sie sie schildern, ist doch wahrhaftig nicht danach angetan, alle Rücksichten gegen sich selber außer acht zu lassen. Man braucht Sie doch nur zu sehen, wie ich neulich auf der Promenade, ohne Sie noch zu kennen, um sofort zu merken, daß Sie ein in tiefster Seele unglücklicher Mensch sind.«

»Ja, das bin ich!« Und aus ihren Augen brach all das verhaltene Weh. »Ich schäme mich, daß ich die Kraft nicht finde, rücksichtslos meinen Weg zu gehen. Aber wenn er dann wieder so haltlos zusammenbricht – dann bring' ich's nicht übers Herz.«

»Erbärmlich von einem Manne, sich so zu zeigen! Wer weiß, ob er Ihnen nicht bloß eine Komödie vorspielt?«

»Nein, nein – und dann auch seine Krankheit. Er liegt dann so hilflos und verlassen.«

»Gewiß, nicht schön! Aber was hilft's? Hier sind Hunderte in seiner Lage und müssen auch allein mit sich fertig werden. Nein – Sie müssen sich hart machen, Frau Dietmar. Sie sind es sich schuldig

»Das hab' ich mir ja selber gesagt. Aber dann steigt es wieder so bitter in mir auf: Wer fragt schon groß nach mir? Mit denen da drunten zu Haus bin ich fertig; die hab' ich verloren. Und sonst? – – Und da ist nun einer, dem bin ich etwas, der kann nicht leben ohne mich, für seine Wildheiten kann er ja nichts, es reut ihn nachher stets selber – dem soll ich nun den Stoß vor die Brust geben! Kann ich das wirklich verantworten?«

»Ja – denn noch einmal: Sie sind das Ihrer Selbstachtung schuldig.«

So streng sagte er es, daß sie zusammenschrak wie ein gescholtenes Kind. Mit großen geängstigten Augen sah sie ihn an. Da wurde er noch eindringlicher:

»Jawohl, Ihrer Selbstachtung! Eine Frau darf ihre Würde nicht mit Füßen treten lassen. Das geschieht Ihnen aber von diesem Mann. Es ist ein Jammer – eine Frau wie Sie!« Und sein Blick glitt über ihre reinen edlen Züge, über den ganzen Reiz ihrer zarten Frauenanmut.

»Sie würden mich also nicht mehr achten können, wenn ich länger zu ihm hielte?«

»Ich müßte Sie für bedauerlich schwach halten, und es gibt einen Grad von Schwäche, bei dem unser Interesse aufhört.«

Abermals durchzuckte es sie. Dann stützte sie den Kopf in die Hand und sann mit verdüsterter Miene vor sich hin. Es kämpfte in ihren Zügen. Nun sagte sie:

»Und wenn ich es wollte – er wird mir ja keine Ruhe lassen, mich quälen und bedrohen!«

»Dem müssen Sie sich entziehen. Sie müssen Ihr Hotel wechseln – sofort – noch heute. Und im neuen Heim alle nötigen Vorkehrungen treffen, sich nicht scheuen, Ruaz vom Personal abweisen zu lassen, wenn er es wagen sollte, Sie auch dort zu belästigen. Sollte aber auch das nicht ausreichen, nun so gibt es noch andere Mittel. Und wenn Sie einen Beistand dabei benötigen – ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung.«

Fränze Dietmar hob den Blick zu ihm auf, noch ein letztes Kämpfen, dann brach es hell aus ihren Augen, ihre Rechte streckte sich ihm entgegen:

»Ja – ich will! Hier meine Hand darauf. Ich fühle es: Nun, wo mir jemand zur Seite steht, nun habe ich auch die Kraft. Wie dankbar bin ich Ihnen, lieber Herr Doktor! So hat mich mein Vertrauen zu Ihnen doch nicht getäuscht.«

Er erwiderte warm den Druck ihrer Hand, dann sprachen sie im einzelnen alles durch. Als ihre Unterredung zu Ende war und sie sich trennten, versprach Fränze Dietmar von sich hören zu lassen, wie die Sache abgelaufen sei.

* * *


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