Paul Grabein
Firnenrausch
Paul Grabein

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Erster Teil

»Eigentlich ist es doch zu albern! Diese Toiletten, Gesellschaftsfratzen – wie daheim – mitten in der Hochsaison – und das nennt man Sommerfrische, dazu reist man ins Hochgebirge! Einfach verrückt!«

Gottliebe Rhyngaert drückte, nach einem langen verächtlichen Blick über ihre Umgebung, die Zigarette so energisch auf der versilberten Aschenschale aus, als könnte sie damit der ganzen, ihr so widerwärtigen Gesellschaft ringsum den Garaus machen.

In der Tat sah es im weiten, kühldämmerigen Vestibül des eleganten Trafoi-Hotels nicht nach einem Bergwirtshaus aus. In die komfortablen, rotlackierten Korbsessel bequem zurückgelehnt, saßen die Hunderte von Hotelgästen mit jener behaglich faulen Siestastimmung, die der gute Lunch in ihnen erzeugt hatte. Der schwere, süßlich-aromatische Duft von Parfüms, Mokka und Zigaretten legte sich fast lähmend um die Sinne im Verein mit dem schwirrenden Lärm der schwatzenden und flirtenden Gesellschaft, eines internationalen Gemisches von Leuten in zumeist höchst elegantem, tadellosem Anzuge. Die paar Herren im Touristenkostüm und Damen in einfacher Hemdbluse fielen ordentlich auf.

Dietrich Bessow, selber im Smoking, sah seine Nachbarin an dem zierlichen Korbtischchen, auf dem das silberne Mokkaservice blinkte, einen Augenblick schweigend an; beobachtend, mit einem leis-ironischen Zug um die Lippen, über denen der nach der neuesten englischen Mode ganz kurz geschnittene blonde Schnurrbart stand.

Dann sagte er, sein Zigarettenetui aus der Brusttasche nehmend, in seiner halblauten, vornehm gedämpften Art:

»Sie belieben heut besonders kritisch zu sein, mein gnädiges Fräulein. Aber darf ich bitten?«

Doch sie wies lebhaft das ihr dargebotene Etui ab.

»Danke, ich rauche nicht mehr.«

Die Tante neben ihr am Tisch atmete erleichtert auf. Die Frau Major Morell, noch ganz eine Dame der alten Schule, konnte diese modernen Freiheiten für den Tod nicht ausstehen, aber Gottliebe ließ sich ja bei ihrem starren Eigensinn leider gar nicht beeinflussen in ihren exzentrischen Neigungen.

Gottliebes Ablehnung geschah denn auch beileibe nicht aus Rücksicht auf die Tante. Nein! Sie mochte einfach nicht. Aus Opposition gegen diese sich so modern gebärdende Gesellschaft ringsum, die sie in ihrer augenblicklichen Laune so reizte, daß sie am liebsten irgend etwas ganz Tolles, Unmögliches angegeben hätte, nur um ihrer widerwärtigen, langweiligen Korrektheit und Manieriertheit einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Am liebsten hätte sie da dem steifleinenen Pedanten ihr zur Seite sein silbernes Etui an den Kopf geworfen!

Den ganzen Lunch über hatte sie sich über den Regierungsrat Bessow geärgert, und nun jetzt wieder dies geheime, spöttisch-überlegene Lächeln, das sie wohl gemerkt hatte! Aber wenn er glaubte, sie mit dieser Art erziehen zu können, so irrte er ganz gewaltig. Ganz im Gegenteil, das trieb sie nun erst recht in ihre Eigenheiten hinein.

Bessow steckte mit leichter Verneigung das Etui wieder ein. Sein Blick glitt dabei einen Moment durch das breite Eingangsportal des Vestibüls hinaus ins Freie, wo, im scharfen Kontrast zum tiefen Schatten dieser Halle, eine heiße Sonnenluft flimmerte.

»Da kommt eine Partie zurück – gewiß vom Ortler.« Er wies leicht mit der Zigarette auf eine kleine Gruppe von Männern, die jetzt draußen auf dem Vorplatz haltgemacht hatte; ihrer vier, alle in derber Bergsteigerausrüstung, von Sonne und Staub arg mitgenommen. »Unglaublich! Die leibhaftigen Vagabunden!« In ästhetischem Abscheu betrachtete Bessow die rotgebrannten, schweißperlenden Gesichter und die verstaubte, zerdrückte Kleidung bis hinunter zu den fettgeschmierten Nagelschuhen von schwerstem Kaliber. Die Kerls werden doch nicht hier ins Hotel –

Der Gedanke, mit solchen durchschwitzten Leuten in einem Raume zu weilen, verursachte ihm ein wirkliches Grauen.

Gottliebe Rhyngaert sah nun auch hinaus auf die vier. Im Grunde hatte sie früher oftmals genau so gedacht wie der Regierungsrat, namentlich wenn sie auf der Poststraße von der hohen Bankette der Mailcoach aus stolz-verächtlich auf die in dem Straßenstaub marschierenden Touristinnen mit dem zerzausten Haar um die rotglänzenden Gesichter hinabgeschaut hatte. Heute aber rief Bessows Bemerkung nur ihren Widerspruch wach.

»Warum nicht?« Lebhaft die Stimme erhebend, musterte Gottliebe die Leute draußen, von denen sich jetzt zwei, die Touristen, von den beiden anderen, den Führern, verabschiedeten.

»Wenn die Leute einen Smoking anhaben, sind sie sicherlich Gentlemen so gut wie Sie!«

Der Regierungsrat zog leicht die Brauen zusammen. Der Vergleich war ihm peinlich. Gewiß, möglicherweise waren die beiden da draußen auch Leute der sogenannten »Gesellschaft« – sehr leicht sogar auch Juristen. Jetzt, in den Gerichtsferien, wimmelte es ja leider in den Bergen von solchen. Aber irgend so ein rauhbeiniger Rechtsanwalt oder verbauerter Amtsrichter, so ein »Röllchen« und Jägerhemden tragendes Individuum war doch längst nicht seinesgleichen! Eigentlich hätte er ja über diese Zumutung einfach lächeln sollen, aber Gottliebe Rhyngaert hatte ihm heute schon zu übel mitgespielt. Er mußte ihr endlich einmal angemessen erwidern.

»Wenn Sie Geschmack an diesen Herrschaften finden – bitte sehr«, spöttelnd verneigte er sich vor ihr. »Aber Sie müssen mir schon gestatten, für meine Person den Begriff des Gentleman etwas anders aufzufassen. Nach meiner Auffassung darf ein Gentleman eben niemals – nie–mals – wie ein Rowdy aussehen!«

»Sie würden also in Frack und Lackstiefeln auf den Ortler hinaufgehen!« höhnte Gottliebe.

»Ich würde nie hinaufgehen.«

»Das ist freilich das Bequemere und – Ungefährlichere!«

In Bessows Zügen zuckte es sekundenlang auf. Mit geheimer Freude sah sie es: der Hieb hatte gesessen. Dann aber nahmen seine Mienen gleich wieder die gewohnte Ruhe an.

»Ich habe keinerlei Veranlassung, erst derartige Beweise für meinen Mut zu erbringen. Im übrigen – wenn ich nicht irre, gnädigstes Fräulein – haben auch Sie ja noch nie Gipfel gestürmt.«

Gottliebe fuhr auf, nun ihrerseits getroffen.

»Wollen Sie damit sagen, daß ich es aus Feigheit nicht getan hätte?«

Ihre dunklen Augen blitzten ihn drohend an.

»Aber bitte«, wehrte er mit höflicher Handbewegung ab. »Nur, Sie werden mir zugeben: Man soll nicht attackieren, wenn man selbst Blößen hat.«

Gottliebe biß sich auf die Lippen. Gerade weil er recht hatte, brannte der Trotz in ihr um so höher auf. Und der Gedanke, er könnte ihr wirklich Furchtsamkeit oder Schwäche Zutrauen, schürte ihre Erregung noch mehr.

»Wenn ich bisher keine Hochtouren gemacht habe, hatte das seine anderen Gründe. Nun aber könnte es mich reizen –«

»Um Gottes willen!« fuhr jetzt die Tante aus ihrer Reserve auf; sie hatte bisher der schon gewohnten Plänkelei zwischen den beiden nur mit halbem Ohr zugehört. »Nun fang' auch noch mit so etwas an!«

»Wahrhaftig?« spöttelte Bessow seinerseits. »Sie gehen vielleicht gleich morgen auf den Ortler.«

»Warum nicht? wenn ich's mir vornehme!«

»Ich bitt' Sie, Herr Regierungsrat!« verzweifelt sah die Frau Major zu Bessow hinüber. »Ist Ihnen nun so etwas schon vorgekommen?«

»Der Einfall Ihrer Fräulein Nichte entbehrt zum mindesten der Originalität, nicht, gnädigste Frau«, wandte sich Bessow an Frau Morell. »Gott sei Dank nur, daß sich so etwas schneller ausspricht als ausführt.«

Die überlegen-hofmeisterliche Art Bessows und der Zweifel am Ernst ihrer Worte taten bei Gottliebe das Letzte.

»Sie dürften sich irren, Herr Bessow«, und schon war sie aufgestanden. »Ich werde morgen die Ortlertour machen.«

»Gottliebe – wo willst du hin?« fast entsetzt rief es die Tante.

»Mit den Führern sprechen«, kam es entschlossen von Gottliebes Lippen, und wirklich schritt sie schnell dem Ausgang zu.

»Aber das kann ja nicht sein, Herr Regierungsrat!« Beschwörend hob Frau Morell die Hände zu Bessow auf.

»Selbstverständlich, meine gnädige Frau,« und auch dieser erhob sich, »werde ich mit den Leuten ein ernstes Wort reden. Sie werden verständig sein.«

›Verständiger als Gottliebe‹, hatte er den Satz für sich beendet.

»Ach ja!« bestärkte ihn die Tante mit dankbar bittendem Blick. »Mein Gott, was einem das Mädel nicht für Sorge macht!«

Ihr tiefer Seufzer fand einen Widerhall in Bessows Brust, während er langsam hinausging. Er ging niemals schnell; seine ihm in Fleisch und Blut übergegangene Auffassung von Vornehmheit verbot ihm die würdelose schnelle Bewegung. Aber trotz dieser äußeren unerschütterten Ruhe war er im Innersten keineswegs so gleichgültig.

Bessow interessierte sich ernstlich für Gottliebe, die er vor drei Wochen hier im Hotel mit ihrer Tante kennengelernt hatte. Gerade die eigenartige Mischung ihres Wesens – halb Zigeunerin, halb Prinzessin, fand er – hatte ihn, den korrektesten Gentleman, lebhaft angezogen. Er verspürte zum erstenmal einen Reiz seiner Empfindungen, den die tadellos erzogenen Damen seiner Kreise nie bei ihm erweckt hatten. Im übrigen – zu seiner Beruhigung – sie war ja von bester Familie, aus einem alten rheinischen Patrizierhause. Der Vater, ein hochbegabter Maler, war früh gestorben. Auch die Mutter, aus einer norddeutschen Offiziersfamilie stammend, lebte schon lange nicht mehr, so daß Gottliebe bei ihrer Tante, der Frau Major Morell, aufgewachsen war. So durfte sich Gottliebe, ohne mißgedeutet zu werden, schon die Eigenart ihres Wesens erlauben, um so mehr, als sehr plötzlich auch wieder eine so strenge, fast hochmütige Abweisung bei ihr zum Durchbruch kommen konnte, daß sie jeden Zweifel über ihre gesellschaftliche und persönliche Qualität gründlichst beseitigte.

Bessow hatte sich in diesen Wochen ausschließlich der Gesellschaft der beiden Damen gewidmet, aber er war trotzdem Gottliebe innerlich nicht nähergekommen. Sie behandelte ihn vielmehr, je mehr er sich um sie bemühte, mit einer souveränen Ironie, die ihn schließlich bei all seiner Ruhe doch in Harnisch brachte.

Auch die Tante war sehr unzufrieden mit diesem Stand der Dinge. Sie begünstigte den Regierungsrat offenkundig und hatte Gottliebe eine Verbindung mit dem sehr begüterten Mann in so guter Karriere als ein erlesenes Glück hingestellt, da die Nichte ihrerseits ohne jedes nennenswerte Vermögen war. Aber gerade diese Anempfehlung aus berechnenden Vernunftsgründen hatte Gottliebe halsstarrig gemacht. Sie war eine ehrliche und charaktervolle Natur. Die Jagd auf einen reichen Mann war ihr widerwärtig, und so behandelte sie denn Bessow mit voller Absicht schlecht.

Je mehr sie aber Bessow in Distanz hielt, um so tiefer wurzelte bei diesem das Begehren nach ihr. Der kühl denkende Mann steigerte sich allmählich in ein Empfinden hinein, das bei anderen zur Leidenschaft geworden wäre, bei ihm ein immerhin quälender Wunsch nach ihrem Besitz war. Und wenn er dennoch ihr gegenüber den Ton kalt spöttelnder, gelassener Überlegenheit anschlug, so geschah es nur aus kluger Selbstbeherrschung. Er wollte sein wahres Empfinden nicht nutzlos verraten, das, soweit es seiner Natur möglich war, insgeheim Gottliebe mit Zärtlichkeit umfing.

So war denn auch jetzt, als er ihr nachging, in ihm neben Ärger über ihren Eigensinn wirkliche Sorge um sie: daß sie in hitzköpfiger Übereilung etwas unternehmen möchte, das sie, einmal mit ihrem Ehrgeiz engagiert, sicherlich zu Ende führen würde, wenn auch zu ihrem Schaden. Er dachte an ihre schlanke, feine Gestalt. Sie war doch absolut solchen Strapazen nicht gewachsen. Wirklich – eine Tollheit, was sie vorhatte!

Nun war er draußen, auf dem freien Platze vor dem Hotel. Richtig, da trat sie gerade drüben neben dem Verkaufskiosk zu den beiden Führern, die eben mit den Touristen von der Partie zurückgekommen waren.

»Guten Tag!« begrüßte sie die Leute, einen älteren und einen jüngeren Mann, die mit einem treuherzigen »Grüß Gott, Fräula!« höflich ihre Hüte lüfteten. »Sie kommen vom Ortler, nicht wahr?«

»Jo freili!« bestätigte der Ältere. »Wir sind schon droben gewesen, heut in der Fruah mit unsern Herrn.«

»Sagen Sie mal – ist der Ortler schwer zu besteigen?«

Der ältere der Führer sah mit seinem ruhigen Blick aus dem freundlichen, braunverwitterten Gesicht einen Moment prüfend auf die Fragerin und an ihrer feingliedrigen Gestalt hinab.

»Jo, schwer ist's scho net – aber es verlangt scho a bissel Übung und Gewandtheit. – Grüß Gott, mein Herr!«

In diesem Augenblick war Bessow, die Hand an die Hutkrempe legend, zu der Gruppe getreten. Ein erstaunter, dann sehr unwilliger Blick Gottliebes traf ihn aus ihrem halb herumgewandten Gesicht; dann nahm sie weiter nicht mehr von ihm Notiz, sondern sagte entschlossen zu dem Alten:

»Dann möcht' ich hinauf. Morgen! wollen Sie mich führen?«

Etwas erstaunt schaute sie der Führer an, aber Bessow kam seiner Antwort zuvor.

»Mein gnädiges Fräulein, auf den Wunsch Ihrer Frau Tante möchte ich mir doch erlauben –«

»Bitte, Herr Bessow!« Mit leicht sich rötendem Antlitz sagte sie es, sehr nachdrücklich. »Die Sorge meiner Tante ist ebenso grundlos wie zwecklos, wollen Sie ihr das sagen?« Und der Wink ihrer Augen hieß ihn gehen.

Bessow aber blieb. »Ganz Prinzessin!« dachte er in diesem Augenblick und fand sie mit dem Hochmut in dem feinen rassigen Gesicht begehrenswerter als je.

»Das gnädige Fräulein hat nämlich noch niemals eine Hochtour gemacht«, wandte er sich dann an den Führer. »Und Sie werden selbstverständlich doch unter solchen Umständen eine Ortlerbesteigung nicht anraten und verantworten wollen. Nicht wahr, mein Lieber?«

»Ah!« Ein leiser Zorneslaut entfuhr Gottliebe, und heftig wollte sie Bessow erwidern. Aber da traf sie ein beredter Blick des Alten vor ihr, ein beschwichtigendes Zuwinken mit seinen klugen Augen, als wolle er sagen: ›Nur still und laß mich machen. Ich sehe schon, wie hier die Sache steht!‹

»Der Herr haben schon ganz recht,« erwiderte er Bessow höflich und bescheiden, »ich tat dem Fräula a so net glei grad zu der Ortlertour raten. Es wär' scho besser, das Fräula möcht' zuvor an' leichtere Tour machen; wann's dann gut gange is, nacher stünd' halt dem Ortler a nix mehr im Wege.«

Gottliebe war im ersten Augenblick mit diesem Vermittlungsvorschlage nicht gerade zufrieden. Hatte sie doch erklärt, morgen gleich diese Besteigung machen zu wollen. Aber da der Führer sich offenbar weigern würde, ihrem Wunsch zu entsprechen – was sollte sie machen? Und war es nicht schließlich immer noch besser, ein oder zwei Tage später ihren Plan auszuführen als gar nicht? Sie hatte sich nun einmal in den Gedanken verbissen, und je mehr Schwierigkeiten sich ihr entgegenstellten, desto fester ward nur ihr Entschluß, Bessow zu zeigen, daß sie nicht leere Worte machte und daß sie auch konnte, was sie wollte. So entschied sie sich denn doch, den Vorschlag des Alten anzunehmen.

»Nun gut! Und was wäre solche leichtere Tour, wie Sie meinen?«

»Die Geischterspitz' von der Ferdinandshöhe aus. Das ist ane sehr schöne und lohnende Tour und halt gar net schwer. Immer über ebene Gletscher furt, bloß zum Schluß an der Spitz a bissel Steigung.«

»Aber da können Sie doch gar nicht sehen, was man leisten kann, wenn's gar so leicht ist!« meinte Gottliebe enttäuscht.

»Ah, das seh' ich schon«, beruhigte sie der Alte. »Gelt, Toni, das mirkt man halt bald, ob an' Herrschaft gehn kann oder net«, wandte er sich an seinen jüngeren Begleiter, der bisher schweigend dabeigestanden hatte, von Gottliebe kaum beachtet.

»Jo freili«, bestätigte er jetzt kurz mit Kopfnicken, und Gottliebe wandte den Blick auf ihn. Es war ein hochgewachsener blonder Bursche mit offenen männlichen Zügen, anscheinend etwas verlegen nun unter ihrem musternden Blick.

»Ja, das alles ist ja recht schön und gut, mein Lieber«, mischte sich jetzt Bessow mit herablassend wohlwollendem Ton ein. »Aber es fragt sich nur, ob für das gnädige Fräulein eine Hochtour überhaupt zulässig ist. Ich bitte doch sehr,« er wandte sich mit einer leichten Wärme im Ton an Gottliebe, »ehe Sie sich definitiv entscheiden, mir freundlichst doch noch einmal zu gestatten –«

Aber sein diplomatischer, vorsichtiger Verschleppungsversuch scheiterte an ihrer rücksichtslosen Entschlossenheit.

»Ich bin bereits vollkommen entschieden!« fertigte sie ihn kurz ab. »Also wir gehn auf die Geisterspitze, morgen – abgemacht?« Und sie hielt dem Alten die Hand hin.

»Abgemacht!« Kräftig schlug dieser ein.

Sie besprachen dann noch das Nötige, während Bessow sich verletzt abwandte und zu Frau Morell zurückging. Er war ja nun überflüssig hier.

* * *

»No, do wär'n wir halt so weit. Den Proviant hab' i a im Rucksack – wann's den Herrschaft'n! also recht wär', nacher gäng'n ma.«

»Ich bin fertig, längst!« Gottliebe fuhr schnell von ihrem Stuhl auf, als sich so der alte Stadler-Franz, ihr Führer, meldete. Sie hatte mit Bessow gemeinschaftlich den Kaffee im Gastzimmer des Berghauses auf der Ferdinandshöhe eingenommen.

Der Regierungsrat war nun auch mit von der Partie. Eigentlich war er zwar fest entschlossen gewesen, sich nach der erneuten Abweisung von Gottliebe Rhyngaert ganz zurückzuziehen, und grollend war er ihr auch vorgestern abend und gestern morgen ferngeblieben, in Gedanken schon die Abreise erwägend. Da aber hatte ihn Frau Morell zu finden gewußt. Die arme Dame war in Verzweiflung: Gottliebe wollte ja nun wahrhaftig auf die Berge laufen, sich mit Gewalt den Hals brechen! Sie war nicht abzubringen von dem Vorhaben. Aber wenn nun schon einmal die Verrücktheit vor sich gehen sollte, so würde es ihr, so versicherte die Tante, doch eine große Beruhigung sein, wenn wenigstens ein treuer, zuverlässiger Freund wie der Regierungsrat dabei wäre. Ob er sich denn nicht entschließen könnte, mitzugehen – ihr zu Gefallen?

Bessow war zuerst zwar über diese Zumutung sehr betroffen gewesen; aber schließlich – die alte Dame quälte so unausgesetzt, und insgeheim kam ihm selbst der Wunsch, Gottliebe nicht allein zu lassen; es zog ihn trotz allem zu ihr, er sorgte sich selbst um sie – kurzum: Bessow hatte sich gestern mittag zum Mitgehen bereit erklärt.

Gottliebe war es schließlich recht. So würde er wenigstens Zeuge sein, wie sie spielend die kleinen Schwierigkeiten dieser Tour überwinden würde. Denn das hatte sie sich vorgenommen: Sie wollte mit Anspannung aller Energie die Besteigung ausführen, daß der Führer ganz zufrieden mit ihr war. Und sie hatte bisher noch immer gekonnt, was sie gewollt hatte. Zu dieser geheimen, prickelnden Vorfreude auf ihren Triumph kam noch eine kleine boshafte Neugier: wie sich Bessow bei der Geschichte wohl anstellen würde? Sie konnte sich diesen Mann der stets tadellosen Plättfalte und des ewig glänzenden Stehkragens einfach nicht vorstellen auf Fels und Firn. Ja, sie hatte ihn im Verdacht, daß er nicht mit übermäßiger Courage ausgestattet wäre, wie gottvoll, wenn sie ihn in einer schwachen Minute ertappen würde! Dann wollte sie sich mit beißendem Spott revanchieren für seine Überwachungsdienste, die er der Tante leistete.

Nun war es also so weit: die Probe sollte beginnen, für sie beide.

Auch Bessow erhob sich und folgte mit Stadler Gottliebe nach, die schnellen Schrittes in froh fiebernder Erwartung ins Freie eilte.

Draußen stand schon der Spängler-Toni mit Rucksack und Eispickel, das Seil um die Schultern, zum Aufstieg gerüstet. Er streckte ihr treuherzig mit einem »Grüß Gott« die Hand hin. Gottliebe erwiderte den Gruß mit kräftigem Handschlag, und ihre Augen strahlten den jungen Führer hell an. Das Bewußtsein, einmal etwas ganz Neues, Ungewohntes zu unternehmen, ihre Kraft und ihre Energie zu erproben, verlieh ihr einen frohen Aufschwung.

Leicht und eilig schritt sie mit Toni voran, in die Bergmulde hinein, die sich gleich hinter dem Hause öffnete und wo, nur wenige Minuten ab, im Frühlicht die weiße Schneedecke des Gletschers leuchtete. Sie brannte vor Begierde, zum erstenmal ihre Nagelschuhe auf den Firn zu setzen.

»Ein herrlicher Morgen heute, werden wir Aussicht haben? Sicherlich doch? was meinen Sie, Spängler-Toni?«

Sie war während des gestrigen Aufstiegs zur Ferdinandshöhe mit den Führern schon gut bekannt geworden, und der vertraulich-freiere Ton der Berge machte ihr Spaß.

»Ich glaub' schon, daß wir Aussicht haben werden. Die Nebel sind heut' früh alle zu Tal gestrichen. Da droben herum wird's schon klar sein, mein' ich.«

»Herrlich! Denn eine Kraxelei ohne Aussicht ist doch nur eine halbe Sache, gelt, Toni?« Und sie lachte aus fröhlichem Herzen ihren Begleiter an, dann noch eifriger ausschreitend.

»Bitt' schön, Fräula! Net gar so schnell! Das tut nimmer gut beim Steig'n«, klang da hinter ihr die Stimme des alten Stadler.

Gottliebe folgte der Mahnung, aber nur mit geheimem Verdruß. Alles Mahnen und Steuern war ihr wider den Sinn. Der langweilige alte Stadler! Mochte er doch mit dem Regierungsrat, wenn der nicht mitkam, ruhig hinten nachtrotten. Ihr würde es schon nicht zuviel werden, sie kannte sich. Da war doch der Toni hier neben ihr ein ganz anderer Kerl! Dem fiel es nicht ein, sie zu dirigieren – sie hatte es gestern schon gemerkt – der machte vielmehr stillschweigend alles mit ihr mit, jede kleine Laune; ja, es schien ihm ordentlich selber Spaß zu machen. Und plötzlich flüsterte sie leise ihrem Begleiter zu:

»Wenn wir hernach angeseilt werden, nehmen Sie mich! Hören Sie, Toni?«

»Ja, ja – gewiß!« Eifrig nickte ihr der Begleiter zu mit froh aufstrahlendem Blick, und eine leichte Röte der Freude stieg in sein offenes Gesicht. Diese Auszeichnung machte ihn stolz. Eigentlich hätte die Dame ja mit dem Stadler gehen sollen, den sie zuerst und speziell für ihre Person als Führer engagiert hatte. Er war ja dann erst noch genommen worden, als auch der Herr mitgehen wollte. Daß sie nun aber ihn dem alten Stadler vorzog, das machte ihm eine geheime Freude.

Er ging ja mit ihr viel lieber als mit dem Herrn dahinten. Der war gar so arg vornehm und sprach kaum mal ein Wort. Tat er's aber, so war's dem Toni immer, als ob jener ihm ein Almosen gab. Das Fräulein hier aber war so leutselig, plauderte mit ihm wie mit ihresgleichen und schaute ihn mit ihren lustigen, glänzenden Augen so freundlich an. Das war jedesmal, als ob es ihn mit samtweicher Hand streichelte. So war denn der Toni ordentlich glücklich, daß er nun mit ihr gehen sollte.

Es dauerte gar nicht mehr lange, da kam die Stelle, wo die Führer ihre Schutzbefohlenen ans Seil zu nehmen pflegten, an dem kleinen Wassergerinne, das vom Gletscher herniederkam.

»So – bitt' schön, Fräula. Jetzt, wenn S' so gut sein wollten« – und der Toni blieb vor ihr stehen, löste behend das Seil von der Schulter und band es sich um den Leib, mit hastigen Griffen, als ob der Stadler ihm zuvorkommen möchte. Aber die Sorge war unnötig. Der Alte war dahinten schon stillschweigend dabei, den Herrn ans Seil zu nehmen.

»'s geht schon alles gut!« Mit heimlichem Lächeln raunte Toni es seiner Schutzbefohlenen zu.

Toni trat auf Gottliebe zu, um ihr das andere Ende des Seils um die Hüfte zu legen. Bedächtig zog er dann die Schlinge um ihren schlanken Leib fest. »Es muß schon fest sein,« entschuldigte er sich, »aber net gar zu arg. So wird's gut sein, gelt?«

»Fein, Toni! Ich merke nicht die Spur«, lobte Gottliebe und reckte sich, die Hände auf die Hüften gesetzt, hoch auf. »Nun vertraue ich mich Ihnen also an – auf Leben und Tod! Sie werden mich doch auch heil wieder abliefern?« Scherzend blickte sie ihn an.

»Da hat's keine Not«, versicherte Toni treuherzig ernst. »Sie können sich schon ganz auf mich verlassen.«

»Na, dann los!« kommandierte sie erwartungsfroh. »Ein bißchen schnell, daß uns die anderen nicht so auf den Leib rücken!« drängte sie leiser.

Willfährig begann der Spängler-Toni auszuschreiten, durch das Bett des Schneewassergerinnes hindurch auf die Firndecke hinüber. Knirschend setzten sich Fuß und Bergstock auf den hartgefrorenen Neuschnee. Hochauf atmete Gottliebe. Nun betrat sie zum erstenmal in ihrem Leben den ewigen Schnee droben auf den Firnen, die sie bisher immer nur bewundernd drunten aus der Tiefe angestaunt hatte. Ein herrliches, frohes Gefühl durchströmte sie plötzlich, wie wenn sie einen feurigen Wein getrunken hätte; ein Gefühl der elastischen Jugend und tatenbegierigen Kraft.

Ah, wie wonnig, so dahinzuschreiten durch die freie, reine Luft der Höhen; hoch, hoch über dem törichten Menschentreiben da drunten! Da lagen sie noch alle im dumpfen Schlaf in stickiger Stubenluft und ahnten nichts von dem Glück, den krafterzeugenden Äther hier oben mit tiefem Zug zu schlürfen, sich den frischen Hauch der Höhe um die Schläfe wehen zu lassen.

So schritten sie vorwärts, mit gleichmäßig ruhigem Schritt ansteigend auf dem Hang des Gletschers, der in bläulichem Schatten dalag. Mit leichtem Schlag des Pickels schlug Toni hier und da, wo die Stufen versagten, einen Tritt für den Fuß Gottliebes, daß es jedesmal einen hellen, harten, metallischen Ton gab und flirrend die Eissplitter wegstoben. Schweigend tat er sein Werk, dann und wann den Kopf nach seinem Schützling zurückwendend. Der nickte ihm mit eifrig geröteten Wangen und strahlenden Augen zu. Wie famos das ging und wie leicht – der reine Spaß! wenn weiter nichts dabei war!

Auch der alte Stadler sah prüfend zu Gottliebe hinauf, wie sie leicht mit sicherem, ruhigem Schritt anstieg.

»Das Fräula steigt ja wie a Gamsl. Mit der hat's keine Not«, lobte er, während er gleichzeitig mit fester Hand das Seil anzog. Sein Herr war schon wieder einmal in der Stufe ausgeglitten und hielt sich nun krampfhaft am Seil fest, anstatt von seinem Bergstock Gebrauch zu machen. Geduldig hielt der Alte den plötzlichen Ruck aus; er stand wie auf stählernen Beinen.

»Stützen Sie Ihna nur immer schön auf den Stock, mein Herr. Und immer den Stock hinter Ihna halten, am besten mit allen zwoa Händen – so! Da wird's scho bald ganz gut gehn!« ermutigte er gutmütig den Regierungsrat.

Bessow war nichts weniger als rosiger Laune. Das Steigen verursachte ihm bereits jetzt Herzklopfen, dazu dies elende Ausgleiten in den glatten Eisstufen – es war, weiß Gott, kein Vergnügen. Mit sehr gemischten Empfindungen blickte er zu dem andern Paar oben hinauf, das schon einen ziemlichen Vorsprung gewonnen hatte. Das Teufelsmädel stieg wahrhaftig ja, als ob es für sie nur eine Spielerei wäre!

Ein Ärger überlief ihn, über sie und sich selbst. Es war ja im Grunde gar kein Wunder, daß ihn die Geschichte hier höllisch mitnahm, wenn man ewig nur über den Akten hockte und dann sich die halben Nächte in den Gesellschaften um die Ohren schlug! Dazu der Tabak, der Alkohol – das sollte wohl nicht über die Nerven gehen! Aber gleichviel, auch das Mädchen da lebte doch das Leben der großen Welt und war Strapazen nicht gewöhnt. Daß nun sie, mit ihrer zarten Erscheinung, da spielend hinaufkletterte, wo er sich abquälte – es war doch eigentlich ein Skandal, beschämend für ihn.

Und Bessow gab sich einen Ruck. Zum Donnerwetter! Er wollte sich nicht schlapp vor ihr zeigen.

»Nur zu, Stadler!« drängte er. »wir kommen sonst zu sehr ins Hintertreffen.«

»Da sorgen's Ihna nur net drum«, mahnte der Alte, gemächlich weiterschreitend. »Die Hauptsach' is, daß der Herr sich nit abstrapeziert. Es soll ja doch a Freud' sein, auf die Berg' zu gehn, nit a Quälerei. Nur a kleines Bissel no, nacher san ma droben auf'm Plateau. Do geht's dann halt immer eben furt, bis an die Spitz 'nan. Do hol'n ma dann das Fräula scho leicht wieder ein.«

Es war Bessow sehr tröstlich, zu hören, daß der vermaledeite Hang bald ein Ende haben würde, und so stieg er denn mit neuer Hoffnung weiter, bemüht, mit dem Bergstock nach Stadlers Anweisung zu verfahren.

Unterdessen war Gottliebe mit dem Spängler-Toni schon an den ersehnten Punkt gelangt. Noch ein paar letzte rüstige Schritte, und nun standen sie droben auf dem Plateau des Eben-Ferners. Er trug seinen Namen mit Recht: weithin dehnte sich das weiße Feld des Gletschers, kaum merklich weiterhin zur Geisterspitze ansteigend, die sich nun dem Auge hinten am Horizont als ein kleiner Regel zeigte.

Zur Linken schweifte der Blick hinein ins langgestreckte Trafoier-Tal und seine Quertäler; aber verwundert weiteten sich Gottliebes Augen: Was war das? Wo waren die vom gestrigen Aufstieg wohlbekannten grünen Hänge, wo die gelbe Zickzacklinie der Stilfser Jochstraße? War da nicht über Nacht plötzlich ein Meer entstanden, ein weiß-graues, dichtgewelltes Meer, das sich tief drunten das Tal entlang streckte, soweit der Blick reichte, und dem Zuge der Berge folgend in jedes Quertal, in jede Schlucht floß, daß die dunklen Flanken des Gebirges, scharf abgezeichnet, direkt aus diesem weißen Meer aufstiegen?

Fragend schaute Gottliebe auf ihren Begleiter: »Wolken?«

Toni nickte nur stumm. Das ihm so wohlbekannte Schauspiel gewann, wie es sich so in des Mädchens staunend erregten Zügen spiegelte, auch für ihn etwas Besonderes.

So schauten sie beide schweigend in das Tal hinab, wie schwer, wie wuchtig dies Wolkenmeer da drunten lastete! wie war es nur möglich, daß unter dieser massigen Decke die Menschen atmeten und nicht wie in einem riesigen, düsteren Grabe erstickten?

»Wie groß! Wie wunderbar!« löste sich endlich Gottliebes andächtiges Staunen in Worte, »Was seid ihr eigentlich zu beneiden,« wandte sie sich an Toni, »daß ihr das tagtäglich genießen könnt!«

Der Spängler-Toni wußte nichts recht zu erwidern. Gewiß, schön war das ja wohl, wenn er sich das so recht anschaute – es mußte sogar gewiß sehr schön sein, weil das Fräulein so gar entzückt war – aber es war ihm bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß er darum zu beneiden sei. Sein Beruf war doch eigentlich ein recht harter und armseliger. Die paar Wochen im Jahre, wo Saison war, verregneten zum Teil auch noch immer; da reichte das bißchen Verdienst kaum hin, um Mutter und acht Geschwister so durchzubringen. Er war ja zwar trotzdem nicht unzufrieden mit seinem Los – es war doch immerhin eine Ehre, so feine Herrschaften geschickt und sicher zu führen und ihre warme Anerkennung zu ernten – aber so manchmal hatte er doch insgeheim gedacht: Ach, wer's auch so leicht hätte wie diese reichen Stadtleut'! Und nun erschien diesem vornehmen Stadtfräulein plötzlich sein Beruf, sein Leben beneidenswert!

Überrascht begann der Toni nachzudenken: Warum mochte sie so sprechen? Konnte einem Menschen wirklich das da – er sah auf das Wolkenmeer hinab – so viel wert sein? Es ging dem Toni schwer in den Sinn, sich das vorzustellen. So mußte das Fräulein doch eigentlich ganz anders empfinden als er. Heimlich schaute er nach ihr hin.

Gottliebe hatte den Blick wieder in die Ferne gesandt, über die Firnen und Gipfel hin zum blauen Äther, den die aufsteigende Frühsonne zu durchleuchten begann. Halb zu sich sprach sie, in heimliches Sehnen verloren:

»Wie klar und groß müßte der Mensch hier oben werden, weltenfern vom Staub des Alltags!«

Dann besann sie sich wieder auf sich selbst, und mit einem leisen Seufzer riß sie sich aus ihrem Schauen los; soeben tauchten auch die Gestalten der beiden andern überm Rande des Gletscherhangs auf.

»Kommen Sie«, bedeutete sie Toni, weiterzugehen.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Dem jungen Führer war ganz eigen zumute, fast traurig, vorher, da hatten sie so lustig geschwatzt wie ein paar gute Kameraden. Da war es ihm gewesen, als wäre sie seinesgleichen; da hatte er gar nicht daran gedacht, was für eine vornehme Dame sie war. Nun aber war ihm das da eben in der Minute stillen Schauens deutlich wieder zum Bewußtsein gebracht worden.

Ihre Worte hatten ihn einen Blick in eine ihm ganz fremde, unverständliche Welt tun lassen. Er war ja zu unwissend und grobgeschaffen, um das überhaupt zu verstehen, was sie gemeint hatte. Nur das empfand er deutlich: Sie war ein Wesen feinerer, höherer Art, und es schickte sich gar nicht für ihn, daß er so mir nichts, dir nichts mit ihr drauflos schwatzte, wie er das bisher getan hatte. Er wollte das auch nicht mehr tun. Aber schade war's doch! Es war so lustig gewesen vorher. Namentlich, wenn ihn ihre Augen so angelacht hatten. Und still schritt der Toni seines Wegs weiter; ein Trost war es ihm nur, daß er in seiner Linken das Seil spürte, das sie mit ihm verband. So war doch etwas Gemeinsames zwischen ihnen.

In Gottliebe hallte die große, ernste Stimmung noch leise nach. Trotz aller Sprunghaftigkeit ihres Wesens war sie doch nicht oberflächlich. Ihrer Art fehlte nur das Einheitliche, Gefestete, von Haus her aus widersprechenden Elementen zusammengesetzt, durch mangelnde Erziehung in Eigenwillen und Launen noch bestärkt, empfand Gottliebe im Innersten nur zu gut selber den Mißgriff der Natur bei der Prägung ihres Charakters. Sie war unglücklich darüber, versuchte durch Selbsterziehung einen Ausgleich der Gegensätze in sich zu bewirken, aber auch diesen Versuchen fehlte die Stetigkeit und Energie. So hatte sie es denn schließlich aufgegeben, sich anders zu machen, und mit geheimer Selbstironie ließ sie sich gehen, wie sie eben war, sich von Stimmung zu Stimmung treiben.

Allmählich aber verdrängten dann die neuen, frischen Eindrücke der Wanderung die leise Melancholie in ihr wieder.

Die anregende, schier moussierende Gletscherluft, das Flimmern der Milliarden Schneekristallchen in der horizontal auffallenden Morgensonne, das allenthalben winzig-feine, gleißende, regenbogenfarbene Strahlen aufschießen ließ, nahm unwillkürlich die Sinne und bald auch die Gedanken gefangen.

So kehrte Gottliebe bald die frohe Lust an der Bergfahrt wieder und das Bedürfnis, sich mitzuteilen.

»Hallo, Toni! Sie sagen ja gar nichts mehr!«

Der scherzende Zuruf, von ihr nur als eine landläufige Redensart gebraucht, machte den jungen Führer aus seinem Sinnen auffahren. In seiner schweren Art hatte er sich noch immer nicht freigemacht von seinen ernsten Gedankengängen. Zaudernd überlegte er, was er ihr auf diese gerade aufs Ziel schießende Frage erwidern sollte. Aber sie zog ihn selbst aus der Verlegenheit, die ihm sein gerader, ehrlicher Sinn und seine Weltungewandtheit bereiteten.

»Es ist ja zu schön, zu wonnig hier oben! Die Brust wird einem so weit – o! Hinausschreien möchte man vor Vergnügen, gelt, Toni? Können Sie nicht jodeln?«

Er schüttelte den Kopf. »Jodeln tun wir hierzuland nit.«

»Was?« Sie sah ihn ungläubig an. »In den Bergen wohnen und nicht jodeln? Was tut ihr denn hier, ihr langweiligen Menschen, wenn euch das Herz vor Vergnügen schier springen möchte?«

»Dann tun wir nur juchzen.«

Gottliebe lachte hell auf. »Köstlich! Nur juchzen! Na, dann juchzen Sie mal los, Toni – aber recht forsch und schneidig, daß unser Freund dahinten,« sie zwinkerte ihm ausgelassen mit Schelmenaugen zu, »vor Schreck sich gleich hinsetzt!«

Ihre sonnige Art scheuchte mit Siegergewalt dem Toni alle Grillen fort. In seinen Augen blitzte der Widerschein ihrer Blicke auf, und hell schmetterte sein Juhschrei durch die lautlose Einsamkeit, mehrfach von den Talwänden drunten zurückgeworfen.

»Bravo!« klatschte Gottliebe. »Das war ja großartig, Toni – famos!«

Ihr Lob spornte ihn an, ihr weiter zu gefallen; ihre ganze sprudelnde Art riß ihn überhaupt mit fort, so daß er ganz die ihm sonst anhaftende ernsthafte Schwere des Wesens verlor und selber leicht und lustig wurde. Er scherzte und lachte mit ihr um die Wette; die geringfügigste Kleinigkeit, ein Ausgleiten auf der ungefährlichen Schneebahn oder ein Rückblick auf den verdrossen hinter ihnen herstampfenden Regierungsrat genügte, sie in größte Heiterkeit zu versetzen. Es war wie ein Rausch über den Toni gekommen, so schön war es ihm ja noch nie auf den Bergen vorgekommen. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, so daß sich ihm noch manch Juchzer von selbst auf die Lippen drängte.

So waren die zwei nach einstündigem Wandern, das ihnen aber wie im Flug dahingegangen war, an den Fuß des Kegels gekommen, der ihr Ziel war. Nun begann ernstere Arbeit für den Toni. Es hieß für jeden Tritt eine Stufe in die ziemlich steil ansteigende Gletscherdecke zu schlagen, die den Kegel bis kurz unterhalb der Spitze umhüllte.

Mit wuchtigen, kurzen Hieben schlug Toni zu, so kraftvoll und schnell, daß sie nirgends stehen zu bleiben brauchten, sondern sich in langsamem Tempo Schritt für Schritt immer höher schräg auf die Spitze hinaufarbeiteten. Das Plaudern war nun verstummt; aber schweigend sah Gottliebe auf den jungen Führer vor ihr, wie er ohne Ermüdung seine kraftvollen Streiche führte. Sein schlank gewachsener, sehniger Körper bot bei dieser energischen Bewegung in der Tat einen prächtigen Anblick, ein Bild frischer, froher Jugendkraft. Zum erstenmal kam Gottliebe bei diesem Schauen die kraftvolle Schönheit des männlichen Leibes zum Bewußtsein, was sie bisher auf Renn- und Tennisplätzen oder im Ballsaal gesehen hatte, das war nur geschmeidige Eleganz, nicht aber die Entfaltung imposanter Kraft an der Erscheinung des Mannes gewesen.

Unwillkürlich drehte sich Gottliebe nach dem weit zurückgebliebenen Regierungsrat um, der sich offenbar nur mühsam heraufquälte. Wenn sie diese beiden Männer so verglich, so spielte der Vertreter vornehmer Eleganz doch eigentlich eine recht tragikomische Rolle neben diesem einfachen Sohn des Volkes in seiner jugendstarken, sicheren Art. Wie ein Herrscher schritt dieser hier aufrecht durch sein Reich schneeverbrämter Hochzinnen, durch das der andere da nur ängstlich gebückt hinschlich! Wie doch hier vor der Hoheit einer großzügigen Natur die Maßstäbe menschlicher Wertschätzung sich verkehrten; wie hohle Überwertung in sich zusammenbrach!

»Sind Sie denn noch immer nicht müde, Toni? Ruhen Sie sich doch mal aus!« mahnte Gottliebe. Aber der Spängler drehte sich nur lächelnd um.

»Müd'? Dös wär schlimm, Fräula! von dem bissel Stufenschlagen? Da muß man gar manchmal ganz anders arbeiten!«

Und schon hob er zu neuen Streichen aus. Er mußte wirklich Arme von Stahl haben! Bewundernd dachte es Gottliebe.

Eine halbe Stunde ging es so hinauf, dann trat der kahle Fels der Spitze aus der Eishülle; Geröll und Blöcke erschwerten diesen letzten Aufstieg. Ein paarmal war Gottliebes Fuß auf einem nur lose liegenden Stein ausgeglitten, der dann in großen Sprüngen den Hang hinuntersetzte.

»Nehmen S' lieber meine Hand, Fräula« – und der Spängler reichte ihr seine Rechte. »Es geht sich hier schon nit gut.«

Gottliebe folgte seiner Mahnung. Sie hatte den Wollhandschuh längst abgestreift, es war ja so herrlich warm hier oben im Sonnenstrahl; so legte sich ihre bloße Hand in seine harte, sonnengebräunte Rechte. Sie dachte in diesem Augenblick nicht daran, wie oft sie über »ästhetische« Hände gesprochen hatte, und daß ihr eine ungepflegte, ausgearbeitete, »proletarische« Hand geradezu widerlich erschienen war, hinreichend, ihr einen Mann vom ersten Moment zu verleiden. Sie empfand jetzt nur, wie angenehm solche starke Manneshand, auf die man sich so herrlich stützen konnte, und wie aufmerksam-zart dieser einfache Mensch war. Sorgsam spähte er nach jedem unbequemen Stein auf dem Wege aus, räumte ihn mit seinem breiten Nagelschuh fort und leitete sie so bequem und sicher zum Gipfel hinauf, bei starker Steigung sie mit einem sanften Ruck zu sich hinaufziehend.

»So – da wär'n wir halt oben!«

Wirklich, die Spitze war erreicht, da stand sie nun neben dem Begleiter auf einem kleinen, wenige Quadratmeter umfassenden Felsplateau, hinter ihr der Hang des Gletschers, vor ihr der steile Felsabsturz der Spitze hinunter zu einem neuen gewaltigen Gletscherfeld. Ringsum aber ein endloses Gipfelmeer, von den Schneehäuptern der Berninagruppe an bis hinüber zur Weißkugel des Ötztals, wie gigantische Wellen in einem Augenblick furchtbarer Erdwehen der Urzeit zu Stein erstarrt und dann mit Schnee und Eis übergossen.

Wortlos genoß Gottliebe das grandiose Schauspiel. Um besser zu sehen, trat sie dicht an den Rand des Absturzes. Der Spängler sprach kein Wort der Warnung, aber er trat ihr nach, so daß er sie, wenn nötig, mit festem Griff gehalten hätte. In stiller Freude blickte er von der Seite her auf ihr Gesicht, in dem sich ihre Bewegung spiegelte.

Plötzlich fuhr sie in ihrer impulsiven Art schnell herum und streckte ihm die Rechte entgegen:

»Das ist der gewaltigste Augenblick meines Lebens! Ich danke Ihnen, Toni!«

Verwundert fast drückte der Spängler ihre Hand, wofür dankte sie ihm? Er hatte doch nur berufsmäßig seine Schuldigkeit getan, daß er sie hierher hinaufgeleitet hatte, und es war ja eine Spielerei gewesen.

»Da braucht's keinen Dank, Fräula«, lehnte er bescheiden ab. »Aber gratulieren tu ich Ihna zu Ihrer ersten Spitzen. Und vortrefflich sind S' gangen – ganz ausgezeichnet!«

Lächelnd entzog sie ihm die Rechte, die er kräftig gedrückt hatte.

»Wirklich, Toni? Hab' ich mich gut gehalten?« Sein Lob machte sie stolz; sie freute sich aufrichtig dieser ersten Kraftprobe.

»Ganz vortrefflich!« beteuerte der Spängler noch einmal. »Das hab' ich Ihna gar nit zutraut, als ich Ihna das erstemal g'schaut hab' drunten vorm Trafoi-Hotel.«

»Wahrhaftig?« Sie lachte ihn mit hellen Augen an. »Was haben Sie denn da von mir gedacht, Toni?«

Er wurde ein bißchen verlegen.

»Na, nur heraus mit der Sprache!« drängte sie übermütig. »Sie hielten mich wohl für eine richtige Zimperliese, die keine zehn Schritt weit gehen kann?«

»Ah na, das schon nit! Nur – Sie schauten halt so fein und zart aus.« Tonis Blicke glitten unwillkürlich an ihrer schlanken Mädchenerscheinung hinab. »Da hab' ich mir's halt net denken könnt, daß Sie gar so brav steigen täten.«

»Na, nun wissen Sie's ja besser, Toni – gelt? Und nun kann ich auch auf den Ortler, nicht wahr?«

»Aber ganz gewiß. Der macht Ihna schon nix.«

»Famos!« frohlockte Gottliebe. »Toni, ich freu' mich ja wie ein Kind. Auf den Ortler – juchhe, auf den Ortler!« Und in ihrer Herzensfreude stieß sie einen hellen melodischen Juhschrei aus. Dann aber wandte sie sich rasch wieder zu ihm; es fiel ihr etwas ein:

»Aber sagen Sie mal, Toni, wie ist das denn? Eigentlich hab' ich doch neulich schon den alten Stadler für die Ortlerpartie angenommen!«

Toni nickte langsam, und in seinen offenen Mienen spiegelte sich leise eine Betrübnis.

»Jo freilich, Fräula. Wenn der Herr nit etwan wieder mitgeht, müssen Sie schon mit dem Stadler gehn.«

»Wie dumm!« Auch aus Gottliebe sprach das Bedauern. »Wir haben uns nun schon so nett miteinander eingegangen. Geht's denn wirklich nicht, Toni? Eigentlich hab' ich ja doch noch gar nichts Bestimmtes mit dem Stadler abgemacht!«

»Nit gut«, gestand der Spängler ehrlich, wenn es ihm auch nicht leicht fiel. »Das ist nun schon mal so bei uns. Man darf sich die Herrschaften nit einander abspenstig machen.«

Dies Anstandsgefühl und der Korpsgeist dieser einfachen Leute, der in so wohltuendem Gegensatz zu dem skrupellosen Geschäftssinn der Großstadt stand, nötigte Gottliebe Achtung ab. Das mußte man auch respektieren.

»Sie haben ganz recht, Toni«, entschied sie sich. »Dann muß unter allen Umständen der Regierungsrat mit auf den Ortler.«

Und sie trat zurück zum Gletscherhang, um nach den andern Ausschau zu halten. Auch der Spängler trat dorthin; ein Weilchen blickte er wie sie auf Bessow nieder, der sich eben mit hochrotem Gesicht, räsonierend und krampfhaft sich am Seil Stadlers haltend, durch das Geröll des letzten Wegstücks heraufquälte. Dann sagte er halblaut:

»Ich glaub' nit, daß der Herr viel Lust zum Ortler haben wird.«

Auch Gottliebe fürchtete es. Aber gerade, weil so wenig Aussicht darauf vorhanden war und damit ihr Wunsch durchkreuzt zu werden drohte, reizte es sie um so stärker, ihren Willen durchzusetzen.

»Er muß einfach!« entschied sie leise, aber so sicher, daß der Spängler sie verwundert anschaute. Wie wollte sie das wohl machen?

Gottliebe verstand die stumme Frage, und der Schalk sprühte ihr plötzlich wieder aus den hellen Augen.

»Wollen wir wetten, Toni, daß er mitkommt?«

Der Regierungsrat unter ihr war gerade zum Verschnaufen stehengeblieben und blickte, sich den Schweiß von der Stirn trocknend, zu ihr auf, ahnungslos, daß er der Gegenstand der ihm nicht verständlichen Unterhaltung da droben war. Die Situation erzeugte Gottliebe ein diabolisches Prickeln.

»Er wird, passen Sie auf, Toni! – Lassen Sie mich nur machen!« Und sofort an die Ausführung ihres Planes gehend, den sie im Moment entworfen hatte, beugte sie sich zu Bessow hinunter.

»Nun, da sind Sie ja auch! Nur ein paar Schritt noch, dann lohnt Sie eine herrliche Aussicht für alle Strapazen!«

»Ob das wirklich ein Äquivalent für das eigenartige Vergnügen dieser Promenade sein soll, ist mir ziemlich zweifelhaft!« Verärgert gab es Bessow zurück. Er glaubte, daß ihre Worte eben ihn nur obendrein hatten verhöhnen sollen. Und er verwünschte den »hahnebüchnen Blödsinn« dieser Bergfahrt gerade schon genug. Daß er sich doch bloß nicht von der Tante gestern hätte breitschlagen lassen!

»Sie werden anders denken, wenn Sie erst hier oben sein werden«, versicherte Gottliebe, und ihr Ton klang diesmal wirklich ernst. »Sie sind doch übrigens sehr gut gegangen für das erstemal. Nicht wahr, Toni?« Und unbemerkt zupfte sie ihren Führer am Ärmel. Der verstand nun ihre Taktik.

»Aber gewiß!« bestätigte er ernsthaft. »Der Herr sind schon ganz schön gangen.«

Bessow, jetzt nur noch wenige Schritte unterhalb des Gipfels, sandte einen schnellen mißtrauischen Blick hinauf.

»Sie trauen mir doch nicht zu, daß ich Ihnen das glauben soll«, gab er an Gottliebe die Antwort zurück.

»Aber warum nicht? Im vollsten Ernst: Sie sind doch wirklich nicht schlecht gegangen. Natürlich, aller Anfang ist schwer, und das nächste Mal wird's besser gehen. – Na einstweilen: Willkommen auf der Geisterspitze! Ich freue mich. Sie hier oben begrüßen zu können.«

Scherzend hielt sie ihm die Hand hin, als er seinen Fuß auf das Plateau setzte.

Bessow nahm ihre Rechte, aber während er hochaufatmend Posto auf dem Gipfel faßte, senkte er abermals seinen Blick prüfend in den ihren. Sonderbar! Was sollte er von ihr halten? Es schien ihr doch wirklich Ernst zu sein; ja, ihr Ton war sogar fast warm! Woher aber dieser Wandel?

»Es wäre an mir, Ihnen mein Kompliment zu machen.« Noch immer vorsichtig wog er die Worte ab. »Sie sind ja wahrhaftig auf den Berg hinaufgeschwebt!«

»O!« wehrte sie lachend ab. »Sah nur so aus! Der Toni hier weiß besser Bescheid – nicht? Wenn der mich nicht so fest ins Schlepptau genommen hätte! – Na, niemand ist schließlich ein großer Bergsteiger vor seinem Führer, glaub' ich. – Übrigens, soll man wohl nicht leicht steigen, wenn man bloß so ein paar Pfund zu tragen hat wie ich leichtes Persönchen? Sie haben doch ein ganz anderes Gewicht heraufzuschaffen gehabt.«

Und sie sah auf seine große, stattliche Figur hin.

Bessow leuchtete das Argument wirklich ein, und schnell griff er nach diesem Grunde, der ihn sogar vor sich selbst wieder etwas rehabilitierte.

»Es ist ja richtig: hundertsiebzig Pfund sind immerhin ein Gewicht. Und ich bin absolut nicht mehr im Training.« Er tupfte sich mit dem seidenen Tuch Stirn und Wangen ab. »Ich glaube aber wirklich: Es ist das Steigen nur Sache der Übung.«

»Aber ohne jeden Zweifel!« Aufs lebhafteste pflichtete sie ihm bei. »Das nächste Mal spüren Sie gar nichts mehr. Ich bin fest davon überzeugt. Nicht wahr, Stadler?« Und sie winkte heimlich mit den Augen dem Alten zu. »Und nun haben wir unser Examen gut bestanden! Jetzt gehn Sie mit uns auf den Ortler, nicht?«

»Nun, vorläufig wollen wir uns mal unseres ersten Erfolgs freuen«, lenkte sie Bessow von ihren allzu weit vorauseilenden Plänen ab. »Wie wär's mit einer kleinen Siesta hier? Wir haben uns doch eigentlich eine Ruhepause wohl verdient.«

»Das will ich meinen!« Und schon saß Gottliebe auf einem Felsblock. »Kommen Sie. Es ist Platz für zwei.« Sie machte Bessow Raum neben sich, ihr Kleid eng zusammenraffend.

Der Regierungsrat ließ sich in der besten Laune neben ihr nieder. Sie war ja einfach entzückend heute! So liebenswürdig kameradschaftlich, ohne jede Ironie und Hohn, hatte er sie überhaupt noch nie gesehen. Wenn das die Einwirkung der Bergfreiheit, der Höhenluft, fern von gesellschaftlicher Konvention war – und sie war es doch offenbar! – so hatte sich das Opfer dieser fatalen Kraxelei hier hinauf doch gelohnt.

»Sie haben recht«, beeilte er sich, auch ihr Angenehmes zu sagen. »Auf der Höhe beurteilt man die Sache doch anders: Es ist wirklich großartig hier oben!«

»Sehen Sie! Sie bekommen Geschmack an der Sache. Sie werden noch ein ganz wilder Gipfelstürmer! Darauf wollen wir einmal trinken.« Dankend nahm sie Flasche und Becher, die Toni, ihr zu Füßen auf dem Fels sitzend, ihr zugereicht hatte, schenkte sich den roten Wein ein und neigte den Glasbecher zu Bessow hin. »Auf den Alpinisten in Ihnen!« Und sie tat einen herzhaften Schluck, dann den Becher dem Regierungsrat zureichend.

Der Spängler-Toni sah mit steigendem Mißfallen, wie der andere das Glas nahm und mit langem Blick zu ihr hinüber fast andächtig von derselben Stelle trank, wo eben ihre Lippen geruht hatten. Das Glas mußte ja noch warm von ihrem Munde sein. Ein geheimer Neid auf den Regierungsrat wallte in ihm auf. Daß grad' der – dieser mißschaffene Stadtmensch ohne Saft und Kraft, dafür aber um so voller an Hochmut – solcher Auszeichnung teilhaftig wurde! Überhaupt, daß sie nun immerfort so herzlich zu ihm sprach! Er vergaß ganz, warum es geschah, daß alles nur kluge Diplomatie von ihr war, um jenen für die Ortlertour zu gewinnen und gerade ja seinetwegen in letzter Linie – er sah nur ihre strahlenden Augen, die jetzt den anderen anblitzten, und das machte ihn traurig und zornig in einem.

»Da, Führer, wollen Sie auch trinken?«

Herablassend hielt Bessow dem Spängler das Glas hin. Nach einiger Überlegung erst, aber schließlich: So fatal es auch war, mit diesen Leuten aus einem Glas zu trinken, man konnte sie doch nicht gut dursten lassen, wo man selbst sich labte.

»Danke! Ich hab schon selbst Getränk mit.«

Der abwehrende Ton machte Gottliebes feines Ohr aufhorchen. Sie sah zu dem jungen Führer hinunter, der aus seinem Rucksack, nachdem er ihren reichlichen Proviant herausgelegt hatte, nun ein bescheidenes Fläschchen mit kaltem Tee und einen blechernen Trinkbecher vorholte. Das rührte sie; sie hatte auch Bessows kühle Herablassung eben empfunden und beschloß, das rasch gutzumachen.

»Aber nein, Toni! Das gibt's ja nicht«, wehrte sie ihm ab und goß schnell aus ihrer Flasche den Becher bis an den Rand voll Wein. »Wir teilen selbstverständlich getreulich – Gefahren und Proviant!« scherzte sie. »So – und nun müssen Sie auf mein Wohl trinken.«

Sie reichte dem Spängler das Glas mit so herzlichem Lächeln zu, daß er sein erstes Widerstreben alsbald aufgab, den Becher nahm und mit einem schnellen Zug bis auf den Grund leerte; dann reichte er ihr, ein Aufleuchten des Dankes in den Augen, das Glas wieder zu. Sein naiver Eifer, ihr durch die Tat zu zeigen, wie ehrlich er's meine, machte Gottliebe wie Bessow lächeln; aber während bei dem letzteren ein sarkastisch-mitleidiger Zug um die Lippen spielte wegen der tölpelhaften Manieren dieses Burschen, streifte Toni ein wohlwollender Blick aus des Mädchens Augen, eine leichte Befriedigung, daß ihre Macht sich auch an ihm so spielend bewährte. Sie fand es ganz originell, zur Abwechslung auch einmal die schüchterne Huldigung eines solchen Naturmenschen in Empfang zu nehmen.

Das Frühstücken hier, 3500 Meter hoch, im ewigen Eis und Schnee, fand selbst der Regierungsrat ganz reizvoll. Er hatte sich so gesetzt, daß er möglichst weit von dem steilen Abhang saß und von diesem nichts sah, während der hinter ihm sitzende Stadler ihm den Rücken deckte. So fühlte er sich ziemlich sicher, und Gottliebes scharmantes Wesen im Verein mit der anregenden Wirkung des roten Terlaners stimmte ihn ganz lustig. Das nahm seine Begleiterin rasch wahr.

»Also nicht wahr, nun ist es abgemacht? wir machen den Ortler – übermorgen, gelt, Stadler?«

»Jo freili. Da steht sich nix im Weg«, nickte ihr der Alte zu, sich sein Pfeifchen stopfend.

»Ja pardon, erlauben Sie – eigentlich haben wir doch noch gar nicht ernsthaft über die Sache gesprochen!« wandte sich Bessow zu Gottliebe, unangenehm aus seiner behaglichen Frühstücksstimmung aufgeschreckt. Der Gedanke, daß die Schinderei von heute sich gleich übermorgen wiederholen und eine vermehrte Auflage erfahren sollte, – er warf einen scheuen Blick zu der mächtigen Pyramide des Ortler drüben hinüber – war ihm höchst fatal.

»Aber, liebster Herr Bessow, Sie werden doch jetzt nicht abstoppen? Jetzt, wo Sie sich so schön eingelaufen haben!«

»Ich muß gestehen, daß mich mein Ehrgeiz in dieser Beziehung absolut im Stich läßt. Meinetwegen könnten die Berge samt und sonders unbestiegen bleiben! Ich bin heute doch nur Ihrer Frau Tante zu Gefallen mitgegangen, Fräulein Rhyngaert.«

»So gehen Sie das nächste Mal mir zu Gefallen mit!« bat sie mit einem Aufleuchten in den Augen, das ihn plötzlich ganz warm machte. Aber noch immer zauderte er.

»Sehen Sie – wenn Sie nicht mitkommen, wird ja aus der ganzen Sache nichts. Und ich freue mich doch so rasend auf die Ortlertour! Allein kann ich doch nicht gehen, Tantes wegen und überhaupt nicht – also lassen Sie mich doch nicht im Stich, Herr Bessow! Bitte, bitte!«

Sie bettelte wie ein Kind, mit so warmen Blicken, eine solche anschmiegende Weichheit im Wesen, daß er darüber alle Strapazen und Verwünschungen von vorhin vergaß. So hatte er sie ja noch nie gesehen. Donnerwetter, was steckte in dem Mädel drin! wenn er das damit erringen konnte, wollte er zehnmal auf den Ortler klettern! Und schnell streckte er ihr die Hand hin, sie bedeutungsvoll anblickend:

»Ich komme mit! Sie dürfen auf mich zählen, Fräulein Rhyngaert – zu jeder Stunde, immer!«

Gottliebe überließ ihm ihre Hand, seinen vielsagenden, heimlichen Druck anscheinend ganz harmlos erwidernd.

»O wie fein! vielen Dank! – Famos, nun geht's wirklich auf den Ortler!« Und während ihr Auge den Regierungsrat dankbar-glücklich anstrahlte, tupfte sie dem Spängler-Toni zu ihren Füßen heimlich leise mit der Fußspitze gegen den Rucksack. Der verstand das Signal, und der Ärger, der in ihm über ihr Schöntun mit dem faden Kerl da neben ihr gegrollt hatte, verflog alsbald. Bewies ihm doch ihr heimliches Zeichen deutlich, daß das alles nur Maskerade gewesen war, um ihr Ziel zu erreichen. O, das Mädel war schlau! Zum Lachen, wie ihr der Gimpel ahnungslos eben auf den Leim gegangen war!

So waren sie denn alle vier bester Laune, auch der alte Stadler; denn als Vater einer zahlreichen Familie war ihm in diesem Regensommer eine Ortlerführung immerhin eine gern mitzunehmende Einnahme. Der Abstieg ging lustig vor sich. Namentlich das Hinabgehen auf dem ungefährlichen sanften Hang des Ebenferners, nachdem man erst den Kegel wieder glücklich hinabgekommen war, machte selbst dem Regierungsrat ein Vergnügen. Da brauchte man sich verständigerweise mal nicht anzustrengen. Gottliebe versuchte sogar unter Tonis sachkundiger Leitung »stehend abzufahren«; es ging auch schon ganz gut, bis sie plötzlich ins Rutschen kam, wankte und auf den Schnee sank.

Das gab ein Lachen ohne Ende, daß sie gar nicht wieder hoch kam, bis der Toni sie mit starkem Arm, aber doch so behutsam zart umfaßte und mit einem Ruck wie ein Kind hochhob und wieder auf die Füße stellte.

»Dank schön, Toni! Herrgott, Sie haben ja Riesenkräfte!« bewunderte sie ihn. »Ich glaube, ich könnte ruhig abstürzen. Sie hielten mich spielend am Seil!«

»Das könnten S' schon ruhig!« versicherte der Spängler treuherzig. »Eh ich Ihna losließe, eher stürzt' ich schon selbst lieber zum Abgrund 'nein.«

»Wahrhaftig?« Ihr lächelnd aufleuchtender Blick drang ihm wie ein heißer Strahl ins Herz.

Toni wünschte sich in diesem Moment sehnlichst, sie schwebte ernstlich in Gefahr und er könnte sein Leben einsetzen, sie zu retten.

»Sagen Sie,« fuhr sie im Weitergehen an seiner Seite fort, »ist es auch hier im Ortlergebiet schon mal vorgekommen, daß ein Führer mit seinem Touristen verunglückt ist?«

»Nit oft, aber vorkommen ist's schon, vor zwei Jahren ist dem Stadler-Franz sein Ält'ster abgestürzt mit 'nem Herrn von der Königsspitz'n.«

»Wie? Unserm alten Stadler?« Gottliebe sah sich ganz erschrocken nach dem nachfolgenden Paar um.

Der Toni nickte ernst. »Freilich, der Herr ist nit stad g'west beim Stufenschlagen, wie der Stadler-Loisl grad gebückt stund, und so hat's ihn mit 'nuntergerissen.«

»Aber mein Gott, das ist ja entsetzlich! Der arme, alte Stadler!« Und mitleidig sah Gottliebe nochmals zu ihm zurück.

Schweigend schritten sie einige Schritte weiter, während deren sie ihren Gedanken nachhing.

»So verpflichten Sie sich doch eigentlich bei jeder Hochtour Ihrem Touristen auf Leben und Tod«, kam es dann von ihren Lippen. Sie sah Toni ernst an; er erschien ihr plötzlich in ganz neuem Licht: Dieser junge Mensch da neben ihr trug eine schwere, große Verantwortlichkeit. Ein Menschenleben war ihm anvertraut, und er setzte sein eigenes Leben dafür ein. Ernst fuhr sie fort:

»Ein schwerer Beruf, aber ein schöner! – Haben Sie auch schon in ernster Gefahr geschwebt, Toni?«

Er antwortete nicht gleich; dann sagte er ruhig:

»Einmal bin ich mit einem Herrn drüben im Ötztal gangen, am Wildmannskogel. Da hat uns auf dem Ferner der Nebel überrascht, und ich hab' den Weg nit amol kannt. Es war zudem Neuschnee gefallen, daß man die Gletscherspalten nimmer hat recht sehn können. Da ist's schon nit leicht gewest.«

»Und wie sind Sie denn da wieder rausgekommen?«

»Ich hab' den Herrn halt an 'nem sichern Platz bracht und bin dann gangen, den Weg auskundschaften.«

»Allein – unangeseilt? Aber da hätten Sie ja doch furchtbar leicht verunglücken können!«

Der Toni zuckte leicht die Achseln.

»Es war doch halt meine Pflicht, wenn ich am Seil gangen wär' und hätt' Malheur gehabt, nachher hätt' ich den Herrn leicht auch noch mitgerissen.«

Gottliebe erwiderte nichts; aber eine stille Hochachtung vor dieser schlichten Größe der Gesinnung kam über sie. Den Rest des Wegs zur Ferdinandshöhe legten die beiden in ernster Unterhaltung zurück. Sie ließ sich von dem Spängler Näheres über seinen Beruf erzählen, und mit lebhaftem Interesse lauschte sie seinen Worten. Sie wurde dabei immer nachdenklicher.

Was für ein hartes, armseliges Leben war das doch! So monatelang während der Saison Tag für Tag auf der Tour, nachts nur wenige Stunden Schlaf, zusammengepfercht mit anderen Führern auf hartem Strohlager, und des Tags über während der Tour die Kraft herzugeben im Dienst fremder Leute, immer mit dem Bewußtsein, jeden Augenblick vielleicht für sie sich opfern zu müssen! Was bedeutete dafür der Führersold von wenigen Mark? Um so weniger, als in den übrigen drei Vierteln des Jahres der Verdienst ganz kärglich war in dem kleinen, weltentlegenen Gebirgsnest, wo es höchstens einmal etwas Waldarbeit für den Förster zu tun gab. Und nicht allein, daß er für so geringes Entgelt sein Leben in die Schanze schlug, er arbeitete vielleicht noch für andere, die er erhalten half. Eine Mutter, vielleicht eine Braut bangten sich um ihn, während er da droben auf den Berghöhen seinem gefahrvollen Beruf nachging.

»Haben Sie noch Angehörige, Toni? Natürlich doch!« fragte sie ihn aus ihrem Sinnen heraus.

»Jo freili! Mein' Mutter und Geschwister. Der Vater ist schon lang tot.«

»Haben Sie auch schon eine Braut?«

Es erschien ihr das eigentlich selbstverständlich. Sie kannte es nicht anders; die jungen Leute auf dem Lande in seinem Alter pflegten doch allerwärts eine Braut zu haben, wenn sie nicht schon gar verheiratet waren. Um so mehr verwunderte es sie, daß dem Toni plötzlich eine lichte Röte ins Gesicht schoß und er nicht gleich Antwort gab.

Gottliebe glaubte im ersten Augenblick, sie habe da an ein heimliches, noch nicht spruchreifes Verhältnis gerührt, und die Sache machte ihr Spaß.

»Nun, mir können Sie's doch sagen, Toni«, scherzte sie. »Ich kenn' ja niemand drunten in Trafoi, und ich bin verschwiegen.«

»Na, na – ich hab' kein' Braut nit«, versicherte aber der Toni hastig, noch immer mit seiner Verlegenheit kämpfend. Sie ahnte ja nicht, in welche heimlichen Gedankengänge bei ihm sie gerade mit ihrer Frage eben hineingeplatzt war.

Er war ja ein armer Teufel, der für Mutter und zehn junge Geschwister zu sorgen hatte; da konnte er nicht ans Heiraten denken wie andere Burschen seines Alters. Darum war er den Mädchen lieber ganz fern geblieben. Aber eben war ihm, gerade wie sie so vertraut mit ihm sprach, der Gedanke durch den Kopf gegangen, wie schön es doch sein müßte, so sein Dearndl zu haben und alles Leid und Freud' mit ihm teilen zu können. Aber wie er dann weiter im Geist die Mädchen seiner Bekanntschaft drunten an sich vorüberziehen ließ, da fand sich keine drunter, die er hätte haben mögen. Das hätte schon eine Feinere und Klügere sein müssen, so eine, vor der er auch einen rechten Respekt haben könnte – kurz, gerade so eine wie das Fräulein da neben ihm.

Und nun plötzlich ihre Frage! Ein doppeltes Schamgefühl trieb ihm die Röte ins Gesicht: daß sie ihn gerade bei heimlicher Beschäftigung mit ihrer Person ertappte, und dann auch das andere, daß er ein gar so armseliger Wicht war. Er konnte ihr doch nicht sagen: ›Ich hab' mich halt nach keiner Braut umtun können, weil ich es aus Armut nicht kann!‹ Denn wenn er auch ein armer Teufel war, so hatte er doch seinen Stolz, und lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als daß er sich so in seiner Blöße gezeigt hätte.

Gottliebe beobachtete ihn insgeheim von der Seite her, wie in sein noch immer rotflammendes Gesicht ein Zug von Trotz trat, des Ärgers über dies verräterische dumme Rot. Sein Antlitz bekam dadurch einen ganz eigenen Reiz; zu der kindlichen Offenheit und Gutmütigkeit kam so etwas recht Mannhaftes, und sie fand in diesem Augenblick, daß er eigentlich ein bildhübscher Mensch sei. Es reizte sie jetzt wirklich, zu erfahren, was hinter seiner Verlegenheit sich versteckte. Sie konnte nicht recht an seine Worte glauben. Sicherlich hatte er irgendeine heimliche Liebe und leugnete sie nur aus Diskretion ab. Diese Verschlossenheit gefiel ihr aber gerade. Es steckte in seiner schlichten Art eine natürliche Vornehmheit, etwas Ritterliches. Sie wäre nun wirklich begierig gewesen, zu wissen, wie die ausschaute, die er sich insgeheim erkoren hatte. Und sie beschloß bei sich, drunten in Trafoi zu versuchen, gelegentlich etwas darüber zu erfahren.

* * *

Das Wetter vereitelte leider fürs erste alle Hochtourpläne. Noch in der Nacht nach ihrer Rückkehr ins Trafoi-Hotel begann es zu regnen, und die grauen, schweren Wolken setzten sich immer massiger in dem Tale fest. Der Regen fiel mit geringen Unterbrechungen unaufhörlich hernieder, und wenn es sich für Stunden einmal etwas lichtete, sah man die Berghänge bis dicht an die Waldgrenze wie mit Streuzucker gepudert – Neuschnee. Es war also an eine Besteigung gar nicht zu denken.

Gottliebe war darüber sehr mißmutig; sie hatte sich in ihrer impulsiven Art so sehr auf die Ortlertour gefreut, und jeglicher Aufschub war ihr ein Greuel. Der Regierungsrat hatte so arg unter ihrer Mißstimmung zu leiden, daß er schließlich selber den Sonnenschein und die Strapazen der Hochtour herbeisehnte, hoffte er doch damit auf die Wiederkehr ihres liebenswürdigen Benehmens gegen ihn, das ihn neulich so entzückt hatte. Ganz nervös lief er alle halben Stunden hinaus zum Barometer in der Hoffnung, ein Steigen melden zu können.

Vorderhand zeigte die Quecksilbersäule aber dazu noch immer keine Neigung. So entschloß sich denn Gottliebe am dritten Tage, trotz des Regens einen Weg ins Freie zu unternehmen; dieses ewige Herumhocken im Hotel zwischen all den gräßlichen Menschen machte sie ja halb krank.

In ihren weiten Lodenmantel gehüllt, verließ sie das Haus – es war in den Vormittagstunden – und schlug die Straße nach dem Ort hinunter ein. Planlos schritt sie zuerst ihres Wegs entlang; dann aber kam ihr der Gedanke, doch einmal bei den Führern vorzusprechen und nach den Wetteraussichten zu fragen. Sie erkundigte sich bei einem daherkommenden Manne nach den Wohnungen der beiden. Der Stadler-Franz, ward ihr zur Antwort, ja, der wohnte da ganz hinten außerm Dorf, im kleinen Haus oben auf dem Wiesenhang; zum Spängler-Toni dagegen sei's gar nicht weit. Gleich hinter der »Alten Post« die Stiegen hinunter; das alte Haus unweit der Kirche, da wohnte er bei seiner Mutter.

Gut! So wollte sie denn dorthin, und ihren Mantel fester um sich ziehend, stapfte Gottliebe entschlossen durch den aufgeweichten Straßengrund dahin.

Sie fand sich leicht bis zu dem bezeichneten Hause hin. Nun stand sie davor: Ein altes, stark baufälliges Gebäude; auf dem steinernen Unterstock ein Obergeschoß aus braunen Balken, roh aufgezimmert. Ein tiefer, dunkel gähnender Flur stand offen und ließ im Dämmerlicht allerlei einfaches Hausgerät an Wand und Boden erkennen, was dem ärmlichen Hause aber trotz seiner Düsterheit und Altersschwäche einen freundlichen Anblick gab, das waren die grün gestrichenen Läden an den kleinen Fensterchen, vor denen auf grüngegitterten Brettern brennendrote Geranien und Kressen blühten.

Mit eigenartigen Empfindungen trat Gottliebe in den dunklen Hausflur ein. Es legte sich ihr eine leichte Beklemmung um die Brust, sie atmete zum erstenmal die Luft der Armut. Gott, wie schrecklich! schoß es ihr durch den Sinn, in solch dumpfer Enge und Dürftigkeit hausen zu müssen. Ob das der Toni und seine Leute denn nicht auch bedrückend empfanden?

Zur Rechten gewahrte sie jetzt eine Tür, hinter der Stimmen hervorschollen – offenbar die Wohnstube. Leicht klopfte sie an und trat auf einen Zuruf von drinnen ein.

Es war ein mittelgroßer, dämmeriger Raum, in den Gottliebe nun kam, halb Küche, halb Wohnzimmer. Von dem noch ganz altertümlichen offenen Steinherde warf das Holzfeuer seinen roten Schein auf eine alte Frau, die das braune, runzlige Gesicht halb der Eintretenden zuwandte, während sie weiter in dem Kessel über dem Feuer rührte. Mehrere Kinder saßen arbeitend am Fensterchen oder spielten auf dem Fußboden.

»Guten Tag – entschuldigen Sie, bin ich hier recht beim Spängler-Toni?« klang Gottliebes etwas schüchterne Frage. Wie die alte Frau und die Kinder sie so verwundert anstarrten wie eine Erscheinung aus einer ganz fremden Welt, da fiel ihr's im Augenblick lastend auf die Seele. Ihre sorgenfreie, im Verhältnis zu dieser Armut glänzende Existenz kam ihr fast wie ein Raub an diesen Mühseligen und Beladenen vor.

»Grüß Gott!« kam der Gruß der alten Frau vom Herd zurück, und das trauliche Wort klang Gottliebe wie eine Erlösung. »Sie sein schon recht hier, Fräula, aber der Toni ist halt nimmer daheim.«

»O – wie schade!« entfuhr es Gottliebe. »Ich hätte gern mal mit ihm gesprochen wegen des Wetters. Es ist wegen der Ortlerpartie, die wir zusammen machen wollten.«

»Ach, Sie sein das Fräula vom Hotel droben, die der Toni auf die Geischterspitz' führt hat? Ja so!« Eilends schob die Frau den Kessel vom Feuer und lief zum Fenster hin.

»Geh – mach amol Platz für das Fräula!« hieß sie die älteste Tochter, die dort mit ihrem Strickstrumpf gesessen hatte, und wischte nun mit der groben blauen Schürze den Stuhl nochmals ab. »Bitt' schön, Fräula, möchten S' net a bissel niedersitzen? Sie sein gewiß müd' vom Weg. 's ist ja gar ein arg' Wetter heut' draußen!«

Gottliebe mochte der dienstbeflissenen alten Frau ihr Anerbieten nicht abschlagen, obwohl ja mit dem Aussein des Toni der eigentliche Zweck ihres Kommens verfehlt war. Dankend ließ sie sich für einen Augenblick am Fenster nieder. Die Kinder umstanden sie in respektvoller Entfernung mit staunenden, scheuen Mienen, während die Mutter nun etwas verlegen an ihrem Anzug herumzupfte.

»Sie müssen schon entschuldigen, Fräula – wenn man so bei der Arbeit ist, allein mit den vielen Kindern, da schaut halt net alles immer so ak'rat aus.« Und schnell griff sie nach ihrem rotfarbenen Taschentuch und putzte dem jüngsten Buben die Nase.

»Er ist noch nit amol fünf Jahr'«, fügte sie wie zur Entschuldigung hinzu.

Gottliebe blickte nachdenklich auf die Frau. Sie sah so alt und abgearbeitet aus; aber nach dem jüngsten Kind zu urteilen, mochte sie gewiß erst im Anfang der vierziger stehen.

»Sie sind Witwe?« fragte sie teilnehmend. »Aber wohl noch nicht lange?«

»Vier Jahr' sind's,« schwer seufzte die Frau auf, und ein Zug des Grams flog durch ihre durchfurchten Mienen, »seit mein Mann selig droben im Wald beim Holzschlag'n verunglückt ist. Es war ein harter Schlag, ich mit den elf Kindern so allein! Wenn ich mein'n Ält'sten nit g'habt hätt', den Toni, so hätt' ich halt nimmer aus und ein 'wußt. Aber der Toni war ja schon ein großer Bursch, an die Zwanzig, und schon zwei Jahr' als Führeraschpirant in die Berg' stieg'n; da hat er denn bald sein Examen drunten in Bozen machen könnt und sorgt nun für uns wie sein Vater selig. Es ist schon a braver, rechtschaffener Bursch, der Toni, und die Herrschaft'n, die mit ihm gangen sind, sind noch allweil z'frieden mit ihm g'west. Die besten Zeugniss' haben s' ihm allemol im Führerbuch aus'stellt.«

Der Stolz der Frau auf ihren Ältesten und Ernährer hatte etwas Rührendes. Gottliebe empfand es lebhaft; die Mitteilungen der Mutter Tonis eben hatten sie überhaupt betroffen gemacht. Das hatte sie ja gar nicht geahnt, daß der junge Mensch ganz allein eine große Familie erhalten mußte. Der arme Junge! Was hatte er da von seinem Leben, wenn er jeden Pfennig, den er sich schwer verdiente, für die Seinen hergeben mußte.

»Ja, er ist ein ganz prächtiger Mensch, Ihr Sohn, Frau Spängler«, bestätigte Gottliebe in warmem Ton. »Und ein ausgezeichneter Führer, so umsichtig und so aufmerksam!«

Das Gesicht der Frau erstrahlte vor Freude, und mit beiden Händen ergriff und drückte sie Gottliebes Rechte.

»Vergelt's Ihna Gott, Fräula!« rief sie dankbar. »Das wird den Toni ja ganz stolz machen, wenn er's hört – er hält ja so große Stücke auf Ihna, Fräula. So viel erzählt hat er mir schon von Ihna! So an' feine, leutsel'ge Dame und so ane bildschöne hätt' er ja sei' Lebtag no nimmer führt, sagt der Toni.«

Eine Röte stieg in Gottliebes Wangen. »Wo ist denn Ihr Sohn?« fragte sie, ihre kleine Verwirrung zu verbergen, die ihr soeben die eifrigen Bekenntnisse der Frau verursacht hatten.

»In die Berg' 'nauf ist er. Aber was er da schafft, hat er nit 'sagt. Möglich, daß er nach dem neuen Weg schaut zur Edelweißhütt'n, den sie erst im Frühjahr 'baut hab'n, ob ihm der Regen nit Schaden 'macht hat. Er hat schon vorgestern gleich 'nauf'wollt; aber es war gar zu schlecht' Wetter. Da hab' ich ihn nit fortlass'n. Aber heut is er schon in der Fruah furt'macht.«

Ein Gedanke schoß unwillkürlich Gottliebe durch den Kopf, als das Wort Edelweißhütte an ihr Ohr klang. Sie hatte neulich auf dem Heimweg von der Ferdinandshöhe nach Trafoi, als sie mit dem Toni über einen steilen Hang an der Straßenabschneidung hinabkletterte, ihn nach Edelweiß gefragt: ob die seltene Blume hier oft vorkomme, ob das Pflücken wirklich so gefährlich sei, und daß sie wohl gern mal einen Buschen hätte, aber keinen gekauften, wie sie da vorhin auch im Wirtshaus zu haben gewesen waren. Nein – aber einen selbstgepflückten, gebrochen von ihr selbst oder doch wenigstens für sie.

Sie hatte das damals in ihrer unbedachten Art ganz harmlos hingeplaudert, ohne irgendwie zu denken, daß der Toni das etwa für eine versteckte Aufforderung nehmen könnte. Nun durchfuhr sie plötzlich ein Ahnen: zur Edelweißhütte hinauf war er, und ohne zu sagen, was er dort wollte, so eilig hatte er's damit gehabt! – Mein Gott, sollte er wirklich?

»Edelweißhütte?« Sie bemühte sich, recht harmlos das Wort zu sprechen. »Es gibt dort oben wohl viel Edelweiß?«

»Nit grade viel; aber es gibt schon welche dorten«, antwortete Frau Spängler. »Es ist aber nit leicht, sie zu holen. Sie wachsen an einem gar steilen Hang, und manch' Bursch', der für sein Mädel hat einen Buschen pflücken wollen, ist elendiglich dabei umkommen.«

Gottliebe fühlte plötzlich einen Stich im Herzen, der Atem stockte ihr, und sie fühlte, daß sie blaß wurde. Mit einer hastigen Bewegung stand sie auf. Der Gedanke, daß der Toni da droben vielleicht wirklich in Nebel und Regen an dem gefährlichen Absturz nach Blumen suchte, für sie – veranlaßt durch sie –, der Gedanke war ihr unerträglich angesichts seiner alten Mutter und der unmündigen Geschwister, deren Ernährer er war.

Sie zwang sich gewaltsam zu einem unverfänglichen Ton.

»Nun, hoffentlich kommt Ihr Sohn recht bald wieder heim von seinem Weg!« Sie reichte der Mutter zum Abschied die Hand, die sie plötzlich unbewußt fast heftig drückte. »Ich komm' am Nachmittag noch mal nachschau'n nach ihm, daß wir uns wegen der Ortlerpartie besprechen können. – Bis dahin, grüß Gott, Frau Spängler.«

Unwillkürlich drängte sich ihr der schöne, ernste Gruß der Berge auf ihre Lippen, als wolle sie damit den Toni einem höheren Schutz empfehlen, an den sie doch in Stunden kalt-ruhigen Denkens selber nicht glauben konnte.

»Aber na!« wehrte die Frau bescheiden ab. »Das Fräula werden sich doch nit noch amol herbemühn, obenein bei dem Wetter! Na, na! Der Toni kimmt schon hinauf zu Ihna, bald als er da is. Und er muß ja in 'ner Stund'n längsten hier sein. Zum Mittag wär' er wieder z'ruck, hat er mir versprochen. Und er halt schon Wort, mein Bub.«

Abermals zuckte es insgeheim in Gottliebe auf: Dies feste Vertrauen der Mutter auf ihren Sohn! Wenn sie ahnte, daß er vielleicht gar nicht den gefahrlosen Weg gegangen, daß er – ob sie es ihr sagen sollte? Nein, nein! Es war ja schließlich doch nur ein Vermuten, sie hatte ja selbst keine Gewißheit, wozu da erst die Mutter ängstigen? Und Gottliebe wandte sich zur Tür:

»Also denn Adieu!« nickte sie nochmals der Frau und den Kindern zu. »Und grüßen Sie Ihren Sohn schön, Frau Spängler!«

Schnell trat sie über die Schwelle.

Heftiger schlug ihr draußen jetzt der Regen ins Gesicht. Aber sie achtete dessen nicht. In ihre Gedanken verloren, schritt sie eilig vorwärts.

Wenn sie freilich auch keine Gewißheit hatte, so fühlte sie es doch deutlich: Ja! Der Toni war droben, Edelweiß für sie zu pflücken! Aber wie konnte er nur? Der leichtsinnige, tolle Mensch! Obenein bei diesem furchtbaren Wetter, wo das Gestein glatt und schlüpfrig war.

Wieder schnürte ihr eine geheime Angst das Herz ein und das vorwurfsvolle Gefühl, daß sie ihn dazu angetrieben – wenn auch ohne jedes Bewußtsein. Mein Gott, wie konnte er denn auch nur ihren Wunsch gleich so auffassen!

Abermals verfiel Gottliebe in ein Sinnen. »So mancher Bursch, der seinem Mädel einen Buschen hat pflücken wollen« – tönten ihr plötzlich die Worte seiner Mutter im Ohr. Ein Gedanke durchzuckte sie: wäre es denn denkbar? Sollte der Toni wirklich? – Der Gedanke quälte sie einige Augenblicke ernstlich.

Solche Narrheit! was bildete sich dieser Bursch denn ein? Unwillkürlich warf Gottliebe scharf den feinen Nacken zurück, und um ihre Lippen trat ein hochmütig abwehrender Zug. Wie konnte er ihre Freundlichkeit so falsch verstehen?

Dann aber lachte es plötzlich hell in ihr auf. Es war ja Unsinn, sicherlich – heller Unsinn! Daß sie überhaupt erst auf solchen albernen Gedanken kommen konnte! Gewiß, möglicherweise – wahrscheinlich sogar! – war der Toni Edelweiß für sie pflücken. Aber mußte er denn darum absolut in sie verliebt sein? Sie war doch eine rechte Phantastin! Es war eben eine ritterliche Huldigung von ihm, er wollte sich dankbar erweisen für ihre Freundlichkeit, darum wollte er ihr diese Freude machen. Gewiß, so war es! Der gute Junge – er war wirklich ein prächtiger, lieber Mensch.

Und in der wiedergewonnenen Sicherheit ihres Wesens konnte Gottliebe nun auch wieder ganz harmlos und freundlich an den Toni denken. Sie sah nach den Bergen drüben hin, die in wenigen hundert Meter Höhe im feuchten, dichten Nebelvorhang verschwanden. Hoffentlich war er nun schon wieder längst unten auf gebahnten, ungefährlichen Wegen und damit alle Sorge überflüssig!

Wieder ganz ruhig geworden, besann sich Gottliebe darauf, daß sie ja, einmal hier unten, gleich noch einen kleinen Einkauf im Dorf machen konnte. Sie bog also nach links zur Hauptstraße ab und ging nach dem kleinen Kramladen hinüber. Sie hielt sich einige Zeit hier auf, um ein Nachlassen des Regens abzuwarten. So mochte wohl eine gute halbe Stunde vergangen sein, als sie dann auf ihrem Heimweg sich wieder dem Trafoi-Hotel näherte.

Gottliebe wollte eben der Biegung der Straße folgen, wo durch die letzten Stämme des Waldzipfels schon die hellen Mauern des Hotels hindurchschimmerten, da bemerkte sie plötzlich einen Mann am Wege unter einem Baum stehen, der dort offenbar wartete. Nun drehte er das Gesicht zu ihr herum – Toni!

Unwillkürlich war ihr das Wort in ihrem Erstaunen entfahren. Ja, er war es wirklich, und langsam kam er nun auf sie zu.

»Mein Gott, wie kommen Sie denn hierher?« rief sie ihm entgegen, schnell auf ihn zugehend. »Ich denke – Ihre Mutter meinte, Sie wären hinauf zur Edelweißhütte.«

»Da bin ich auch schon g'west.« Der Toni lüftete seinen Hut und streckte ihr die Rechte entgegen. »Grüß Gott, Fräula – und was heimg'bracht hab' ich Ihna von den Bergen. Da, bitt' schön.« Und nun sah sie einen Strauß schönster Edelweiß in seiner Hand.

»Also doch!« Sie nahm den Strauß entgegen. »O wie wundervoll! Tausend Dank!« Sie schüttelte ihm kräftig die Hand. »Aber wie kamen Sie bloß darauf, Sie leichtsinniger Mensch, Sie? Eigentlich müßte ich Sie tüchtig ausschelten! Hören Sie? Wenn Ihnen was passiert wäre – bei dem Wetter gerade!«

Der Toni sah sie froh lächelnd an.

»O, mir passiert schon nix so leicht. Und ich hab' schon aufpaßt, daß mir nix geschieht.«

»Diese herrlichen Blumen! Die will ich mir aber aufheben – eine schöne Erinnerung an meine erste Hochtour. Und wirklich droben von dem gefährlichen Hang, Toni?«

»Ja, ja, es ist schon nit ganz leicht, sie zu krieg'n«, bestätigte er vergnügt. »Aber sie hab'n halt doch hergemußt.«

»Sie sind doch ein Tollkopf, Toni!« schalt Gottliebe, aber doch geschmeichelt, daß er ihretwegen das Abenteuer bestanden hatte. »Nochmals herzlichen Dank!« Und abermals drückte sie ihm warm seine Rechte. »Daß Sie überhaupt noch an neulich gedacht haben! Ich hatte ja das gar nicht so gemeint.«

»O, das tät' ich schon nimmer vergessen!« Es leuchtete so hell in Tonis Blick auf, wie er ihr jetzt voll ins Gesicht sah, daß sie einen Moment verlegen werden wollte. Die dummen Gedanken von vorhin tauchten mit einem Male wieder auf.

»Mein Gott, wie naß Sie sind!« lenkte sie das Gespräch schnell ab und sah an seinem feuchtglänzenden Anzug hinunter. »Sie haben ja wohl keinen trockenen Faden am Leib! Und da stehen Sie noch hier und warten! Sie wollen sich wohl mit Gewalt erkälten? Nun aber schleunigst nach Haus, Toni!«

»Erkälten?« lachte Toni. »Das kenn' ich halt nimmer. So a bissel Regen verschlagt mi nix.«

»Nein, nein, nach Haus!« drängte Gottliebe aber nun energisch. »Ihre Mutter wartet schon auf Sie. Also, leben Sie wohl, Toni, und grüßen Sie mir Ihre Mutter schön. Und wegen unserer Partie kommen Sie nachher einmal herauf, hören Sie? Also auf Wiedersehen!« Und schnell wandte sie sich ab, nach dem Hotel zu.

Auch der Spängler ging nach seiner Seite; aber nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um, und seine Blicke folgten ihrer schlanken, auf zierlichen Füßen eilig dahinschreitenden Gestalt im Wettermantel, bis sie im Hotelvestibül verschwand.

* * *

»Mein Gott! Noch eine neue Partie? wir haben so ja schon kaum Platz in der Hütte!«

Unmutig rief es Gottliebe aus. Sie stand mit Bessow und dem alten Stadler an der Brüstung des kleinen Plateaus vor der Payerhütte und blickte mit ihnen hinunter auf den Weg, der sich längs des steilen, zerrissenen Grats der Tabarettascharte hinauf zur schwindelnden Hochzinne der Hütte zieht.

»Da hinten kommen gar noch ihrer vier von der Edelweißhütten her!« Scharf ausspähend, wies der Alte mit der Tabakspfeife hinüber. »Da wird's schlecht werden mit dem Schlafen für die Herrschaft'n.«

»Um Himmels willen! Das ist ja reizend! Na, ich gehe lieber gar nicht ins Bett, als mich mit einem halben Dutzend wildfremder Menschen in ein kleines Zimmer pferchen zu lassen!«

»Sie sind dabei noch großartig placiert«, meinte Bessow. »Aber denken Sie sich in meine Lage: wir Herren müssen zu je zwei auf einer Pritsche liegen, unter einer Decke. Das wird erst ein Genuß werden – und nach dem Aufstieg heute!«

Den Regierungsrat hatte allerdings der vierstündige Weg hinauf zur Hütte, besonders das letzte Stück auf dem Tabarettakamm, ziemlich mitgenommen. Und nun obenein noch die Aussicht auf eine total schlaflose Nacht und die morgigen, noch größeren Strapazen – einfach reizend!

»Jo, jo, es ist halt schlimm, daß es die vier Tag' geregnet hat«, bestätigte Stadler. »Nun hab'n die Herrschaft'n in Trafoi und Sulden alle auf den ersten schönen Tag gewartet, und 's kimmen nun halt alle auf einen Haufen.«

»Und morgen dann siebzig Mann hoch auf der Ortlerspitze – gräßlicher Gedanke!« schalt Gottliebe. »Die ganze Lust kann einem vergehen.« Und mit sehr verdrossener Miene trat sie von der Brüstung zurück. So hatte sie sich die vielgerühmte und so heiß ersehnte Ortlerpartie allerdings nicht gedacht. Sie konnte all die hier herumwimmelnden Leute, die Vielzuvielen, die doch überall sich breitmachen mußten, wo sie nicht nötig waren, förmlich hassen.

Mit sehr hochmütiger Miene trat sie daher auch wieder in die Hütte ein, in das kleine Gastzimmer, in dem an fünfzig Touristen, laut lachend und schwatzend, dicht zusammengedrängt saßen. Ohne einen von ihnen eines Blickes zu würdigen, schritt sie durch das Zimmer hindurch in die nebenan gelegene Küche, wo zugleich die Führer saßen.

Ein unbeschreiblicher Geruch und Qualm von zwanzig Tabakspfeifen, brennendem Holz und Speisedünsten schlug ihr aus dem halbdunklen Raum entgegen, so daß sie im ersten Augenblick förmlich zurückprallte. Aber dann kämpfte sie sich entschlossen durch diese Stickluft hindurch. Immer lieber noch hier sitzen als da drinnen bei diesem meist nur halbgebildeten, salopp angezogenen, in schmutzigen Hemden und ausgetretenen Hausschuhen herumlaufenden Touristenvolk, das sie obenein noch zudringlich angaffte. Die Gesellschaft war ihr einfach widerlich. So suchte sie sich denn in der Nähe Tonis auf der langen Bank der Führer einen Platz. Zuvorkommend rückten die braven Leute noch enger zusammen, und in ihrer Mitte fand Gottliebe allmählich ihre gute Stimmung wieder. Besonders als der eine von ihnen dann die Zither herbeiholte und zu ihren Klängen schlichte, ansprechende Volksweisen sang.

So fand sie nachher Bessow, als er, sie suchend, auch in die Küche blickte. Wohl oder übel mußte er – da sie energisch erklärte, nicht ins Gastzimmer hinüberzugehen – sich dann auch herzusetzen, wie äußerst fatal ihm das auch war. Der Regierungsrat hatte in seinem Leben noch nie in einem »Kutscherbums« wie hier mit Leuten aus dem Volk an einem Tisch gesessen. Nervös rutschte er daher den ganzen Abend auf seinem Schemel – den hatte er ja wenigstens für sich allein! – hin und her, und seine aus steifer Zurückhaltung und verunglückter Leutseligkeit gemischte Art, sich zu geben, bereitete Gottliebe im stillen größte Heiterkeit. So amüsierte sie sich ihrerseits ganz ausgezeichnet, bis in der zehnten Stunde der allgemeine Aufbruch hinauf in die Schlafräume erfolgte.

Gottliebe wollte wirklich erst ihren Entschluß ausführen und drunten im Gastzimmer, in einer Ecke lehnend, aufbleiben. Da aber die zuletzt angekommenen Herren, die keinen Schlafplatz mehr bekommen konnten, sich hier auf den Bänken lagern wollten, so mußte sie schließlich doch hinauf in das Damenzimmer. Unausgekleidet warf sie sich mit den Bergstiefeln und Gamaschen auf ihr Lager. Zur Ruhe würde sie ja doch nicht kommen, das wußte sie genau.

Und sie hatte recht. Eine ihrer Schlafgefährtinnen, eine schon ältere, etwas wohlbeleibte Dame, begann alsbald wie ein Mann zu schnarchen; damit aber nicht genug, drangen von nebenan, aus dem Herrenschlafsaal, durch die dünne Bretterwand beständig laute Geräusche ähnlicher Art, Lachen und Schwatzen. Sie konnte sogar häufig die einzelnen Worte verstehen, und es waren teilweise recht abscheuliche Witze und Ausrufe, die sie notgedrungen mit anhören mußte.

»Bitte, lassen Sie doch das!« hörte sie endlich jemanden energisch sagen; es war Bessow, und sie dankte es ihm in diesem Augenblick herzlich. »Nebenan schlafen ja die Damen.«

Aber eine rohe Stimme erwiderte höhnisch:

»Das ist denen ganz gesund! Wer sich unter Männer begibt, kommt darin um. Was brauchen die Frauenzimmer auch auf die Berge hinaufzulaufen!«

Lautes Gelächter applaudierte den Witzbold; zwar erhob sich alsbald auch Widerspruch seitens der besseren Elemente, sie hörte aus dem sich steigernden Wortwechsel unter anderem auch Bessows Stimme heraus, aber es war ihr genug. In heißer Empörung sprang sie von ihrem Lager auf. Keine Minute wollte sie länger Wand an Wand mit solchen rohen Gesellen liegen! Sie griff nach Mantel und Lodenhut und verließ den Schlafraum.

Leise tappte sie sich durch den matt erleuchteten Flur, schlich sich die knarrende Holzstiege hinab und trat ins Freie.

Ah, wie unsagbar wohl tat diese zwar empfindlich kühle, aber reine Luft! All der Schmutz von da drinnen glitt im Augenblick von der Seele, und begierig sog sie den Nachthauch ein.

Und was für eine Nacht war das! Der Mond goß sein klares, mildes Licht vom sternenflimmernden, schwarzsamtenen Firmament. Im Silberschein lag des Tabarettagletschers steiler Hang, dahinter das ganze gewaltige Gebiet des Ortlergletschers vor ihr bis fernhin, wo die Spitze wie ein Dom aus Kristall sich klar vom Nachthimmel abzeichnete.

Weithin schweifte der Blick zur Rechten über all die Ketten des Gebirges, und phantastisch erschienen die Felsformen mit ihren tiefen, weichen Schatten, aus denen sich alle Augenblicke rätselhafte Märchenwesen lösen zu wollen schienen. Und dazu diese große, ungebrochene, geheimnisvolle Stille ringsum.

Ach, war das eine Zaubernacht! Mit weitgeöffneter Seele trank Gottliebe die verträumte Poesie dieses silberübergossenen Hochgebirges in sich hinein, und der eiskühle, wunderbare Nachthauch, so rein wie der hermelinweiße Schnee droben, von wo er kam, erfrischte ihre Schläfe so herrlich, daß jede Müdigkeit schwand.

Eine Stunde mochte sie so, dicht in ihren weichflockigen Lodenmantel gehüllt, träumend auf der Brüstung gesessen haben. Lautlos still war es um sie her; nur dann und wann drang aus dem Hause, aus der Küche her, ein gedämpftes Geräusch. Dort hantierte die fleißige Schaffnerin mit ihrer Magd, um für die nunmehr achtzig Insassen des Hauses den Proviant für den nächsten Tag herzurichten. Nun aber vernahm sie ein Geräusch wie von schweren Tritten, die behutsam drinnen die Holztreppe von den Schlafräumen herabkamen. Jemand aus dem Herrensaal?

Unmutsvoll sah Gottliebe nach der Haustür, wirklich, da trat ein Mann über die Schwelle; nun aber sah sie an der Kleidung, daß es einer der Führer war, und jetzt erkannte sie den Spängler.

»Toni – Sie?« Leise rief sie ihn an, nun wieder beruhigt. Der würde sie ja in ihrem stillen Genießen hier nicht stören.

»Ah, Fräula! Sein Sie auch schon auf?« Freudig überrascht trat der Spängler zu ihr. »Ich hab' halt nimmer schlafen können. Da dacht' ich, ich wollt' lieber schon an der frischen Luft sein.«

»Recht so, Toni! Kommen Sie nur her.« Sie lud ihn zum Sitzen bei sich ein. »Sehen Sie doch nur diesen wunderbaren Mondschein! Ist das nicht einzig – unbeschreiblich schön?«

Der Toni trat zu ihr und lehnte sich mit verschränkten Armen neben ihr auf die Mauer auf. So schaute er eine Weile gleich ihr schweigend hinaus in den Silberduft der Nachtlandschaft.

»Da – ein Stern fällt!« wies er plötzlich auf einen schnell durch das Dunkel schießenden Lichtstreifen. »Nun könnt' man sich was wünschen.«

»Und was möchten Sie sich denn wünschen, Toni?«

Einen Moment blickte er gedankenverloren vor sich hin, nach der Stelle des Sternschnuppenfalls; dann meinte er langsam, eine leise Resignation im Ton:

»Das Wünschen hilft halt zu nix. Es ist schon besser, man denkt erst gar nicht dran.«

Ein Weilchen schwieg auch Gottliebe. Dann sagte sie:

»Sie sind nicht zufrieden mit Ihrem Los. Sie möchten heraus aus Ihren Verhältnissen – hinaus in die große Welt draußen, nicht?«

»Ja. Das wollt' ich!« Fast heftig stieß es der Spängler hervor. Er richtete sich auf und stemmte die Hände auf die Brüstung.

»Und reich und vornehm sein?« forschte sie weiter.

Er nickte nur heftig, ohne nach ihr hinzusehen.

»Und was dann, Toni?«

Er gab keine Antwort, aber seine Hände, mit denen er sich aufgestützt hatte, zitterten. Und plötzlich wandte er langsam den Kopf nach ihr herum. Es war nur gut, daß sein Gesicht so im Schatten des Mondlichts lag; so konnte sie das leidenschaftlich-sehnende Aufzucken darin nicht sehen, als sie jetzt sein Blick umfaßte.

Was dann? Es wirbelte ihm im Kopfe, wenn er sich dieses »Dann« ausmalen wollte. Er war ja toll, krank im Hirn, daß er auf solch wahnsinnige Gedanken kam! Er, der stets so Ruhige, Nüchterne, der bisher noch nie vom Rausch der Liebe gekostet hatte. Aber nun hatte es ihn plötzlich gepackt, daß er schier nicht mehr dagegen ankonnte. Gerade weil sie ein Wesen aus einer ganz anderen, höheren Welt, weil sie ihm unerreichbar war, gerade darum schüttelte ihn dies Begehren nach ihr nur um so mehr. Wie sie ihn da eben fragte: Was dann? Aufschreien hätte er mögen in seiner Qual, sie an sich reißen wie ein Rasender und zitternd stöhnen: Dich, dich!

Und nichts davon geschah, wie aus Stein gehauen blieb seine Gestalt, unbeweglich, und nur von seinen Lippen kamen leise die Worte:

»Ich weiß selbst schon nit, was ich dann möcht'.«

Gottliebe vernahm den traurigen Klang, aber sie ahnte nicht, was das letzte Ziel seines Sehnens war. Sein beherrschtes, ruhiges Wesen hatte den neulich aufgeflackerten Verdacht in ihr wieder ganz beschwichtigt. So tröstete sie ihn denn jetzt auch arglos:

»Sehen Sie, Toni, Sie wissen es im Grunde selbst nicht, was Sie wollen. Solch dunkles Sehnen nach etwas Unbekanntem, etwas geheimnisvoll Schönem und Großem ist eben töricht und unfruchtbar. Wohl jeder wird einmal davon befallen. Meinen Sie, ich wünschte mir bisweilen nicht auch irgend so ein Märchenglück? Aber man muß das eben rasch wieder abschütteln, Toni; das Träumen taugt nicht. Mit offenen Augen und starken Armen muß man sich das Glück gewinnen – das ist das richtige, das uns nicht wieder zwischen den Händen zerfließt!«

Der Toni hörte ihre letzten Worte nicht mehr. Ihm klangen nur immer jene vorangehenden in den Ohren: Mit offenen Augen und starken Armen sich das Glück gewinnen! Ja, das war besser, als nur davon zu träumen. Wild lohte es plötzlich in ihm auf, eine rotglühende, verzehrende Flamme! Waren seine Augen nicht offen? Sah er nicht all den bestrickenden Zauber ihrer Schönheit? waren seine Arme nicht stark? Hätte er sie nicht an sich reißen können wie eine Feder? Warum tat er es nicht? wer wollte es ihm wehren, hier in dieser einsamen, stillen Stunde, einmal in rasendem, taumelndem Kuß von ihren Lippen das wahre Glück zu trinken? was dann nachher kam? Ganz gleich! Der Fieberdurst war gestillt, dieses verzehrende, qualvolle Sehnen!

Und abermals durchlief den Toni ein Zittern durch den ganzen Leib bis hinab in die Fußspitzen. Seine Augen brannten in irrem Feuer, entzündet von dem Reiz ihrer schlanken, feinen Gestalt, wie sie da, vom Mondschein verklärt, wie eine zarte Elfenprinzessin vor ihm auf der Brüstung saß – so nahe, er hätte nur die Hand nach ihr auszustrecken brauchen.

»Nun, Toni, hab' ich nicht recht? Sie sagen ja gar nichts.«

Da riß er sich mit einem Ruck zusammen; fast rauh klang seine Stimme von der inneren Erregung.

»Ja, Sie haben schon ganz recht, Fräula.« Und zugleich tat er einen Schritt von ihr zurück, sich so der Versuchung zu entziehen.

Im Haus drinnen waren inzwischen mehrfach Laute hörbar geworden, nun klangen Männerstimmen von der Tür her. Es mochten zwei der Touristen sein, die drinnen auf der harten Bank der Gaststube ruhelos gelegen hatten und nun gähnend die steifen Glieder reckten.

»Verteufelt kalt hier draußen!« schauerte der eine zusammen.

»Aber immer noch besser als drinnen im Tabaksqualm.«

»Man muß sich ein bißchen Bewegung machen.« Und der erste schlug sich nach der Art der Fuhrleute im Winter mit den Händen unter die Achselhöhlen.

»Das beste wäre, man ginge gleich jetzt los. Es ist ja hell wie am Tage.« Und Ausschau haltend, gingen die beiden ums Haus herum.

Der Spängler hatte bei den letzten Worten seine Uhr gezogen.

»Wie spät?« fragte Gottliebe, von ihrem Sitz herabgleitend.

»Noch nit amol eins, vor drei werden wir nit aufbrechen können.«

»Nein Gott! Noch zwei Stunden sich hier herumdrücken? Das ist ja fürchterlich.«

»Es helft schon nix«, zuckte Toni die Achseln. »Es wird halt nit eher Tag.«

»Aber bei dem Mondschein könnte man doch wirklich ganz gut gehen!« griff Gottliebe die Bemerkung des Touristen von vorhin auf. »Da« – sie wies auf den Tabarettagletscher gleich hinter der Hütte – »ich sehe ja ganz deutlich den Weg – jede Stufe.«

»Es möcht' wohl gehn, aber man geht halt nit gern ohne Not bei Mondschein.«

»Warum aber nicht, wenn es so hell ist?«

»Es ist halt so Sitte; kein Führer macht's anders. Es ist ja auch nit das rechte Licht zum Gehn.«

»Aber nachher läuft man doch wieder mit der ganzen Herde zusammen!« fuhr Gottliebe fort. »Denken Sie doch, Toni, siebzig oder achtzig Menschen auf einmal – das wird ja die reine Sonntagslandpartie. Entsetzlich!«

»Jo freili! Schön ist's schon nit.«

»Ekelhaft ist es einfach!« entrüstete sich Gottliebe. »Und ich mach' das auf keinen Fall mit! – Toni,« ihre Stimme nahm einen schmeichelnden Klang an, »machen wir doch mal eine Ausnahme. Gehn wir bei Mondschein! Ich könnt' mir das ja gerade wonnig denken! Ja? Bitte, bitte!«

Es ward ihm schwer, ihr länger zu widerstehen.

»Ich tät's ja schon gern,« schwankte er, »aber der Stadler wird nimmer wollen. Und der Herr Bessow wohl auch nit.«

»Ach, der kommt schon mit, wenn ich will. Sie haben's ja neulich gesehen! Also springen Sie rasch hinauf zum Stadler und bitten Sie ihn recht schön – in meinem Namen! Sie werden ihn schon rumkriegen.«

Einen Augenblick zauderte der Toni noch, aber dann wandte er sich zum Gehen.

In gespannter Erwartung harrte Gottliebe. Etwa fünf Minuten mochten verstrichen sein, da kam er wieder zurück.

»Nun?« Ungeduldig eilte sie ihm entgegen.

Der Toni machte nur eine verneinende Gebärde.

»Wie? Der Stadler will nicht? Was sagte er denn?«

»Es wär' ane Verrücktheit, meinte er, ane offenbare Verrücktheit, jetzt mitten in der Nacht fortzulaufen. Und er tät's auf keinen Fall nit.« Was er ihm sonst noch gesagt und gedroht hatte, verschwieg er.

»So!« verletzt richtete sich Gottliebe auf. »Also gehen wir allein. Kommen Sie, Toni, machen Sie alles zurecht!«

Aber der Spängler stand unschlüssig vor ihr.

»Wie? Sie wollen nicht, Toni? Auch Sie wollen mich im Stich lassen?«

In quälendem Zwiespalt zwischen Führerkameradschaft, Pflichtgefühl und Willfährigkeit gegen Gottliebe kämpfte er mit sich.

»Ich möcht's dem Alten nit gern antun. Er war ein Freund von mein' Vater selig –«

»Ah – auf den Stadler wollen Sie Rücksicht nehmen! Aber meine Wünsche, meine Bitten sind Ihnen ganz gleichgültig?« Werletzt, gereizt kam es von ihren Lippen. »Nun gut, so lassen Sie es! Aber das hätt' ich von Ihnen nicht gedacht!« Und sie wollte mit rascher Wendung von ihm weg ins Haus hinein.

Da vertrat er ihr den Weg. Es zuckte in seinem Gesicht, und schnell stieß er die Worte hervor:

»Na, na, ich will ja! Ich geh' schon. Sie sollen sich nit in mir getäuscht haben!« Mit stummer Abbitte flehten sie seine großen Augen an, ihm nicht mehr zu zürnen.

Einen Moment verharrte Gottliebe noch in ihrer Ungnade. Es hatte ihre Eitelkeit ernstlich verletzt, daß er überhaupt zwischen ihr und dem Stadler hatte schwanken können; aber wie sie nun den flehentlichen Blick in seinen Augen sah – es war ihr fast im Mondenlicht, als schimmere es feucht drin auf – da wurde sie wieder milde gestimmt, wie der große, starke Mensch da so bange vor ihr stand wie ein Kind, das um Verzeihung bettelt, dieser Beweis ihrer Macht über ihn machte das von vorhin wieder gut; und ein leises Lächeln trat auf ihre Züge, als sie ihm nun die Hand bot:

»Gut, Toni! wir sind also wieder Freund. Ich hole gleich meine Sachen – in fünf Minuten bin ich fertig.«

Sie gingen jeder nach seiner Schlafstätte zurück. Ihre Absicht, sich zum Aufbruch zu rüsten, blieb natürlich nicht unbemerkt und brachte mehrere Touristen auf die Beine, die nun gleichfalls die Frage erörterten, ob sie nicht auch jetzt schon hinauf sollten, und mit ihren Führern darüber zu verhandeln begannen.

Das bewog Gottliebe, auch noch auf die Tasse warmen Kaffees zu verzichten, die ihnen die Schaffnerin wenigstens noch rasch machen wollte. So nahm sie mit Toni denn nur einen guten Schluck von dem kalten Tee, der zu ihrem Proviant gehörte, und dann brachen sie schleunigst auf, um keine unerwünschte Begleitung zu bekommen.

Ein halbes Dutzend Herren standen inzwischen bereits draußen vor dem Hause. Das Gerücht von dem so frühzeitigen Aufbruch einer Partie hatte die Mehrzahl der schlaflosen Mitinsassen alarmiert, und es rumorte bereits allenthalben in den Schlafsälen und auf den Gängen der Hütte, sehr zum Ärger des alten Stadler und einiger besonnener älterer Führer, die über die »Verrücktheit« dieses Mondscheinaufstieges, der ihnen noch die ganze Gesellschaft rebellisch machte, weidlich schimpften.

Mit zudringlicher Neugier starrten die Touristen draußen auf Gottliebe, wie sie der Spängler ans Seil nahm und nun mit ihr zum Tabarettagletscher hinabzusteigen begann, der wenige hundert Fuß weit aus den Felsscharten bläulichweiß herausschimmerte. Manch halblaute Bemerkung des Staunens und der Mißbilligung folgte den beiden nach.

»Gott sei Dank, daß wir von der Gesellschaft weg sind!« Erleichtert atmete Gottliebe auf, als sie einige Minuten später eine Biegung des Wegs den Blicken der Nachsehenden entzog. »Wissen Sie: Ich habe immer noch gefürchtet, daß der Regierungsrat im letzten Augenblick angestürzt kommen und mir vor allen Leuten eine Szene machen würde. Aber er scheint noch keine Ahnung von unserem Ausreißen zu haben!« Gottliebe lachte vergnügt auf. »Nun holt uns nichts mehr zurück, Toni, Après nous le déluge

In prickelnder Abenteuerlust atmete sie tief auf. Welch wundervollen Reiz hatte diese Nachtwanderung! Die bläulichsilbern überhauchte Eiswelt da vor ihnen lockte sie mit leisem, geheimnisvollem Schauer zu sich hinauf in dieser Stunde nächtlicher Einsamkeit, wo sonst keines Menschen Fuß dieses Reich der Berggiganten betrat.

Keine Spur von Müdigkeit war in Gottliebe und kein Hauch einer Furcht. Sie ahnte ja nicht, sie dachte ja gar nicht daran, daß sie Gefahren auf diesem nächtlichen Wege umlauerten, daß ihr Fuß durch verwirrende Schatten getäuscht, auf dem Fels fehltreten, daß im Mondscheingeflimmer unter der Schneehülle verborgene neue Gletscherspalten sich leicht dem Auge entziehen konnten.

Wohl waren aber diese Gefahren dem Toni bewußt, und schwer rangen daher in ihm die Empfindungen, während er, sorgsam jeden Tritt Gottliebes überwachend, mit ihr vom Grat des steilen Tabarettakamms durch die Felsenrisse zum Gletscher hinabkletterte.

War es nicht eigentlich doch ein »unverantwortlicher Leichtsinn« – wie es der Stadler vorhin genannt hatte –, daß er diesen Nachtaufstieg mit einer Anfängerin unternahm? Doch nein! Er kannte ja hier jeden Schritt und Tritt. Und sollte sie ja straucheln, sein Seil war gut, und er hielt sie mit eiserner Hand; er hätte sie allein aus hundert Meter tiefer Eisspalte heraufgezogen – er hätte für sie Riesenkräfte gehabt. Er fühlte es, wie sich schon bloß bei dem Gedanken jede Muskel an ihm stählern straffte! – Aber ein anderes quälte ihn viel mehr.

Wenn der Stadler es nun wirklich in seinem gerechten Zorn über ihn fertigbrachte und ihn wegen dieser »Gewissenlosigkeit« dem Sektionsvorstand anzeigte und ihm vielleicht das Führerpatent entzogen wurde? Der Stadler hatte ja vorhin diese Drohung als letzten Trumpf ausgespielt, um ihn abzuhalten von dem Vorhaben. Dem Spängler pochte unruhig das Herz. Was dann? wenn ihn diese Schmach träfe, wenn seiner Familie so der Ernährer genommen würde!

Der Angstschweiß trat dem Toni auf die Stirn bei diesem Gedanken. War er nicht ein furchtbar leichtsinniger Mensch, ein erbärmlich schlechter Sohn, daß er seiner alten, schwergeprüften Mutter das vielleicht antun konnte? Wie mit eisernen Klammern schnürte es ihm die Brust zusammen, und eine dunkle, furchtbare Angst packte ihn, ein Gefühl, als gleite ihm der Boden unter den Füßen weg, und er müsse ins Uferlose versinken, wenn er doch lieber standhaft geblieben wäre, sich nicht durch ihre Bitten, ihren Zorn hätte erweichen lassen?

Aber da traf sein Blick ihre schlanke Gestalt, wie sie da vor ihm gerade sich schmiegsam von einem Felsen schwang und nun leuchtenden Auges, froh ihrer Jugendkraft, zu ihm auflächelte, ahnungslos, welche Zweifel ihn zerrissen, vor diesem hellen Anstrahlen stoben alsbald die düsteren Gedanken davon. Nein, nein! Er konnte nicht anders! Er wollte nicht anders! Und wenn es Leben und Seligkeit galt, ihr folgte er – bis ans Ende der Welt!

Dann gingen sie auf dem Gletscher; nach wenigen Minuten standen sie vor einer ziemlich steilen Eiswand, die es schräg hinauf zu traversieren galt. Nun trat der Spängler an die Spitze, und es galt, die vielfach ausgebrochenen oder geschmolzenen Stufen mit dem Pickel auszubessern. Sausend fuhr die Hacke unter seinen Hieben nieder, daß die Eissplitter nur so spritzten.

»Mein Gott, Toni, Sie hauen ja drauf los, als wollten Sie den ganzen Ortler einschlagen«, scherzte sie. Und es war so ähnlich. Er meinte die lodernde, quälende Glut in ihm so ausrasen zu können.

»Ich wünscht', ich könnt's!« gab er zurück, ohne innezuhalten. »Und ich meine, 's wär' Ihnen ganz recht. Nacher könnt' wenigstens all das andere Volk da hinter uns nimmer mehr 'nauf.«

»Großartig!« lachte sie hell auf. »Wie Sie sich in meine Gedanken eingelebt haben! Wir passen wirklich famos zusammen, Toni. Unsertwegen braucht's auf den Bergen keinen Menschen weiter zu geben – gelt?«

»Überhaupt nit auf der ganzen Welt!« Und ein ganz besonders sausender Streich fuhr hernieder.

»Sie sind ja wahrhaftig noch ein größerer Menschenfreund als ich, Toni«, staunte sie scherzend. »Den Zug hab' ich ja früher gar nicht an Ihnen bemerkt. Na, ein paar Leute wollen wir lieber doch noch leben lassen, meinen Sie nicht?«

In einer halben Stunde waren sie oben auf der Wand; nun ging es in der Eisrinne des unteren Ortlergletschers aufwärts.

»Jetzt heißt's aufpassen«, meinte ernster werdend der Toni, »'s gibt hier Spalten! Daß wir im Neuschnee nit fehltreten.«

Wohl trug sie der während der letzten Regentage hier frisch gefallene und an der Oberfläche gefrorene Schnee; aber an den Schneebrücken der großen Spalten und sonst vielfach war Vorsicht geboten.

»Hier!« Er hatte richtig die Stelle gefunden. »Bitt' schön, nun ganz genau in meinen Fußstapfen gehen und nimmer nach rechts treten!«

Neugierig schaute Gottliebe vor sich hin auf den bläulich flimmernden Schnee. Eine feine, kaum wahrnehmbare Rille, einen Fuß breit von ihrer Linken, zog sich da vor ihr über den Schnee hin. Sie hätte von selbst gar nicht darauf geachtet. Aber allmählich ward sie weiter, und plötzlich ging sie in einen klaffenden Riß über, eine dunkle Eisspalte gähnte sie an.

Ein leiser Schauder flog doch Gottliebe an, als sie jetzt dicht am Rande des verderbendrohenden Schlunds dahinschritt, gehorsam Fuß um Fuß in Tonis Stapfen setzend. Und doch packte sie das prickelnd-bange Verlangen, einmal da einen Blick hinunter zu tun. Sie sagte es ihm. Da trat er schweigend zu ihr, nahm ihre Hand fest in seine Linke, und nun beugte sie sich weit vor. Hellblau glitzernd stieg die gewaltige Eiswand zur Tiefe hinab, dann verlor sie sich im nachtschwarzen Schatten.

Gottliebe bückte sich – sie fühlte, wie Tonis Hand sie fester umklammerte und er ganz dicht hinter sie trat – und nahm einen Klumpen hartgefrorenen Neuschnees auf; den ließ sie in den gähnenden Schlund hinabfallen. Dann hielt sie den Atem an: einmal, zweimal schlug der Klumpen auf, dann ein dumpfer Fall aus der Tiefe. Er war auf dem Grund der Spalte angekommen.

Eine furchtbare Vorstellung schoß dabei in Gottliebe auf. Der Unglückliche, der dort hinabstürzte und nun halb zerschmettert in der grausigen Tiefe in Frostschauern lag – lebendig begraben!

Ein Schwindel packte sie, und unwillkürlich krallte sich ihre Hand in Tonis Rechte, während sie den Oberleib zurückwarf, daß er seine Brust berührte. Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag; aber die Zähne zusammenbeißend, stand er unbeweglich, ihr Halt gewährend – ein Augenblick, unbeschreiblich süß und doch qualvoll für ihn.

Nun hatte sie den kleinen Anfall wieder überwunden.

»Gut, daß Sie bei mir standen!« sagte sie, sich aufrichtend und ihn loslassend. Nun erst merkte sie, daß seine Rechte eiskalt und feucht war.

»Ist Ihnen nicht wohl, Toni?« fragte sie teilnehmend. »Sie sind so kalt? Sie haben sich gewiß neulich was geholt beim Edelweißpflücken!«

»Ah, nit gar!« lachte der Spängler kurz auf, indem er sich schon wieder zum Weitergehen gewendet hatte. »Ich bin halt a bissel übernächtig.«

Sie stiegen weiter, und das Plaudern verstummte, denn der Weg erforderte ihre Aufmerksamkeit, wiederholt mußten sie Spalten auf fußbreiter Schneebrücke überschreiten oder mit Leitern durchklettern, dann sich wieder an einer Gletscherwand im Zickzack auf Stufen hinaufarbeiten. So kamen sie endlich auf die Höhe des oberen Ortlergletschers. Eine Weile ging es hart am vereisten Grat entlang; der Blick glitt zur Linken Tausende von Fuß tief hinab ins Sulden-Tal, wo im bläulich schimmernden Mondlicht schemenhaft die Häuser erkenntlich waren, wie ein Traum schön war dies stille, einsame Wandern auf ragender Firnhöhe; wenn das doch nie ein Ende nehmen möchte!

Dann kamen sie endlich hinauf aufs untere Ortlerplateau; zwei Stunden waren verstrichen. Die gute Hälfte, wie der Spängler sagte. In allmählicher, aber steter Steigung ging es nun gerade das Gletscherfeld hinauf, gefahrlos, aber ein wenig anstrengend auf der glatten Schneedecke. Gottliebe ward warm.

»Einen Augenblick!« bat sie den vor ihr steigenden Toni. »Ich will mir nur meine Jacke ausziehen.«

Und um es tun zu können, legte sie, sich bückend, ihren Bergstock auf den Schnee. Im selben Augenblick aber begann der Stock auch schon zu rutschen und wäre abgefahren, wäre der Spängler nicht schnell dazugesprungen und hätte ihn noch beim Ende gepackt.

Auch Gottliebe hatte sich im gleichen Moment mit einem kleinen Aufschrei nach dem Stock gebückt, und so fuhren sie beide mit den Köpfen zusammen, so dicht, daß Tonis Bärtchen ihre Wange streifte.

Lachend richtete sich Gottliebe auf. »Nun hätten Sie bald einen Kuß abgekriegt, Toni,« scherzte sie übermütig. »Zum Lohn, daß Sie mir den Ausreißer da so fix festgenommen haben.«

Sie war so sicher im Gefühl ihrer vertrauten Bergkameradschaft mit dem Toni, daß sie sich nichts Arges bei den scherzenden Worten dachte. Sich gleich die Jacke ausziehend, sah sie nun auch sein Erbleichen nicht.

Er stieß mit einem scharfen Ruck die Spitze des Stockes ins Eis.

»So – der reißt sobald nit wieder aus!« sagte er, ohne nach ihr hinzusehen, fast grimmig. Ihr im gleichen Ton zu antworten, war ihm nicht möglich mit seinen zitternden Lippen.

Sie reichte ihm das Jäckchen hinüber, nun nur noch im kurzen Bergrock und weißwollener Golfbluse.

»Da, bitte, Toni – kriegen Sie's noch in den Rucksack?«

»Ganz gewiß,« versicherte er und schnallte den Sack ab, ihn aufschnürend. Im Augenblick, als er ihre Jacke nahm, schlug ihm daraus ein süßer Duft entgegen, gleich dem zarten Hauch ihres jungen Leibes. Die Vorstellung, er habe da ein Stück von ihr in seinen Händen, ihm anvertraut, ward so übergewaltig in ihm, daß seine großen Hände das Kleidungsstück mit zitternder Zärtlichkeit umfingen. Ein unbesiegbares Verlangen brannte in ihm auf. Einen schnellen, heimlichen Blick warf er auf Gottliebe – sie stand gerade ihm abgewandt und setzte sich den Lodenhut fester –, da riß er plötzlich das Jäckchen an seine Lippen, und geschlossenen Auges seinen Duft einsaugend, preßte er einen glühenden Kuß darauf.

Wie er dann wieder aufblickte und nach ihr hinspähte – sie stand zum Glück noch immer wie vorher – war ihm zumute, als habe er eben ein Verbrechen begangen. Schnell kniete er nieder, um den Rucksack packen zu können und barg die Jacke darin.

»So – nun kann's weitergehen.« Sich umwendend, schaute sie auf ihn herab. Er wagte es nicht, ihrem Blick zu begegnen. Ein glühendes Rot der Scham war ihm ins Gesicht geschossen, und mit zitternden Händen schnallte er an dem Rucksack herum, um Zeit zum Sichsammeln zu gewinnen.

»Sie kommen wohl nicht damit zustande, Toni? Soll ich Ihnen helfen?«

»Danke – tut nit not; es geht schon!« Gewaltsam zwang er sein wild pochendes Herz zur Ruhe.

Ihren Bergstock aus dem Eise reißend – mit Gewalt, so fest hatte ihn der Spängler vorhin dort hineingetrieben – schaute Gottliebe noch einmal zu Tal. Weit draußen, über den letzten Wellenlinien der Berge in verschwimmender Ferne, begann gerade der fahle Morgenschein heraufzuziehen, allmählich das Mondlicht zum Verblassen bringend.

»Es wird Tag.« Gottliebe sprach es und ließ den Blick rückwärts schweifen, den Weg entlang, den sie gekommen waren. Da sah sie plötzlich unterhalb der letzten Eiswand über den Gletscher menschliche Gestalten gleiten – zwei, vier!

»Da kommen schon die ersten Partien!«

Der Spängler schaute scharf hin. »'s ist der Platzer und der Thäni aus Trafoi mit den beiden Herren, die gestern noch so spät auf die Hütt'n kommen sind.«

»Die müssen ja aber förmlich raufgerannt sein«, ärgerte sich Gottliebe. »Als wir aufbrachen, waren sie doch noch nirgends zu sehen! – Kommen Sie, Toni, daß die uns womöglich nicht noch überholen.«

In schnellerem Tempo stiegen sie aufwärts auf der sich langhinstreckenden Gletscherebene. Immer näher kamen sie ihrem Ziel; nun überwanden sie auch noch den letzten Hang und waren jetzt auf dem oberen Plateau, auf das die Ortlerspitze aufgesetzt ist. Eine kleine halbe Stunde noch, und sie waren auf dem Gipfel.

Das Bewußtsein, so nahe am Ziel zu sein, verdoppelte Gottliebes Kräfte. Sie trieb den Spängler zu immer schnellerem Tempo an. Der Alpinistenehrgeiz hatte auch sie gepackt: vier Stunden galten als die Normalzeit für die Besteigung von der Payerhütte aus; sie konnte es, wenn sie so weiterging, als Anfängerin mit drei Stunden machen, obenein noch zur Nachtzeit – das mußte sie durchsetzen!

Während sie so eilig weiterstiegen, ward der Himmel immer blasser, und der Mondschein wich ganz dem fahlen Zwielicht des frühsten Morgens. Ein kühler Hauch strich ihnen entgegen, aber sie achteten nicht darauf, erwärmt von der raschen Bewegung.

Und endlich waren sie am Gipfel. In wenigen Minuten – zum letztenmal hieß es, Stufen schlagen – erklommen sie die letzte Steigung, und nun standen sie an dem schmalen, aber nur wenige Schritte langen Grat, der hinüber zur Spitze führt.

Gottliebe ergriff Tonis Hand, aber es hätte dessen nicht bedurft; in einem hochgesteigerten, fiebernden Gefühl des großen Gelingens ging sie selbstverständlich sicher in ihrem Siegesbewußtsein über den fußbreiten Eissteg hin, zu dessen beiden Seiten sich der steile Berghang in schwindelnde Tiefen stürzte.

So, nun noch ein halbes Dutzend Schritte weiter vorwärts auf dem schmalen, länglichen Plateau, und nun blieb der Spängler stehen, seinen Pickel einstoßend: Am Ziele!

Mit einem inneren Aufjauchzen rief es sich Gottliebe zu: Am Ziele! Das, was sie sich vorgenommen, erst aus einer puren Laune, halb aus Eigensinn heraus, dann aber nach der Geisterspitzentour aus freudiger Begeisterung für die Bergwelt, aus dem edlen Wunsch heraus, einmal ihre Energie an einer großen Aufgabe zu messen – sie hatte es nun erreicht, und glänzend erreicht, das durfte sie sich ohne Selbstüberhebung sagen!

Mit stolz erhobenem Haupt ließ sie die freudetrunkenen Blicke über das grandiose Alpenpanorama schweifen, wahrlich, bei einem Könige der Könige war sie hier zu Gast! Huldigend scharten sich um des Ortlers Majestät die Großen seines Reichs, selber gewaltige Herrscher über das Heer der eisgepanzerten Bergrecken: die Königsspitze, der Zebru, der Monte Levedale, Cristallo und wie sie sonst hießen, die gekrönten Häupte der Ortlergruppe. In starrer, großer Ruhe lagen sie da, hoheitsvoll, Ehrfurcht heischend von den vermessenen Menschenzwergen, die sich erkühnten, neugierig hier oben einen Blick in ihre Titanenwelt zu tun.

Und ein Schauer der Ehrfurcht zitterte wirklich durch Gottliebes Brust. Die unendliche Erhabenheit der Weltenschöpfung predigte aus diesen stummen Giganten. Wie vergänglich, wie wurmhaft winzig erschien angesichts dieser Titanen, die noch Zeugen der Geburtswehen der uralten Erde waren, der Mensch. Und doch! Wie gewaltig, selbst wie titanenhaft, daß er es wagte, zu diesen Furchtbaren, Unnahbaren durch eine Welt von Schrecknissen zu dringen und ihnen seinen Fuß aufs diademgekrönte Haupt zu setzen! Er in Wahrheit der König der Könige! – Und wie sie noch so stand, mit wogender Brust schauend, da zitterte leise ein rosiges Erglühen durch die Luft, über das Firmament, über die Berge hin – die junge Sonne kam. Dem Hermelin der Eisherrscher gesellte sich der glühende Purpur, wie ein stummes Aufjauchzen ging es ringsum durch die Welt – die Majestät der Majestäten zu grüßen, die Allbeherrscherin – die Urzeugerin jeglichen Lebens!

Mit angehaltenem Atem starrte Gottliebe verzückt in die Weite. Sie ahnte es nicht, wie der rosige Schein sie selbst verklärend übergoß und um ihr loses Haar eine flimmernde Goldaureole wob. Aber der da neben ihr sah es, und seine Hände um das eiskalte Erz seines Pickels klammernd, verzehrte er sie mit weitaufgerissenen Augen, was waren ihm Berge und Sonne, die ganze Welt? Hier, hier – das war der Mittelpunkt seines Seins, das war seine Welt, die Herrliche, Schöne, Unerreichbare, die jetzt, in ihre Andacht versunken, sonnenverklärt, ihm wie eine Lichtgestalt aus überirdischen Höhen erschien.

Aber da machte sie plötzlich eine jähe Bewegung zu ihm herum:

»Toni, Toni, wie danke ich Ihnen, daß Sie mir dazu verholfen haben! Könnt' ich's Ihnen doch irgendwie zeigen!« Und plötzlich kam ihr ein Einfall: »Hier!« Sie löste sich schnell ein feines goldenes Kettenarmband vom linken Handgelenk und reichte es ihm hin: »Als ein kleines Zeichen meines Dankes, als ein Andenken an diese Stunde!«

Mechanisch ließ der Spängler das goldene Kettlein in seine Hand gleiten. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Ihr unerwartetes Herumfahren, ihre Worte – aber nun plötzlich zuckte er zusammen. Ein Wort schlug an sein Ohr: Andenken! Das löste ein Echo aus: Abschied! Ja, ein Andenken gab man einander beim Scheiden! Und nun, wo sie ihr Ziel erreicht, mit ihm hier auf dieser Höhe stand, nun brauchte sie ihn nicht mehr, nun würde sie bald wieder von dannen gehen – hinaus in die Welt auf Nimmerwiedersehen! Und er blieb allein zurück, was sollte dann aus ihm werden? In diesen ganzen letzten Tagen hatte er nur gelebt im Gedanken an sie, an die große Tour mit ihr, wo er um sie sein durfte, sie leiten, sie schützen! Und nun – aus. Alles, alles aus!

Es würgte Toni plötzlich in der Kehle, ein Schleier trat vor seine Augen. Ihm war, als sänke da eben die ganze Welt in Trümmer. Jäh wandte er sich zur Seite.

Mit höchster Befremdung sah es Gottliebe.

»Was haben Sie denn, Toni?«

Noch nichtsahnend fragte sie es, aber ihr schoß im selben Augenblick ein Verstehen auf. Sein verzehrendes Anstarren vorhin, dies Zusammenzucken jetzt – aber, wie ihm war, ein warmes Mitgefühl mit seiner Qual stieg zugleich in ihr auf. Der arme, gute Junge! – Sie hätte ihm, dem sie wirklich so unendlich dankbar war in dieser Stunde, ja, den sie hier in dieser Bergwelt, losgelöst von aller Konvention, wirklich wie einen lieben, guten Freund gern hatte, sie hätte ihm ja so gern Liebes erwiesen, und nun sein schmerzliches Zusammenfahren!

»Toni?« Noch einmal fragte sie leise. Aber als sie statt jeder Antwort plötzlich nur seinen starken, ihr abgewandten Körper wie in einem niedergewürgten Schluchzen erschüttert sah, als sich nun ein dumpfer, stöhnender Laut von seinen Lippen brach, da ward sie selbst ergriffen.

»So reden Sie doch, Toni! Schütten Sie doch Ihr Herz aus.«

Ihre Berührung, der warme Hauch ihrer Lippen an seinem Ohr, es war zu viel für ihn. Die gewaltsam niedergekämpfte Leidenschaft seines Empfindens lohte auf einmal himmelauf, ihn verzehrend. Im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gerissen, seiner nicht mehr mächtig – ohne ein Wort, blindlings dem Ansturm seines Empfindens folgend, wie ein verschmachteter, vor Durst halb Irrer trank er sich mit einem endlosen Kuß an ihr fest. Er mußte – mußte!

Gottliebe entschwand für einige Augenblicke das Bewußtsein. Der Sturm der Leidenschaft, der da so plötzlich, ganz unerwartet, über sie hinbrauste, benahm ihr Atem und Besinnung, willenlos, regungslos lag sie in seinem Arm.

Aber dann, als er Luft schöpfend sein Gesicht von dem ihren hob, kehrte ihr das Besinnen wieder, und instinktiv stieß sie ihn mit beiden Händen heftig zurück.

Der Stoß traf ihn so unerwartet, daß er auf dem glatten, hartgefrorenen Schnee einige Schritte gleitend zurücktaumelte. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr Gottliebe. Er wankte, fiel – in die schwindelnde Tiefe, zerschmettert – von ihrer Hand! Vorwärts stürzte sie, mit ausgestreckten Händen, ihn zu halten – aber da hatte er schon von selbst wieder Halt gefunden. Aufrecht stand er da, aber totenblaß im Gesicht, ohne einen Blutstropfen; nur die Augen starrten sie an mit einem unbeschreiblichen Blick, als wollten sie sagen: Töte mich, mir geschieht recht! Aber diesen Augenblick der Seligkeit kannst du mir doch nicht mehr entreißen! Er wiegt mir mehr als Tod und Hölle!

Schlaff sanken Gottliebe die Arme herab, und ein Zittern lief durch ihren ganzen Leib – die Nachwirkung der Erschütterungen dieser Minute. So standen sich beide wortlos gegenüber.

Dann hob Gottliebe langsam die Hand und strich sich über die Stirn.

»Wie konnten Sie das tun!«

Leise, tonlos kamen die Worte von ihren Lippen; aber sie trafen ihn wie Geißelhiebe. Er zuckte zusammen, als wolle er sich ihr zu Füßen werfen. Aber es geschah nicht; doch seine ineinandergekrampften Hände hoben sich flehend gegen sie.

Dies erschütternde, stumme Bitten sprach mehr zu ihr als alle Worte. Ein Mitleid stieg in ihr auf mit dem Unglücklichen, den seine Leidenschaft so bis ins Mark aufgerührt hatte, daß er ganz aus den Fugen seines Wesens verrückt war. Aber dennoch sprach sie strenge:

»Sie haben mein Vertrauen schändlich mißbraucht – Ihre Pflicht aufs schwerste vergessen! Wie konnten Sie sich so an einer schutzlosen Frau vergehen?«

Da schlug er die Hände vors Gesicht, und in herzerschütternden, schluchzenden Lauten entrangen sich ihm die Worte:

»Ich weiß! Ich bin halt a verlorner Mensch, ein elendiger! Aber ich konnt' ja nimmer anders, so wahr mir Gott helf! Ich hab Sie viel zu lieb.«

Dies nur in der völligen Zerschmetterung seines Innern preisgegebene Geheimnis seines Herzens, dies rückhaltlose Bekennen seiner Schuld ließ das letzte Auflehnen verletzten Frauenstolzes in sich zusammensinken. Sie mußte es ihm ja glauben, sie sah es ja: er hatte wirklich nicht anders gekonnt. Die Macht in ihm war unwiderstehlich gewesen. Sein Verfehlen war nur der Ausbruch einer Leidenschaft, die sie entfesselt hatte; freilich, ohne es zu wollen. Aber gleichviel, war der Unselige, der da nun im innersten Wesen vernichtet war, nicht zu entschuldigen? Lag schließlich nicht sogar in seinem Verfehlen eine Huldigung, die elementarste stürmische Bekundung ihres unwiderstehlichen Zaubers über ihn?

Sie hätte nicht Frau sein müssen, wenn das alles nicht allmählich sie versöhnlich hätte stimmen sollen. So richtete sie denn nach letztem, kurzem Kampfe das Wort an ihn:

»Nun gut, Toni! Ich weiß jetzt, daß Ihre Handlungsweise nicht aus niederen Motiven entsprang. Ich will Ihnen daher verzeihen, was geschehen ist. Aber nun kein Wort mehr davon! Es ist selbstverständlich, daß es zwischen uns so sein muß, als wäre diese Minute nie gewesen, als wären Ihre Worte eben nie gesprochen worden, verstehen Sie mich?«

Der Spängler nickte nur stumm, ohne sie anzusehen. Seine Mienen zeigten seit dem unglücklichen Vorkommnis etwas Verstörtes; es war, als sei etwas innerlich in ihm gebrochen. Sein Tun und Treiben fortab hatte etwas ganz Mechanisches an sich, an dem seine Seele keinen Anteil hatte, und seine Blicke starrten mit einem kalten, leeren Ausdruck ins Weite.

Gottliebe merkte es wohl, und der Unglückliche dauerte sie immer mehr; aber ihre weibliche Würde und zugleich eine natürliche Befangenheit – so allein mit ihm auf engem Raum nach dem Vorgefallenen – nötigten ihr doch eine merkliche Zurückhaltung auf.

Die Lage war höchst peinlich. Gottliebe trat daher an den Rand des Plateaus und spähte den Weg entlang. Sie wünschte jetzt aufs lebhafteste, daß jene beiden Partien, die sie vorhin gesehen hatten, recht bald heraufkommen möchten. Wie verändert plötzlich die ganze Situation! Wo war der Zauber des Hochgebirges geblieben, der sie noch vor wenigen Minuten so berauscht hatte – wo das harmlos vertrauliche Kameradenverhältnis zum Toni? Der stand da an der anderen Seite, ihr abgewandt, auf seinen Pickel gestützt, hart am Abgrund, und starrte regungslos ins Weite hinaus, wie schade, wie traurig dieser Abschluß der herrlichen Bergfahrt!

So war es wirklich eine Erlösung für beide, als nach einer Weile die erwarteten Partien von drunten hörbar wurden, wenige Minuten später waren sie auf dem Gipfel.

»Na, da hätten's mir's ja glicklich geschafft! N'n Morchen, meine Herrschaften!«

Im breitesten Sächsisch begrüßte der vorderste Tourist gemütlich die Anwesenden.

»Ach, sehn Se mal – nee, wie großardich! Die scheene Morchenrehde!« begeisterte sich der zweite der Touristen.

Gottliebe hätte sich unter anderen Umständen sicherlich kaum zu fassen gewußt vor Empörung über diese Banalitäten angesichts solcher Natur; jetzt aber hörte sie das alles gelassen an. Sie ging sogar auf die Unterhaltung ein, die die redseligen Sachsen alsbald mit ihr anknüpften.

Währenddessen traten die beiden Führer zu Toni.

»Grüß Gott, Toni!« Und der erste reichte ihm die Hand. »Bist also glücklich 'naufkommen mit deiner Dame! – Na, weißt, der Stadler hat aber no schö angeb'n. Fuchsteufiwild ist er auf dich. Du wärst scho nimmer net wert, an Führer zu heiß'n, meint er, daß du dös ferti bracht hast, und was er sonsten no vorbracht.«

»Ist mir scho ganz gleich, was der Stadler daher red't.« Mit starrer Gleichgültigkeit sagte es Toni. »I weiß scho allein, was i tu.«

»Na,« lachte der andere vor sich hin, sich auf dem Hartschnee niederlassend und seinen Rucksack aufschnürend, »wir hab'n 's jo a nit anders 'macht. Und 's sind verschiedene Partien no gleich nach uns aufbroch'n. Die ganze Hütt'n is rebellsch wor'n durch euch, sag i dir. A so was hat man no nit erlebt da drob'n!«

Interesselos, nur mit halbem Ohr, hörte der Spängler zu, was der andere ihm noch weiter erzählte. Seine Gedanken waren bei ganz etwas anderem – was scherten ihn diese Kleinigkeiten? Das hatte aufgehört, Wert für ihn zu haben! Und in dumpfem Brüten starrte er, den Kopf auf die Fäuste gestützt, wieder vor sich hin.

So wenig sympathisch Gottliebe auch die Gesellschaft war, beschloß sie doch, gemeinschaftlich mit den beiden Sachsen den Abstieg zu machen, um einem Alleinsein mit Toni zu entgehen. Sie brachen denn also gleichzeitig auf.

Schnell ging es bergab, im hellen Schein der Frühsonne, aber wie anders als beim Aufstieg. Schweigend ging Spängler hinter Gottliebe her, die auch kaum sprach, nur, wenn sie den vorausgehenden Herren Antwort geben mußte.

Ein- oder zweimal – sie wollte ihm eben zeigen, daß sie ihm nichts nachtrage – richtete sie das Wort zwar auch an den Toni; aber man merkte ihr doch die Befangenheit an und eine Reserve, die ihr vorher fremd gewesen war. Er empfand es nur zu wohl, und eine namenlose Traurigkeit nahm immer mehr von ihm Besitz.

Es war eben alles aus! Immer klarer ward es ihm. Wenn er dachte, wie sie damals von der Geisterspitze bergab gesprungen waren wie ein paar tolle, lachende Kinder! Und jetzt? Heiß schoß es ihm in seine brennenden Augen. Vorbei das alles für immer – durch seine Schuld! Und es konnte ja nicht anders sein. Ehr- und pflichtvergessen war er geworden; an einer wehrlosen Frau, die unter seinem Schutze stand, hatte er sich vergessen! Ha, wie ihm diese ihre Worte im Herzen brannten wie glühende Schandmale! Kein Wunder, daß sie ihn nun verachtete.

Daß sie das tat, war ihm nicht zweifelhaft, wenn sie ihm auch mit Worten vergeben hatte, innerlich war es nicht geschehen. Ihr Vertrauen zu ihm war dahin für immer. Daß sie jedes Alleinsein mit ihm vermied, zeigte es ihm ja nur allzu deutlich. Sie scheute, sie verabscheute ihn sicherlich insgeheim, wie ein schlecht gezähmtes Tier, das schon einmal seinen Herrn hinterrücks überfallen hat.

Und konnte es anders sein? Verabscheute er sich nicht selbst? Haßte, verachtete er sich nicht, daß er den Makel auf seine Ehre geladen hatte, er, der immer so stolz auf seinen Führerruf gewesen war, dem sich jeder bisher furchtlos hatte anvertrauen können? Haha! Wenn das der alte Stadler auch noch wüßte, dies Allerschlimmste – er, der so schon ihm die Führerwürde abgesprochen hatte? Was würde er dann tun? Keinen Augenblick würde er zögern, ihn anzuzeigen, wie es seine Pflicht war, auf daß man den ganz Unwürdigen seines ehrenvollen Amtes entkleidete! Also nur wie ein heimlicher Verbrecher durfte er fortab herumschleichen, von der Gnade des Mädchens da sein elendes Leben fristen; keinem Menschen durfte er mehr frei und offen ins Auge sehen. Immer würde er denken müssen: Wenn ihr wüßtet – wenn ihr wüßtet!

In tödlicher Qual schrie es in Tonis Innern auf. Nein, nein! Das ertrug er nicht – das nicht! Ohne Ehre, ohne Achtung vor sich selbst konnte er nicht leben. Lieber tot sein!

Tot! Dumpf brütete er vor sich hin, während er mechanisch weiterschritt. Ruhe haben vor den Gewissensbissen da in der Brust! Ruhe auch vor all dem qualvollen Sehnen, das sie so wundgerissen, das ihn zu einem Ehrlosen gemacht hatte!

Immer tiefer, mit einer geheimen Wollust, wühlte sich Toni in den Gedanken hinein. Ja, mit dem Tode, mit einem freiwilligen Ende alle Schuld sühnen und sich so wieder die verscherzte Achtung und Ehre erwerben. Ihre Achtung! Denn wenn er da still und leblos vor ihr liegen würde, um sie gestorben, dann würde sie ihm gewiß im innersten Herzen verzeihen. Ja vielleicht gab sie sogar dem Toten, was sie dem Lebenden niemals geben würde – ein kleine, stille Stätte in ihrem Herzen!

Diese Hoffnung, die ihm immer mehr zu einer schwärmerischen Gewißheit wurde, verlieh dem Gedanken, mit dem er spielte, eine dämonisch lockende Gewalt. Immer fester schlug er die Krallen in seine tödlich wunde Seele. Was war ihm auch noch das Leben? Selbst wenn das alles heute gar nicht gewesen wäre! Er hatte, seitdem Gottliebe in seinen Lebenskreis getreten, einen Blick getan in eine fremde Zauberwelt, in die er nie hineinkommen konnte. Aber sein Herz war davon vergiftet mit hoffnungslosem Sehnen für immerdar. Ruhelos und friedlos würde er sich hingeschleppt haben – was war solch Leben wert? Nein, nein! Lieber ein rasches Ende mit all der Qual! Alles in ihm drängte ja dazu.

Kein Ahnen von dem, was in ihm vorging, war in Gottliebe. Wohl glaubte sie, daß ihn Selbstvorwürfe bewegten, aber von dieser Todestraurigkeit und Sehnsucht wehte kein Hauch zu ihr hinüber. Auch sie beschäftigte sich in Gedanken immer noch mit dem Vorgefallenen; doch von ihrem Standpunkt aus.

Gewiß tat ihr der arme Mensch aufrichtig leid, mit seiner unglücklichen Leidenschaft für sie. Aber sie konnte ihm doch nun mal nicht helfen; jeder Gedanke daran wäre ja schon lächerlich gewesen. So war es schon das beste, der ganzen Sache schnell ein Ende zu machen. Sie wollte die Tante bewegen, gleich morgen aus Trafoi mit ihr abzureisen. Dann war ja alles ganz von selbst aus! Und aus den Augen, aus dem Sinn! Mit der Zeit würde er sie schon vergessen und nach Jahr und Tag mit einem Mädchen seines Standes glücklich werden. Er war ja noch so jung; da verwindet man so etwas schon.

Diese Gedanken beruhigten Gottliebe allmählich und gaben ihr die alte Sicherheit zurück. Dennoch aber hütete sie sich, den alten vertraulichen Ton gegen den Toni anzuschlagen: Sie wollte jetzt nicht mehr – wie sie vorher ahnungslos getan hatte – mit dem Feuer spielen.

Inzwischen waren ihnen zahlreiche auf dem Aufstiege befindliche Partien begegnet, wohl die meisten schon, und am Ausgang des unteren Plateaus trafen sie endlich auch Bessow und Stadler.

Die Begrüßung fiel allerseits ziemlich frostig aus. Gottliebe und Toni fühlten nur zu deutlich, wie die beiden anderen mit Vorwürfen gegen sie geladen waren; aber die Rücksichtnahme auf die Zeugen verhinderte eine Aussprache.

»Nun, da hat es ja gar keinen Zweck mehr, weiter hinaufzulaufen,« wandte sich der Regierungsrat an Stadler. Er hatte gerade schon genug von dem bisher Erlebten. »Mich persönlich hat es ja nie auf den Ortler gezogen, und da das gnädige Fräulein schon oben gewesen ist, bin ich durchaus für Umkehren.«

»Wie der Herr wünschen,« fügte sich Stadler; auch ihm war nicht sonderlich daran gelegen, sich mit dem ängstlichen, beständig räsonierenden Manne im Schlepptau weiter hinaufquälen zu müssen.

»Also, dann zurück!« entschied Bessow, und miteinander, aber in eisigem Schweigen schritten die vier zu Tal.

So kamen sie endlich wieder bei der Hütte an. Auch Gottliebe fühlte nun, wo die frohe Spannung gründlich in ihr zerstört war, eine ziemliche Ermüdung; man beschloß daher, erst ein paar Stunden in der Hütte der Ruhe zu pflegen, ehe der weitere Abstieg nach Trafoi zurück erfolgen sollte. Mit kurzem Gruß zog sich Gottliebe in den Damenschlafraum zurück, und Bessow verfügte sich in den Herrensaal, wo jetzt alles leer war, so daß Hoffnung auf ein Stündchen Schlaf nach den Strapazen dieser Nacht war.

Die Führer gingen in die Küche, und hier hielt der Stadler allerdings nicht mehr zurück, vor der Schaffnerin und ihren Mägden polterte er gegen Toni los, ihm schonungslos Schande machend. Wenn's nicht um seinen Vater selig wär', seinen alten Freund drunten im Grab, dem er die Schmach nicht antun wollte, er brächte die Sach' sonst wahr und wahrhaftig vor die Sektion!

Der Stadler hatte wohl, nach Tonis ganzer Art, auf einen heftigen Widerspruch gerechnet. Um so verwunderter war er, als jener ganz still all seine heftigen Ausfälle hinnahm und zum Schluß sogar sagte: »Jo, jo – hast scho ganz recht, Stadler!«

Konnte er seinen Ohren trauen? Hatte das der Spängler, der hitzige Bursch, da wirklich eben gesagt? Im Pfeifenstopfen innehaltend, blickte der Stadler ungläubig zu ihm hinüber. Aber der saß wirklich ganz regungslos und gleichgültig da, mit finster zusammengezogenen Brauen vor sich hinstarrend. Auch den Wein, den er doch sonst beim Disput so hitzig hinunter zu schütten pflegte, hatte er noch nicht mal angerührt. verwundert schüttelte der Alte den Kopf: Was war denn nur in den Burschen gefahren? Nahm er sich die Sache wirklich so zu Herzen?

Wenn noch etwas gefehlt hatte, den Toni zum letzten zu treiben, so war es eben die Erinnerung an seinen seligen Vater gewesen, wie Dolchstiche waren des Stadlers Worte in seine Seele gedrungen, von der Schande, die er dem Toten bereitet habe! Aber innerlich zerstört, wie er schon war, hatte diese neue Qual keinen heftigen Ausbruch des Schmerzes mehr bei ihm wachgerufen; stumm hatte er es hingenommen, nur im Innersten das erneute Aufbrennen der wunden Seele zitternd spürend. Ja, ja, sein armer Vater! Wie wenig Ehre hatte er seinem Namen gemacht, der als der eines der geachtetsten, zuverlässigsten Führer Tirols noch in aller Leute Munde war.

Nein, er war nicht mehr wert, zu leben. Mit unabweislicher Gewalt drängte sich ihm die Erkenntnis auf, und er wollte nicht zögern, zur Tat zu schreiten. Nur das Wie war ihm noch unklar. Es durfte ja nachher niemand merken, daß er freiwillig aus dem Leben geschieden war, daß nicht etwa ein aufsteigender Verdacht dem wahren Grund nachspürte und alles ans Tageslicht brachte – sein ganzes Opfer nutzlos machte.

Der Spängler erhob sich plötzlich und schritt hinaus. Draußen, allein mit sich, wollte er die Ausführung seines Entschlusses überdenken. –

Etwa zwei Stunden später erschien Gottliebe wieder unten in der Hütte. Sie hatte keine Ruhe gefunden; von den körperlichen und seelischen Anstrengungen waren ihre Nerven überreizt. Ihre quälend sich jagenden Gedanken hatten sie schließlich unerquickt vom Lager wieder aufgetrieben. Sehr nervös und abgespannt erschien sie unten. Sie war ärgerlich auf sich, den Toni, Bessow und alle Welt.

Kurz ließ sie dem Regierungsrat hinaufsagen, sie wolle jetzt gehen. Wenige Minuten später war auch er zur Stelle, und der Abstieg begann.

Schweigend gingen sie auch diesmal; keiner spürte ja Lust zur Unterhaltung, am wenigsten Bessow, denn ihn hatte Gottliebes Botschaft eben aus dem tiefsten, todesähnlichen Schlaf der Ermattung aufgestört. Mißmutig stolperte er, von Stadler an der Hand geführt, den »elenden, halsbrecherischen« Weg von der Hütte am wild zerrissenen Steilhang bis zur Tabarettascharte entlang. Gott sei Dank, hier kam man endlich wenigstens wieder auf einen vernünftigen, ungefährlichen Weg.

Schnell ging es nun bergab, und gegen Mittag, noch nicht ein Uhr, war man drunten im Tal von Trafoi wieder angelangt, am Bach, über den ein schmaler Holzsteg hinüber zur Straße und dem Ort führte.

Hier blieb der Toni stehen. Wenn es dem Fräulein nichts verschlüge, so möchte er ihre Sachen jetzt dem Stadler in den Rucksack geben und hier umkehren. Er müsse noch mal zurück. Er habe, wie er vorhin bemerkt, seinen Kompaß verloren. Es war ein Erbstück von seinem Vater, ein wertvolles, schönes Instrument, das diesem einst ein Tourist verehrt hatte; der Stadler wußte es wohl, und richtig: es fehlte dem Spängler vorn an der Uhrkette, wo er es immer zu tragen pflegte.

»Da spring nur schnell wieder z'ruck und such!« riet er selbst. »I nehm' derweil die Sachen scho, das Fräula wird jo nix dargeg'n hab'n. Mir san ja ohn'dies gleich da im Ort.«

»Aber selbstverständlich nicht!« versicherte Gottliebe. »Gehen Sie in Gottes Namen, Toni. Es wär' ja jammerschade drum!« Auch ihr war schon das schöne Instrument von ihm aufgefallen.

Der Toni war unterdessen schon schnell niedergekniet und reichte aus seinem aufgeschnallten Rucksack dem Stadler Gottliebes Sachen zu, die er bisher getragen hatte. Als er das Jäckchen herausnahm und ihn wieder der feine Duft umschmeichelte, überflog ein jähes Erbleichen seine Züge: Da fing es an! Als er das heute nacht droben auf dem Gletscher wie ein Toller an seine Lippen preßte! Und schnell gab er mit zitternder Hand dem Stadler das Kleidungsstück hin.

So, nun war alles, was ihr gehörte, aus seinem Rucksack heraus, wie er ihn so wieder zuschnürte, war es ihm, als habe er einen köstlichen Schatz, den man ihm zur Obhut anvertraut hatte, hergegeben, als habe er eben Abschied von ihr selbst genommen. Doch das sollte ja nun erst erfolgen.

Der Regierungsrat war schon eine Strecke vorausgegangen, über den Bach hinüber; Stadler schickte sich jetzt eben an, ihm nachzufolgen, so stand im Augenblick Gottliebe allein vor ihm.

»Grüß Gott, Fräula.« Mit leisem Zittern in der Stimme entbot ihr Toni scheu seinen Gruß. In seinem Innern wogte es. Todestraurigkeit rang mit einem letzten leidenschaftlichen Aufzittern seiner Seele. Zum letztenmal schaute er ja ihr liebes Gesicht, ihre süße Erscheinung, die seine Seligkeit, sein Verderben geworden waren. Er hätte sich niederwerfen, schluchzend flehen mögen: Verzeih mir, was ich tat! Bewahr mir ein stilles Gedenken! Noch einmal hätte er ihr nur den Saum ihres Kleides küssen mögen wie einer Heiligen – aber nichts davon durfte er ja tun. Er durfte sich ja nicht verraten. Also fort denn! Mit einem Ruck richtete er sich auf, und sich zum Gehen wendend, zog er den Hut. »Ade, Fräula!«

Gottliebe hatte unschlüssig einen Augenblick vor ihm gestanden, zu Boden sehend. Nun plötzlich drang ihr sein leises, wehmutdurchhauchtes Ade! ans Ohr. Da schaute sie schnell auf und begegnete seinem stillen, todtraurigen Blick.

Unwillkürlich reichte sie ihm da die Hand hin.

»Ade, Toni.« Sie fühlte plötzlich, wie seine Hand in der ihren zitterte und feuchtkalt war wie die eines Schwerkranken. Ein tiefes Mitleid flog sie da an. Wie sich der Ärmste quälte um sie! Mit leisem Druck ihrer Rechten sagte sie ihm halblaut, bittend: »Vergessen Sie doch, Toni, was geschehen – ich will auch nicht mehr daran denken, wir wollen wieder gute Freunde sein wie vorher – ja?«

Da fühlte sie ihre Hand wild gepreßt, zum Zerdrücken, aber er sagte nichts. Wie seiner nicht mehr Herr, riß er sich im nächsten Augenblick los, wandte sich hastig ab und begann eilends bergab zu steigen, bald ihrem Blick im Wald entschwindend.

Langsam ging Gottliebe den anderen nach. Eine Wehmut senkte sich über sie. Wie lieb sie der arme Mensch hatte! Das war einer, bereit, für sie in den Tod zu gehen – in jeder Sekunde; das fühlte sie nur allzu deutlich. Und doch mußte sie an diesem treuen Herzen, wie sie es gewiß nie wieder finden würde, vorübergehen – aus rein äußeren Gründen. Lächerliche Welt! Lächerlich, und doch so bitter traurig.

* * *

»Sie wollen also wirklich morgen früh abreisen? Ihr fester Entschluß?«

Bessow fragte es Gottliebe, mit der er unter den hochragenden Tannen am Trafoihotel in der Stunde vor dem Diner auf und nieder ging.

»Ja,« bestätigte Gottliebe, »Wir sind ja auch lange genug hier gewesen, fast vier Wochen.«

Sie hatte in der Tat ihre Tante zur Abreise bewogen, was Frau Morell, in Furcht vor neuen alpinistischen Unternehmungen Gottliebes, nur recht gewesen war. Zu Bessow hatte die bevorstehende Trennungsstunde ernste Gedanken erweckt. Jetzt war die Entscheidung für ihn gekommen: Sollte er um Gottliebe anhalten oder nicht? Seine Neigung für sie hatte durch den gestrigen schweren Ärger nicht gelitten. Die Frage war nur: Wie würde Gottliebe sich zu ihm stellen? Ein Korb wäre ihm etwas entsetzlich peinliches gewesen bei seinem hochgesteigerten Selbstgefühl. Er wurde aber aus Gottliebe nicht klug, ihre Stimmungen wechselten so. Manchmal war sie so lieb gegen ihn – wie zum Beispiel neulich auf der Geisterspitze – und dann wieder so kalt spöttisch. Heute nachmittag nun wieder hatte sie ihre weiche, gute Stimmung – ob er's da wagte?

Gottliebe ahnte seine Gedanken, sie war auf seinen Antrag gefaßt, und sie wußte, was sie ihm erwidern würde. So oft hatte ihr die Tante ja zugeredet, den Regierungsrat ein bißchen aufzumuntern. Das hatte sie aus echt weiblichem Stolz abgelehnt, gerade das Gegenteil hatte sie getan. Wenn er nun trotzdem um sie warb, so hatte sie sich also nichts vorzuwerfen.

Lange hatte sie geschwankt, sollte sie ihn nehmen oder nicht? Der gestrige Tag hatte es entschieden. Es war eine stille Resignation über sie gekommen. Jahrelang hatte sie in dunklem Träumen und Sehnen auf ein großes Glück gewartet. Nun war eine urgewaltige, tiefe Liebe an ihr vorbeigegangen, und sie hatte nicht die Hand danach ausstrecken dürfen. Das Glück narrte eben die Menschen nur. Wozu daher weiter harren und sehnen, bis die Jugend verblüht war und kein Freier mehr kam? Und sie war ja, ohne Vermögen und ernsten Beruf, doch auf die Ehe angewiesen. So sollte es denn also sein! Wollte Bessow sie haben, so wie sie war, mit dem, was sie ihm geben konnte – gut, so wollte sie sich ihm nicht verweigern.

»Fräulein Rhyngaert!« begann der Regierungsrat bedeutungsvoll. Er war jetzt entschlossen, den großen Wurf zu tun. »Die Stunde des Scheidens treibt mich zu Worten, die sich mir schon manchmal auf die Lippen gedrängt haben. Es ist mir bald vier Wochen lang vergönnt gewesen, Ihnen –«

Gottliebe, die gesenkten Hauptes, mit ernster Miene neben ihm herging, horchte unwillkürlich plötzlich auf – nach der Ferne hin, nach dem Hotel zu. War von dort nicht eben ein heller Aufschrei herübergeklungen?

Aber dann hörte sie weiter auf Bessows Worte:

»– vergönnt gewesen, Ihnen nahe zu sein. Auf Reisen lernt man sich ja schneller kennen als sonst im Leben, und so glaube ich denn wohl, Fräulein Rhyngaert, wir haben in dieser Zeit Gelegenheit gehabt –«

Abermals trat eine Störung ein. Durch die Bäume, auf einem kleinen Seitenweg vom Hotel her, der die Straße zum Dorf hinunter abschnitt, kamen plötzlich eiligen Schritts zwei Damen gegangen, auch Hotelinsassen.

»Im Ort wird man doch gewiß Näheres darüber erfahren! Es ist ja zu schrecklich!«

»Ja, ein blutjunger Mensch – und die Stütze seiner alten Mutter, wie der eine Führer sagte.«

»Furchtbar! Und von der Ortlerspitze ist er abgestürzt?«

»Ja! Und am Morgen ist er erst noch frisch und gesund mit einer Dame oben gewesen.«

Eilig waren die Damen vorübergehastet. Gottliebe blieb stehen. Es war ihr plötzlich, als hätte ihr eine eiskalte Hand ans Herz gepackt.

»Hörten Sie eben, was die beiden sprachen?«

Verwundert sah Bessow ihre ihn angstvoll anstarrenden Blicke.

»Ich habe nicht hingehört,« erwiderte er; er war ja zu sehr mit sich beschäftigt gewesen. »Aber was ist denn?«

»Irgend ein Unglück muß passiert sein – am Ortler« – sie wagte es nicht auszusprechen, was sie weiter dachte. »Kommen Sie – zum Hotel!« Und schon begann sie mit fliegenden Schritten den Pfad zurückzueilen, den die Damen eben hergekommen waren.

Der Regierungsrat war wütend. Dieser lächerliche, plumpe Zufall! Gerade jetzt! Und daß sie, die doch schon hätte merken müssen, worauf er abzielte, einfach weglief! Es war doch eigentlich stark – sehr stark.

Aber dennoch folgte er ihr.

Gottliebe trat auf den freien Platz vorm Hotel. In Gruppen standen dort die Leute zusammen, Bergführer, von Fremden umringt, alle mit ernsten, aufgeregten Gesichtern. Klopfenden Herzens trat sie der nächsten Gruppe zu.

»Ich denke, der Ortler ist gar nicht gefährlich,« hörte sie gerade einen Herrn zu dem Führer sagen. »Wie konnte er denn da nur verunglücken?«

Der Führer zuckte die Achseln, »Wann einer halt Unglück haben soll! Er ist vielleicht beim Suchen zu weit an den Abhang vorgetreten und hat beim Bücken das Gleichgewicht verloren.«

Jetzt stand Gottliebe dicht bei den Sprechenden, »Wer ist abgestürzt?« Ihre Augen hingen in furchtbarer Spannung an den Lippen des Führers, ihr Herz stockte in diesem Moment.

Der Mann drehte sich zu ihr hin:

»Ein Führer aus dem Ort – der Spängler-Toni.«

»Der Toni?« Schrill kam es von ihren Lippen, und ihre Hände krallten sich, einen Halt suchend, in die Arme der ihr Zunächststehenden; sie wäre sonst zu Boden gesunken. Bestürzt umringten sie die Menschen. Mein Gott, was hatte denn das zu bedeuten?

Da war Bessow, der sie hatte wanken sehen, mit einem Sprunge bei ihr und nahm die Besinnungslose in seinen Arm. Als er von der Schreckenskunde vernahm, klärte er sofort die Umstehenden die höchst peinliche Situation auf:

»Die Dame hat gestern erst mit dem Verunglückten den Ortler bestiegen!«

Ah so – da freilich! Und bedauernd half man ihm, die Bemitleidenswerte ins Hotel zu führen. –

Gottliebe ruhte regungslos auf der Chaiselongue, auf die man sie gelegt hatte. Frau Morell machte sich, selber im höchsten Grade aufgeregt, nervös weinend um sie zu schaffen. Das kam alles von diesem verrückten Rumlaufen auf den Bergen! Wie leicht hätte das Gottliebe selbst passieren können!

Gottliebe hörte nicht, was die alte Dame sprach. Den Kopf in die Linke gestützt, starrte sie unbeweglich vor sich hin. Klarheit mußte sie haben, Klarheit! Ein Gedanke ließ sie nicht mehr los – ein furchtbarer Gedanke: Da stand er immer wieder vor ihr, wie gestern beim Abschied – mit jenem stillen, todestraurigen Blick, und wieder klang ihr sein zitterndes Lebewohl im Ohr – – der Toni hatte gestern schon gewußt, daß er heute nicht mehr leben würde!

Aber, wenn dem so war, dann – barmherziger Gott! Der Angstschweiß trat ihr aus die Stirn, und ihr ward so trocken im Hals.

Auf sprang sie plötzlich. Ja, Klarheit mußte sie haben, wenn sie nicht ersticken sollte!

Mit fliegenden Händen griff sie nach Mütze und Mantel.

»Wo willst du denn hin?«

Entsetzt rief die Tante sie an, die ohne jeden Blutstropfen im Gesicht, mit tief umschatteten Augen vor ihr stand.

»Ins Dorf – ich muß Näheres wissen!« Und schon war sie an der Tür.

»Gottliebe! Du bist ja nicht bei Sinnen – du fieberst!« Sie wollte sie halten, aber da war sie bereits hinaus. – – –

Nun stand Gottliebe wieder vor dem alten, düsteren Hause. Schon im Dämmern lag es da, aber ganz unerleuchtet; kein schimmerndes Fenster grüßte traulich hinaus in den Abend.

Einen Augenblick lehnte sich Gottliebe mit ihrer fiebernden Stirn gegen die harte Wand. Ein Grausen packte sie, wenn sie an die nächste Minute dachte. Doch dann riß sie sich empor: Gewißheit, koste es, was es wolle! Und nach wenigen Schritten klopfte sie vom finsteren Flur aus an die Eingangstür.

Jetzt war's ihr, als klänge von drinnen ein leises Schluchzen, und nun nahten sich Schritte. Das älteste Mädchen stand im tiefen Halbdunkel des Küchenraums vor ihr.

Noch einmal mußte Gottlieb eine Schwäche niederkämpfen. Der stille Jammer der Geschwister, die hier im Dunklen weinend beieinander hockten, schnitt ihr ins Herz.

»Wo ist deine Mutter?« Liebkosend, stumm tröstend, legte sie unwillkürlich dem Mädchen die Hand aufs Haupt, während sie es leise, mit stockender Stimme fragte.

»Drinnen!« Mit unterdrücktem Schluchzen wies das Kind auf die Tür zum Nebenzimmer.

Mit dem letzten Rest ihrer Kraft schritt Gottliebe dorthin und trat ein. Es war wohl das Wohn- und Schlafzimmer der Mutter; es lag im tiefen Dämmer, nur zwei Weihkerzen gossen ein feierliches, mildes Licht über das Bett dort am Fenster. Darauf lag eine Gestalt, mit weißem Linnen zugedeckt, nur der Kopf und die gefalteten Hände freigelassen. Daneben stand das Tischchen mit den Kerzen und zwischen ihnen ein Kruzifix. Vor diesem ärmlichen, schlichten Altar kniete am Lager des Sohnes die Mutter. In ihrem verstörten, runzelreichen Gesicht, auf dem das Licht seine tiefen Schatten warf, bewegten sich nur in dumpfem, monotonem Murmeln die Lippen. So las sie aus einem Gebetbuche Sprüche des Trostes.

Ein Geräusch hinter ihr machte sie aufsehen. Da sah sie die Fremde. Gleichgültig, ohne Erstaunen und ohne erneuten Schmerzensausbruch nahm sie die Erscheinung wahr. Der furchtbare Schlag hatte in ihr ertötet, was damals der ähnliche Tod ihres Mannes noch an Weichheit in ihr übrig gelassen hatte. In stumpfer Apathie ließ sie nun alles weitere über sich ergehen.

Langsam trat Gottliebe näher, den Blick wie gebannt auf das Antlitz des Toten heftend. Der Anblick bot nichts Grausiges, die Verletzungen mußten hauptsächlich innerer Art gewesen sein. Der Ausdruck der Züge war im schwachen Lichtschein nicht erkenntlich, von seinem Antlitz glitt nun ihr Blick hinab zu seinen Händen. Da sah sie es plötzlich golden aufglitzern zwischen den Fingern seiner Rechten – mit bebenden Knien trat sie näher herzu und beugte sich weit vor: ihr Kettenarmband!

Mit krampfhaft gekrümmten Fingern klammerte sie sich am Bettpfosten an.

»Hat – hat der Toni die Kette da – hat man sie in seiner Hand gefunden?«

Die Frau war schwerfällig aufgestanden. Langsam nickte sie.

»Jo, Fräula. Es ist wohl die Ihre? I hab mir's denkt. Die Leut' hab'n mir ja erzählt, er wär' noch amol z'ruckgangen, was Verlorenes suchen. 's ist g'wiß das Kettlein da g'west – gelt, das Ihna verloren gangen ist? – I hab's ihm g'lassen, weil er's gar so fest mit seiner Hand g'halten hat. Aber nun, da Sie kimma« – sie wandte sich dem Lager zu, um ihr ihr Eigentum wiederzugeben; aber da fühlte sie sich gepackt:

»Nein, nein! Lassen sie ihm die Kette; geben Sie sie ihm mit ins Grab!«

Dann hörte sie die Fremde plötzlich aufschluchzen, die Hände krampfhaft ineinander gepreßt.

»Um mich – um mich!«

Die Frau konnte die Worte der Dame wohl verstehen. Beim Suchen ihres Eigentums war der Toni verunglückt; es war, wie sie es sich schon gedacht hatte.

Stumpf starrte die Frau mit gefalteten Händen auf das blasse Haupt ihres Sohnes. Sie hätte wohl einen Zorn, einen Haß haben sollen auf die da neben ihr, die schuld war an seinem Tode! Um ihres nichtigen Schmuckes willen hatte er sein junges Leben lassen müssen, hatte sie den Ernährer verloren! Aber es blieb alles kalt und stumpf in ihr. Das war schon so auf der Welt. Die Armen und Geplagten mußten noch immer mehr zu tragen bekommen, und die Reichen gingen leicht dahin – nun, es mußte wohl so sein, daß dereinst am jüngsten Tage diese die letzten und jene die ersten wurden. Und wieder begann sie ihr Gebet zu murmeln. –

Nun hatte sich die erste Leidenschaft des Schmerzes bei Gottliebe gebrochen. Das Besinnen kam ihr wieder. Den Toni konnte sie mit aller heißen Reue über ihre allzu große Härte gestern nicht wieder erwecken; das konnte sie nur sühnen durch unerbittliche Strenge fortan gegen sich selbst. Aber eins stand in ihrer Macht: Die Seinen vor der bittersten Not zu retten. Das kleine Kapital, das bescheidene Erbteil ihrer Mutter, das zu ihrer Verfügung stand, oft hatte sie es gering geachtet; jetzt dankte sie Gott dafür. Es sollte nun einem ernsten Zwecke dienen.

Doch es widerstrebte ihr, in dieser Stunde heiligen Schmerzes von den niederen Sorgen des Lebens zu sprechen. So erhob sie sich denn und sagte nur, zu der in Andacht versunkenen Frau hingewandt, leise – fast demütig:

»Frau Spängler – Gott helfe Ihnen Ihr Leid tragen! – Morgen lassen Sie mich wiederkommen, Ihrer und der Kinder Zukunft wegen mit Ihnen zu reden. Der Toni ist Ihnen genommen worden« – ihre Stimme begann leise zu zittern – »aber Sie sollen darum nicht verlassen sein.«

Die alte Frau fuhr aus ihrer Stumpfheit auf: Was sagte da die Fremde? Ihre Worte hatten sie mit einem Male an die Sorgen des Alltags gemahnt, die sich melden würden, allzu rasch nur, ehe noch der herbste Schmerz verwunden sein würde. Aber war da nicht eben ein Strahl des Trostes in das aufziehende Düster der Zukunft gefahren?

Gottliebe aber heftete noch einmal ihren Blick auf den stillen Schläfer, in stummem Abschied. Dann verließ sie schnell das Gemach.

* * *

Draußen auf der dunklen Straße trat ein Mann auf Gottliebe zu, der sie dort erwartet haben mußte – Bessow.

Grüßend trat er zu ihr.

»Ihre Tante war in größter Sorge um Sie, Fräulein Rhyngaert, und ich nicht minder. Ich fürchte, Ihre Nerven sind ernstlich angegriffen, wollen Sie sich denn nicht endlich Ruhe gönnen?«

Sein Ton war zärtlich, teilnehmend.

»Ich bin schon wieder ganz ruhig. Seien Sie ohne Sorge, Herr Bessow.« Ihre Stimme klang in der Tat ernst, aber gefaßt.

»Nun, Gott sei Dank!« Erleichtert atmete der Regierungsrat auf. »Sie dürfen mir glauben, Fräulein Rhyngaert, ich habe mich wirklich aufrichtigst um Sie gesorgt.«

Sie schwieg. Eine Weile schritt auch er schweigend neben ihr her, mit sich kämpfend. Endlich aber war er entschlossen. Er wollte die Sache zu Ende bringen. Diese Ungewißheit war ja aufreibend.

»Fräulein Rhyngaert, die unglückselige Katastrophe hat uns leider in einer Unterhaltung gestört, die von größter Bedeutung für meine Zukunft, vielleicht auch für die Ihre –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen.« Mit ruhiger Entschlossenheit schnitt ihm Gottliebe das Wort ab. »Aber bitte – sprechen Sie nicht weiter. Ersparen Sie uns beiden das!«

Betroffen fuhr Bessow zusammen.

»Das heißt – ich hätte nichts, ich hätte nie etwas zu hoffen?«

»Ich bitte Sie, ersparen Sie mir doch, deutlicher zu werden!« bat Gottliebe nochmals. »Es wird Ihnen ja genügen, wenn ich Ihnen sage, daß meine Zukunftspläne überhaupt jeden Gedanken solcher Art ausschließen. Ich bin des Drohnenlebens überdrüssig, das ich bisher geführt habe – es hat schon lange auf mich gedrückt und mich unzufrieden gemacht – ich werde mir Tätigkeit und Beruf suchen, die mich ausfüllen.«

»Ah so!« Ein scharf ironischer Klang tönte aus den kurzen Worten. Die schwer verletzte Eitelkeit stachelte in Bessow böse Instinkte an, die er sonst sorgfältig unterdrückte. »Das ist ja sehr interessant, mein gnädiges Fräulein! Um so interessanter, als diese ganz neuen, überraschenden Pläne so merkwürdig zusammenfallen mit dem Malheur dieses Burschen, den Sie sich in den letzten Tagen so eng attachiert hatten. Man könnte ja fast glauben –«

»Schämen Sie sich, das Andenken eines Toten zu verunglimpfen!« Zornlodernd herrschte ihn Gottliebe an, dicht vor ihm stehen bleibend. »Und jetzt sage ich Ihnen: Auch wenn ich jene anderen Pläne nicht hätte, einem Mann von so niedriger Gesinnung gäbe ich meine Hand niemals! So« – und sie wandte sich zum Weitergehen – »und nun darf ich wohl auf Ihre fernere Begleitung verzichten.«

»Wie Sie befehlen!« Kalt den Hut lüftend, trat Bessow zurück.

Allein schritt Gottliebe weiter, durch die Dunkelheit hin. Da fiel in ihr Auge aus der Höhe ein mildleuchtender, blasser Schein – die Firnen droben vom Ortlergebirge.

In tief erzitternder Wehmut blieb ihr Blick darauf haften. Das sollte fortab ihr Symbol sein, ihr Sehnen: die stille Größe, die auf irdisches Getriebe hinabschauende Erhabenheit. Und mit dem Bilde jener klaren Höhen würde ihr unzertrennbar vereint bleiben das Bild des armen Unglücklichen, der sie in diese Welt zum erstenmal geführt, sie in ihre Wunder hatte schauen lassen.

Was kündete doch das verlorene Klingen drunten vom Kirchlein? Lauschend hielt sie den Schritt an, sie verstand die mildtröstliche Glockenstimme wohl: Frieden einer armen Seele!

Ihr Haupt neigte sich leise, und die Hände falteten sich ineinander. So ging Gottliebe Rhyngaert langsam das nachtdunkle Tal hinan.



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