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Romeo und Julie am Pregel

Es war ein Winterabend 184*. Die großen Säle des Kneiphöfschen Junkerhofes in Königsberg hatten sich mit einer bunten festlichen Menge gefüllt, die sich bei den Klängen der Musik in fröhlichen Rundtänzen bewegte. Die Landmannschafter, die zum Teil in Uniformen erschienen, hatten einen Winterball veranstaltet, und die jungen Mädchen der Pregelstadt fehlten nicht bei der Festlichkeit, zu welcher die von den Ufern der Memel stammenden Litauer und die Masuren vom Spirdingsee eingeladen hatten.

So lustig die Menge durcheinander wogte, dem Anschein nach nur dem harmlosen Genuß des Augenblicks hingegeben, so lag doch etwas in der Luft, was diese Harmlosigkeit zu stören schien: in den Pausen des Tanzes drehten sich selbst die Unterhaltungen der jungen Welt um ernstere Gegenstände als um Balltoiletten und Schlittenpartien und an den mit Champagnerflaschen besetzten Tischen, an denen die älteren Gäste sich niedergelassen, war die Unterhaltung nicht bloß lebhaft, sondern bisweilen erhitzt und heftig, wie dies bei Meinungsverschiedenheiten der Fall zu sein pflegt. Seitdem der geistreiche König Friedrich Wilhelm IV. die Huldigung seiner Stände in der Stadt Ottokars empfangen, seitdem seine zündenden Worte ebenso Begeisterung wie lebhaften Widerspruch hervorgerufen, seitdem der Wunsch einer allgemeinen Landesvertretung rege geworden und die Stände der altpreußischen Lande ihm Ausdruck gegeben, waren Stadt und Land in zwei große Parteien gespalten und die verschiedenartigen Meinungen platzten mit feindseliger Heftigkeit aufeinander. In die gleichmäßige Ruhe des gesellschaftlichen Lebens, die unter dem milden Szepter des gerechten Königs Friedrich Wilhelm III. jahrzehntelang in den baltischen Provinzen wie in ganz Preußen geherrscht, war auf einmal ein Sturmwind gefahren; man sah überall empörte Wogen der öffentlichen Meinung, und selbst in das Familienleben brach die Sturmflut mit ihrem Schaum und Gischt, trennend und weit voneinander schleudernd, was sich bisher im traulichen Kreise gefunden.

An einem Tische, an dem die wogende Tanzflut ganz nahe vorüberbrandete, saß der Amtsrat Nortmann, ein früherer Domänenpächter, jetzt Besitzer eines ansehnlichen Ritterguts in der Nähe des Galtgarben, ein stattlicher, heißblütiger Herr mit einem starkgeröteten Gesicht – wenigstens hatte jetzt der Champagner und der Eifer des Gesprächs sein Blut in Wallung versetzt und seinen sonst wetterbraunen Zügen die glühende Farbe gegeben. Er war ein Mann von stattlicher Größe und mäßiger Fülle, eine echt ostpreußische Kernnatur, und was er sprach, war alles von Gewicht, und man fühlte heraus, daß er selbst davon überzeugt war. An seiner Seite saß ein Gutsnachbar der früher von Nortmann bewirtschafteten Domänen, ein reicher Mann, der Kuriositäten sammelte, Paris und London besucht hatte, französische und englische Zeitungen las und daher mit der Zeit mitgegangen war. Die beiden Herren waren sehr lebhaft aneinander geraten über die allgemeine Landesvertretung.

»Sie sind ein Revolutionär, Grehlen,« sagte Nortmann, »und wir können diese Sorte in unserem gediegenen und getreuen Ostpreußen nicht brauchen.«

»Sorte?« rief Grehlen empört aus, »die Politik ist kein Getreidemarkt! Jede mannhafte Überzeugung muß respektiert werden; ich respektiere auch die Ihrige, obschon sie mir etwas veraltet vorkommt. Unter einem Strohdache lebt es sich ja recht patriarchalisch; doch man hat in der Baukunst neuerdings Fortschritte gemacht.«

»Man soll am Althergebrachten nicht rütteln, wenn es sich gut bewährt hat. Die Provinzialstände genügen vollkommen – und darüber als das gemeinsame Schutzdach die Krone!«

»Da haben Sie recht,« sagte ein jüngerer Herr, ein Tänzer, welcher die Pause benützte, um näher an den Tisch heranzutreten und sich mit einem Glas Champagner zu erquicken; »gibt man erst den Neueren einen kleinen Finger, so nehmen sie alsbald die ganze Hand.«

»Ganz meine Meinung,« versetzte Nortmann, dem jungen Mann zulächelnd, welcher einer seiner besonderen Schützlinge zu sein schien. Er war schlank gewachsen, sehr groß, hatte regelmäßige Züge, den Schnurrbart des Landwehroffiziers und graue nichtssagende Augen. Obgleich Paul Herter ein Gutsbesitzer war, der sich viel in der frischen Luft bewegte, so hatten seine Züge doch etwas Wachsbleiches, und es lag in seinem ganzen Wesen eine krankhafte Erregtheit.

»Ich muß mich zum Kotillon rüsten,« sagte er zu Nortmann, »ich tanze ihn mit Ihrem Fräulein Tochter.«

Er verließ den Tisch und wandte sich dem jungen Mädchen zu, welches allgemein als die hervorragende Schönheit dieses Balles anerkannt wurde. Cäcilie war ebenso stattlich wie lieblich; sie hatte nicht die niedliche Figur und das pikante Dosengesichtchen, wodurch in der Regel der Anspruch erworben wird, zu den hübschen Ballgrazien gezählt zu werden; sie war keins der rosigen Kinder, welche in französischen und deutschen Lustspielen den Naiven von Fach zufallen, weder ein kecker Springinsfeld, noch eine Gurli, die das Herz auf den Lippen trägt. Die Lieblichkeit und Anmut, die keine ihrer Bewegungen verleugnete, war anderer Art; sie hatte etwas Seelenvolles, und das sprach auch aus ihren Zügen: ein träumerisches Nachdenken lag über den sanften, schöngeschwungenen Augenbrauen auf einer Stirn, welche weder so niedrig war wie diejenige der griechischen Schönheitsgöttin, noch so hoch wie manche Denkerstirn, sondern ein harmonisches Ebenmaß bewahrte bei einem unverkennbaren geistigen Gepräge. Tiefblaue Augen und volle schwarze Haare, ein liebliches, sich in Grübchen verfangendes Lächeln rosiger Lippen, ein reizendes Oval des Gesichtes: das alles stellte die Mitbewerberinnen um den Schönheitspreis in Schatten, sowohl bei kundigen Preisrichtern wie bei allen, die sich unbefangenem Eindruck freudig hingaben; doch ganz ohne Trost blieben die anderen nicht, denen der Vorrang streitig gemacht wurde: viele von ihnen hatten ja den Vorzug einer Wespentaille, und Cäcilie, der klassischen Schönheit eingedenk, verschmähte den modischen Reiz, der sich mit Hilfe eines rücksichtslosen Fischbeinmieders erreichen läßt, und auch ihre Gesichtsfarbe hatte, wie ihre Nachbarinnen sich zuflüsterten, etwas schamlos Gesundes, nichts Feines, Vergeistigtes, Schmachtendes; es war die Farbe, wie man sie bei den Dorfschönen erblickt, bei den Schnittermädchen oder, wie die Böswilligsten meinten, bei den Kuhmägden.

Als Paul Herter an Cäcilie herantrat, war diese im lebhaften Gespräche mit einem anderen jungen Manne begriffen, welchen Herter wohl kannte. Denn trotz seiner Jugend gehörte er zu den Persönlichkeiten der Pregelstadt, von denen viel gesprochen wurde; er hatte sich durch Broschüren und Artikel, die vom liberalen Standpunkt aus verfaßt waren, einen Namen gemacht und sich die Zuneigung der Gleichgesinnten erworben, während die Andersdenkenden ihn mit ihrem Haß verfolgten: denn er besaß eine feurige Beredsamkeit, und die kühle Kritik der »Vier Fragen« wurde weit überflügelt von der Schärfe, womit er für die Ideale der Zukunft kämpfte. Die Damen fanden den jungen Mann interessant und liebenswürdig; er hatte ein feuriges Auge, etwas scharfe, aber nicht unschöne Züge, langes dunkles Haar; beim Gespräch belebte sich sein ganzes Wesen; er war bei Allem, was er sprach, mit ganzer Seele. Seine Züge hatten einen fast schwermütigen Ausdruck, als Herter die Unterredung unterbrach und seine Tänzerin zum Kotillon entführte.

»Ei, Doktor Wilbert, Sie tanzen nicht mit?« fragte ihn ein früherer Studiengenosse, der Referendar Brausling.

»Nein, ich habe keine Tänzerin gefunden,« versetzte Wilbert, der, an einen Pfeiler gelehnt, Cäcilie nicht aus den Augen verlor.

Er hatte sie bisher nie gesehen. Brausling hatte ihre Bekanntschaft vermittelt; Wilbert fühlte sich von der Erscheinung und dem Wesen des Mädchens in innerster Seele ergriffen.

Wilbert war auf Schule und Universität ein fleißiger Schüler gewesen; er hatte beim Abiturientenexamen das beste Zeugnis, im juristischen Seminar den ersten Preis erhalten. Im Verkehr mit gleichgesinnten Genossen hatte er nichts von dem vermißt, was sonst der Jugend Reiz verleiht. Das Gefühl der Liebe war ihm fremd geblieben. Nicht ganz – doch es war unklar mit dem der Freundschaft vermischt gewesen. Nach der ehrenvoll bestandenen Doktorprüfung hatte sich Wilbert ganz der Politik in die Arme geworfen mit dem leidenschaftlichen Eifer, mit dem er alles ergriff, und er hatte Anteil für seine begeisterte Parteinahme auch bei einem weiblichen Wesen gefunden, das ihm gerade dadurch und durch sein bedeutsames geistiges Streben nahe getreten war; doch das ewig Weibliche streifte nur gleichsam mit einem leisen Hauch den klaren Spiegel geistiger Freundschaft und Verwandtschaft.

Und jetzt, was zog ihn so mächtig an, was trieb ihn, jenem Mädchen nachzufolgen aus einem Saal in den anderen? Was bannte sein Auge, daß er es von ihr nicht abwenden konnte? Er sah nichts als sie in den strahlenden Räumen, in denen so viel Jugend und Anmut versammelt war. Viele Schönen, die er bisher mit Wohlgefallen bemerkt hatte, waren ihm gleichgültig geblieben, sobald sie ihm den Rücken gekehrt.

Wie ganz anders war ihm an diesem Abend zumute; er war wie in einem Zustande der Verzauberung und er gab sich ganz diesem beseligenden Zauber hin. Freilich mischten sich bittere Gefühle mit ein: er verfolgte mit seinem ganzen Haß den jungen Herter, der sich des schönen Mädchens zu einem endlosen Kotillon bemächtigt hatte. Überdies war dieser einer der schlimmsten Gegner der Liberalen, der denselben oft mit herausforderndem Hohn gegenübertrat; er hatte, obwohl bürgerlicher Herkunft, von den Patrizierfamilien Königsbergs stammend, etwas Junkerhaftes in seinem ganzen Wesen, wie er auch für einen Don Juan und Verschwender galt, der mit dem freilich unerschöpflichen Reichtum, der sein Erbe geworden, unverantwortlich schaltete und waltete.

Und dieser schöne Paul, wie ihn die Genossen nannten, die an seinem Reichtum mitzehrten, durfte jetzt mit Cäcilie vertraulich plaudern, immer wieder mit ihr Arm in Arm dahinschweben. Und sie lächelte ihm zu stets mit gleicher Freundlichkeit und Offenheit – wußte sie denn nicht, daß er ein leichtsinniger Verführer war, hatten seine Millionen sie geblendet? Da sah er sie an mit den grauen Augen, die, sonst geistlos und glanzlos, bisweilen doch eine stechende Schärfe annahmen; seine Blicke hatten etwas Verzehrendes, wenn sie auf die schöne Gestalt des Mädchens herabsahen; er schloß sie ungestümer in seine Arme, als die Etikette des Tanzes erlaubte; sie hatte für dies alles nur ein freundliches Lächeln. War er ihr schon vom Vater zugesagt, war dies eine Partie, welche bereits fest beschlossen worden? Wilbert mußte an sich die Erfahrung machen, daß die Eifersucht sich sogleich mit der Liebe anmeldet, ja bisweilen ihr noch vorausgeht und sie ankündigt.

Der Kotillon war zu Ende; schwermütig stand der junge Doktor an der Tür des Saales, um Cäcilie, die am Arme ihres Vaters herausschritt, noch einmal zu grüßen. Der alte Nortmann kannte dies Exemplar von Demagogen, wie er sich ausdrückte, als er seine Tochter fragte, ob er ihr die Ehre dieses Grußes verdanke, den der Alte übrigens nur mit verdrossenem Kopfnicken erwidert hatte. Cäcilie mußte bekennen, daß ihr der junge Gelehrte vorgestellt worden und daß sie mit ihm eine Mazurka getanzt habe.

»Ich liebe diesen polnischen Tanz nicht,« sagte Nortmann, »und du solltest dir abgewöhnen, ihn zu tanzen, wenn du ihn auch in der Tanzstunde noch so gut einstudiert hast. Die Polen sind einmal schlechte Untertanen, und wenn sie bei ihrer Mazurka mit den Sporen zusammenklirren, so klingt das immer wie trotzige Rebellion. Dein Doktor hat zwar keine Sporen; aber er ist auch einer von denen, welche unserer Politik den Sporn in die Weichen drücken wollen. Es ist mir sehr unangenehm, daß du seine Bekanntschaft gemacht hast, und ich rate dir, dies so bald als möglich zu vergessen.«

Cäcilie hörte schweigend auf diese Ratschläge; doch in ihrem Herzen hegte sie ketzerische Gedanken. Wilbert hatte ihr nicht nur von allen Tänzern dieses Abends am besten gefallen, sondern sie fühlte sich auch seltsam erregt, wenn sie an ihn dachte, und etwas wie Sehnen und Bangen war in ihre Brust eingezogen.

Wilbert eilte in die kalte Winternacht hinaus: Schnee lag auf dem zugefrorenen Pregel, auf den Dächern der Vorstadt, auf den Speichern der Lastadie; es trieb den jungen Doktor, obschon es spät in der Nacht war, noch bei einer Bierwirtschaft anzuklopfen, wo er schon oft einen seiner nächsten Freunde gefunden, welcher die Nacht zum Tage zu machen pflegte, wie er in allem, was er dachte, sprach und tat, abwich vom üblichen Tun und Treiben der Menschen; es war seines Zeichens ein bemoostes Haupt von ungezählten Semestern; wenn er eine Fakultät fast bis zur Examenreife absolviert hatte, ging er in die andere über, welcher er ebenso viele Semester widmete. Er war jetzt bei der philosophischen angekommen; alle Welt nannte ihn den Doktor Martin, obschon er sich bisher keinen Doktorhut erworben hatte. Martins Vater, war ein vermögender Grundbesitzer, der einen weit ausgebreiteten Verkehr mit den anderen Grundherren der Provinz unterhielt. Der Sohn hatte ihn bei seinen Besuchen und Reisen oft genug begleitet, und die sonderbaren Persönlichkeiten, mit denen er dabei bisweilen in Berührung kam, hatten ihm einen lustigen Gedanken eingegeben: er hatte eine Art von Grundbuch ostpreußischer Rittergutsbesitzer angelegt, welches die mit kecken Umrissen hingeworfenen Bilder derselben enthielt und zugleich nicht minder kecke Personalbeschreibungen. Wilbert hatte sich rasch an dieses bereits aus mehreren Bändchen bestehende Album erinnert und hoffte mit Bestimmtheit, dort auch über Herrn Nortmann die ersehnte nähere Auskunft zu finden.

Doktor Martin saß ganz allein neben einem schlafenden Kellner in der Restauration, ein Glas Grog neben sich – die Wirtschaft war auf Nachtbesuch eingerichtet. Der Hausknecht öffnete vorsichtig den Anklopfenden die Tür, und so wurde auch Wilbert eingelassen: doch der Schwarm der Gäste hatte sich in dieser Nacht bereits zerstreut. Martin las in einem dicken Bande; er pflegte stets einige Bücher in die Wirtschaften mitzuschleppen – nichts sei ihm willkommener, als hier zu studieren, wenn alles einsam geworden; hier finde er die rechte Fauststimmung, und was dem Faust »Tiergeripp und Totenbein«, das seien ihm die Kellner und Schenkmädchen: er zahle dafür auch ansehnliche Trinkgelder. Aus den Rauchwolken, die in diesen Räumen auf und nieder wogten, glaube er immer den Erdgeist hervortreten zu sehen. Obgleich der neue Ankömmling ihn in seinen Studien störte, so freute er sich doch über diese Unterbrechung, reichte ihm herzlich die Hand und bestellte zwei neue Gläser Grog.

»Matrosengrog, fest und steif – das stärkt das Denken! Und wenn man einen so nüchternen Denker wie diesen Kant vor sich hat, da braucht man eine Hauptstärkung! Es ist aber doch ein höllischer Kerl, seziert den menschlichen Verstand wie der Anatom einen Frosch und die Welt wie eine Wasserleiche!«

Wilbert setzte sich neben den Freund; mit vielem Vergnügen bemerkte er, daß auch ein Band des ihm wohlbekannten Albums auf dem Tisch lag, und er erkundigte sich nach den Fortschritten dieses eigenartigen Unternehmens.

»Die Fortschritte sind höchst erfreuliche,« sagte Martin, »es wurde für meine eigenen Schultern zu schwer; doch da hab' ich Mitarbeiter in der ganzen Provinz geworben.«

»Hast du,« fragte Wilbert, »in deiner Sammlung vielleicht einen gewissen Nortmann?«

»Nortmann aus Wieselau,« sagte Martin, nach dem einen Bande greifend und behaglich darauf klopfend, »hier ist er gerade eingefangen.«

Er schlug die betreffende Seite auf und zeigte dem überraschten Freunde das Profil des eigensinnigen Mannes mit den etwas gekniffenen Lippen, der energischen Nase, dem hervortretenden oberen Teile der Stirn.

»Und das ist meine eigene Arbeit, auch die Überschrift und der Text; denn gerade diesen Herrn kenne ich von meiner frühesten Jugend auf. Nortmann – eifriger Landwirt, cholerischen Temperaments – haßt alle Verbesserungen – die ›Zoche‹ liebt er, als wenn er sie erfunden hätte – im Hause Tyrann – die Frau ist gestorben, die Tochter darf nicht mucken. Seine Gutsuntertanen behandelt er gerecht, das heißt, er prügelt sie fortwährend, da sie fortwährend Prügel verdienen. Dabei ist er ehrgeizig, ersehnt in aller Stille Titel und Orden, bekämpft die Liberalen aufs äußerste auf den Kreistagen, im Provinziallandtag. Er ist göttlich grob und schleudert wie der Auerochs seinen Feind den Wolken zu; es ist mit ihm nicht gut Kirschen essen; er ist eine Art von ostpreußischem Hinterwäldler; er schießt gut, spielt gut Lhombre, liebt weder Wein, noch Weib, noch Gesang, aber Punsch und Grog, und sieht, wenn er sich eine rosige Stimmung angetrunken, wie der Leuchtturm von Brüsterort aus.«

Über diese Schilderung konnte Wilbert nur nachdenklich mit dem Kopfe schütteln. Das war ja der reine Giftbaum – wie konnte eine zarte Mädchenblüte in seinem Schatten gedeihen?

»Und seine Tochter?« fragte er.

»Das hier ist keine Schönheitsgalerie – die Töchter sind ein für allemal ausgeschlossen.«

»Da werde ich schwer Zutritt erhalten in Wieselau,« versetzte Wilbert in etwas niedergeschlagener Stimmung.

»Du, ein so ausgesprochener Parteigänger in der Politik? Dich läßt er mit Hunden von seinem Hoftor hetzen. Du bist ihm ja eine Art von Saint-Just und Robespierre – es ist unglaublich! Das bißchen Verfassung, das ihr haben wollt – und darum Mord und Totschlag! Lieber Freund, es wird die Zeit kommen, wo der solideste Regierungs- und Oberpräsident auf demselben Standpunkte steht wie ihr jetzt, die Geächteten, wo der grimmigste Bureaukrat und der eifrigste Landgendarm eine solche Verfassung als etwas Selbstverständliches ansieht und eure jetzt als nichtswürdig verschrieene Gesinnung teilt.«

»Doch das hilft mir jetzt nichts, gegenüber diesen fanatischen Männern des Bestehenden.«

»Leider! nein – jetzt bist du eine Art von Verbrecher. Doch im Grunde seid ihr ja alle so zahm und eßt der Regierung aus der Hand. Da wird die Welt noch ganz andere Dinge erleben. Jahre und Jahrzehnte gehen vielleicht vorüber – dann kommen Leute wie ich an die Reihe. Die stehen dann, wo ihr jetzt steht – lauter Simsons – die heben die Tore aus und stürzen die Säulen um – und die ganze alte Weisheit der Philister fällt in Schutt und Trümmer!«

Wilbert zuckte mit den Achseln – er war etwas ungläubig; auch ließ ihn diese ferne Zukunft sehr gleichgültig.

»Und hast du auch Herrn Herter in deinem Album?«

Doktor Martin nahm eine finstere Miene an, seine Stirn umwölkte sich; seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen; er fuhr sich ins Haar; doch er vergaß, daß er seit einiger Zeit ganz à la mécontent frisiert war und daß über diese kurzen Haarstoppeln seine Hand nur wirkungslos hinweggleiten konnte. Dafür vergrub er sie jetzt in dem gewaltigen Vollbart, der weit hinab auf die Brust reichte.

»Sein Bild ist nicht in diesem Band! Ich hab's zu Hause, doch es fehlt noch die Unterschrift. Unter ihm klafft die Leere, der Abgrund, in den ich ihn einst zu stürzen hoffe. Mit diesem Herrn habe ich noch eine besondere Abrechnung zu halten.«

»Mir ist er unleidlich wie wenige.«

»Unleidlich? Das ist zu wenig gesagt! Dieser überlange Bursche ist der herzloseste Gesell in ganz Altpreußen, dabei eine Null, die durch ihren Reichtum zu einer Ziffer wird. Hochmütig sieht er auf alle herab, die nicht mit Millionen rechnen können. Für ihn gibt's keine Unschuld, keine Tugend! Ich kenne dunkle Taten von ihm; aber für die eine soll er mir noch Rede stehen. Dann erst will ich den Text zu seinem Bilde schreiben – vielleicht mit Blut!«

Doktor Martin schlug mit der Faust auf den Tisch; dann bestellte er noch zwei Gläser Grog; vergebens sträubte sich sein Genosse.

»Ich muß heute noch bis zum hinteren Sackheim wandern, und auch du hast einen weiten Weg. Es ist eine Kälte wie am Nordpol und man muß das Schiff gehörig kalfatern, wenn es durchs Eis steuern soll!«

Die beiden jungen Männer saßen in eifrigem Gespräch zusammen, bis der Morgen zu grauen anfing, und als sie nach Hause gingen, klingelten bereits die Marktschlitten durch die Straßen, und die halberfrorenen Gesichter der Dorfkätner sahen mißvergnügt aus ihren Kapuzen hervor.

*

In einem jener tiefen Zimmer, wie sie die Häuser der Kneiphöfschen Langgasse enthalten, in denen die beiden vorderen auf die Straße hinausgehenden Fenster nicht ausreichen, um die ganze Tiefe zu erhellen, saß eine junge Dame, in die Lektüre einer kleinen Broschüre vertieft. Es war eine politische Schrift, welche die Leserin jetzt aus ihrer Hand legte, indem sie nachsinnend noch einmal die Gedankengänge derselben an ihrem Geiste vorüberziehen ließ. Dann blickte sie hinaus auf die Straße; über die beschneiten Wulmen vor ihrem Hause, über diese kleinen geländerten Vorterrassen fegte der Sturm und wirbelte die aufgestörten Flocken den Vorübergehenden ins Gesicht, die, in Mäntel und Pelze gehüllt, verdrossen mit dem Wetter kämpften. Rahel Michal war ein Mädchen, welches bereits die mittleren Jahre des dritten Jahrzehnts hinter sich hatte und sich der bedenklichen Grenzlinie der dreißiger, wenn auch mit zögernden Schritten näherte. Sie hatte tiefdunkle Haare, tiefe schwarze Augen, welche, groß aufgeschlagen, etwas geistig Beherrschendes zeigten; ihre Gestalt war schlank und üppig zugleich; es war eine voll erblühte orientalische Schönheit. Wie sie dasaß, das Haupt auf den schöngerundeten Arm gestützt und mit einer gewissen Spannung auf die Straße blickend, als hoffe sie dort einen erwarteten Freund zu begrüßen, zeigten die mit feiner Schärfe gezeichneten Züge sanfte Schwermut, leise Falten auf der ausdrucksvoll gemodelten Stirn und um die Lippen ein halb wehmütiges Lächeln, wie es wohl die Ahnung eines unerreichbaren Glückes hervorzurufen vermag.

Rahel lebte mit einer älteren Tante zusammen; das Vermögen aber gehörte der Nichte, die seit längerer Zeit Vater und Mutter verloren und die Schwester des Vaters zu sich genommen hatte. Die alte Sarah war also weit davon entfernt, Rahel zu beaufsichtigen oder zu bemuttern: sie lebte in einem vollkommenen Abhängigkeitsverhältnis, und da sie außerdem für das schöne Mädchen schwärmte, fand sie alles wohlgetan, was Rahel tat. Sie war stolz auf die Schönheit der Nichte; denn ganz Israel war voll ihres Lobes, und auch christliche Maler hatten sie für eine Rebekka am Brunnen als Modell ausersehen.

Rahel erwartete ihren Freund: darum blickte sie so sehnsüchtig auf die Straße hinaus, ob nicht der Mann im Künstlermantel mit dem Sammetkragen sich der Haustür nähere, und bald erkannte sie ihn von fern; sie sah, wie alle Hüte auf den Köpfen locker wurden, ehrwürdige Häupter mit dem Silberhaar sich entblößten, als der junge stattliche Mann die Straße einherschritt. Er war ja berühmt, mindestens in Ostpreußen, in Königsberg – und es hatte dort seit Jahrzehnten keine berühmten Männer gegeben; abgesehen von einzelnen Größen der Wissenschaft, an die aber das Volk sich nicht heranwagte. Erst die politische Aufregung der letzten Zeit hatte Berühmtheiten geschaffen, denen täglich die Zeitungen Weihrauch streuten und welche in der ganzen Stadt bekannt und gefeiert wurden. Hatte Rahel doch eben erst vor dem Hause gegenüber den Einspänner eines Arztes halten sehen, aus welchem ein kleiner Mann heraussprang, um irgend einem Patienten an den Puls zu fühlen: die Menge blieb achtungsvoll stehen; denn dieser kleine Mann war eine politische Großmacht, es war der Mann der »Vier Fragen«, von denen ganz Deutschland sprach; denn wovon sollte es damals sprechen? Und es gab zwischen dem oberen Haberberg und dem hinteren Tragheim nur wenige, die daran zweifelten, daß der Doktor das Rezept besitze, durch welches der preußische Staat von Grund aus kuriert werden könne. Und während derselbe noch oben bei irgend einem Fieberkranken verweilte, schritt über die Straße ein anderer Mann im rotgefütterten Mantel, mit blühenden Zügen, sieghaften Schrittes, etwas Pomphaftes in seinem ganzen Wesen: hatte er doch bei seinen Vorlesungen vor den zahlreichen, gebildeten Kreisen der Pregelstadt stürmischen Beifall geerntet. Ganz anders der dritte, jener dritte, den das Volk nicht minder achtungsvoll begrüßte, der mit jugendlichem Feuereifer gleiche Bahnen wandelte … der Doktor Wilbert. Es war eine Art Seelengemeinschaft, die sie mit ihm verknüpfte, ein geistiges Band. Sie lasen zusammen die neuen deutschen Dichter; sie lasen Dante und Shakespeare in der Ursprache; jede Schönheit der Dichtung, jeder große Gedanke erweckte in ihnen das gleiche Echo. Und so war es auch heute. Ernst Wilbert wurde herzlich von dem Mädchen begrüßt, das ihm entgegenflog, als er an die Tür klopfte, und bald saßen sie zusammen an dem runden, mit Büchern bedeckten Tische, auf welchen das Schneelicht durch die Fenster fiel. Und aufgeschlagen lag vor ihnen Dantes »Inferno«. Rahel war eine gute Italienerin und in Kenntnis dieser Sprache dem Freunde überlegen. Auch hatte sie viele Kommentare zu Dante gelesen, und fast konnte Doktor Ernst, der sich bisher wenig mit der divina commedia beschäftigt hatte, als ihr Schüler erscheinen. Er aber bewunderte in Dante den großen politischen Dichter, während die Pedanten der Gegenwart solcher Dichtung kein Recht einräumen wollten. Und sie lasen die liebliche Geschichte von Francesca da Rimini, jene zarteste Episode unter den Schrecknissen der Verdammnis: denn es mahnte sie wie Taubenflug der Dichtung, die sonst nur wie ein Geier mit zerfleischenden Krallen ihre Kreise zog.

Rahel legte das Buch beiseite; ihr Auge leuchtete auf; sie war tief ergriffen. Kam ihr eine Ahnung davon, daß hinter dem Gefühl freundschaftlicher Zuneigung sich noch ein wärmeres und tieferes verberge? Auch Ernst Wilbert sprach die unsterblichen Verse des Dichters wie träumerisch vor sich hin; er sah die anmutige Francesca mit des Geistes Augen – doch es war nicht Rahel, es war Cäcilie.

Eine Pause trat ein. Rahel glaubte, daß ihre Gedanken und Gefühle denen des Freundes in diesem Augenblicke begegneten, und doch waren sie einander nie mehr entfremdet. Endlich begann Ernst:

»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, liebe Freundin! Ich könnte Bände neuer Liebeslyrik durchlesen, ohne so ergriffen zu werden wie von diesen wunderbaren Versen. Und ich sehe ja, daß sie es Ihnen nicht weniger angetan. Mir aber rührten sie mächtig an der Seele, seitdem ich für dieselben ein bisher ungeahntes Verständnis gefunden.«

Rahel lauschte wie in ängstlicher Spannung vorgebeugt, aber seine Blicke ruhten nicht auf ihr, sie schweiften ins Weite; sie erschrak vor dem schwärmerischen Ausdruck derselben; denn sie erkannte zu klar, daß nicht ihr diese Schwärmerei gelte!

»Ich habe neulich meine Francesca gefunden.«

Rahel drückte die Hand aufs Herz.

»Die Tochter des Amtsrats Nortmann, ein reizendes Mädchen. Es war auf dem Ball im Junkernhof; ich sah nur sie in dem ganzen Schönheitsflor, in dem bunten Gedränge; ich war wie geblendet. Sie staunen gewiß, Rahel, über diese Torheit, die ich bekennen muß. Der Freundin muß man jede Schuld beichten! Und ist Liebe denn eine Schuld? Sie ist ein Verhängnis!«

»Ja, ein Verhängnis,« sagte Rahel leise für sich.

»Ich habe das Gefühl bisher nicht gekannt! Innige Freundschaft verband mich mit Ihnen.« Er drückte der Freundin die Hand. »Und sonst sind mir nur lustige bunte Schmetterlinge begegnet, die wohl in mir den flüchtigen Wunsch rege machten, sie einzufangen, aber es war nur die Laune eines Augenblicks. Sie gaukelten weiter und mein Auge wandte sich dem nächsten zu, der seine farbigen Schwingen regte.«

»Ach, wär's bei den bunten Schmetterlingen geblieben, auch wenn Sie einen oder den anderen eingefangen hätten.«

»Sie sind mit mir unzufrieden … ich bin es selbst! Die Liebe kommt über uns … immer dies eine Bild bei Tag und Nacht, beim Wachen und im Traum!«

»Und diese Cäcilie ist wohl eine sanfte Madonna?« fragte Rahel.

»Sie hat etwas lieblich Träumerisches, aber nichts Ätherisches. Sie ist nicht aus Duft gewoben, nicht eine zarte schlanke Lilie. Lebensvoll ist ihre Gestalt, ihr Wesen … nichts Blasses, Nervenkrankes. Und doch, ihre Züge sind vergeistigt und seelenvoll.«

»Ich werde mir wohl ein anderes Porträt verschaffen müssen,« sagte Rahel wehmütig lächelnd, »denn aus diesen Farbenklecksen des Entzückens kann kein faßliches Bild sich gestalten.«

»Solche Farben kommen aus dem Herzen, und die schüchternen Umrisse des Zeichners finden eine unsichere Hand, wenn sie vor Erregung zittert. Sie sind meine Freundin – Sie mögen dies Bild mit meinen Augen sehen.«

»Ich werde mir Mühe geben,« sagte Rahel. Sie stand auf und trat ans Fenster.

Ein grauer Himmel lag über den Dächern, farblos, eintönig. Der Sturm peitschte Schneeflocken vor sich her, die raschen Straßenwanderer schienen zu flüchten wie vor einem drohenden Unwetter. Ach, das waren nicht die Windwirbel, von denen Paolo und Francesca in Dantes Hölle umgetrieben wurden! Diese waren kälter, viel kälter und schauerten ins Herz. Was da von den Wolken herniederrieselte, es war die unsägliche Langeweile, die Hoffnungslosigkeit, die keinen Stern am Himmel mehr fand. Bald häuften sich ringsum Wälle von Schnee, und nichts blieb als die Einsamkeit eines Kerkers.

Ernst verstand die Empfindungen seiner Freundin nicht; er erschrak fast, als Rahel sich umwandte, starre Kälte in ihren Mienen, und in fast schneidendem Tone zu ihm sagte:

»So sind sie alle, diese Männer, auch die geistreichen! Ein harmloses Naturspiel, ein geschickt gemodelter Erdenkloß verdreht ihnen die Köpfe und sie wissen ja kaum, ob diesem Golem der göttliche Odem eingehaucht ist, oder ob er nichts ist als ein wandelndes Lehmgebilde! Fragt ihr nach Herz und Geist? Kann man das den Schöpfungswundern an den Augen absehen? Und doch diese Verzückung!«

Ernst war betroffen über den fast feindseligen Ausdruck dieser Worte, doch er faßte sich rasch. »So sind sie alle, diese Frauen, auch die geistreichen!« sagte er in einer Art von Gegenstrophe. »Sie vertragen durchaus nicht, daß in ihrer Gegenwart eine andere gelobt und verherrlicht wird. Ist dadurch das Band unserer Freundschaft gebrochen? Sind Sie meinem Herzen ein Fremdling geworden? Bleibt Ihr Geist nicht dem meinen wahlverwandt?«

Rahel schwieg eine Zeitlang, dann fragte sie hastig: »Und der Vater, der Amtsrat Nortmann? Ist es nicht der eigensinnige Herr, der in den Provinzialständen gegen die Verfassung und die Rechte des Volkes eifert?«

»Gewiß, er ist ein heftiger Gegner der ostpreußischen Liberalen.«

»Nun, da wird ja auch Cäcilie Nortmann eine heftige Gegnerin derselben sein. Ich glaube an die Liebe nicht, die nicht im Boden gleicher Gesinnung wurzelt! Und hat sie Ihnen denn irgend einen Beweis ihrer Zuneigung gegeben? Liebe ohne Gegenliebe hat nur kurzen Atem!«

Ernst wurde nachdenklich; sollte er an Cäciliens Liebe zweifeln? »Liebe ist der Gegenliebe sicher,« versetzte er.

»O, wenn es wäre!« rief Rahel mit leidenschaftlicher Wärme. Dann aber fügte sie schwermütig hinzu: »Doch es ist ja nicht so und Sie glauben ja selbst nicht an das törichte Wort, an welches Sie sich klammern. O, es gibt eine unglückliche Liebe … und nicht bloß in Romankapiteln. Doch wenn auch das Mädchen Ihnen seine Neigung schenkte, würden Sie je die Zustimmung des Vaters erhalten? Gewiß nur um einen Preis … wenn Sie Ihre Gesinnung mitverkaufen, Ihre Farbe wechseln. Wozu ist die Liebe nicht fähig?«

»Rahel,« sagte Ernst vorwurfsvoll.

»Für ein solches Gesichtchen kann man schon eine Zukunft und einen guten Namen zum Hochzeitsgeschenk geben.«

Ernst sagte nach kurzem Schweigen: »Nun, so wollen wir das nächste Mal in den nächsten Trichter der Danteschen Hölle hinabsteigen, wo auf die Zornmütigen der ewige Hagel niederschmettert und das Geheul des Cerberus ihnen in die Ohren kläfft. Wir aber wollen nimmer die Bahnen dieser verlorenen Leute wandern, sondern in Freundschaft scheiden und ohne Groll.«

Er reichte ihr die Hand zum Abschied; sie folgte dem Scheidenden mit einem wehmütigen Blicke. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als sie nachsinnend dasaß, das Haupt auf die Hand gestützt und eine Träne im Auge. Rahel war keine empfindsame Natur; sie hatte oft genug Kraft und Seelengröße gezeigt, wo andere sich hilflos dem Schmerze hingaben; aber diesmal war eine unerklärliche Angst, ein grenzenloses Weh über sie gekommen. Sie hatte das Gefühl eines unabwendbaren Verlustes, und durch das Gefühl erst wurde sie daran gemahnt, einen Blick in ihr Inneres zu tun, und da sah sie auf einmal, wie eine Leidenschaft sich groß aufrichtete, die bisher tief im Schatten lag, und kaum hatte sie erkannt, wo das ersehnte Glück zu finden, da flüchtete es von ihr, wie von einem bösen Dämon fortgescheucht.

Sie hatte Ernst Wilbert bei einem Kommerzienrat kennen gelernt, einem entfernten Verwandten, der die Berühmtheiten des Tages an seiner Mittagstafel versammelte. Salomon Schwartz war, abgesehen von allem, was den mosaischen Glauben betraf, ein Freigeist ersten Ranges und überdies ein witziger Kopf. Heinrich Heine war sein Ideal, und er bedauerte aufrichtig, daß es in Königsberg keinen Heine gab. Schwartz war kein Politiker von Fach und sein Witz verschonte auch die belorbeerten Königsberger Größen nicht, die seine Gäste waren. Er meinte, mit den »Vier Fragen« locke man keinen Hund aus dem Ofen; er wisse ganz andere Dinge zu fragen.

Um seine Tafelrunde anziehend zu machen und zu erhalten, hatte er stets einige junge Damen eingeladen, welche Geist und Schönheit vereinigten, beides allerdings in dem eigenartigen orientalischen Kolorit. Rahel Michal war eine gefeierte Schönheit des Königsberger Ghettos in des Wortes verwegenster Bedeutung, in welcher derselbe bis hinauf in die Salons der Geheimen Kommerzienräte reicht. Wenn der Tabor und der Libanon Sitz der Musen gewesen wären, man hätte glauben können, sie sei von einem dieser Berge herabgestiegen zu den Sterblichen; von so durchgeistigter Schönheit war ihr Gesichtsausdruck und ihr ganzes Wesen. Eine Muse fürwahr, doch zugleich eine Rose von Saron, blühend und glühend. Der junge Doktor, der zweimal ihr Tischnachbar gewesen, sah in ihr nur die Muse, aber er begeisterte sich für diese, und es währte nicht lange, so hatte er das Recht erworben, sie zu besuchen, zu sinnvollen Gesprächen, zu gemeinsamen Studien. Es war, als wäre ein Schleier geworfen über das schöne Weib, ein Sternenschleier, und er sah nur die Himmelskugel, welche diese Urania in der Hand trug, und nicht die zarte Hand und die schöne Göttin, der sie gehörte.

Der Geist der Frauen ist eine starke Waffe für ihre Siege, aber er kann auch übermächtig sein und diese Siege gefährden; die Schönheit entschwindet in dem blendenden Lichte, das er über sie ergießt. Das Orakel ist geschlechtslos, und wer denkt an das Weib, wenn er die Stimme der Priesterin von Delphi hört?

So kamen sie oft zusammen und nie wurde ein Wort von Liebe gesprochen. Ernst empfand wohl die Anziehungskraft ihres Wesens; er bewegte sich mit einem Gefühl stillen Glückes in ihrem Zauberkreise, aber es war nur die geistige Harmonie, die ihn beglückte. Er war nicht blind für den Adel ihrer Züge, das Feuer ihres Auges, den Reiz ihrer schlanken und vollen Gestalt; aber er sah dies alles mit den Augen eines Bruders, der sich an der Schönheit einer Schwester erfreut. Oder sah er in diesem Mädchen eine Fremde, die ihm nie angehören durfte, und trat er ihr deshalb nicht mit kühneren Wünschen entgegen? Lag doch zwischen ihnen eine damals schwer auszufüllende Kluft. Dem Glauben der Väter wollte Rahel treu bleiben, nicht aus Pietät und Familiensinn, nicht aus Überzeugung von der ausschließlichen Herrlichkeit Jehovas und seines Volkes, sondern weil sie nicht ein Bekenntnis ablegen konnte, welches die wunderbaren Geheimnisse des christlichen Glaubens anerkannte, denen sie fremd und zweifelnd gegenüberstand, weil sie nicht, wie sie selbst oft sagte, die Erbschaft der Inquisition und aller mittelalterlichen Greuel antreten wollte. Auch sie hatte es sich selbst nicht eingestanden, daß sie den gleichgesinnten Freund liebte; aber alle ihre Pulse schlugen glühender in seiner Nähe. Nicht bloß ihren Geist, ihr Herz traf das zündende Wort, dessen er so mächtig war; sie konnte nichts anderes sehen als ihn, nichts anderes denken und fühlen als ihn. Und das mußte so bleiben; er kam ja stets zu ihr, er konnte ihr nicht verloren gehen.

Und nun … es war doch anders gekommen; er hatte sein Herz, seine Neigung einer anderen geschenkt, mit jener Plötzlichkeit, so ohne Wahl, Willen und Prüfung, wie es echter Leidenschaft eigen ist. Nicht wegen seiner Untreue konnte sie ihn verklagen, denn er hatte kein Wort gegeben und keines gebrochen; und doch kam es ihr vor wie ein grenzenloser Treubruch, wie ein Verrat an den schönsten Stunden ihres Lebens, daß er sich so von ihnen abwenden konnte. Ja, sie liebte ihn, und wenn sie noch daran zweifelte – an der glühenden Eifersucht mußte sie es erkennen, von der sie jetzt erfaßt war.

Tante Sarah trat in das Zimmer. Das alte kränkliche Fräulein mit den scharfen Zügen erschrak fast, als sie Rahel so bleich, so gebrochen dasitzen sah. »Was ist dir geschehen, mein Kind, du bist ja so starr wie eine Salzsäule?«

Rahel saß noch einen Augenblick regungslos; dann blickte sie auf, erkannte die alte Sarah, erhob sich leidenschaftlich und sank ihr ans Herz. »Er liebt eine andere,« rief sie schluchzend aus.

Und obschon sie Sarah nie von ihrer Liebe gesprochen, so verstand diese sie doch augenblicklich.

»Das sah ich längst voraus! Diese Christen halten nicht stand bei uns, wenn sie einmal zu uns hernieder gestiegen, wie sie meinen. Sie haben ein demütigendes Gefühl, wenn sie einer Jüdin ihr Herz schenken. Und solch eine Perle, solch ein Juwel … es ist ja viel zu gut für sie.«

»Ich bin unglücklich, Sarah … es ist ja weiter nichts! Es ist ja meine Sache. Ich muß jetzt sagen … sonst quält es mein Herz zur Verzweiflung … ich habe ihn geliebt, ich liebe ihn noch und kann nicht von ihm lassen.«

Sarah suchte mit tröstlichem Zuspruch und Eau de Cologne diese Aufregung zu bemeistern. Sie wußte sich keinen anderen Rat, als des Mädchens Stirn und Schläfe mit dem Kölnischen Wasser zu betupfen und ihr gleichzeitig von ihrer Nichte Esther zu erzählen, welche einen ähnlichen Sturm der Aufregung durchgemacht, der ihr das Herz zu brechen drohte, dann sich getröstet habe und jetzt glückliche Mutter von fünf blühenden Kindern sei. »Es ist recht schön, wenn der Rechte kommt,« sagte sie, mit dem Kopfe nickend; »doch der Unrechte tut's auch.«

*

Der alte Nortmann auf Wieselau feierte seinen Geburtstag. Es war in der Regel ein fröstelnder, verschneiter Wintertag, auf den das Familienfest fiel. Frau Nortmann schlummerte seit längerer Zeit dicht an der Kirche von Wieselau und hatte mit den Sorgen und Freuden dieses Festes nichts mehr zu tun. Die Sorgen hatte die Wirtschafterin Martha übernommen und die Freuden genoß Nortmann mit schmunzelndem Behagen; er wurde ja an diesem Tage gefeiert, und das tat ihm überaus wohl; denn es entsprach einem tiefgefühlten Bedürfnis seiner Natur. Sonnenschein lag schon am frühen Morgen auf seinen Zügen, und die Knechte und Instleute zitterten einmal ausnahmsweise nicht vor seiner »Gerechtigkeit«, welche keinen Schuldigen unbestraft ließ. Es würde im Hause der tiefste Frieden gewaltet haben, wenn nicht die Meinungsverschiedenheiten zwischen der alten Wirtschafterin und dem jungen Verwalter diesen Frieden gestört hätten. Der letztere, eine Kraftgestalt, wie eine jener Eichen, die einst im Hain von Romowe dem Perkunus gerauscht hatten, glaubte bei dieser feierlichen Gelegenheit seine Machtsphäre bis in die inneren Gemächer des Hauses ausdehnen zu dürfen, die er mit Tannen- und Fichtenreisig festlich schmücken wollte. Doch Martha wollte diesen Schmuck nur auf die Treppe und den Flur beschränkt sehen, weil sie fürchtete, daß die Dielen sich sonst in einen schwer zu säubernden Waldboden verwandeln würden.

»Traut'ster,« sagte sie, »die Marjellen haben Arbeit genug; bleiben Sie nur draußen mit Ihrem Wald von Dunsinan oder wie das Grünzeug heißt, das ich einmal in Königsberg in dem Stück gesehen, wo die Dame im Nachtkleid herumläuft und sich ohne Wasser und Seife die Hände wäscht.«

»Traut'ste,« versetzte Valdenius mit überlegenem Hohn, »ich habe das Stück mit Ihnen zusammen gesehen, zweiter Rang, Loge Nummer fünf, und es gehört zu meinen seligsten Erinnerungen, wie Sie mir mit Ihrer Riesendormeuse die Aussicht auf die Bühne verbauten, so daß die nachtwandelnde Lady oft ganz dahinter verschwand. Der Wald von Dunsinan kam doch ins Schloß … besinnen Sie sich nur, Frau Martha!«

Frau Martha war im Begriff zu erwidern, als sie bemerkte, wie langsam die Anna die Treppe herunterkam, um dem Herrn die vergessene Sahne zum Kaffee zu bringen. »Rasch, rasch, du Wetterkröte! Der Herr wartet auf den Schmand, der Kaffee wird ihm ja kalt! Doch da kommt das Fräulein; das mag entscheiden, wer von uns recht hat.«

Cäcilie kam mit frisch gerötetem Gesicht, das ein Pelzhäubchen mit Klappen zierlich umrahmte, aus dem parkähnlichen Garten vom Morgenspaziergang; sie kam, um dem Vater Glück zu wünschen. Herr Nortmann pflegte an Feiertagen auszuschlafen und durfte dann nicht früh geweckt werden; sein Geburtstag aber war ihm der größte Feiertag im Jahre. Cäcilie war über die Schneewege gewandelt, vorbei an den schneebedeckten Fichten und Tannen bis zu dem Gartenhäuschen am anderen Ende des Parkes. Dort hatte sie träumerisch eine Zeitlang durch das Fenster geblickt, das nach dem Galtgarben hinausging, der mit seinem Gürtel von weißgepuderten Wäldern sich stattlich erhob als Samlands einziger Bergriese. Bei den Studentenfesten dort hatte ja Wilbert bisweilen die Festrede gehalten, das hatte sie in den Blättern gelesen. Seitdem sie die Bekanntschaft des jungen Mannes gemacht, hatte sie alle Jahrgänge der Königsberger Zeitung durchgeblättert, um seinen Namen zu finden … und wie oft war ihr dies geglückt!

An die Streitigkeiten zwischen der Haushälterin und dem Verwalter war sie seit langer Zeit gewöhnt. Die alte Martha war indes ihre beste Freundin und auch zu dem Hünen Valdenius sah sie ohne Feindseligkeit empor. Hatte er sich doch aus seiner lässigen Stellung jetzt senkrecht aufgerichtet wie ein Gardeflügelmann und blitzte sie mit seinen Augen so freundlich siegesgewiß an, sicher, daß die liebliche Gebieterin zu seinen Gunsten entscheiden werde. Es lag etwas wie Bewunderung und Huldigung in seinem Wesen, wenn er der jungen Tochter des Hauses gegenüberstand. Cäcilie suchte beide streitenden Parteien durch ihren Richterspruch zu versöhnen. Sie entschied, daß die eine Schmalseite des großen Saales, doch nur diese, solchen grünen Schmuck erhalten solle; in der Mitte derselben sollte sich ja auf einem Postament eine Büste Friedrich Wilhelms IV. erheben, das Geschenk einiger Freunde Nortmanns, und Herr Valdenius sollte gemeinsam mit dem Gärtner dafür sorgen, daß sich dieselbe von einem geschmackvollen grünen Hintergrund abhebe.

Der Verwalter gab sich mit diesem Urteilsspruch zufrieden und ging bald an's Werk, sicher, nicht gestört zu werden. Denn Nortmann verließ den ganzen Vormittag sein Zimmer nicht, studierte in aller Stille das Hauptbuch seines Lebens durch, besonders den letzten Jahrgang, und empfing die Glückwünschenden, den Dorfschulzen, den Krüger, die Abgeordneten der Instleute, den Pfarrer und den Schullehrer, im vornehmen Schlafrock, mit lächelnder Herablassung.

Sehr zärtlich war er heute gegen seine Tochter; sie war ja ein liebliches, herzgewinnendes Wesen in ihrer Jugendfrische; er sprach orakelhaft dunkel von einer freudigen Überraschung, die vielleicht ihnen beiden bevorstehe. Mit fragenden Blicken sah Cäcilie zu ihm empor, sie erschrak vor dieser Ankündigung; o, alles, was ihr selbst jetzt Freude machen könnte, würde den Vater nur erbittern. In trüber Stimmung besorgte sie alle häuslichen Anordnungen; für sie lag kein Sonnenschein über dem häuslichen Festtage.

Mittags klingelten die Schlitten von allen Seiten heran; Nortmann hatte einen blauen Frack angezogen und empfing seine Gäste mit weißer Halsbinde. Er legte viel Gewicht auf das Äußere; je feierlicher, desto mehr wurde sein Geburtstag und er selbst verherrlicht. Doch nur ein Teil der Gäste, darunter der Landrat des Kreises, der sogar seinen Orden angelegt hatte, kam den Wünschen des Gutsherrn entgegen. Da gab es andere, die in ihrer Bequemlichkeit nicht gestört sein wollten. Der Matrenka von Gilgumischken erschien im winterlichen Flausch; der Woltereit von Neuhof, ein frommer Herr, hatte einen langen, fast geistlichen Überrock; ein paar ältere Herren mit soldatischem Schnurrbart erschienen mit peinlich zugeknöpften Röcken, welche die ehemaligen Offiziere nicht verleugneten. Auch Herr von Grehlen fehlte nicht, er hielt sich mehr im Hintergrunde; denn er wollte den schönen Festtag nicht durch politische Streitigkeiten entweihen. Die meisten Gutsbesitzer hatten ihre Damen mitgebracht, die in Kasaweikas und Pelzjacken von verschiedenartigstem Schnitt erschienen und durch prächtigen Schmuck von Brillanten, Bernstein und Korallen miteinander wetteiferten.

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Auf Anordnung einiger Herren wurde die Büste König Friedrich Wilhelms IV. jetzt hereingebracht und auf das Postament gestellt. Der Landrat übergab dem Gefeierten mit einer kurzen weihevollen Ansprache das Geschenk der gleichgesinnten Freunde, und Nortmann dankte in einer längeren Rede. Er sprach mit Bewunderung von dem geistreichen König, dem sein Volk zujauchze; er hob hervor, wie stümperhaft seine, Nortmanns, Redeversuche und diejenigen vieler tausend anderer seien gegenüber dem voll einherflutenden Strom der Beredsamkeit, über welche der König zu verfügen habe. Er bedauerte, daß der geliebte Fürst und Herr so erhitzte Gegner gefunden; doch mächtig ständen ihm die Getreuen zur Seite; und solche Treue habe ja der König selbst in ihren Übertreibungen noch schön und herzerhebend genannt! Wozu brauche Preußen eine Verfassung? Das Genie des Herrschers sei die beste Verfassung! Und dann brachte er ein Hoch auf den König aus, in welches die Anwesenden begeistert einstimmten.

Da sauste ein Viergespann in den Hof mit stürmischem Schellengeläute und übermütigem Peitschenknall. Es fehlte ja noch ein wichtiger Gast, den Nortmann bisher mit Schmerzen vermißt hatte. Paul Herter war soeben angekommen, und als der baumlange, schlenkerichte Mensch mit den verloschenen Zügen in den Saal getreten, wurde er von allen Seiten aufs freundlichste, ja selbst mit einer gewissen Devotion begrüßt. Der Matrenka und der Woltereit wußten ja, daß ihre beiden Rittergüter zusammengenommen und mit zwanzig multipliziert erst den Kapitalwert erreichten, den der schöne Paul vertrat – und hoch an der Spitze von hundert derartigen Rechenexempeln thronte unerreichbar der junge Millionär. Jetzt war des Festes Hauptperson endlich erschienen und man konnte zu Tisch gehen. Es war schnöde Absicht des Vaters, daß Paul Herter der Nachbar seiner Tochter wurde. Der junge Mann war im Grunde nicht sehr unterhaltend, er hielt es für überflüssig, sich anzustrengen; man kannte ihn ja, und er imponierte auch, wenn er sich in erhabenes Schweigen hüllte. Heute aber trug er auch eine Liebenswürdigkeit zur Schau, die nach seiner Ansicht des Sieges gewiß sein mußte, wenn sie auch nicht von Millionen vergoldet wäre. Er hatte für Cäcilie einen prächtigen Riesenstrauß aus den seltensten Treibhausblüten mitgebracht, welchen sein Bedienter vor sie auf den Tisch setzen mußte, in einer unschätzbaren Vase, die er nebenbei mit zum Geschenk machte. Cäcilie nahm diese seltene Auszeichnung, die sie nicht ablehnen konnte, ohne Aufsehen zu erregen, mit mißvergnügtem Danke hin. Er begann nun von seinen Gütern und Schlössern zu erzählen, von seinen Pferden und Wagen, die hier oder dort in Stall und Remise standen, von seinem Porzellan, seinem Gold- und Silberzeug, von seiner Gemäldegalerie, von Schloß Frobitten; der gute Wein Nortmanns regte ihn an, er wurde immer gesprächiger und liebenswürdiger. Allmählich begann er seiner Nachbarin, für die er in der Tat eine leidenschaftliche Neigung empfand, Geständnisse zu machen, halb verhüllte, aber doch durchsichtige Bekenntnisse, welche Cäcilie, wenn auch tief errötend, zu überhören suchte. Kam ihr doch dabei der andere Nachbar zur Hilfe, der Mann im Flausrock, der Matrenka von Gilgumischken, ein formloser Biedermann, der sein Vollmondgesicht ihr freundlich zuwandte und sie ins Gespräch zu ziehen suchte, unbekümmert darum, ob bereits von der anderen Seite auf sie eingesprochen wurde. Und er erkundigte sich lebhaft nach dem Viehbestand von Wieselau und wie viele Hufen Wald das Gut habe, und Cäcilie war sehr beeifert, darauf zu antworten, und konnte ihm auch Rede stehen zu seiner Freude.

»Sie sind eine trauteste Marjell,« sagte er, »recht dazu geschaffen, um einem Landmann das Leben angenehm zu machen.«

Eine größere Schmeichelei konnte ihr auch der Nachbar zur Rechten nicht sagen, der mit Verwunderung hörte, wie die Pferde, Ochsen und Schafe durch das Gehege der Lippen des trautesten Mädchens passierten, und dabei der Ton ihrer Stimme so melodisch blieb, als trüge sie ein Schillersches Gedicht vor. Nachdem man durch eine Reihe von Toasten, die zuletzt immer begeisterter und ungrammatischer wurden, durch Rheinwein und Champagner bis zu den Knackmandeln vorgedrungen war, da hielt Paul Herter die Zeit für gekommen, das entscheidende Wort zu sprechen, und während er mit Cäcilie anstieß, bei einem Hoch, das Hauptmann Blaßweiler, ein sehr galanter Herr, auf die Schönheit von Wieselau ausgebracht, zum großen Aerger der eigenen Frau, welche ihm gegenübersaß, die niedrige Stirn faltete und das Mopsnäschen rümpfte, erklärte er ihr seine Liebe und richtete die Frage an sie, ob sie seine Frau werden wolle? Sie war überrascht, doch sie faßte sich schnell und meinte, es könne dies wohl nur sein Scherz sein, denn zwischen Knackmandeln und Schokoladeneis könne man doch nicht solche Lebensfragen entscheiden. Als er indes darauf bestand und seinen Antrag nachdrücklich wiederholte, da wurde sie ernst und meinte, daß dieser Antrag sie zwar ehre, daß sie aber jetzt sich nicht erklären könne.

Die Stühle wurden gerückt und es begann jene Gemütsseligkeit, mit welcher sich die Tischgäste nach reichlicher Mahlzeit zu begrüßen pflegen. Aller Haß ist ausgelöscht, es herrscht die brüderlichste Gesinnung. Kaffee und Zigarren hielten diese Stimmung wach; die Damen hatten sich in einige schonungsbedürftige Gemächer zurückgezogen, geschmackvoll eingerichtete Salons, in denen Cäcilie als Herrin waltete. Das Gespräch nahm bald einen »ewig weiblichen« Charakter an; Verlobungen, kranke Kinder spielten die Hauptrolle, und daß die wehleidigen Affekte durch zornmutige Regungen abgelöst wurden, dafür sorgten die Dienstboten, die jetzt an die Reihe kamen. Inzwischen hatte sich Herr Herter, seine Kaffeetasse in der Hand, zu Nortmann flüsternd hinabgeneigt und ihm mitgeteilt, daß er Cäcilie seine Liebe bekannt habe. Über Nortmanns Züge flog ein lichter Freudenschein; es war das schönste Geburtstagsgeschenk, das ihm gemacht werden konnte. Er vermochte seiner Aufregung nicht Herr zu werden; zerstreut setzte er sich an den Lhombretisch; denn das unvermeidliche Lhombre, ohne das sich ein ostpreußisches Wintervergnügen so wenig denken läßt wie ohne eine Schlittenpartie, wurde in Gang gebracht. Nortmann, ein anerkannter Lhombrespieler, war so gedankenlos, daß er mehrmals Codille machte. Er ließ den Woltereit an seine Stelle treten, um, wie er sagte, etwas Luft zu schöpfen; doch es ließ ihm keine Ruhe, bis er Cäcilie gesprochen. Durch Martha ließ er sie aus dem Damensalon herausrufen und empfing sie in seinem Arbeitsgemach.

»Cäcilie,« sagte er, »du könntest diesen meinen Geburtstag zu dem schönsten Tage meines Lebens machen. Herter hat um deine Hand angehalten; ich brauche dir nicht erst zu sagen, daß dies ein seltener Glücksfall für dich und unser Haus ist. Gieb ihm deine Zustimmung, und wir könnten noch heute abend vor allen Gästen deine Verlobung verkünden.«

Das Mädchen erblaßte. Sie drückte die Hand aufs Herz, doch sprach sie mit aller Festigkeit, die sie zu gewinnen und zu behaupten wußte: »Es tut mir herzlich leid, daß ich am heutigen Tage dir eine Freude vereiteln muß, doch ich kann nicht anders. Niemals würde ich mich so rasch entscheiden, auch wenn ich dem Brautwerber mein volles Herz entgegenbrächte; doch dies ist nicht der Fall; ich liebe Paul Herter nicht und ich zweifle, daß ich ihn je werde lieben lernen. Gib mir vor allem Bedenkzeit zu prüfen und zu erwägen, doch so plötzlichem Überfall kann ich mich nicht blindlings ergeben. Eine Verlobung am heutigen Tage, lieber Vater, ist eine Unmöglichkeit.«

Nortmann wußte sich kaum zu fassen; er begann zu stottern, was ihm nur in Momenten höchster Aufregung begegnete.

»Es ist nicht schön von dir, gerade am heutigen Tage … und warum zögern? Frische Fische, gute Fische! Ein besserer läuft dir nie ins Netz! Paul Herter … man denke! Ich will mich indes gedulden. Mein Geburtstag wird aschgrau ohne dies Freudenfeuer … doch du bist vielleicht zu bescheiden, um so plötzlich dein Glück an die große Glocke zu hängen.« Die erzwungene Langmut des Vaters Nortmann hielt nur kurze Zeit Stich; ihm fiel eine sehr verfängliche Wendung in den ablehnenden Worten seiner Tochter auf. »Doch halt … ich besinne mich … du sprachst auch so etwas Romanhaftes, du würdest Paul Herter nie lieben lernen. Dergleichen muß ich mir verbitten. Du hast schon viel gelernt, Dank meiner guten Erziehung, und das wirst du auch lernen … das ist sozusagen der Schlußstein.«

Und er wandte sich ab von der Tochter und schritt zur Tür hinaus. Sie sah ihm nach mit Tränen in den Augen; dunkel lag die Zukunft vor ihr; doch der Überlegung bedurfte sie nicht; sie war fest entschlossen, einem ungeliebten Manne nie ihre Hand zu reichen.

Nortmann hatte wieder seinen Platz eingenommen; er war nicht zerstreut wie vorher, aber er war ärgerlich, bisweilen ganz ingrimmig, wenn sein Partner eine nach seiner Ansicht falsche Karte ausgespielt und dem Gegner zum Gewinn verholfen hatte; man zuckte die Achseln über seine Heftigkeit, doch man hielt dem Geburtstagskinde einiges zugute. Endlich fand man ein Ende; es begann das letzte Kesseltreiben, und die Goldfüchse wurden aufgejagt aus den gestickten Weihnachtsbeuteln und lagen auf den Tischen, beim Halali der Gewinner.

Die Debatte beim Abendessen war eine sehr lebhafte; die merkwürdigen Grands, Soli und Nulls mußten wieder Revue passieren und wurden mit der Kritik der reinen Vernunft beleuchtet; dazwischen wurden auch politische Mißtöne laut; denn an der scharfen Ecke, an der Herr von Grehlen saß, hatte sich eine kleine Zahl von Mißvergnügten gesammelt. Nach der Tafel wagte Herter eine Frage an den liebenswürdigen Gastgeber, die mit der Bitte um Geduld beantwortet wurde. Dann ging's zum Aufbruch. Durch den Hof ertönten die Kommandorufe; alles fluchte, schimpfte, klingelte durcheinander; die Kutscher waren gut bewirtet worden und in herausfordernder Stimmung; sie knallten mit den Peitschen aus bloßem Übermut. Endlich fuhren die Schlitten vor; die bepelzte Gesellschaft drängte sich am Hausportal; Händeschütteln, laute Abschiedsrufe … und dann ging's in die sternenhelle Winternacht hinaus.

Paul Herter fuhr nur bis zur nächsten Ortschaft, wo er Nachtquartier nahm. Er wollte erst auf einem größeren Umweg nach Hause und zunächst noch ein Försterhaus in den Waldungen besuchen, die sich nach dem Strande zu hinzogen. Das Hotel des kleinen Marktfleckens hatte kaum Platz für sein Viergespann. Am nächsten Morgen fuhr er weiter durch ein unbehagliches Stöberwetter, das anfangs ein bewegliches Schneenetz über die Landschaft breitete, dann aber, als ein kräftiger Oststurm sich erhoben hatte, mit seinen Wirbeln die Gesichter peitschte, den Blick verwirrte und durch Anhäufungen auf der Landstraße die Schlittenfahrt sehr unbequem machte. In dem hin und her geschleuderten Schlitten saß Paul in verdrossener Stimmung; der Zweck seiner Fahrt machte ihm Sorge. Er hatte sich schwer dazu entschlossen; doch es mußte sein; jetzt, wo er um die Hand eines reizenden vornehmen Mädchens angehalten, mußte alles zum Schweigen gebracht werden, was feindlich dazwischentreten konnte. Und er kannte ein hübsches Kind, das rebellisch und rachsüchtig genug war zu solcher Brandstiftung. Da galt es zu beschwichtigen … und er besaß ja die Mittel dazu.

Durch einen im Sturm knirschenden und sich schüttelnden Wald, welcher in wehende Schneewolken gehüllt war, erreichte er in dem über Schneehügel auf und nieder tanzenden Schlitten endlich die Försterei; zwei Kettenhunde wurden durch die schnaubenden Pferde aufgescheucht und der alte Förster trat aus der Haustür, deren geöffneter Flügel mühsam den Schnee beiseite schob. Er grüßte ehrfurchtsvoll den jungen Herrn, der aus dem Schlitten sprang und durch den Schnee des Vorgartens bis zu ihm hindurchwatete.

»Und Käthe …?« fragte Paul.

Der Förster zuckte mit den Achseln und bat Herter ins Zimmer, der ihm nicht ohne Aufgeregtheit folgte; die Frau Försterin lag am Fieber krank im oberen Stockwerk.

»Sie ist nicht hier, die wilde Käthe? Nun, wo ist sie denn in aller Welt? Weshalb ließen Sie das Mädchen fort? Wie konnte sie den Platz verlassen, den ich ihr angewiesen?«

»Gnädiger Herr,« sagte der Förster, »es kam ein rechter Vetter von ihr, der sich bisher wenig um sie gekümmert hatte; doch sie hatte schon früher öfters seinen Namen genannt; er sprach zu mir im Namen der Familie, Käthe dürfe nicht länger hier bleiben, im Schutz, mit der Unterstützung eines Mannes, den sie …«

Der Förster zögerte.

»Weiter, Spangler, weiter …«

»Den sie zu verachten ein Recht habe.«

Nun fuhr Paul doch auf in heftigem Zorn: »Wer ist der Unverschämte, der es wagte …«

»Ein sehr verwogen aussehender Herr, ein Doktor Martin.«

»Also doch Verwandte,« sagte Herter ärgerlich; »ich glaubte, nach dem Tode ihres Vaters, der ja hier im Bad in Neukuhren starb, stehe das Mädchen ganz allein in der Welt. Der alte Musiklehrer hat nie von Verwandten gesprochen, und sie selbst wollte sich, nach dem unglücklichen Zwischenfall, ja ganz in der Einsamkeit vergraben. Da brachte ich sie zu Ihnen, Spangler! Sie waren ja lange in meinen Diensten und Ihrer Treue konnte ich gewiß sein. Doch ich wollte sie hier nicht ewig im Wald einsargen; ich wollte sie zur Sängerin ausbilden lassen. Das Mädchen hat Talent zur Primadonna; es hat den Teufel im Leibe. Wie war sie denn hier in letzter Zeit?«

»O, sie konnte weinen, daß es einem zu Herzen ging, aber auch lachen wie eine Unsinnige. Hier der graue Nero war ihr bester Freund; er folgte ihr oft in den Wald hinaus. Dann war's ihr aber auch wieder eine Lust, die anderen Hunde zu reizen und wütend zu machen. Und in ihr Gebell und Geheul hinein sang sie dann die tollsten Lieder. Und wenn sie schwermütig war, da sprach sie von ihrem Kinde so träumerisch vor sich hin und weinte und wollte immer nach Neukuhren, zum Grabe des Kleinen, und von dort hinaussehen auf die endlose frierende See, und sie meinte dann, es müsse sich recht gut schlafen unter den treibenden Schollen!«

»Das sind solche wilde Phantasien … Fieberträume … sie leidet daran! Doktor Martin … wer ist das in aller Welt?«

»Ein sehr gefährlicher Herr, halb Student, halb Vagabund, noch jung und kräftig; aber er führt Reden im Munde, die einen gruseln machen könnten, und ich rate Ihnen sehr, ihm möglichst aus dem Wege zu gehen.«

Herter zuckte die Achseln, aber die Nachricht war ihm sehr unwillkommen. Die vergebliche Fahrt, die Unsicherheit darüber, was die wilde Käthe im Werke führen könne, der neue widerwärtige Beschützer …

»Sie hätten das Mädchen nicht fortgehen lassen sollen … Und wohin ist sie gezogen?«

»Nach Königsberg, soviel ich weiß; der Doktor wollte ihr dort eine bescheidene Wohnung mieten, sie bei einer alten Tante unterbringen.«

»Ich werde sie aufsuchen lassen und zu finden wissen. Doktor Martin … ist er Arzt … Lehrer … Jurist?«

»Das weiß ich nicht; es ist überhaupt fraglich, ob er Doktor ist, und noch fraglicher, ob er Martin heißt.«

»Da hätten Sie doch näher hinhorchen müssen. Und wie, wenn er selbst Absichten auf das Mädchen hätte … nein, ich werde ihm schon in die Parade fahren. Zunächst empfangen Sie hier dies Geld für Ihre Bemühungen und plaudern Sie nicht.«

Der Förster war über die Goldstücke sehr beglückt, die ihm noch ungezählt in der Hand brannten; mit einem tiefen Bückling geleitete er seinen früheren Herrn wieder an den Schlitten. Es war ein unheimliches Wetter. Herter fuhr in den Schneesturm hinaus in höchst verdrossener Stimmung; der Wald schüttelte sich wie in Frostschauern; wie Leichentücher wallten die Schneewirbel hin und her; er glaubte im Ächzen der Windsbraut die Stimme der wilden Käthe zu hören. Durch das geknickte, knarrende Gezweig fuhr sie dahin im höhnischen Übermut; es war ein Gespenst, das seine Zukunft bedrohte. Kein Lichtblick durchs Gewölk; doch er sah mit des Geistes Augen Cäciliens sonniges Lächeln. Aber hatte sie jemals ihm zugelächelt? Und er hatte Millionen und stieß auf Zögerungen und Hindernisse! Er vergrub sich tief in seinen Pelz. Wurde das Gold nicht zum Hohn, wenn es ihm keine Macht über die Geister und Herzen gewährte? Ist man nur Millionär, um sich zu ärgern? Doch er wollte die Flüchtige wieder einfangen und die andere, die sich sträubte, ihm zu gehören, in seinen Bann zwingen. »Jedes Weib ist eine Danae,« sagte er sich mit einer Erinnerung an Direktor Gotthold und das reformierte Gymnasium, »nur muß der goldene Regen nicht sachte niedersickern, er muß ein gehöriger Platzregen sein.«

*

Rahel Michal hatte einen begeisterten Verehrer; er gehörte ihrem Glauben und auch den reichen Kreisen des Judentums an. Salo Roseck war ein tüchtiger Kaufmann; trotz seiner Jugend selbständiger Inhaber seiner Firma, stattlich von Gestalt und von nicht unschönen Gesichtszügen, welche die orientalische Herkunft nicht allzu stark betonten; sein Auge hatte Feuer, aber mehr das Feuer des Temperaments als das des Geistes; er war allen politischen Bestrebungen abhold und hatte geringe Meinung von der Philosophie: es war sein tiefster Schmerz, daß sich Rahel mit solchen Narreteien abgab. Sehr mißvergnügt war er über den Verkehr Rahels mit Doktor Wilbert, obschon er überzeugt war, daß es sich dabei nur um geistige Interessen handle – was sollte dem Mädchen der unmögliche junge Christ? Die Berichte seiner gutbezahlten Spione, zu denen auch Rahels Kammermädchen gehörte, konnten ihn nur in dieser Überzeugung bestärken. Über Zeit, Zahl und Dauer der Besuche war er aufs genaueste unterrichtet, auch von ihrer Unverfänglichkeit in Folge verschiedener Einbrüche, welche die Zofe unter allerlei Vorwänden in die Dantestunden unternahm. Gleichwohl sagte er sich oft, daß nichts so unberechenbar sei, wie das Weib mit seinem Herzen und seinen Sinnen: es war dies ein Grundsatz seiner Lebensweisheit, der einzigen Philosophie, die er anerkannte, und er hatte ihn aus eigenen Erfahrungen geschöpft.

Von einer kurzen Geschäftsreise nach Moskau zurückgekehrt, ersah er zu seiner Freude aus den Mitteilungen seiner Berichterstatterin, daß Wilberts Besuche bei Rahel viel seltener geworden waren. Er selbst zögerte nun nicht, ihr wieder seine Aufwartung zu machen. Er erschien in einem prächtigen Zobelpelz, den er von Moskau mitgebracht; er war seines Zeichens Pelzhändler.

Rahel empfing ihn freundlich wie immer; sie drängte dem Freunde nicht ihre Überzeugungen auf, vermied es sogar über die Fragen zu sprechen, die sie selbst beschäftigten, ihm aber keinen Anteil einflößten; sie erkundigte sich sogar nach dem Stande des Pelzmarktes und wurde von ihrem Besucher über die Preise der Hermelin- und Zobelpelze, des blauen Fuchses, der Fischotter und des Bibers mit lebendiger Gesprächigkeit unterrichtet.

Die Zofe trat ein und flüsterte der Herrin etwas ins Ohr.

»Geheimnisse …« sagte Salo mißtrauisch.

»Durchaus nicht – nur eine Auskunft! Ich hatte Erkundigungen eingezogen, in welchem Hotel Herr Nortmann abzusteigen pflegt.«

»Doch in aller Welt,« meinte Salo, »was interessiert es Sie denn, wo Herr Nortmann hier absteigt?«

»Kennen Sie Herrn Nortmann?« fragte Rahel.

»Gewiß, er ist ein ostpreußischer Grundbesitzer von altem gutem Schlag und Besitzer eines echten Fischotterpelzes, der ihm ganz repräsentierlich steht. Das kann man von vielen der ostpreußischen Stände nicht sagen. Manche behelfen sich mit sehr wohlfeiler und schlechter Ware und zusammengeflickten Erbstücken.«

Rahel mußte lächeln über den Wertmesser, den Freund Salo an die hochachtbaren Stände der Provinz anlegte; sie hoffte, nicht wieder eine pelzverbrämte Antwort zu erhalten, als sie die Frage an ihn richtete: »Kennen Sie seine Tochter?«

»Ich habe sie mehrmals gesehen … ein hübsches Mädchen!«

»Das ist wohl Geschmacksache, Freund Salo,« sagte Rahel erregt.

»Sie ist im Gegenteil nicht mein Geschmack,« versetzte Salo, »doch als unbefangener Beobachter muß ich bekennen, daß Fräulein Nortmann ein schönes Mädchen ist, natürlich ohne das Feuer unseres Stammes. Und dafür gilt sie auch allgemein.«

Mit heftigen Schritten ging Rahel im Zimmer auf und ab – Salo blickte mit Verwunderung auf das sonst so ruhige Mädchen, das seine Erregung nicht bemeistern konnte.

»Übrigens ist Fräulein Nortmann so gut wie verlobt, und zwar mit einem der reichsten Männer der Provinz.«

Über die Wirkung, welche diese Mitteilung auf Rahel machte, war Salo ganz erstaunt. Das Mädchen trat ihm mit leuchtenden Augen gegenüber; es lag auf einmal wie Sonnenschein auf ihren Zügen.

»Verlobt … und mit wem?«

»Mit dem jungen Herrn Herter, einem Manne, vor dessen Millionen sich die Christenheit bekreuzt und auch unsere Leute katzenbuckeln. Diese Perle wird also prächtig gefaßt werden. Doch ich begreife nicht, warum Sie dem Mädchen solche Teilnahme zuwenden? Wir werden doch nicht zur Hochzeit eingeladen, liebe Rahel.«

»Sie fragen, warum ich mich für das Mädchen interessiere? Wissen Sie denn nicht, daß wir eifersüchtig sind auf jede gepriesene Schönheit, mag sie einen Glauben bekennen, welchen sie will! Doch sehen wollen wir mit eigenen Augen, und ist's wirklich eine Victoria regia, eine seltene Prachtblüte, nun, da wird auch die Rose von Saron demütig ihr Köpfchen senken.«

»Das wird sie nicht, das soll sie nicht! Mir ist der Duft dieser Rose berauschender, als wenn ein ganzer Zaubergarten von Victoria regias auf einmal zugleich in Blüte stände. Glauben Sie mir, Rahel! Wie ich fühle, wissen Sie – möchten Sie mein Gefühl erwidern?«

»Ich danke Ihnen für Ihre warme Freundschaft und weiß sie zu schätzen,« versetzte Rahel ausweichend. Salo griff zum Hut; er hatte das Gefühl, daß bei Rahel etwas im Hintergrunde lauere, was mit dieser Cäcilie Nortmann im Zusammenhang stand; doch er konnte dies dunkle Etwas nicht entziffern.

Was stürmte jetzt alles auf Rahel ein! Als der Freund sie verlassen, saß sie lange wie in Träumen da; sie wollte sich Rechenschaft geben über ihr Empfinden; aber ihr klares Denken wurde von den Wallungen des Blutes getrübt, die Herz und Hirn ihr erregten. Das Gefühl einer leidenschaftlichen Hingebung ließ ihre Pulse höher schlagen. Und dem einzigen, den sie liebte, schlugen ihre Pulse mit so feurigem Schlage entgegen. Doch war es nicht bloß die blinde Naturgewalt, die in ihrem Banne sie festhielt: es war das Verständnis der Geister, das sie vereinte, der freie Blick ins Leben, der gleiche Mut, für die erkannte Überzeugung einzustehen, die gleiche Begeisterung für das Schöne. Das gab der Leidenschaft einen höheren Adel, das leitete den wilden Strom derselben in ein maßvolleres Bett. Und das alles sollte ihr verloren sein?

Er liebte eine andere! Wie sie dies Mädchen haßte! Nichts zu sein, als ein hübsches Kind, und damit Liebe und Leidenschaft zu erregen, zierlich gebildet von der haushälterischen Natur, um für einige Jahre ein Spielzeug süßer Empfindungen zu sein, bis die Natur selbst diese zierliche Bildung ihren anderen Zwecken und der langsam zehrenden Vergänglichkeit geopfert hat. Und dabei eine Christin, ein bevorzugtes Weib gegenüber der Jüdin, die überall im Schatten steht, die nicht mehr im Ghetto eingesperrt ist, aber das Ghetto mit sich spazieren führt, wo sie auch wandle; eine Christin, ein bequemes Weib, dem man bloß die Hand zu reichen braucht und den Segen zu bestellen an der nächsten Pfarrhaustür, während die Jüdin abseits stehen muß und der Weg zu ihr über Länder und Meere führt!

So war sie in die dunklen Irrgänge der Gedanken versunken, die sie seit Wilberts Geständnis bewegten, und hätte fast ganz das plötzlich aufleuchtende Licht vergessen, das soeben in diese Nacht gefallen war. Gott sei Dank, es gab ja ein Hindernis! Diese Christin liebte ihn nicht oder nicht genug, um Anträge zurückzuweisen, welche der Familie genehm waren, um sich ihm fürs Leben zu weihen. Sie galt für verlobt, sie war für Wilbert verloren! Er würde wieder zurückkehren zu ihr, wenn dieser Traum und Rausch verflogen. Immerhin! Jetzt war jene noch ihre Nebenbuhlerin in seinem Herzen und deshalb hassenswert. Rahel mußte sie sehen. Welche Reize hatten die ihrigen in den Schatten gestellt? Rahel eilte an die Toilette, um sich zum Ausgang mit Sarah zu rüsten; sie wollte schmuck und schön sein.

Nicht lange darauf saßen Rahel und Sarah an der Table d'hote des Deutschen Hauses; sie konnten von ihrem Platze aus einen Teil der Tafel überblicken; bald erschienen Nortmann und Cäcilie, schon beim Eintritt begrüßt von sporenklirrenden Kürassieroffizieren, welche mit stürmischem Aufbruch dem Mädchen entgegeneilten. Diese Huldigung mißfiel der Jüdin: eine Allerweltsschönheit, sagte sie sich, in Offizierskreisen gefeiert. Cäcilie saß so an der Tafel, daß Rahel ihr liebliches Profil, das reizende Oval ihres Gesichts sehen konnte und auch die tiefblauen Augen, wenn sich die Tochter dem Vater zuwandte. Alle ihre Bewegungen beobachtete Rahel mit peinlicher Spannung. Sie wollte die Seele, den Charakter aus den Zügen, den Gebärden herauslesen. Sie glaubte bisweilen einen traurigen, fast schwermütigen Ausdruck in den Gesichtszügen des schönen Kindes zu erkennen, sie erschrak fast darüber! War es der Ausdruck einer stillen, hoffnungslosen Liebe?

Als Rahel mit Sarah den Schloßberg herunterstieg, war sie tief in Gedanken versunken. Sarah hatte sich auch eine Meinung über Cäcilie Nortmann gebildet. »Ein sehr hübsches Mädchen,« sagte sie, »aber es gehen doch zwölf davon auf ein Dutzend und die Sorte ist wohlfeil.« Rahel dachte anders. Immer fieberhafter schlugen ihre Pulse; als sie ihre Wohnung erreicht hatte, wollte sie allein sein. Sarah durfte sie nicht stören, das hereinbrechende Dunkel durch kein Licht, keine Lampe verscheucht werden. Sie blieb einsam mit ihren Gedanken und Empfindungen; diese sich jagenden Traumbilder machten sie körperlich krank. Bald lag sie im Fieber, da sah sie die holde Cäcilie aus einem Lilienstengel herauswachsen in leuchtender Schönheit, und alles neigte sich vor ihr, und sie selbst war eine entblätterte Rose, und Glanz und Fülle und alles, worauf sie stolz war, sank in den Staub. Und sie hörte eine Stimme: »Die arme Rahel!« und als sie näher hinhörte, war es Wilberts Stimme, und während die Rose geknickt zusammenbrach, rauschte es wie Flügelschlag über ihr, und die Lilienbraut flog an Wilberts Herz.

.

Sie fuhr empor aus dem Traume; sie sah sich im Bette liegen, wohin man sie gebracht; sie sah in das milde blaue Auge des Vierfragenmannes, der ihr an den Puls fühlte.

»Sie fiebern stark, doch ich hoffe, Sie bald zu heilen.« Er sprach's mit derselben Zuversicht, mit der er seinem großen Patienten, dem preußischen Staat, baldige Genesung verhieß, nachdem er ihm in seinen »Vier Fragen« den Puls gefühlt hatte.

*

Nach diesen winterlichen Märztagen war rasch und plötzlich der Frühling ins Land gekommen und hatte den Schnee auf den Feldern aufgesogen; es folgten schwüle Gewittertage mit Regengüssen, und mit grünem Anhauch schmückten sich die Sträucher und Bäume.

Es war in der ersten Maiwoche, als sich ganz Königsberg auf der Wanderung nach Böttchershöfchen befand, einem vor dem Tragheimer Tor gelegenen Vergnügungsgarten, dessen Volksversammlungen damals in ganz Deutschland Ruf gewannen. Nicht lange vorher waren die Versammlungen der Bürgerschaft im Altstädtischen Gemeindegarten verboten, die Gesellschaft selbst aufgelöst worden. An Stelle dieser Vereinigung, die ihre Statuten und Mitgliedskarten hatte, waren nun die freien Volksversammlungen getreten. Und nach Böttchershöfchen pilgerte groß und klein, jung und alt, Weib und Kind, Einheimische und Fremde, alle getrieben vom Pfingstgeist, der in der Stadt der reinen Vernunft mit feurigen Zeugen sprach. Es war ein milder Maitag, der sich in den Fluten des Schloßteichs spiegelte, auf den Feldern die ersten freudigen Regungen der erwachenden Natur … in den Herzen jene ahnungsvolle Stimmung, welche allen Übergangszeiten eigen ist und vor allem jener Übergangszeit eigen war, die man als die vormärzliche in die Geschichtsbücher eingetragen hat, ein Gefühl voll Werdelust, als werde sich im deutschen Volke etwas Neues und Bedeutendes gestalten. Und das deutsche Volk sah einmal nach Königsberg … das füllte alle diese Wallfahrer mit einem stolzen Gefühl.

Da begegnete man unterwegs langen geschlossenen Wanderzügen; es waren die Bürger des Gemeindegartens, die sich hier zusammengefunden.

Lieder ertönten fern und nah: hier ein Trupp Studenten, dort ehrsame Handwerker, die Rockschöße wegen des Staubes in die Höhe gezogen, die Pfeife im Munde, wie die Männer von Schwyz, Uri und Unterwalden, so die Mannen aus dem Löbenicht, dem Sackheim und Tragheim von verschiedenen Seiten vorrückend.

Doch daneben fehlten auch die Neugierigen nicht; allerlei elegante Equipagen brachten einen Mädchenflor nach dem verfemten Orte, und blasierte Gegner der Bewegung näherten sich demselben zu Pferd und zu Wagen. Lang hingestreckt in offener Karosse, die Zigarre im Munde, war auch Paul Herter zu bemerken, dessen prachtvolle Trakehner Pferde allgemeines Aufsehen erregten. Er wollte sich einmal den neuen politischen Sport mit ansehen, ehe ihn die Polizei wieder verbot, und das schien ihm Eile zu haben. Er sprang aus dem Wagen, der draußen hinter einer langen Reihe halten mußte; er musterte mit Vergnügen die Gendarmen und Polizeibeamten, die in dichter Schar den Eingang des Gartens umlagerten, löste sich eine Eintrittskarte und schritt auf die Musik zu, deren lustige Fanfaren in die Luft schmetterten, oft begleitet von stürmischen Hochrufen. Hier an langen Tafeln, dort an kleinen Tischen sitzen zahlreiche Gäste; in dichten Schwärmen oder auch vereinzelt wandeln sie auf den zahlreichen Wegen des Gartens. Die allerliebsten Bürgermädchen, die hier und dort bei unwillkommener Begegnung wie Rebhuhnschwärme aufflatterten, in die ein Schuß gefallen, wurden von Herter scharf ins Auge gefaßt. Unter einer Eiche, um welche noch das braune Laub des verflossenen Jahres raschelte, saßen zwei Mädchen in eifrigem Gespräch. Das eine derselben trug einen breitkrempigen Sommerhut, der für diese Jahreszeit nicht die geringste Berechtigung hatte; doch das arme Kind hatte offenbar keinen besseren, und die dunkelroten Bänder, welche daran flatterten, schienen ihr jedenfalls sehr zu gefallen, denn sie faßte bald das eine, bald das andere, das ihr um die Schläfe flog, wenn sie mit ihren Händchen in den Lüften herumfuhr, um ihren Worten durch lebhaftes Gebärdenspiel noch mehr Nachdruck zu geben. Es war ein feuriges Kind von dunkler Gesichtsfarbe, einen hastig unsteten Ausdruck in den Zügen und in der Unruhe ihres ganzen Wesens, während die andere, mit der sie sprach, eine Blondine von sanfter Art zu sein schien.

Kaum hatte Herter die Schöne mit dem Sommerhut erblickt, als er auf die Bank loseilte und mit den Worten: »Da hab' ich dich ja, Käthchen!« ihr die Hand auf die Schulter legte.

Käthchen fuhr erschreckt empor.

»Lassen Sie uns allein, Fräulein!« sagte Herter gebieterisch zur Begleiterin.

»Nein, die Base soll bleiben,« rief Käthchen, mit dem Fuße aufstampfend.

Herter winkte dem blonden Mädchen vornehm mit der Hand, sich zu entfernen, und mit zögerndem Schritt, sich häufig umsehend, zog sich die Freundin auf dem Gartenweg hinter die Büsche zurück.

»Da hab' ich dich, Käthchen,« wiederholte Herter, »ein glücklicher Zufall, denn es ist mir nicht gelungen, dich in Königsberg aufzuspüren.«

»Trotz deiner Spürhunde, das glaub' ich wohl,« sagte Käthchen mit einem trotzigen Lächeln, bei dem sie ihre Perlenzähne zeigte, »denn ich war gar nicht in Königsberg.«

»Ich frage dich, wohin bist du gegangen, als du trotzig, ohne mir ein Wort davon mitzuteilen, den Ort verließest, den ich dir angewiesen?«

»Das beicht' ich nicht! Such', such', Karo! du bekommst Speck und nicht Schläge, wenn du's gefunden hast.«

»Ich verbitte mir diese dreisten Späße, Käthchen! Du bist wieder so verwildert, wie du vorher gewesen. Hast du denn nicht das Gefühl, daß du ein schändliches Unrecht gegen mich begangen hast, der ich für dich so reichlich gesorgt? Du wirst dich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnen.«

»Nach den Fleischtöpfen vielleicht, aber nicht nach den Köchen.«

»Was hast du dir denn dabei eigentlich gedacht?«

»Gedacht? recht viel,« sagt Käthchen, indem sie auf einmal ernst wurde und auf dem verschwommenen Gesicht des Landwehrleutnants ihre feurigen Augen drohend haften ließ, »ich habe mir gedacht, daß treue Liebe anderen Lohn verdient, als beiseite geschoben und wie das Wild des Waldes vom Herrn Förster gefüttert zu werden; ich habe mir gedacht, daß ich kein Talent zum Heideröschen habe, und wenn der garstige Knabe mich nun einmal gepflückt hat, so will ich auch in die schönsten Vasen kommen, zu den prächtigen Rosen und anderen Blumenköniginnen; ich habe mir gedacht, daß ich ein verlassenes Mädchen bin, welches ein Recht hat zu hassen, wo es früher geliebt hat, und von verhaßten Leuten nimmt man keine Wohltaten an.«

»Du hast lauter törichte Dinge gedacht.«

»Das meint Doktor Martin nicht.«

»Wer ist Doktor Martin?«

»Mein Vetter und mein Freund! Ich bin hier unter seinem Schutz; er hört sich die schönen langen Reden dort an, und da bin ich mit meiner Base etwas spazieren gegangen.«

Herter wurde unruhig und sah sich nach rechts und links um. Der Doktor Martin konnte ja plötzlich in der Nähe auftauchen, und das war ein unangenehmer Geselle, vor dem ihn der Förster gewarnt hatte.

»Käthchen, ich bitte dich! Halte unser früheres Verhältnis geheim … so ist's besser für dich und mich!«

Käthchen fing an ein Volkslied zu trällern mit einem spöttischen Refrain. »So wär's dem Herrn genehm? … doch gerade deshalb will ich's mir überlegen.«

»Du grollst mir, Käthchen, doch was hätte ich tun sollen?«

»Mich heiraten, lieber Paul … das kostet doch nur einen Gang in die Kirche.«

»Ich habe dir nie die Ehe versprochen, Käthchen.«

»Das denkt man sich hinzu, wenn man uns von Liebe spricht.«

»Meine Verhältnisse … meine gesellschaftliche Stellung …«

»Ich habe nicht danach gefragt; du warst mir eben alles und ich ahnte nicht, daß du mir bald nichts sein würdest … gar nichts. Meine Zukunft hast du mir zerstört … o, ich habe auch eine gesellschaftliche Stellung; doch das ist mir jetzt alles verregnet und verhagelt. Meine Gesellschaft geht nicht in Sammet und Seide, fährt nicht mit Vieren; aber es sind doch die Leute, mit denen ich umgehen muß. Und die wollen nicht mehr viel von mir wissen.«

»Käthchen, sage mir, wo du wohnst, ich will alles nach Kräften gutmachen. Ganz sollst du dich nicht von mir lossagen, in aller Stille …«

»Das ist's eben,« fuhr Käthchen jetzt auf, indem sie sich von der Bank erhob, »ich bin kein ehrbar Mädchen mehr, und das holt man nicht ein, wenn man noch so vielen Vorspann nimmt. Gut denn, da gibt's ja noch einen anderen Weg. Doch hütest du dich davor! Dein elendes Gnadenbrot weise ich zurück, aber du hättest mich zu einer großen Dame machen können, wenn ich deine Frau nicht sein konnte. Ich habe gelesen von diesen großen Pariser Damen; sie wetteifern an Glanz mit den Fürstinnen, sie haben Juwelen und Diamanten wie diese, sie fahren in glänzenden Equipagen … nun, zu einer solchen Dame hätte ich das Zeug gehabt, und wenn man hier nicht über die Boulevards fahren kann, so fährt man über die Hufen und die Klapperwiese. Gleichviel … und hat man die Tugend nicht mehr in den Rockfalten, so hat man doch etwas vor der Tugend voraus, die zu Fuße gehen muß. Und dann … diese Damen richten Millionäre zugrunde, und es wäre mir ein Hochgenuß gewesen, dich zu ruinieren.«

Herter erschrak fast vor den blitzenden Augen der wilden Käthe, und sie hatte das zierliche Händchen geballt wie zu einem Faustschlag.

»So … nun weißt du, wie wir stehen, und geh mir aus dem Wege. Es wird kühl; oder … ich weiß nicht, warum mich's so durchschauert. Ich suche meine Base auf, sie hat unsere Umschlagetücher in den Wagen getan. Lebe wohl, schöner Paul, stolzer Paul … und wenn du an die schöne Käthe denkst, so mag dein Gewissen … doch du hast ja nichts dergleichen … nun, so sollst du wenigstens nichtswürdige Träume haben, und wenn dich der Alp drückt, so soll das Gespenst meine Züge tragen.«

Und wie der Blitz schoß Käthchen über die Wiese, die Krümmungen des Weges abschneidend, und verschwand hinter dem nächsten Buschwerk. Herter aber war sehr verstimmt … dies Mädchen war zu jeder Heimtücke fähig, es konnte sich zwischen ihn und jene Cäcilie drängen, die er um jeden Preis als Gattin besitzen wollte – ein Glück, daß sie nichts davon wußte. Zerstreut und in Gedanken verloren schritt er rückwärts, dem großen Rasenplatze zu, von welchem eben eine Fanfare der Musik ertönte. Um einen Rasenhügel hatte sich in weitem Umkreise die bunte Volksversammlung gruppiert, Kopf an Kopf, und oben auf dem Hügel stand, wie Herter zu seiner großen Freude bemerkte, Doktor Wilbert. Zu seiner Freude, denn er mußte sich sagen, daß der junge Mann, in welchem er infolge einiger Äußerungen Cäciliens einen Nebenbuhler sehen mußte, sich bei dem alten Nortmann ganz unmöglich machte, indem er sich in auffälliger Weise als Führer der neuen Bewegung zeigte. Er sah ja ganz interessant aus, wie er da oben stand in abendrötlicher Beleuchtung; dieser junge Doktor konnte ihm bei seiner Cäcilie gefährlich werden. Doch er tröstete sich bald wieder, er klopfte an seine Tasche und klimperte fröhlich darin. Der dort oben war ein armer Teufel, bei dem klimperte nichts, gar nichts! Und so töricht werde doch kein Mädchen sein, ihn einem Millionär vorzuziehen.

Wilbert sprach von der Ausweisung Itzsteins und Heckers aus Berlin, ein Ereignis, welches damals alle Gemüter bewegte. Er forderte auf, eine Adresse an die Ausgewiesenen zu unterschreiben, deren Wortlaut er vortrug, sie werde im Lusthause des Gartens ausliegen.

Die eigentliche Volksversammlung wurde jetzt geschlossen. Das hinderte nicht, daß hier und dort an einzelnen Tischen noch Redner, Dichter, Improvisatoren auftauchten, um Zeugnis abzulegen von dem Geiste, der sie trieb. Denn überall kam dieser Geist zum Durchbruch; Handwerker und Kaufleute verwandelten sich in Volksredner, und junge Studenten trugen ihre oft überschwenglichen Herzensergüsse vor.

Der Abend war inzwischen herabgesunken; die Alleen und Gänge des Gartens wurden mit bunten Laternen und Lampen beleuchtet; da spazierte die aufgelöste Volksmenge hin und her, die an den Tischen keinen Platz gefunden.

»Deine Rede,« sagte Doktor Martin zu Wilbert, mit dem er Arm in Arm dahinschlenderte, »hatte ja etwas von dem Feuer, womit man die Philister aus ihren Löchern herausräuchert. Doch es war im ganzen, nimm es nicht übel, nur ein kleines Feuerwerk, und die Schlußwendung matte Limonade. Eine Adresse … du lieber Gott! Jeder, der da seinen Namen darunter schreibt, glaubt eine große politische Tat getan zu haben. ›Das war Tells Geschoß,‹ sagt er sich und geht stolz nach Hause und läßt sich von seiner Hedwig als Schütz und als Befreier statt der Schweizer Kuhmilch ein Glas Warmbier reichen. Adressen … das ist Makulatur der Gesinnung … man muß lächeln über diesen Kraftaufwand, der so nutzlos verpufft.«

»Du spottest über die Gesinnungen, Freund, doch die Gesinnung ist die Mutter der Taten.«

»Bisweilen ist sie auch recht unfruchtbar. Doch lassen wir das; ich will dich in deinen kindlichen Vergnügungen nicht stören. Taten sind immer die Hauptsache, mit und ohne Gesinnung … das ist egal. Sag mir lieber, wie es dir mit deiner Herzensgeschichte geht? Bist du deinem Ziele näher gekommen? Was macht denn die reizende Cäcilie? Ich habe Erkundigungen über sie eingezogen; sie soll in der Tat ein allerliebstes Mädchen sein, eine Tochter, die man dem alten Nortmann, diesem querköpfigen Ackerbauer, gar nicht zutrauen würde, wenn es nicht schwarz auf weiß in den Taufregistern stände.«

»O, ich hatte vergebens alle Bälle besucht, auch in Häusern Besuch gemacht, wo die Herren Rittergutsbesitzer zu verkehren pflegen. Alles umsonst. Schon hatte ich's aufgegeben, sie hier in Königsberg je wiederzusehen: da führte mich ein Zufall mit ihr zusammen. Als ich in die Voigtsche Kunsthandlung in der Junkerstraße trat, um mir ein Bild von Herwegh zu kaufen, sah ich, in eifrigem Gespräch mit dem Besitzer, ein hübsches Mädchen stehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen … es war Cäcilie. Jetzt hieß es, den Augenblick mutig ergreifen. Ich redete sie an und erfuhr, daß sie mit ihrem Vater in Königsberg zum Besuch und im Deutschen Hause abgestiegen sei; sie besitze in Wieselau eine Reihe jener kolorierten Kupferstiche aus Shakespeares Dramen, die, künstlerisch sehr wertvoll, jetzt zu den Seltenheiten gehörten. Die Sammlung sei eine Erbschaft der Familie. Nun fehlte aber in derselben gerade ein Bild aus Romeo und Julie, ihrer Lieblingstragödie, und sie habe den kunsterfahrenen Herrn hier fragen wollen, ob sie das Bild wohl noch von ihm erhalten und kaufen könne; er habe unter seinen alten Vorräten nachgesehen, doch nichts gefunden; es werde indes jetzt eine neue Auswahl aus den aufgespeicherten Schätzen hervorgesucht. Sie wartete also noch auf diese Vorlagen. Was konnte mir willkommener sein? War ich erfreut über diese Begegnung … sie war es nicht minder, das sagte ihr holdseliges Lächeln, ihre freundlichen Blicke, in denen zugleich ein schwärmerischer Ausdruck lag. Wir sprachen von Shakespeare, von Italien, von hundert anderen Dingen, aber wie wir davon sprachen … der feinsinnige Kunsthändler lächelte so verständnisvoll … ich aber sage dir, sie ist schön, diese Cäcilie, nicht bloß eine Abendschönheit, eine Ballschönheit. Es war ja ein nüchterner Tag, kalt, frostig, mit trüber Schneebeleuchtung; aber sie sah so frisch und rosig aus, es strömte ein Zauber der Jugend von ihr aus, der mich unwiderstehlich fesselte. Ich liebe die Tagfalter mit ihrer frischen Farbenpracht und überlasse die Nachtfalter gern den anderen. Alles, was sie sprach, war so verständig, so durchsichtig, und doch lag ein Hauch von Poesie darüber, etwas Unbeschreibliches, wie aus Seelentiefen hervorschimmernd. Der liebenswürdige Ladenjüngling, der die Freundlichkeit hatte, so lange nichts finden zu können, kam endlich mit mehreren Bildern zurück, und darunter war das ersehnte! Romeo und Julie auf dem Balkon, Abschied nehmend beim Lerchengesang, nach der wunderbaren, beim Lied der Nachtigallen verträumten Nacht! Und diese Julie hatte Ähnlichkeit mit meiner Cäcilie: es war derselbe feine, edle Schnitt des Gesichts, dieselbe holdselige Biegung des Nackens; nur hatte sie dunkle, feurige Augen, aus denen die heiße Glut der Sinne und die stürmische Abenteuerlust leuchtete. Das tiefe, blaue Auge Cäciliens zeugte mehr für einen in sich gekehrten Sinn, aber so schwärmerische Innigkeit konnte auch heldenmütig und wagelustig sein, wie jene wilder lodernde Leidenschaft. Sie war erfreut, daß sich das fehlende Bild gefunden; aber es schien ihr nicht schicklich, in Gegenwart eines jungen Mannes lange den Blick auf der farbenprächtigen Darstellung eines so glühenden Liebesglückes haften zu lassen. Sie wurde rasch handelseinig und bat, ihr das Bild ins Hotel hinüberzuschicken; ich selbst hatte ebenso rasch meinen Herwegh gekauft und ließ mir's nicht nehmen, das entzückende Mädchen zum Hotel hinüberzubegleiten. Es waren leider nur wenige Schritte von dem Kaufladen bis zu der vor dem Deutschen Hause in die Höhe führenden Treppe, und es gab kein Mittel, unser Zusammensein zu verlängern. Beim Abschied reichte ich ihr die Hand … und unsere Hände ruhten einige Sekunden länger ineinander, als unumgänglich nötig gewesen wäre; ich fühlte den leisen Druck ihrer Hand. Dann aber sagte sie mit einem warmen Blick, der seelenvoll auf mir ruhte: ›Ich hoffe, Sie wiederzusehen! Romeo war ein Montague und erschien doch auf dem Balle der Capuletti! Wann Sie auch kommen mögen, Sie finden die Tochter immer in ihres Vaters Hause.‹«

»Nun,« sagte Doktor Martin, »mehr kannst du von deiner Julie nicht verlangen. Die Sache ist auf dem besten Wege. Und was gedenkst du zu tun?«

»Ich kann nicht so brüsk ins Haus platzen, da wäre alles von Anfang an verloren. Ich warte auf irgend eine Gelegenheit.«

»Nun, ein Maskenfest, wie Vater Capulet, wird der alte Nortmann nicht geben.«

»Ich habe einen Plan. Ich muß mich noch gedulden; lange Wochen werden vergehen, ehe ich ihn ausführen kann, doch ihre letzten Worte trösten mich.«

»Ich muß jetzt meine wilde Käthe suchen,« sagte Doktor Martin, »und sie zu meiner Tante nach Neuhausen zurückgeleiten.«

Eben wollte Doktor Martin sich von dem Freunde trennen, um sich nach seiner Schutzbefohlenen umzusehen, als die beiden jungen Mädchen mit wehenden Hutbändern herangeflattert kamen. Manche ehrbare Bürgersfrau warf dieser wilden Jagd einen strafenden Blick zu.

»Der Wauwau ist wieder hinter uns,« rief Käthe. »Ich habe ihn vorhin gehörig abgetrumpft, doch er hat wahrscheinlich noch etwas auf dem Herzen, was er vorhin aus Furcht vor mir nicht über die Lippen brachte.«

Auch das blonde Mädchen drängte sich wie hilfeflehend an Doktor Martin.

»Habt keine Angst, Kinder! Wir wollen dem Patron schon eine empfindliche Lehre geben.«

Inzwischen kam Paul Herter herangestelzt. Er hoffte, die Mädchen auf dem abseits gelegenen Nebenwege, den nur eine Laterne spärlich erhellte, zu überraschen; es schien, er wollte um jeden Preis Käthchens Adresse erfahren. Da trat ihm plötzlich Doktor Martin in den Weg, trotzig und herausfordernd, seinen langen Bart streichend:

»Was suchen Sie hier?«

»Weder Sie, mein Herr, noch irgendwelche Händel! Wie dürfen Sie mir diesen Weg versperren, der für das ganze Publikum offen ist?«

»Das will ich Ihnen sagen, mein Herr! Sie verfolgen ein Mädchen, das mir verwandt ist, das ich zu beschützen habe. Leider kam ich mit meinem Schutze damals zu spät, als schon das Unglück geschehen war.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»So will ich deutlicher sein. Hier mein Freund, Doktor Wilbert, soll es mit anhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Leider sind keine anderen Zeugen hier zugegen; doch ich würde nicht gezögert haben, Ihnen vor der ganzen Volksversammlung diese Anklage ins Gesicht zu schleudern.«

»Der Ton, in dem Sie mit mir sprechen,« sagte Herter, »ist ein ganz unzulässiger.«

»O nein, er soll es erst werden! Sie haben an diesem Mädchen wie ein Schurke gehandelt!«

»Mein Herr!«

»Wie ein Schurke, ich wiederhol's … und hier ist meine Karte: Martin Schleier, Studiosus der Philosophie, Steindamm Nummer sechs … komm, Käthchen!«

Und er gab den beiden Mädchen den Arm und schritt mit ihnen und Wilbert nach der Hauptallee zu.

Herter war zurückgeblieben und blickte mißvergnügt auf die Karte. Ein Duell mit einem wenig ebenbürtigen Gegner! – Und das war auch nicht das Schlimmste! Doch der Skandal, wenn es ruchbar wurde, warum er sich schlagen mußte, wenn die Kunde in die Presse kam, welche von seinen Gegnern beherrscht wurde, wenn man in Wieselau davon erfuhr …

Ärgerlich wandte sich Herter der Hauptallee zu. Doch da konnte es seinen Ärger nur vermehren, daß die Bürger, der Kern der aufgelösten Bürgergesellschaft, sich in dichten Scharen zusammengetan hatten und das Lieblingslied singend: »Das Leben blüht, die Welt ist noch die alte,« hinauszogen aus dem vom Lichterglanz schimmernden Garten von Böttchershöfchen, über dem jetzt auch der Mond sein Silbernetz ausspann. Er mußte den langen Zug vorüberlassen, und mancher mißtrauische Blick streifte ihn. Erst als er wieder in seinem glänzenden Wagen saß, von schnaubenden Rossen gezogen, hatte er sein volles Selbstgefühl wiedergewonnen. Diese ganze politische Komödie konnte ja nicht von Dauer sein; es war nichts als ein Wirtshausspektakel, nur daß der Lärm sich an einige Stichwörter heftete, die in der Luft lagen, und was die Begegnung mit dem Studenten betrifft, so vertraute er auf sein gutes Glück und seine geübte Hand, welche den Lümmel schon zahm machen würde.

*

Im Park von Neuhausen ging einige Tage darauf Käthchen in großer Aufregung mit ihrer Base Dora spazieren. Es war der Tag des Duells, und es war abgemacht worden, daß man Doktor Martin, falls er verwundet würde, nach Neuhausen zu seiner alten Tante und seiner Muhme bringen solle, wo er die beste Pflege fand.

Finken und Amseln sangen auf den Baumwipfeln, die mit dem frischen grünen Laub sich geschmückt hatten. Der wilden Käthe war es etwas bange ums Herz.

»Ob ich ihn geliebt, den anderen? Gewiß … ja, Dora, du weißt das nicht, wie's mit der Liebe ist! Es ist ein eigen Ding damit; es ist etwas fabelhaft Neues, und wenn uns einer das ins Haus bringt, da liebt man ihn um der Liebe willen, die er uns vorstellt und deren Bekanntschaft wir durch ihn machen. Und dann … Paul war ein vornehmer Herr und er kann viele Schlösser haben, wie das Schloß des Grafen Luckner dort oben, wenn er nur will.«

»Meine Mutter meinte, du müßtest dich in der Welt zurechtfinden wie tausend andere, die keine Eltern mehr haben, und du müßtest lernen, dir etwas zu verdienen.«

»Die Tante mag ja recht haben; ich folgte und zog nach Königsberg. Ich fing zu nähen an … dazu hatte ich keine Geduld! So ein Stich nach dem andern und dazu das Ticken der Uhr, Sekunde auf Sekunde! Man hört's ja ordentlich, wie viel man vom Leben versäumt. Das Plätten ging auch nicht recht vonstatten … das Bügeleisen war mir verhaßt, ich konnte den Geruch der geplätteten Wäsche nicht vertragen. Dann half ich Bedienung machen in den Tanzzirkeln bei Gerichtsräten und Schulräten, wo's nicht recht langt für vornehmen Glanz, für Lakaien und befrackte Lohndiener. Da half ich Tee eingießen und herumreichen und kam mir vor wie eine höhere Biermamsell, die einige Punkte mehr in der Krone hat. Das gefiel mir schon besser. Da lernte ich auch Herter kennen; er war kühner als die anderen; er besuchte mich – und das übrige weißt du.«

»Und du liebst ihn noch?«

»Nein, ich hasse ihn … und doch … solch ein Mensch ist ein Stück Leben von uns, und wenn ihn der Martin totschießen sollte … das wäre auch für mich mehr als ein Streifschuß. Es ginge mir ein wenig ans Herz.«

Die Sonne neigte sich inzwischen zum Untergang … glühendes Rot über den Parkwipfeln; auch über die weiten Wiesensenkungen, die sich zwischen die schattigen Baumgänge und Buschgehege einschieben, legte sich ein rötlicher Schimmer. Käthchen wurde ungeduldig.

»Wenn ihm nur nichts Schlimmes begegnet ist! Tot um meinetwillen … es wäre entsetzlich!«

»Dann hätten wir schon Nachricht,« sagte die blonde Dora beruhigend.

Beide traten jetzt aus den Parkanlagen hinaus auf den Heerweg, der nach der Hauptstadt führt. Mit ängstlicher Spannung sahen sie auf jeden Wagen, jede Kutsche, die von Königsberg herkam. Endlich erblickten sie einen sacht fahrenden, wie es schien, in bequemen Federn hängenden Mietswagen, und diesmal täuschten sie sich nicht. Als er näher kam, entdeckten sie Martin, der etwas bleich darin saß, den linken Arm in der Binde. Er ließ den Wagen halten und nahm die weibliche Fracht für die letzte kurze Wegstrecke mit herein.

»Eine Armwunde … nicht von Bedeutung! Der Chirurg in der Stadt hat den ersten Verband angelegt. Das andere kann der Neuhausener Feldscheer besorgen. Es kommt nur auf gute Pflege an, die such' ich und find' ich bei euch!«

»Nun erzähle! Ich brenne vor Neugier! Der Herter lebt doch! Du hast mir ihn doch nicht totgeschossen?«

»Dir gewiß nicht, aber auch mir hab' ich das Vergnügen nicht gemacht. Im Wald von Juditten fand das Scharmützel statt. Doktor Wilbert hat mir tapfer sekundiert; ich will euch nicht mit den Schritt Barriere langweilen und sonstigen Kleinigkeiten, die für euch nicht mehr Interesse haben als für uns ein Waschzettel oder ein Kleidermaß für Ober- und Unterröcke; ich will euch nur mitteilen, daß Herter so gut wie ich noch unter den Lebenden weilt; ich habe eines seiner langen Beine getroffen, und die Ärzte werden's nicht leicht haben, ihm das Hinken abzugewöhnen: vielleicht bleibt ihm des Teufels Erbschaft im Bein stecken, und man merkt den Mephisto schon, wenn er um die Ecke lahmt.«

»O, wie dank' ich dir, Liebster, Einziger!« rief Käthchen in überströmendem Gefühl und wollte ihm sogar die rechte Hand küssen, die er rasch wieder zurückzog.

Inzwischen war der Wagen vor dem ersten Bauernhofe des Dorfes angekommen, wo die Witwe mit Tochter und Nichte wohnte. Sie begrüßte Martin, als er etwas mühsam aus dem Wagen stieg, mit lautem Aufschrei; sie wußte von nichts. Doch bald überzeugte sie sich, daß der Patient bei bester Laune war. Er wurde mit einem gewissen Respekt behandelt, denn er gehörte dem angesehensten Zweig der Familie an: die anderen waren in Verfall geraten, namentlich Käthchens Eltern ganz vermögenslos gestorben.

»Wie wollen wir dich pflegen!« rief das Mädchen jetzt mit warmer Hingebung.

»Du gar nicht, mein Käthchen! Du darfst gar nicht hier bleiben.«

»Was hast du vor?« rief das Mädchen erschreckt.

»Du mußt gleich nach Königsberg und dann noch weiter. Nimm einmal hier aus meiner rechten Rocktasche das Zeitungsblatt … so! Nun lies einmal die rotangestrichene Stelle.«

Käthchen las. »Nun, es wird eine Kammerzofe gesucht, in Wieselau … was weiter?«

»Das ist eine Stelle für dich!«

»Es ist wahr, ich kann hier nicht immer müßig sitzen.«

»Darum handelt es sich nicht! Merk' auf, Käthchen! Eben habe ich mich mit Herter geschlagen, jetzt sollst du auf den Kampfplatz treten.«

»Ich verstehe nicht!«

»Ich habe einen sehr guten Freund, den Doktor Wilbert; du hast ihn in Böttchershöfchen gesehen; er war heute mein Sekundant. Dieser liebt die Tochter des Herrn Nortmann auf Wieselau und wird von ihr geliebt.«

»Wie soll ich da helfen oder nützen?«

»Geduld … immer derselbe Brausekopf! Der alte Nortmann wünscht, daß die Tochter den jungen reichen Herter heirate.«

»Paul … das wäre!«

»Da sollst du des Fräuleins Zofe werden und ihr beistehen mit Rat und Tat und allen Nichtswürdigkeiten, deren du fähig bist. Der Herter muß aus dem Felde geschlagen werden, und wenn nichts anderes hilft, da gibst du deine Lebensgeschichte preis. Das Duell … alles kommt zur Sprache … wir wirbeln einen Skandal auf, daß der alte Nortmann sich wohl besinnen wird, aus dieser Staubwolke sich seinen bepuderten Schwiegersohn herauszugraben.«

»Dabei bin ich; doch ich habe keine Zeugnisse.«

»Der alte Morr, der Ortsschulze, muß dir sogleich eins ausstellen; du hast hier in Neuhausen bei der Tante gelebt; es liegt nichts gegen dich vor, das soll er bescheinigen. Von deinen Vergnügungsreisen nach auswärts braucht er ja nichts zu wissen. Ein Gruß von mir: ich verlange das Zeugnis sogleich, bei meinem Zorn! Der Mietswagen ist bezahlt; er bringt dich noch heute abend nach Königsberg und morgen nach Wieselau. Schnür' dein Bündel und mach' dich auf den Weg.«

Die Tante wollte einige Einwendungen erheben; doch Käthchen war sogleich Feuer und Flamme für diesen Plan. Da gab's doch etwas zu tun; man wußte doch, weshalb man in der Welt war.

»Benutzt die Zeit, ihr alle! Ich habe dem Wilbert freie Hand verschafft; Herter wird lange Zeit daniederliegen und auch als hinkender Bote nicht sogleich nach Wieselau kommen, bis ihm die Teufelsreminiszenz möglichst aus dem Bein kuriert ist.«

Doktor Martin war etwas angegriffen von den Aufregungen des Tages und der erhaltenen Wunde. Doch trotz seiner Müdigkeit legte er sich nicht eher zu Bette, als bis Käthchen von ihm Abschied genommen und sich mit ihrem Zeugnis und ihrem Päckchen in den Wagen gesetzt hatte. Es war schon spät geworden … der Mond stand über dem Kirchturm und versilberte die Parkwipfel. Käthchen träumte von allerlei Großtaten und legte dann einschlummernd ihr Köpfchen in die Ecke des Wagens.

*

Inzwischen hatte der Frühling seine Blumen über die samländischen Hügel und Fluren gestreut; die Wälder rauschten im vollen Laubschmuck, wenn der Gewittersturm sie schüttelte; freudlos standen nur die öden Palven nach dem Gestade hin, an welches fröhlich brandend des eisfreien Meeres Wogen schlugen.

Das Schloß Wieselau hatte eine trauliche grün überwachsene Veranda. Der Nachmittagskaffee war eben aufgetragen worden; der alte Nortmann im bequemen Hausrock, die altväterliche Pfeife rauchend, saß am Kaffeetisch in der Veranda, neben ihm sein Töchterlein im hellen einfachen Kattunkleide. Martha stand vor beiden in sichtlicher Aufregung; ihre Haubenbänder hatten sich gelöst wie ihre Zunge; denn sie deklamierte mit großem Eifer.

»Die Herren Studenten – nun, wir haben ja den Quartierzettel erhalten – quartieren sich hier ohne weiteres ein wie das Militär beim Manöver. Und so ein Galtgarbenfest ist doch kein Biwak! Vier Mann hoch wollen sie einrücken … das gibt eine Räumerei! Oben in jede Mansardenstube muß ein neues Bett gebracht werden, und die Marjellen haben schon so genug zu tun.«

Der alte Nortmann qualmte bedächtig: »Du verlierst immer gleich den Kopf, wenn nur ein Möbel gerückt werden soll! Ich habe mich bereit erklärt, vier Studenten am Vorabend des Festes bei mir zu bewirten und ihnen Nachtquartier zu geben. Es ist das Brauch hier, wie du von früher weißt, und man darf dagegen nicht verstoßen. Es ist die Albertina, die größte Burschenschaft … das ist nun nicht mein Geschmack; es sollen unruhige Köpfe darunter sein; doch ich kann mich nicht ausschließen … man muß sich einmal bei der Jugend beliebt machen; es sind ja die künftigen Staatsbeamten.«

Inzwischen brachte ein Mädchen den Kaffee herbei; es war ein schmuckes, feurig blickendes Geschöpf, sauber angezogen, die Haare sittsam glattgestrichen. Es war Käthe; ihr gewandtes Wesen hatte sie in kurzer Zeit zum Liebling des Hauses gemacht. Hinterdrein kam Martha mit dem nötigen Proviant; denn zu einem soliden ostpreußischen Nachmittagskaffee muß man sich keine leichte Backware, kein sogenanntes Teegebäck, auch keine Butterbrötchen hinzudenken: da kann man bisweilen gut ausgebackene Stollen, vor allem aber mit Rosinen ausgefütterte Plinsen sehen, und selten fehlt eine Schüssel mit Honig; es ist ein reichliches Mahl, welches mit Behagen verzehrt wird.

Cäcilie konnte sich gar nicht erklären, warum Käthe sie heute mehrfach mit verschmitztem Lächeln ansah; diese war schon ihre Vertraute geworden, hatte aber noch einen Teil ihrer Trümpfe vorsichtig in der Hinterhand behalten.

Während der alte Nortmann die unangenehme Tatsache, daß Herr Herter sich seit Wochen nicht in Wieselau gezeigt hatte, damit erklärte, derselbe habe eine größere Reise nach Deutschland machen müssen, wußte Cäcilie bereits von dem Duell, von welchem ihr Käthe verschwiegene Kunde zugetragen.

»Übrigens,« sagte Nortmann, seinen Kaffee behaglich schlürfend, »werden wir keine Füchse ins Haus bekommen; es sollen zwei alte Häuser dabei sein, die den Kommers mit ihren früheren Kommilitonen mitmachen.«

Inzwischen trat Valdenius gestiefelt und gespornt herein: er war dem Korbwagen, auf welchem die Studenten saßen, vorausgeritten, um die frohe Kunde zu überbringen. Das war doch etwas Abwechselung in dem eintönigen Getriebe der Landwirtschaft. Die ganze Gegend war freudig erregt: hörte man doch überall Gesänge von Musensöhnen, die in längerem Zug sich hier und dort über die Landstraße bewegten; sah man doch wallende Fahnen und im Sonnenschein blitzende Schläger. Valdenius fühlte nur das lebhafte Bedauern, daß er sich jenem Reigen nicht anschließen durfte; er kam sich wie ein Kohlweißling vor gegenüber jenen bunten Faltern. Mit hastiger Eile war er in die Veranda gestürmt mit dem Ruf: »Sie kommen! sie kommen!«

Martha rang die Hände.

»Und noch nichts in Ordnung!«

»Ich werde sie hier empfangen,« sagte der alte Nortmann, »so wie ich bin.«

.

Es währte nicht lange, so erschienen die Studenten, zwei mit dem Albertus an der Mütze, die anderen ohne dies Zeichen unmittelbarer Zugehörigkeit zur Alma mater. Unter den letzteren befand sich Doktor Wilbert. Cäcilie hatte ihn gleich erkannt; sie erblaßte und errötete dann und warf fragende Blicke auf den Vater. Dieser gab sich anfangs den Anschein, als bemerkte er nicht den verwegenen Einbruch des Wolfs in seine Hürde und hörte mit würdiger Haltung die Anrede an, welche der eine Träger des Albertus, ein Führer der Burschenschaft, an ihn richtete. Doch als dieser ihm die Genossen vorstellte und Doktor Wilbert sich höflich gegen den Hausherrn verbeugte, da erwiderte Nortmann zwar die Verbeugung; doch er wurde dabei glührot im Gesicht; es war jene Röte, welche bei Martha stets die Furcht erregte, den Hausherrn könne der Schlag rühren. Der junge Doktor begrüßte indessen mit großer Freundlichkeit die Tochter des Hauses, die er ja vom Ball des Junkernhofes zu kennen ein gutes Recht hatte. Diese Begrüßung trug wenig dazu bei, die Erregung Nortmanns herabzustimmen. Zunächst wurden den Gästen ihre Gemächer angewiesen; Käthchen erneuerte dabei in aller Eile die in Böttchershöfchen gemachte Bekanntschaft mit Wilbert, flüsterte ihm zu, daß sie alles wisse und sich ihm gern zu Diensten stelle. Nortmann schritt indes in der Veranda zornmütig auf und ab, während Martha mit einer Zufuhr von Stollen und Plinsen ab und zu ging und dabei ängstlich prüfende Blicke auf den Gebieter warf.

»Da haben wir's!« rief dieser ärgerlich qualmend und wie ein zürnender Olympier sich in Wolken hüllend; »gib nur acht, Martha, daß sie uns nicht das Haus überm Kopf in Brand stecken!«

»Was gibt's denn, gnädiger Herr?«

»Eine schöne Bescherung! Ein Rädelsführer der Rotte Korah unter meinem Dache! Und ich muß noch das Gastrecht ehren und ihm meine Reverenz machen, während ich am liebsten …«

»Aber, Vater!« fiel ihm Cäcilie ins Wort; »Doktor Wilbert hat doch kein Verbrechen begangen; er trägt doch kein Brandmal auf der Stirn! Er hat andere politische Meinungen als du; doch er ist ein anständiger und talentvoller junger Mann, und es gereicht unserem Hause wahrlich nicht zur Schande, ihn zu beherbergen.«

»Da sehe mir einer die Frauenzimmer! Es gibt keinen Banditen, für den sie nicht schwärmten! Es gefällt mir nicht, Cäcilie, daß du die Partei eines Mannes ergreifst, der zu unseren erbittertsten Gegnern gehört. Nun, eine Nacht hindurch kann ich's ja schon mit ihm wagen; ich werde dann das Haus durchräuchern lassen, wenn die Pest der nichtswürdigen Gesinnung wieder unsere Schwelle verlassen hat.«

Cäcilie war hoch erregt, doch sie zog es vor, nichts zu erwidern. Bald kehrten die Gäste aus ihren Zimmern zurück und um den Kaffeetisch bildete sich eine ziemlich lustige Tafelrunde. Die beiden jungen Studenten waren flott und übermütig, und das eine bemooste Haupt, seines Zeichens ein Mediziner mit dem Doktordiplom, sprudelte über von Anekdoten; nur Wilbert war schweigsam, aber in seinen Augen war ein freudiges Aufleuchten, so oft sie auf Cäcilie fielen, die etwas seitwärts vom Kaffeetische saß, mit einer Stickerei beschäftigt.

Es war das Glück des Zusammenseins, trotz aller hemmenden Schranken, eine stille Beseligung, welche ringsum alles verklärte; es war zugleich der Vorsatz, dies Glück, komme was da wolle, für die Dauer festzuhalten. Und er wußte ja, daß auch ihr Herz für ihn schlug, und sehnsüchtig harrte er des Augenblickes, wo er wieder von ihren Lippen die beglückende Zusage hören würde, noch inniger, noch hingebender als bisher.

Mit der ganzen Macht einer ersten Leidenschaft war von Hause aus seine Neigung zu Cäcilie aufgetreten; hier gab es nichts Verschwiegenes, Uneingestandenes, nichts, was sich mit dem Schein anderer Beziehungen verdeckt hätte: schlank wie mit einem Schoß war die Blüte der Liebe aufgestiegen und wiegte sogleich ihre volle Krone in der Luft. Alles, was sich so lange im Herzen des jungen Mannes angesammelt, die stille Naturgewalt, die so lange zum Schweigen verurteilt worden war: sie brach jetzt siegreich und überwältigend hervor; es war keine Liebe neben anderen Empfindungen, es war eine Liebe, welche alles andere wie eine unersättliche Flamme aufzehrte.

Das »einmal Gesagte« nennt man das Dichterwort, das eine Wahrheit in eine für spätere Zeiten unerreichbare Form gekleidet hat, und so kann man bei echter Liebe von dem »einmal Empfundenen« sprechen.

Und Cäcilie? Ernst Wilbert war ihre erste und einzige Liebe; sie war von dem träumerisch Geistreichen seines Wesens hingerissen, unwiderstehlich gefesselt; das jugendliche Feuer im Blick seiner Augen bannte sie; dieser Feuerblick strahlte ihr ins Herz, wo sie auch weilte.

Valdenius war zu diesem Nachmittagskaffee mit hinzugezogen worden; er stammte aus anständiger Familie und war mit einem der Studenten befreundet; dann übernahm er es, die jungen Herren in den Wirtschaftsgebäuden und Ställen herumzuführen, damit sie den Flor von Wieselau, besonders den Viehstand bewundern lernten. Wilbert schloß sich von diesem Rundgang aus: im stillen hegte er die Hoffnung, er werde Cäcilie irgendwo treffen und allein sprechen können; er machte einen Spaziergang im Garten, und da begegnete ihm die wilde Käthe in der Tannenallee.

»Junger Herr,« sagte sie, »ich weiß, es ist Ihr sehnlichster Wunsch, das Fräulein zu sprechen, und der Wunsch meiner Herrin kommt dem Ihrigen entgegen. Doch es ist zunächst unmöglich; der Alte ist sehr mißtrauisch; der Gärtner hat den Auftrag, über alles zu berichten, was im Garten vorgeht.

Nach dem Abendessen wird die L'hombrepartie am heftigsten entbrannt sein; wenn sie nicht hören, sehen, fühlen, heißt's in der Fabel … da werde ich mit dem Fräulein im Garten Luft schöpfen.«

»Und ich sollte in den Garten …?«

»Ums Himmels willen nicht! Der Gärtner würde sogleich Alarm schlagen! Sie beteiligen sich nicht an der L'hombrepartie, Sie sehen zu; bitte aber gelegentlich einen Blick auf eine so unwürdige Person zu werfen, wie ich es zu sein die Ehre habe. Ich werde servieren; doch wenn das zweite Glas des dampfenden Grogs auf dem Tische steht, dann erhalt' ich etwas Ferien; dann werde ich Sie ansehen und dreimal hintereinander mit diesen meinen Händchen mir das Haar von der Stirn streichen – das ist das Zeichen.«

»Und dann?«

»Dann machen Sie einen kleinen Spaziergang um das Haus und die äußere Gartenmauer herum, bis Sie die Stelle erreichen, wo der Pavillon die Mauer überragt. Um diese Zeit ist niemand in jener Gegend; der Weg ist auf der andern Seite von Haselnußbüschen umgeben, die gerade dem Pavillon gegenüber ein kleines Wiesenrund offenlassen; dort fassen Sie Posten. Es ist heute Vollmond, kein Gewölk am Himmel … dort harren Sie der kommenden Dinge.«

»Und was wird dann kommen?«

»Ich werde dafür Sorge tragen, daß Fräulein Cäcilie möglichst gleichzeitig im Pavillon erscheint … und alles übrige ist Ihre Sache.«

»Wie bin ich Ihnen dankbar, liebes Käthchen!«

»Sie brauchen mir nicht zu danken, ich habe an der Sache ein ganz besonderes Vergnügen … doch das ist mein Geheimnis.«

Wie langsam schlichen die Stunden dem jungen Doktor dahin! Cäcilie war nicht sichtbar, Nortmann traf einige Vorbereitungen; er mußte morgen auf den Kreistag fahren; die Kommilitonen waren mit Valdenius noch über die Äcker gewandert. Dann fand sich wieder alles zusammen, und es begann die L'hombrepartie vor Tisch, die endlich abgebrochen werden mußte, als Martha nachdrücklich auf den unveräußerlichen Rechten eines Abendessens bestand, welches sonst der Küche keine Ehre gemacht hätte.

Nach Tisch war ein störungsloses Behagen über den L'hombretisch gebreitet; man wußte, daß keine Eßglocke mehr das Spiel unterbrechen würde, und man gab sich demselben mit voller Leidenschaft hin. Käthchen glitt hin und her, wie ein geschmeidiges Kätzchen; die erste Ladung Grog hatte sie glücklich abgesetzt. Ernst saß mit einer fast fieberhaften Unruhe neben dem alten Nortmann: des Spieles nicht unkundig, wenn auch kein Freund desselben, schielte er über die Basten und Ponten seines Nachbars immer nach Käthchen herüber, die ihm gelegentlich einen koketten Blick zuwarf und sich neckisch den Scheitel strich, aber nur einmal, so daß er, schon im Begriffe, vom Stuhle aufzuspringen, sich wieder mißmutig neben dem Alten festsetzte.

Endlich strich sie den Scheitel sich dreimal zurecht und hüpfte wie eine behende Gazelle zur Tür hinaus. Bald darauf griff Wilbert nach seinem Sommerhut, der auf einem Stuhl des Spielzimmers lag, und verließ das Zimmer. Wie schlürfte er draußen die würzige Luft ein … in silbernem Duft lag Nähe und Ferne … ein leises feierliches Rauschen ging durch die hohen Ulmen vor dem Herrenhause. Rechts führte ihn der Pfad um die vorspringende Ecke des Hauses herum, die Mauer desselben entlang, an welche sich sogleich die Gartenmauer anschloß. Die Wirtschaftsgebäude lagen auf der anderen Seite. Unter vereinzelten Eichen hindurch führte der Pfad. Die Haselnußbüsche, die hier ein dichtes Gehege bildeten, zeigten dem Wandernden, daß er sicher dem Ziele zuschritt. Und nun der kleine Wiesenplatz mit den vom Nachttau perlenden Gräsern, rings umgeben von rankendem nestreichen Gesträuch mit seinem schlummernden Leben. Es war ein kleiner Tanzplatz für ein Elfenballett; Geisterchen, aus Mondesstrahlen gewoben, schienen aus den Kelchen zu steigen und sich auf den flüsternden Zweigen zu wiegen; eine alte Fichte, mit schwer auf den Boden herabhängendem Nadelwerk, stand wie ein mürrischer Wächter daneben; aber das störte den hin und her flirrenden Reigen der Geisterchen nicht, bei dem gewiß auch das Spinnwebgespann der Königin Mab nicht fehlte.

Ernst war am Ziel … gegenüber war die Mauer von dem Pavillon überhöht, dessen breite Glasfenster in die Höhe gezogen waren und weit offen Luft und Licht, den Odem der Nacht und den Schimmer der Gestirne hereinließen.

Er stand, den Blick unverwandt emporgerichtet. Und doch … sie blieb ihm ja fern, wenn sie auch dort oben erschien; er konnte ihr Bild voll und ganz in die Seele aufnehmen, ihre Stimme hören; aber seine Sehnsucht, sie ans Herz zu schließen, einen glühenden Kuß auf ihre Lippen zu drücken, blieb ja nach wie vor ungestillt.

Rauschte es dort oben nicht? Es war ein Augenblick der Spannung, eine so festliche Stille … die ganze Natur schien den Atem anzuhalten in lauschender Erwartung, daß ihr eigenes höchstes Wunder, die Schönheit, sich der Welt offenbaren werde.

Das war wenigstens die Empfindung von Ernst; und leise Schauer ergriffen ihn, als das rauschende Kleid die Nähe der Erwarteten ankündigte. Leise Schauer … denn zum erstenmal zeigte sie ihm ihre Schönheit, ihre Liebe … ihm allein in der weiten Welt. Es war eine, wenn auch noch so schüchterne Hingebung … und sie selbst trat zögernd an die Fensterbrüstung.

Und vor ihr, wie sie so dastand, vom Mondlicht verklärt, hätten alle Feen und Elfen sich neigen und Königin Mab, von ihrem Wagen herabsteigend, sich auf ein Knie niederlassen müssen.

»Cäcilie … darf ich Sie so nennen?«

Sie nickte schweigend.

»Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie mir diese Unterredung gegönnt haben! Und hier, wo nur die schlummernde Erde und der ewig wache Himmel uns hören, hier darf ich's Ihnen bekennen, daß ich Sie liebe, daß ich Sie geliebt habe, seit ich Sie das erstemal gesehen!«

Cäcilie hatte die Hände gefaltet; ihr war's zumute wie jener Heiligen, die ihren Namen trug, als sie die Musik der Engel hörte.

»Und Sie … und Sie?«

Eine Rose warf sie ihm herab, und das geflüsterte Wort: »Ich liebe dich!« hingehaucht in die Nacht, fast unglaubwürdig seinen lauschenden Ohren, schwebte mit der halbverschlossenen Blume zu ihm hernieder.

Er war wie verzückt … wie glühend drückte er die Rose an seine Lippen. »Ich liebe dich!« rief er trunken, »o, daß ich hier unten stehe wie ein Geächteter, nur diese Blume ans Herz zu drücken. Doch es soll anders werden, ich gelobe es!«

Cäcilie aber sagte: »Ich kann nichts mehr denken als dich; ich bin so arm geworden und doch so reich; Hoffnung wahrt' ich im Herzen und mit der Hoffnung die Treue.«

Da sah sie sich erschreckt um; es tönte fern aus dem Garten die Stimme der alten Martha: »Gnädiges Fräulein! gnädiges Fräulein!« Doch es antwortete in der Nähe die wachhaltende Käthe: »Das Fräulein ist hier, ich werde es ihr sagen.«

Schon hatte Cäcilie den Abschiedsgruß gewinkt, da kehrte sie noch einmal an die Brüstung zurück: »Du sprichst morgen vor den Studenten, mein Einziger, Geliebter?«

»Ja, beim Galtgarbenfest!«

»So wünsch' ich deinen Worten zündende Kraft und dir selbst wachsenden Ruhm im Kreise der Jugend! O, könnt' ich zugegen sein! Vielleicht … gute Nacht, gute Nacht!«

Und die lichte Fee verschwand. Gleichzeitig verbarg sich das Mondlicht in einer Wolke; der funkelnde Tau der Wiese erblaßte; und die riesige Fichte, die keinen Schatten mehr warf, ragte düster zum Himmel empor.

Doch nicht lange währte die Verfinsterung: wieder spann der Mondschein seinen lichten Dämmer über die Fluren und die Waldberge. Ernst folgte ziellos den Krümmungen der Heckenwege, schritt durchs kleine Gehölz, über die Raine der Kornfelder, immer den Blick der schimmernden Ferne zugewandt: dort lag ja das Glück.

»Vielleicht!«

O, dies verheißungsvolle Wort … in Wilberts Träumen klang es ihm noch ins Ohr, als er den Schlummer gesucht.

*

Am nächsten Morgen in aller Frühe brachen die Studenten auf, und auch Nortmann ließ seinen Wagen anspannen, um zum Kreistag zu fahren; er blieb oft mehrere Tage fort. Seinem Töchterchen trug er auf, das Haus zu hüten, und der alten Martha wiederum legte er die Aufsicht über die Tochter ans Herz.

Valdenius kam vom frühen Morgenritt heim und wurde alsbald gebeten, zum Fräulein hinaufzukommen. Sie saß am Fenster, den sehnsüchtigen Blick nach dem alten Waldberg gerichtet, dessen Landwehrkreuz hoch vom Gipfel herab im Sonnengold strahlte.

»Sie können mir einen Gefallen tun … einen großen Gefallen, Herr Valdenius!«

Die Augen des jungen Gutsverwalters leuchteten.

»Befehlen Sie nur über mich.«

»Ich möchte Sie um etwas bitten, wozu mein Vater nie seine Einwilligung gegeben hätte.«

Der Inspektor war einen Augenblick betroffen; doch dann richtete er sich um so stolzer auf: »Eine kühne Tat für Sie … koste es, was es wolle … auch meine Stelle!«

»Ich möchte gern dem Studentenfest am Galtgarben beiwohnen und die Rede des Doktor Wilbert mit anhören.«

Valdenius erklärte, daß er diesen Wunsch um so begreiflicher finde, als er ihn von ganzem Herzen teile.

»Wir sind heute ungestört; würden Sie nicht den kleinen Sommerwagen anspannen lassen und mich selbst dorthin kutschieren mit Martha und Käthe zusammen … wir brauchen ja hier nicht aufzusteigen, sondern am nächsten Waldrand, um das Gerede von Knecht und Magd zu vermeiden.«

»Ich bin bereit; ich habe bei einem benachbarten Gutsbesitzer am Galtgarben Einkäufe zu machen und kann meine Fahrt damit erklären.«

»Und Sie nehmen uns mit?«

»Ich werde selbst fahren, es wird Platz sein für uns alle!«

»Ich danke Ihnen,« sagte Cäcilie, ihm die Hand reichend; »nun zur alten Martha.«

Das war keine leichte Aufgabe, die getreue Haushälterin für ein unerlaubtes Beginnen anzuwerben; doch es schmeichelte ihr, als Anstandsdame mitgenommen zu werden; ihrem trautesten Mädchen tat sie gern einen Gefallen, und neugierig war sie auch über die Maßen, ein solches Studentenfest einmal in der Nähe mitanzusehen, nachdem sie jahrzehntelang immer davon hatte sprechen hören. Käthchen wurde als Vertraute und zu etwaigen Dienstleistungen mitgenommen, und so verließ das weibliche Kleeblatt, möglichst unauffällig wie zu einem Spaziergang, das Haus und begab sich an den etwa ein Viertelstündchen entfernten Rand des nächsten Waldes. Schon hörten die Harrenden den lustigen Peitschenknall des Herrn Valdenius, und bald fuhr die »Verbrecherbande«, wie die wilde Käthe die kleine Gesellschaft übermütig bezeichnete, auf einsamem Waldwege der Hochwarte Samlands zu.

Die allen Eichen Perkuns rauschten hier über den Häuptern einer begeisterten Jugend; ein Musikkorps weckte mit frohen Studentenweisen das Echo in den Talgründen; es ging ein Brausen durch den Wald, nicht das Brausen des Sturmes – nein, das Brausen eines Pfingstgeistes, der Jugend, der Zukunft, und über dem Gewoge an den Berghängen schienen die Fahnen zu rauschen am hohen Landwehrkreuz, die Fahnen der siegreichen Väter, die in den heiligen Kampf gegangen waren und den Söhnen hinterlassen hatten das Erbe ihres Mutes, ihrer Kraft und ihrer Begeisterung für die Freiheit des Vaterlandes.

Nicht auf der Höhe oben, sondern in einer Einsattelung des Berges auf einer Wiese, wo drei Wege sich kreuzten, war eine Rednertribüne errichtet worden, zu welcher der schmetternde Trompetenruf die rings im Wald umherschweifenden Musensöhne einlud. Bald versammelten sie sich im weiten Halbrund Kopf an Kopf an der Tribüne. Der Albertus an vielen Hundert Mützen glitzerte im Sonnenschein. Hinter den Festteilnehmern aber drängte sich eine bunte Menge aus Stadt und Land, zu Fuß und zu Wagen, und nicht unter den letzten befand sich das Wägelchen des Valdenius, das dieser mit geschickter Hand in eine Lücke der Zuschauer hineingelenkt. Endlich ertönte schmetternde Musik; die Festordner mit geschwungenen blitzenden Schlägern leiteten die Feier ein; ein Chorgesang brauste durch den grünen Walddom und dann bestieg Wilbert die Tribüne. Atemlose Stille herrschte; beseligt, aber in einem Rausche des Glückes hing Cäcilie an seinen Lippen; jedes Wort atmete den Feuergeist des Redners; dieser gehörte jetzt ihr wie allen; aber das feurige Herz mit dem Puls der Leidenschaft, das gehörte ihr allein. Wilbert sprach von der studentischen Freiheit, deren Hauch das ganze Volk verjüngen solle, vom schrankenlosen Rechte des Geistes, das niemals durch Ausnahmeregeln beschränkt und gekränkt werden dürfe, vom Gespenst der Zensur, das verschwinden müsse mit dem Tagesanbruch der politischen Freiheit.

Laute Beifallsstürme folgten der Rede; schmetternder Tusch der Musik, warmer Händedruck der Genossen. Wilbert war der Held des Tages: er selbst aber hatte noch besonderen Grund zu freudigster gehobener Stimmung; er hatte Cäcilie gesehen; sie war Zeuge seines Triumphes gewesen. Inzwischen war sie mit Martha und Käthe vom Wagen abgestiegen und auch Valdenius hatte Pferd und Wagen einem ihm bekannten Krugbesitzer übergeben, um sich etwas im Grünen zu ergehen.

Sobald sich nun Wilbert den dankbaren Begrüßungen der Freunde entziehen konnte, eilte er auf die Wieselauer Gruppe zu; Cäciliens leuchtendes Auge und warmer Händedruck war ihm die schönste Belohnung. Abseits von den Hauptwegen verloren sich alsbald die Lustwandelnden im Gebüsch; einsamer wurde der Fußpfad; die alte Martha, keine schnelle Fußwanderin, wurde überdies von Käthchen und Valdenius in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, bei welchem Käthchen sehr oft Halt machte, um ihre mimischen Künste zu zeigen und Gebärde und Gang einzelner Personen, von denen die Rede war, nachzuahmen. So kam es, daß Cäcilie und Wilbert sich bald allein sahen. Rasch wand sie Eichengezweig zum Kranz und schlang ihn um seine Stirn; er aber drückte einen glühenden Kuß, den Brautkuß, auf ihre Lippen. Er schloß sie ans Herz mit einem Gefühl nie gekannter Seligkeit; alles rings um ihn schien verzaubert, in ein ätherisches rosiges Licht getaucht. Stimmen flüsterten aus den Zweigen, glückwünschende Stimmen; fest aber wie Lieb' und Treue stand die hohe Eiche, die ihr Schirmdach über die Liebenden ausbreitete.

Sie sprachen nur wenig Worte … von der Zukunft, die ihnen gehören müsse. Da hatte sich die alte Martha auf ihre Pflicht besonnen und kam keuchend nachgeeilt. Wilbert nahm den Kranz von der Stirn und schlang ihn um seinen Hut; noch ein inniger zärtlicher Händedruck, und bald fand Martha Gelegenheit, dem trautesten Doktor für seine schöne Rede zu danken. Der Herr Pfarrer spreche zwar auch gut; aber so mit blitzenden Schlägern und wehenden Fahnen … das mache doch einen ganz anderen Eindruck, als wenn der Küster mit dem Klingelbeutel daneben stehe. Man begab sich dann zum Festplatz und zum Wagen zurück, und bald knallte die Peitsche des Valdenius und Cäcilie hatte mit wehendem Schnupftuch den Abschiedsgruß gewinkt.

Den Tag über blieb Wilbert in höchster Erregung; das bunte Treiben auf der Höhe, wo zahlreiche Buden eingerichtet und Holztische aufgeschlagen waren, stimmte ihn wehmütig. Tapfer zechend bereiteten sich die Studenten auf den abendlichen Landesvater vor und mit hereinbrechender Dämmerung ward ein mächtiges Feuer auf dem Berg entzündet; da hielt Doktor Martin seine Festrede, eine Art von politischer Harlekinade, welche oft schallendes Gelächter erweckte. Was er da alles symbolisch in die Flammen warf, das war eine ganze Bibliothek gefeierter Schriften und ein ganzes Inventar bedeutsamer Gegenstände; der Universitätszopf der Albertina fehlte nicht darunter. Dann wandelte er Arm in Arm mit Wilbert die Waldwege hinunter.

»Deine Rede hatte Schwung,« sagte er; »es war eine gewisse Elektrizität darin, die den anderen in die Köpfe und die Hände fährt. Doch viel Staat ist damit nicht zu machen. Das Geheimnis rednerischer Wirkung ist die Phrase. Das ist wie das Trompetensignal, bei dem die Pferde ihre Köpfe heben und Feuer aus den Nüstern sprühen: die Phrase … das ist der Funken, der in das in den Köpfen aufgestapelte Heu fällt. Von der Dummheit der meisten Menschen kann man sich kaum einen ausreichenden Begriff machen – und dies gilt besonders von den politischen Parteien. Und dann … man muß die Trümpfe auf den Tisch hauen, wenn man den Leuten in der Kneipe imponieren will. Und das verstehst du! Was aber die Sache betrifft, so drehst du dich mit den anderen wie des Färbers Gaul im Kreise herum, und über einen neuen Gedanken bist du dabei niemals gestolpert. Galtgarben oder Böttchershöfchen – ihr seid überall dieselben Ausrufer wie die Fischverkäufer, die ihren Karren mit den riechenden Meerwundern von Straße zu Straße fahren. ›Dörsche, Dörsche, frische Dörsche!‹ rufen die Fischweiber, und so ruft ihr ›Preßfreiheit, Verfassung, frische Volksrechte!‹ daß einem die Ohren gellen.«

»Du bist ein unausstehlicher Krittler! Es gibt Losungen, die seit Jahrtausenden dieselben sind: daraus haben sich die großen Religionen gebildet.«

»Meinetwegen … doch hat es zu allen Zeiten Ketzer gegeben – und das waren die wenigen gescheiten Leute. Laßt mich meine Straße ziehen! Den Bettel, den ihr haben wollt, werdet ihr schon erhalten. Doch genug davon. Was macht deine Dulcinea?«

»O, ich habe sie erst heute gesehen; sie kam hierher zum Fest, zu meiner Rede.«

»Gegen den Willen ihres Vaters?«

»Ohne sein Wissen!«

»Das ist ein Schritt vorwärts! Und du hast sie gesprochen?«

»Gesprochen … allein … und ihr den Verlobungskuß gegeben!«

»Das ist wacker! Und nun … was weiter? Was soll sie mit diesem Kuß anfangen?«

Wilbert schwieg eine Zeitlang; er hatte in freudigen Zukunftsträumen das Nächste nicht überlegt; der Freund setzte ihm gleichsam die Pistole auf die Brust.

»Ich werde um ihre Hand anhalten!«

»Gut … und dann?«

»Es kommt doch zunächst auf die Entscheidung des Vaters an.«

»Nicht im geringsten! Dazu braucht man kein Prophet zu sein, um die voraus zu wissen!«

»Er liebt seine Tochter!«

»Gerade deshalb wird er sie nicht einem nach seiner Ansicht gottverlassenen Buben geben, der nach einer Verfassung schreit und außerdem kein Geld hat.«

»Ich habe ein kleines Vermögen.«

»Das in wenigen Jahren aufgezehrt sein wird.«

»Ich bin um die venia legendi als Dozent eingekommen.«

»Die erhältst du nicht!«

»So wohn' ich in einer Hütte mit meiner Cäcilie, bis die Zeiten sich ändern – und sie werden sich ändern!«

»Mit deiner Cäcilie? Vorläufig wohnt sie in dem Schloß Wieselau, wird dort wohnen bleiben und Frau Herter werden, wenn du nicht deine Träume in kühne Taten umsetzest. Davon ein anderes Mal! Hol dir erst deinen Korb vom Alten … dann sprechen wir wieder davon! Nun hinauf zum Landesvater! Er wird gleich beginnen. ›Da wollen wir uns Brüder nennen‹ – es ist rührend schön. Unter den tausend Brüdern meiner zwanzig Semester befinden sich bereits einige Schock, denen ich aus dem Wege gehe, wenn sie um die Ecke biegen … es kommt mir auf ein paar Dutzend neue von dieser Sorte nicht an.«

Wilbert ließ sich durch seinen Freund, dessen mephistophelischen Pferdefuß er ebenso kannte wie sein treues opfermutiges Herz, nicht beirren in seiner begeisterten Stimmung. Und so schwang er freudig den Schläger als Präses an einem der improvisierten Holztische des Kommerses, während hell wie die Glut der alten Opferfeuer in Romoves Hain die lustigen Flammen des Studentenfeuers ihren rötlichen Widerschein bis hoch zu den Wipfeln der Eichen emporwarfen und der Gesang einer begeisterten Jugend zu den freundlich herniederblickenden Sternbildern des tiefdunkeln Nachthimmels hinauftönte.

Ich durchbohr' den Hut und schwöre,
Halten will ich stets auf Ehre,
Stets ein braver Bursche sein!

Und nachdem die letzte Strophe des Liedes verklungen, wandelte Wilbert in die Nacht hinaus, mit vollem Herzen: sein Blick schweifte von den freien Höhen hinunter in die mondenhelle Ferne; da ruhten, unter die Wipfel der Parkbäume geschmiegt, mit blitzenden Fenstern so viele Gutshäuser! War das dort nicht Wieselau mit seinen Ulmen? »O, ich weiß, unsere Grüße begegnen sich. Und dann … schlummere süß und stets im Schoße des Glückes, einzig Geliebte!«

*

Einsam in ihren düsteren Zimmern saß Rahel Michal auf der Ottomane neben dem vergessenen Dante, in Grübeleien verloren: da peinigte sie der Gedanke, daß ja in der versagten Liebe zugleich der Zweifel liege an der Macht ihrer Schönheit, eine unverzeihliche Majestätsbeleidigung. Sie sprang vom Sofa auf und trat vor den Spiegel; sie sah ihre dunklen brennenden Augen, das schöne glänzende Haar, die feinen edelgeschnittenen Züge, die nur leise, ganz leise die fremde Herkunft aus dem Osten ankündigten. Es war heiß und schwül im Zimmer; sie warf das leichte Umschlagtuch beiseite, nestelte ihr Fichu auf und warf es auf den Spiegeltisch.

Da meldete die Zofe den Doktor Wilbert. Rasch nahm Rahel ihr Umschlagetuch um – er durfte eintreten. Was ihre Seele in diesem Augenblick bewegte – es waren blitzartige, nicht ausgedachte Gedanken; es war ein Taumel, ein Tumult, aus dem etwas herauswehte wie eine rote Fahne, kühne Auflehnung gegen die Einschränkungen der Sitte, die heiße Sehnsucht nach einer Genugtuung, die im Triumph der Schönheit liegt, der Glaube an den berechtigten Rausch des Augenblickes. Doch dies alles, was gleichsam glutäugig aus Abgrundstiefen aufstieg, wurde wieder zurückgescheucht durch einen eisernen Willen, so daß trotz der erregten Tiefe spiegelglatt die Oberfläche dalag.

Wilbert mußte sich mit Recht vorwerfen, die Freundin vernachlässigt zu haben. Heute hatte er sich vorgenommen, sie ganz in sein Vertrauen zu ziehen; er kam mit offenem Herzen. Sie reichte ihm flüchtig die Hand, eilte zum Tisch, schlug den Dante auf:

»Wir sind jetzt am Sumpf angekommen, in den die Zornmütigen gebannt sind.«

»Lassen wir das heute, liebe Rahel; ich habe Ihnen manches zu erzählen.«

Rahel machte das Buch zu und setzte sich schweigend neben den jungen Freund.

»Von Tag zu Tag drängt sich die Entscheidung,« sagte er. »Sie wissen, was mir Cäcilie ist; ich werde morgen um ihre Hand anhalten; doch ich weiß vorher, der Vater wird mir seine Zustimmung versagen; er wird die Tochter zu einer verhaßten Ehe zwingen wollen.«

»Lohnt es so vieler Mühen um ein schönes Kind?« sagte Rahel mit überlegenem Spott. »Wer wird sich in Gefahren stürzen für einen törichten Jugendtraum?«

»Doch Cäcilie liebt mich; sie hat es selbst bekannt.«

»Heute Sie, morgen einen anderen! Was ist die Liebe eines so jungen Mädchens? Ein offener Brief, der heute an diese, morgen an jene Adresse gerichtet wird.«

»Sie kennen sie nicht!«

»Sie wird sich wehren unter Tränen und dann eine gehorsame Tochter sein.«

»Sie beurteilen Cäcilie falsch.«

»Desto richtiger beurteile ich Sie! O diese Feuergeister, die stets ihr Herz an Wasserblumen fortwerfen! Unglücklicher, der Sie nie den Puls der Leidenschaft gefühlt, ihn nie geahnt haben! Wehe Ihnen, wenn Sie zu spät Ihr eigenstes Wesen erkannt haben, womit Sie, gebunden an eine freundliche Alltäglichkeit, deren Lächeln zuletzt aus Langerweile einschläft, nach einem Gluthauch der Leidenschaft schmachten!«

Wilbert war's zumute, als fühle er diesen Gluthauch auf einmal in seiner Nähe. Welch ein fremdes Gefühl übermannte ihn! So oft hatte er neben dem schönen Mädchen gesessen … und nur Geist hatte zum Geiste gesprochen. Jetzt sah er in das große Auge, aus dem so viel Glut und Leben und dann wieder so weiche grenzenlose Hingebung sprach; lauter schlug ihr Herz; und wie ein Blitz durchzuckte ihn zum erstenmal das Gefühl, daß er von Rahel geliebt werde. Ein bewältigendes Gefühl … er kämpfte dagegen an mit aller Kraft seiner Seele.

»Rahel!« rief er in hilfloser Überraschung, den wechselnden Eindrücken preisgegeben. Und ihre Küsse brannten auf seinen Lippen, ihre Arme umschlangen ihn; doch er wand sich los.

»Nicht dies … nicht dies … o, was tun wir!«

Er sprang vom Sofa auf. Sie lag da wie eine Fieberkranke, mit geschlossenem Auge, mit geröteten Wangen, mit hastigem Atemzug, die Hände lässig herabhängend, nicht bemüht, die Unordnung zu schlichten, in welche der leidenschaftliche Ausbruch sie versetzte.

Ihm war's wie eine Offenbarung … doch eine, die aus dunklen Tiefen kommt. Der Flügelschlag dämonischer Weiblichkeit hatte ihn umrauscht, einen Sturm in ihm erregt, dessen er mit Mühe Herr werden konnte.

Auch sie hatte sich aufgerichtet, die Haare von der Stirn gestrichen und starrte eine Zeitlang wie ins Leere.

Wilbert faßte sich zuerst und sagte: »Rahel, wir haben uns jetzt eine Freundschaft gelobt, die, minder stürmisch als dies Gelöbnis, schwere Proben überdauern soll.«

Rahel seufzte tief auf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Ich fühle heute zum erstenmal, daß Sie mir mehr sein konnten als eine Freundin. Mehr … es liegt Berauschendes, Entzückendes in diesem Worte! Doch unsere Liebe würde nur trunkene Gegenwart sein … sie würde keine Zukunft haben, wie sie keine Vergangenheit hat; denn unsere Herzen sprachen nicht, als unsere Geister sich gefunden. Dort aber … bei der ersten Begegnung … es sollte nicht sein, Rahel! Bleiben Sie meine Freundin!«

Sie reichte ihm die Hand … zögernd, dann fest … eine Träne glänzte in ihrem Auge; es schien, als wäre über ihr Leben ein Sturm der Verwüstung dahingegangen, und an dem zerknickten Blütenstrauche hingen noch die Tropfen des Wettergusses.

»Und Sie wollen nicht auch Cäciliens Freundin sein? Sie glauben nicht, daß sie mich liebt?«

Rahel schüttelte leise mit dem Kopfe.

»Ich glaube an nichts mehr.«

»Und wie, wenn sie ihre Liebe durch die Tat bewiese? Sollte ihr Vater starrsinnig ihre Hand mir weigern … nun, da muß sie einen kühnen Entschluß fassen, zeigen, daß sie mir gehören will, komme was mag! Und wenn sie diesen Entschluß faßt, wenn sie das väterliche Haus verläßt … werden Sie dann an ihre Liebe glauben?«

Rahel entschloß sich zu einem leise geflüsterten »Ja!«

Es trat eine längere Pause ein; sie trat an die Tür; sie wollte nach Sarah, nach der Zofe rufen; es war ihr auf einmal unheimlich, allein mit Wilbert zu sein.

Doch Wilbert vertrat ihr den Weg.

»Wenn unsere Freundschaft kein Trug, keine Lüge sein soll, so darf ich darauf rechnen, daß Sie mir auch ein großes Opfer zu bringen imstande sind.«

»Ein Opfer … und welches noch?« sagte Rahe! zerstreut, vor sich hinflüsternd.

»Wenn Cäcilie das väterliche Haus zu verlassen wagt, dann bedarf sie den Schutz des Geheimnisses, und diesen Schutz kann ihr nur eine Freundin gewähren. Rahel … eine Frage, eine große Bitte: wollen Sie der Schutzgeist unserer Liebe sein? Darf sie zu Ihnen flüchten? Wollen Sie Cäcilie verbergen?«

Wie gelähmt von etwas Unerhörtem stand Rahel einen Augenblick … ein Übermaß des Vertrauens! War es nicht eine Beleidigung für sie?

»Bei Ihnen wird sie sicher sein, hier sucht sie niemand. Unter einem falschen Namen kommt sie zu Ihnen, daß auch die Hausgenossen sie nicht verraten können. Sie sind freie Herrin Ihrer Entschlüsse, Ihrer Handlungen; ich würde Ihnen ewig dankbar sein.«

»Dankbar? … Dank ist eine kärgliche Gabe, geboten aus Gewissenszwang, aus dem dunklen Gefühl, man müsse ein guter, ein ehrlicher Mensch sein. Dank ist zu wenig, selbst für die Freundschaft … und wie kann Dank ein großes Opfer lohnen? Doch weshalb rechnen wir und rechten wir? Cäcilie ist noch nicht entflohen: ein wohlerzogenes Mädchen vom Lande ist nicht abenteuerlustig. Eine Gutsbesitzerstochter ist gewöhnt an die Regelmäßigkeit des Daseins. Der Sommer folgt auf den Frühling, der Grummet aufs Heu. Man darf die Ordnung der Natur nicht umkehren, auch nicht die Ordnungen der Gesellschaft.«

»Und wenn sie sich doch gegen diese Ordnung empört, wenn sie doch das Vaterhaus verläßt?«

»Nun,« sagte Rahel, »ich glaube, dann werden meine Pforten nicht verschlossen sein.«

»O, Sie sind edel und großmütig, ein herrliches Mädchen!« rief Wilbert mit überströmendem Gefühl und wollte sie ans Herz schließen. Jetzt aber wies ihn Rahel fremd und kalt zurück.

Wilbert schied mit einem warmen, schwach erwiderten Händedruck. Sie warf sich auf die Ottomane, die Hände ringend. Was hatte sie getan? Ihr leidenschaftliches Empfinden verraten … und jetzt, wo es zu spät war … ihr Herz fortgeworfen, als sie schon wußte, daß es verschmäht werden würde. Doch wenn jenes Mädchen zögerte, den Geliebten freigab, sich im entscheidenden Augenblick von ihm lossagte – konnte sie ihn da nicht zurückerobern? Nur sie stand ihr im Wege … und wenn sie unbegreiflicherweise die Verwegenheit hatte, zu brechen mit dem Vater, wenn sie zu ihr, in ihren Schutz, in ihre Gewalt kam … o, es war ein Abgrund von Gedanken, und auch Schlangenhäupter reckten sich daraus empor. Konnte sie nicht Macht über dies Mädchen gewinnen, eine Macht, welche so törichte Liebe zu töten vermochte?

*

In Wieselau herrschte große Freude; der ungetreue Herr Herter hatte sich wieder eingefunden und die Einladung Nortmanns zu einem längeren Gastbesuch freundlich aufgenommen. Er gab sich den Anschein, die ausgezeichnete Bewirtschaftung Wieselaus zu seiner eigenen Belehrung gründlich studieren zu wollen, obschon er im Herzen die Überzeugung hegte, daß der alte Nortmann in seinen landwirtschaftlichen Bestrebungen hinter der Zeit zurückgeblieben sei. Nachdem er sich von den Folgen des Duells erholt hatte, so daß nur ein leises, fast unmerkliches Hinken an den peinlichen Zwischenfall erinnerte, hielt er die Zeit für gekommen, um jeden Preis die Hand der reizenden Cäcilie zu gewinnen.

Eine unangenehme Überraschung verdarb indes gleich am ersten Tage seine Stimmung; ihm war zumute, als wäre er in einen Hinterhalt gefallen. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als wie ein Gespenst die wilde Käthe an ihm vorüberhuschte, stets mit unheimlicher Hast, ohne je standzuhalten, selbst wenn er ihr allein auf der Treppe begegnete. Wie in aller Welt kam dies Mädchen hierher? Das sah ja fast wie eine geheime Verschwörung gegen ihn aus; er erkundigte sich in gleichgültigem Tone nach der Zofe und erfuhr, sie sei gewandt und munter, nur etwas heftig und wild; doch suche sie ihr Temperament nach Kräften zu zügeln. Hier im Hause sei man sicher mit ihr zufrieden; doch bei den Tänzen im Krug an Sonntagabenden sei sie so ausgelassen, daß viele Klagen über sie einliefen. Endlich gelang es ihm doch, das wilde Mädchen dingfest zu machen; er traf sie abends im Garten, wo sie den Leuchtkäfern in den Johannisbeersträuchern nachlief; sie wollte ihm entschlüpfen und die nächste Eiche erklettern; doch diesmal zerrte er sie zurück und hielt sie dann mit kräftigem Arm umfaßt; sie sah zu ihm mit zwinkernden Augen, aber trotziger Miene empor.

»Was suchst du hier in Wieselau?« fragte er streng und zornig.

»Eine Stellung!«

»Du weißt, daß ich dir dies ersparen wollte.«

»Du weißt, daß ich auf deine Güte verzichte!«

»Wer brachte dich hierher?«

»Eine Zeitungsanzeige … ich meldete mich und wurde angenommen.«

»Du wußtest, daß ich mich um die Hand von Fräulein Cäcilie bewerbe?«

»Gewiß! Doch dabei ist nicht viel. Das Bewerben ist ein unschuldiges Vergnügen.«

»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Höre mich, Käthchen, da du einmal hier bist … drehen wir den Spieß um … werde meine Bundesgenossin! Ich werde zeitlebens für dich sorgen, wenn ich Cäciliens Hand erhalte … und in reichlichem Maße. Du wirst die Wahl haben zwischen zahlreichen Freiern. Du bist ein hübsches Kind, und um die Vergangenheit kümmert sich niemand, wenn die Gegenwart bar ausgezahlt wird und die Zukunft gesichert ist. Unterstütze mich bei Cäcilie.«

»O ja, ich werde sagen, es ist ein liebenswürdiger Herr, der Paul, ich weiß das aus Erfahrung/'

»Aber, Käthchen …«

»Geld hat er wie Heu, und Stroh hat er auch nicht gerade im Kopfe, denn er hat einen guten Geschmack und sucht sich stets das Beste aus.«

»Sei nicht töricht, Käthchen! Überleg' dir's wohl, es handelt sich um dein Lebensglück. Ich will morgen dem Fräulein wieder von meiner Liebe sprechen: sorge du dafür, daß wir einige Zeit ungestört sind. Und vor allem: schweige über gewisse Dinge. Das bedarf keiner Mahnung … das gebietet sich von selbst!«

»Glaubst du?« versetzte Käthchen; »du weißt, das ist meine Sache. Ich werde sehen, was sich tun läßt.«

Käthchen, sich aus den Armen des langen Paul loswindend, schüttelte sich und pustete ihr Gefieder auf wie ein Täubchen, das den Klauen des Habichts entkommen; dann stemmte sie die Arme in die Seite: »Wohlan, mein Schützling, schöner Paul! Ich werde sehen, ob ich dich anbringen kann. Du machst es mir aber nicht ganz leicht mit deinen langen Beinen und kurzen Gedanken.«

Und knixend und kichernd verschwand sie hinter den Büschen des Gartenweges und von ferne erscholl dann ein lautes Lachen. Herter kannte die koboldartige Natur des Mädchens; es war kein Verlaß auf ihr launenhaftes Wesen; doch er hoffte, daß sie die Aussichten auf eine gesicherte Zukunft nicht gering schätzen werde.

Gegen Cäcilie war Herter stets aufmerksam und zuvorkommend gewesen; wie viel sie ihm war, mußten seine Blicke ihr sagen, und der Vater selbst hatte sie darüber wohl nicht im Zweifel gelassen. Seine Tochter eine der reichsten Frauen der Provinz … das war ein Gedanke, der sein ganzes Leben in Sonnenschein tauchte. Und wenn gar Millionen in der anderen Wagschale liegen, wer verdenkt es da dem Vaterherzen, wenn es heftiger klopft bei der Hoffnung auf den sicheren Fang? Papa Nortmann griff dabei dem jungen Bewerber nach Kräften unter die Arme; er war ein so dankbares Publikum; keine Bemerkung Herters ging ihm verloren; er lachte über jeden Scherz, über jede Anekdote; er selbst ermutigte den Gast, nachdem die Parallelen schon lange eröffnet waren, zum entscheidenden Sturme überzugehen.

Und Herter entschloß sich dazu; ihm war's wie vor der Schlacht. Die Trommeln wirbelten. Die Marschkolonne mußte sich in Bewegung setzen. Es war der entscheidende Tag! Käthchen begegnete ihm auf der Treppe und flüsterte ihm zu, um elf Uhr erwarte das Fräulein allein im Boudoir seinen Besuch. Allein im Boudoir … das klang ja wie eine Verheißung des Brautkusses.

Der Bediente mußte heute bei der Toilette Herters eine besondere Sorgfalt entwickeln. Nichts Ungewöhnliches, aber das Gewöhnliche mit größter Sauberkeit und Zierlichkeit ausgeführt. Käthchen meldete den hoffnungsseligen geschmeichelten Besucher bei ihrer Herrin an und verschwand dann hinter dem Vorhang, der das Boudoir Cäciliens von einem dazugehörigen Alkoven trennte. Diese empfing Paul Herter freundlich wie immer, nahm an einem Fenster Platz, welches die Aussicht auf die bewaldeten Abhänge des Galtgarben gewährte, und fuhr fort, an einer Stickerei zu arbeiten, die sie in ihren Händen hielt. Herter hatte zwar eine große Gewandtheit in allen Liebesanträgen, die auf Zeit lauteten; aber solch ein Liebesantrag fürs ganze Leben machte ihn doch beklommen; er drehte seinen Strohhut in der Hand umher mit den Worten: »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

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Cäcilie legte die Stickerei beiseite und sah ihm unbefangen ins Auge.

»Mein Fräulein! Die gütige Einladung Ihres Herrn Vaters hat uns näher zusammengeführt, und das konnte ein Gefühl nur verstärken, das mich, wie Sie wissen, schon lange erfüllt. Mir fehlt zu meinem Glücke, ich sage es offen und frei, nur Ihre Hand. Alles, was mir sonst das Leben Glänzendes bietet, würde erst dadurch seinen wahren Wert erhalten. Ich bin mit Glücksgütern gesegnet, und das würde jetzt erst mir rechte Freude gewähren; denn ich bin dadurch in die Lage versetzt, alle Ihre Wünsche zu erfüllen. Ich biete Ihnen Hand und Herz und frage Sie: wollen Sie die Meinige werden?«

Nicht gering dachte Herter von seinen großen Reichtümern, nicht geringer als die anderen; wer konnte es ihm verübeln? Und in der Tat, einen Augenblick vermochte ein solcher Antrag auch ein bescheidenes Herz zu blenden; denn welche Fülle schöner Möglichkeiten schlummert im Schoße des Reichtums; aber fest und bestimmt sagte sie:

»Wer Liebe zurückweist, kann dies nur schweren Herzens tun … und doch muß ich es tun, so sehr Ihr Antrag mich ehrt. Ich habe bereits eine andere Wahl getroffen … und so bin ich nicht mehr frei!«

»Aber Ihr Herr Vater …?«

»Es ist wahr, er weiß nichts davon; doch ich werde mich bald auch ihm anvertrauen. Ihr Antrag zwang mich, Ihnen früher als ihm dies Geständnis zu machen. Ich habe Ihnen kein Entgegenkommen gezeigt, das ich zu bereuen hätte, das Sie ermutigen, eine Täuschung in Ihnen erwecken konnte: ich wußte von Ihren Absichten und wartete, bis Sie mir dieselben eingestehen würden. Dies ist jetzt geschehen und es ist klar geworden zwischen uns.«

»Eine unerfreuliche Klarheit!«

»Doch ich bin nicht schuldig! Verlangen Sie, daß ich mit einer Lüge auf den Lippen und im Herzen Ihnen meine Hand reiche?«

»Gewiß nicht … doch es gibt auch Täuschungen des Gefühls, ballons d'essai, Seifenblasen, das verfliegt, zerplatzt … dann kommt oft die Reue! Solide Anträge …. das ist etwas anderes!«

Herter konnte seiner inneren Erregung nicht Herr werden. Eine ernstlich gemeinte Ablehnung … es wäre ihm vorher unmöglich erschienen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr empfand er die Beleidigung, die darin lag; er drückte den Strohhut in seiner Hand zusammen, daß er undenkbare Formen annahm; über sein fahles Gesicht flog eine unheimliche Röte; seine grauen Augen leuchteten. Cäcilie empfand wohl, daß eine feindselige Regung jetzt den Brautwerber beherrschte, daß etwas in ihm gärte, was einen gewaltsamen Ausbruch hervorrufen konnte; doch sie bewahrte ihre freundliche Haltung.

Herter verwickelte sich immer mehr in den Gespinsten seiner Eitelkeit. Ärger und Verlegenheit zugleich trugen dazu bei, daß er allzu offen die hohe Meinung darlegte, die er von sich und seinen Reichtümern hegte; er sprach von seinen Schlössern, warf einen verächtlichen Blick auf die anderen ostpreußischen Granden, die außer dem goldenen Vließ ihres Namens und dem weniger goldenen ihrer Schafe von ihrem Ahnherrn oft nur mit kärglichem Besitz bedacht seien; er sprach von seinen Weltreisen.

»Man heiratet doch nicht, um zu reisen,« versetzte Cäcilie, in der sich allmählich auch gegenüber dem hochfahrenden Manne etwas Feindseliges regte.

»Mein Fräulein, es gibt unter dem wechselnden Monde kein Ja und Nein, welches sich auf die Dauer behaupten ließe. Leider muß ich für heute Ihr Nein mit auf den Weg nehmen. Doch ich darf der Zukunft harren, und komme, was mag, ich halte mich jetzt für gebunden! Sie haben ein Recht auf meine Hand!«

Diese Wendung empörte Cäcilie; sie erhob sich rasch und schritt auf den Vorhang zu. »Wenn Sie von solchen Rechten sprechen, so kenne ich jemand, der offenbar ein größeres Recht auf Ihre Hand hat als ich.«

Und hinter den Vorhang tretend, ergriff sie Käthchens Hand, die dort im Alkoven verweilte, und führte das Mädchen in ihr Zimmer.

Herter war aufgesprungen. Jetzt fuhr er zurück wie von einer Schlange gestochen. Die Schändliche! Sie hatte geplaudert; sie trug also die Schuld dieser unglaublichen Ablehnung.

»Ich verzichte auf meine Rechte,« sagte Cäcilie; »verständigen Sie sich mit diesem Mädchen über die seinigen. Ich lasse Sie allein.« Und Cäcilie verließ mit leichtem Gruß das Zimmer.

In größter Aufregung stürzte Herter auf Käthchen los; doch diese schwang sich blitzschnell auf das Fensterbrett und rief, das Kreuz des offenstehenden Fensters umklammernd: »Keinen Schritt weiter, oder ich stürze mich hinunter!«

Herter kannte seine wilde Katze und trat zurück.

»Du hast mein Vertrauen mir in empörender Weise gelohnt!«

»Ich liebe meine Herrin und ich will sie nicht unglücklich sehen in den Armen des schönen Paul, dem die Treulosigkeit angeboren ist.«

»Liebe, du kennst sie nicht! Der Haß liegt in deiner Art; dir ist nur wohl, wenn du die Teufelskralle zeigen kannst!«

»Liebe … o, ich kannte die Liebe! Sprich nicht so, Paul! Und ihr Glück … was hab' ich nicht dafür hingegeben! Es wird mir wehmütig gruselig zumute; denn die schöne Dame ist jetzt ein aschgraues Gespenst geworden, das mich verfolgt! Und du hast sie so garstig umgeschminkt! Doch warum, Paul, willst du eine heiraten, die du nicht kennst? Heirate lieber mich … wir sind alte Bekannte … und vielleicht bekommst du keinen Korb von mir.«

Sie schlug ein spöttisches Gelächter auf.

»Genug! Alle meine Wohltaten hast du zurückgewiesen; nichts hast du für mich als schnöden Undank! Ich ziehe für immer meine Hand von dir ab! Hier aber sollst du nicht bleiben; denn noch halte ich meine Hand über dies Schloß und gedenke nicht für immer als Besiegter abzuziehen.«

In höchster Erregung verließ Herter Cäciliens Zimmer und ging augenblicklich zum alten Nortmann. Was er ihm da sagen mußte, war ihm peinlich: doch, mein Gott, man ist einmal Mensch und Millionär und deshalb doppelt sterblich. Ohne Umstände teilte er dem gespannt auflauschenden Hausherrn mit, welchen Empfang er bei seiner Tochter gefunden; er schob dies auf Käthchens Verhetzungen und deutete mit möglichst gleichgültiger Miene an, daß er mit dem leichtfertigen Kinde ein kleines Verhältnis gehabt, fest überzeugt, daß ein Mann von Welt für diesen erlaubten Sport eines jungen Kavaliers nur ein feines Lächeln haben werde. Nortmann, der allmählich in eine Rotglühhitze geriet, hörte mit halbem Ohr auf diese kleine Geschichte, warf nur rasch hin, das Mädchen müsse aus dem Hause; ganz aber erfüllte ihn Zorn und Ingrimm über Cäciliens Weigerung. Wenn Cäcilie einem anderen ihr Herz zuwende, so werde er damit kurzen Prozeß machen. Am besten sei es gleich, die Hochzeit festzusetzen. Drei Wochen, vier Wochen … eine Ausstattung sei rasch zusammengenäht und zusammengekauft. Über einen Schrank mit schöner Leinwand vergäßen die Mädchen leicht einen sogenannten Geliebten. Man müsse nur Ernst machen mit der Mitgift und mit der Kirche; er werde die Werbung des Freundes aufrecht erhalten und seiner Tochter schon Räson beibringen. Herter vertraute ganz auf das väterliche Ansehen und auf seine eigene Liebenswürdigkeit, welche doch zuletzt jeden Gegner aus dem Felde schlagen müsse. Gleichwohl halte er's für das beste, sich zunächst auf einige Zeit zu entfernen, in der Hoffnung, es werde allmählich bei der Geliebten das Gefühl der Reue und vielleicht auch der Sehnsucht erwachen. Nortmann schloß ihn beim Abschied freundlich ans Herz und erklärte, er werde ihn bald wieder nach Wieselau rufen und die Hochzeit festsetzen.

Noch an demselben Tage sollte ihm die schwerste Kränkung seines Lebens beschieden sein. Doktor Wilbert ließ sich anmelden und bat um eine wichtige Unterredung unter vier Augen. Nortmann hatte anfangs Lust, ihm ungehört die Tür weisen zu lassen; doch es dämmerte in ihm die Ahnung auf von etwas Entsetzlichem; er wollte klar sehen und mit einem Zug den ganzen Giftbecher leeren.

Wilbert wurde vorgelassen. Nortmann empfing ihn wie einen Landesfeind, der sich ins Lager geschlichen. So groß war damals die Erbitterung der Parteien, wie sie sonst nur in oder nach blutigen Bürgerkriegen zu sein pflegt. Und doch waren sie sich nur mit Worten gegenübergetreten.

»Was verschafft mir die Ehre?« sagte er kühl.

Wie peinlich empfand es Wilbert, einem Manne gegenüberzustehen, von dessen Hand er das höchste Glück seines Lebens zu erhalten wünschte und der ihn wie einen Missetäter betrachtete, über den er ein Strafgericht verhängen sollte.

»Wir sind politische Gegner, Herr Amtsrat, aber das hat mit persönlicher Wertschätzung nichts gemein. Der Mann und sein Charakter – das ist die Hauptsache, und wenn ich das bei Ihnen achte, so hoffe ich gleicher Achtung gewürdigt zu werden. Der Kampf der Meinungen ist einmal heftig entbrannt; aber alle Parteien wollen das Wohl des Vaterlandes.«

»Mit Unterschied, mein Herr! Die einen mit Verstand, die anderen mit Unverstand – und dies kann dem armen Vaterlande nicht zum Heile gereichen.«

»Ich bin nicht gekommen, um hier einen politischen Streit auszufechten. Sie werden sich jedenfalls wundern, daß ich zum zweitenmal über die Schwelle Ihres Hauses trete. Ich kann mich kurz fassen: ich liebe Ihre Tochter!«

Nortmann fuhr zusammen und wurde rot wie ein kollernder Truthahn. Er konnte kaum Worte finden, um seine Bestürzung auszudrücken; er verfiel in ein Silbenstolpern wie ein Gelähmter.

»Unerhört … Sie wollten … Sie wagten … mein einziges Kind …?«

»Ich würde es nicht wagen, um ihre Hand zu werben, wenn ich nicht wüßte, daß auch sie mir ihr Herz in Liebe zugewendet hat.«

Krampfhaft klammerte sich der Amtsrat an die Lehne eines Schaukelstuhles, der, als er die Hand wieder losließ, um sie wie zur Abwehr dem Eindringling entgegenzustrecken, in stürmische Bewegung versetzt wurde.

»Hinter meinem Rücken … wo in aller Welt ist das alles vorgegangen? Wo bin ich denn? Wo bleib' ich denn? Nein, nein, Sie irren sich! Das wünsch' ich, das verlang' ich! O, mir raucht der Kopf!«

»Es bedarf ja nur einer Frage … Cäcilie selbst wird es Ihnen nicht verschweigen, daß sie mich liebt.«

»O ja … sie hat ihre Mucken in letzter Zeit … ich weiß! Sie trotzt mir, will meine Pläne kreuzen! Doch mit Mädchenlaunen werd' ich schon fertig werden … dazu bin ich ganz der Mann. Heimliche Liebschaften und dergleichen soll einen Bund fürs Leben begründen. Nein, nein! Was meine Tochter sagt oder empfindet, fällt gar nicht ins Gewicht. Ich habe mit ihr andere Pläne, und das ist die Hauptsache.«

»Seien Sie überzeugt, ich werde Ihr Kind glücklich machen! Ich habe eine wissenschaftliche Laufbahn erwählt, die, sollte sie mir in Preußen verschlossen werden, mich in anderen deutschen Staaten zum Ziele führen wird. Ich habe Eifer, Fleiß, ich hoffe auch Begabung und ein kleines Vermögen …«

»Schenken Sie mir Ihren Steckbrief, junger Mann. Was die Regierung Ihnen verschließen wird, weiß ich nicht; doch davon seien Sie überzeugt, daß ich Ihnen mein Haus verschließe, jetzt und für immer. Ich sag' es offen, ich hasse Sie Ihrer Überzeugung wegen und würde Sie verachten, wenn Sie dieselbe wie einen Handschuh umdrehen, verleugnen wollen.«

»Das wird niemals geschehen!«

»Und niemals werden Sie mein Schwiegersohn! Die Eltern haben Macht über ihre Kinder und ein Recht, diese Macht auszuüben. Durch unsere Sorge sind sie geworden, was sie sind; wir müssen sie vor Torheiten schützen. Meine Tochter wird den Mann heiraten, den ich ihr ausgesucht; doch wäre auch kein so annehmbarer Freier vorhanden: einen Empörer und Aufwiegler …«

»Halten Sie ein, Herr Nortmann! Ich kann's nicht glauben, daß Sie mich beleidigen wollen, der ich mit einem ehrlichen Antrag mich an Sie wende! Sie werden Ihr Kind unglücklich machen.«

»Wenn der Unfrieden in mein Haus kommt, so ist das Ihr Werk allein. Sie haben sich auf heimlichem Wege in das Herz meiner Tochter geschlichen, ich muß es fürchten, da Sie es so fest behaupten … doch ich werde Sorge dafür tragen, daß dieser Spuk vor dem nächsten Hahnenschrei vergeht.«

»Ist das Ihr letztes Wort?«

»Man kennt mich hierzulande: ich bin der Mann mit dem eisernen Arm; wer mir im Wege steht, den schlag' ich nieder! Doch wie mein Hausrecht werd' ich auch das Recht des Vaters zu wahren wissen.«

Von diesem schroffen, leidenschaftlichen Manne, dessen Starrköpfigkeit in der ganzen Provinz bekannt war, konnte Wilbert kein Entgegenkommen, keine versöhnliche Neigung erwarten, nicht jetzt, nicht später; er mußte sich seine Liebe erkämpfen, und ohne gewaltsame Mittel konnte solcher Kampf nicht durchgeführt werden. Mit dieser Überzeugung schied Wilbert von dem eigenwilligen Gutsherrn, der ihn kaum eines leichten Abschiedsgrußes würdigte. Die Tochter jetzt zu sprechen, war unmöglich; doch zur rechten Zeit kam ihm Käthchen in den Weg und er konnte durch sie eine Abendstunde bestimmen, in welcher er wieder draußen vor dem Gartenpavillon der Geliebten harren würde. Käthchen teilte ihm in aller Eile mit, daß ihr gekündigt worden, und daß sie den Dienst hier verlassen würde. Wilbert begab sich auf einen weiten Weg, in die Wälder und Berge. Schon lag abendrötlicher Schimmer darüber gebreitet, funkelte auf dem Wetterhahn des alten Kirchturms und stahl sich in den Spiegel des Bachs, der unter Erlen vorüberrauschte. Frieden überall. Die Waldhänge waren mit einem goldenen Saum umzogen und die Wipfel, die sich flüsternd neigten, wurden sanft verklärt durch das scheidende Licht. Doch so friedlich sah es nicht im Herzen des Wanderers aus: da rang sich aus langen, schmerzlichen Kämpfen ein fester Entschluß hervor. Cäcilie mußte das Vaterhaus verlassen, um dem tyrannischen Zwang zu entgehen, der über ihr Herz und ihre Neigung gebieten wollte. Und wenn sie selbst in so rauher Luft nicht verkümmert war, sondern zu schöner Blüte gediehen – das war eine Gnade der Natur, die sie so reich und herrlich ausgestattet und ihr eine unbewußte Widerstandskraft verliehen hatte gegen alles Feindselige, was sie umgab und bedrohte. Und zu diesem Feindseligen gehörte vor allem der eigene Vater. Jetzt, wo sie zum erstenmal ein freies, inneres Leben entfaltete, streckte er seine Hand aus, um es zu ersticken. Es mochte ihr schmerzlich sein, den Vater und die Heimat zu verlassen; doch die Notwehr gebot es, und sie verließ ja nichts, was ihr Heil und Segen gebracht hätte. Wechselnde Pläne in der Seele, schritt Wilbert durch die Dämmerung, die allmählich in ihr graues Gewand die Gegend hüllte. Die im Westen am geröteten Himmel aufsteigende Venus war dem Wanderer ein freundlicher, verheißungsvoller Leitstern, über allem Dämmer und Grauen der Erde das Licht der Schönheit und der Liebe. Die Hoffnung, die Geliebte wiederzusehen, beflügelte seine Schritte; lange vor der festgesetzten Zeit war er in der Haselbuschrunde unter dem Pavillon. Im Osten stieg der volle rote Mond empor: anfangs strahlenlos; erst allmählich, als er sich über die dichteren Luftschichten der Erde erhoben, ermannte er sich, besann sich auf seine himmlische Sendung, und der Wipfel der alten Fichte hinter den Haselstauden fing sein erstes Silber auf. Da erschloß sich das Reich der Träume, alle Hindernisse schienen hinwegzuschmelzen; Wilbert fühlte nur die Freude der Erwartung und Hoffnung auf das Glück der Liebe.

Cäcilie hatte einen schweren Tag durchlebt, der ihr Innerstes tief erschütterte. Die Unterredung mit dem Vater hatte sie geknickt und gebrochen. So heftig war Nortmann geworden, so laut hatte er seine Stimme erhoben, daß das Gesinde im Flur und an den Fenstern zusammenlief, denn solcher Sturm war immer bedrohlich und fegte zuletzt auch die Treppen herunter und durch Haus und Hof. Als Cäcilie gestand, daß sie Wilbert liebe und immer lieben werde, da hatte er sich kaum zu fassen vermocht und die Hand wie zum Schlage erhoben: dann wetterte er los über Lug und Betrug und Mangel an kindlicher Liebe, drohte mit Einsperrung bei Wasser und Brot, beschwor den Feuerregen herab auf Königsberg, dies Sodom und Gomorrha, und alle die Abtrünnigen. Dann aber tat er seiner Tochter kund und zu wissen, daß er Herrn Herter wieder nächstens einladen werde, und zwar zur Verlobung, auf welche bald die Hochzeit folgen solle. Widerspruch dulde er nicht; nur durch Gehorsam könne Cäcilie gutmachen, was sie durch heimliche Liebe verschuldet habe.

Cäcilie kannte ihren Vater. Seine Härte hatte sie heute zurückgestoßen und ihm ganz entfremdet; es war alles so öde, so unheimlich ringsum; sie pilgerte zum Grabe ihrer Mutter, das auf dem Dorfkirchhof lag, unter einer Traueresche, von Efeu und Rosen umrankt. O, wenn die Mutter wüßte, was das Herz ihrer Tochter bewegte, wenn sie ihr hätte raten, helfen können! Mit heißen Tränen im Auge rang sie die Hände und drückte auf das kalte Kreuz ihr glühendes Gesicht. Dann war's ihr auf einmal, als komme eine selige Ruhe über sie, als flüstere ihr aus dem Gezweig der Esche, hinter dem eben dieselbe Venus emporstrahlte, die Wilbert auf seiner Wanderung gesehen, ein Wort der Liebe zu. Liebe … wohin sie uns winkt, da sollen wir folgen … das meint ja auch der freundliche Stern … folgen ohne Wahl und mit dem ruhigen Glauben im Herzen, daß sich alles zum Guten wenden werde. Leise hauchte der Abendwind über die Stirn und das Haargelock. Rührte der Mutter Segen mit leisem Finger des Kindes Haupt? Es kam über sie ein Gefühl der Beruhigung, und als die schwerfällige Glocke des alten Turmes das letzte Viertel vor der verabredeten Stunde schlug, da begab sie sich auf den Heimweg und in den Garten und erschien mit dem Glockenschlag im Pavillon.

Und ihm war's, als ging' ein Rauschen durchs Gezweig, um sie zu begrüßen, als webte der silberne Mondenduft um sie ein Traumgewand. War sie es denn wirklich oder war es nur das Bild seiner Träume?

Doch sie streckte ihm ja die Arme entgegen, wie um ihn zu umfangen; dann aber rang sie die Hände.

»Wir sind geschieden, Ernst.«

»Du weißt alles?«

»Alles!«

»Und doch ist's unmöglich! Ich könnte nicht leben ohne dich. Und schon jetzt … so nah und doch so fern … keinen Kuß von glühenden Lippen … die schöne Gestalt sich herniederneigend, unerreichbar wie von einem anderen Stern!«

»Und auch so werden wir uns nicht wiedersehen. Käthchen muß das Haus verlassen; ich habe keine andere Vertraute … es ist das letzte Mal, es ist der Abschied für immer!«

Eine Träne glänzte in ihrem Auge; dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

»Für immer … das wäre graue Finsternis für mein Leben. Schon oft hatte ich einsame Stunden, wo das tote Ticktack der Weltenuhr mich entsetzte, das uns die Jahreszeiten zuweist und das Stückchen Leben und den ewigen Tod: nichts als Zahlen und Ziffern und die uralte Maschine, die durch alle Himmel rollend ihren Gang geht. Gegen so grenzenlose Geistesödigkeit mußte ich mich zur Wehr setzen, und mein nach Leben dürstendes Herz kämpfte oft vergeblich dagegen an. Jetzt, seit ich dich gesehen, dich einmal, wenn auch nur flüchtig, ans Herz gedrückt, da hör' ich nichts von diesem unheimlichen Getriebe einer rechnenden Weltseele; da fühl' ich warm pulsierendes Leben, und alles, was da draußen grünt und blüht, schimmert und strahlt, das füllt auch mein Inneres mit Glanz und Duft und Farbe. Ich spüre es an meines Herzens Schlag, daß die Welt für das Glück, für die Freude geschaffen ist; doch wenn ich dich verlöre …«

»Und wenn ich dich verlöre … unbegreiflich würde es mir scheinen, daß eine Blume noch blühen kann, vor meinem Fenster, in meinem Garten, daß sie nicht alle die Köpfchen senken, geknickt, zerschlagen wie ich selbst, wie mein Herz, mein Leben.«

»Wenn du mich liebst, wenn du mir vertraust,« rief jetzt Wilbert mit freudigem Aufschwung, »so kann noch alles anders werden!«

»Und was soll ich tun?«

»Höre mich! Ich habe in Königsberg eine Freundin, eine geistreiche, liebenswürdige Jüdin; sie würde dir, wenn du dein väterliches Haus verlassen wolltest, eine heimliche Zuflucht gewähren. Dort könnten wir uns sehen und sprechen und alles vorbereiten für einen dauernden Bund der Liebe.«

»Meinen Vater verlassen?« rief Cäcilie mit banger Erregung.

»Gibt es eine andere Wahl? Doch dazu gehört ein volles, ein grenzenloses Vertrauen … und ich weiß nicht, ob du es mir schenken willst!«

»Ein Vertrauen ohne Ende … zweifelst du? Und doch … mit allem zu brechen, was uns bisher das Teuerste war, was uns heilig sein sollte?«

»Ich fühle mit dir den schmerzlichen Zwang der Entscheidung. Doch wenn du fest überzeugt bist, daß dein Vater niemals nachgeben werde …«

»Das wird er niemals!«

»So wage glücklich zu sein … komme, was mag! Vielleicht daß eine kühne unwiderrufliche Tat auch den Unbeugsamen nachgiebiger macht. Käthchen muß zwar aus dem Hause, doch sie soll hier einige Zeit im Gasthofe des Dorfes bleiben; es wird für sie gesorgt werden. Bist du aber bereit, den entscheidenden Schritt zu tun, so gib ihr schon jetzt beim Umzug einen Teil deiner Sachen mit, die du am nötigsten brauchst. Sie wird sich schon ins Haus zu schleichen wissen, und durch sie sollst du erfahren, wann ein Wagen hier im Wäldchen halten wird. Einer meiner Freunde wird die Pferde lenken, du steigst mit Käthchen ein. Ihr kommt spät abends in Königsberg an; am Tor erwart' ich dich und durch stille Gäßchen führ' ich dich zu meiner Freundin. Du erscheinst als ihre Gesellschafterin, ein Fräulein Jenner. Doch du bist eine Gefangene, bis ich dir die Freiheit geben kann. Frage nicht nach allem anderen: sicher ist uns ja das heiß ersehnte Glück, daß nichts zwischen uns tritt, wenn wir mit Blick, Wort und Kuß Grüße der Liebe tauschen wollen.«

Cäcilie rang mit einem schweren Entschluß.

»Und deine Freundin?«

»Ist treu und verschwiegen.«

»Und dein Freund?«

»Du bist in seinem Schutz so sicher wie in dem meinigen. Er möge das Gespann lenken, wir vermeiden den Schein der Entführung; auch bin ich hier bekannt und ein Zufall könnte mich verraten.«

»Und mein Vater? Vielleicht jammert er um die Vermißte und fürchtet das Schlimmste.«

»Hinterlasse ihm ein Schreiben: du seiest geflüchtet vor dem Zwang, mit dem er dich bedroht; du hättest ein geheimes sicheres Asyl gefunden; er möchte dich jetzt nicht suchen, es würde vergeblich sein und Aufsehen erregen; niemals würdest du Herters Braut!«

Cäcilie bedeckte ihr Gesicht schluchzend mit den Händen: sie verließ den Pavillon, um ihre Erregung zu bemeistern. Mit klopfendem Herzen schritt sie in den Gängen des Gartens auf und ab. Eine Nachtigall klagte aus den Fliederbüschen, eine voll erblühte Rose neigte, schwer vom Nachttau, das Haupt. Ein Nachtfalter summte mit dickem Kopf vorüber, und eine schwarze drachenförmige Wolke verschlang den Mond, so daß auf einmal alles im Nachtgrauen lag und ein schwarzes Tannengehege, nicht lichter als die Nacht, sich breit und schwer vor den verhüllten Sternenhimmel schob.

Ein unendliches Angstgefühl bemächtigte sich des Mädchens; rückwärts gewandt, sah sie im Hause ein durch die roten Vorhänge schimmerndes Licht: es war die Lampe, an der ihr Vater arbeitete. So heimatlich, so tröstlich rings in der licht- und seelenlosen Öde; es winkte die weit ausschweifenden Gedanken zurück an den stillen Herd, wo dem Gehorsam des Kindes der Frieden mit freundlichem Lächeln lohnte. Und so schwer, so unheilvoll schwer sollte sie das Herz des Vaters kränken, der zwar nicht an ihr tat, was recht war, der aber immer ihr Vater blieb?

So schritt sie hoffnungslos auf und ab, mit wechselnden Entschlüssen kämpfend.

Da brach der Mond wieder durchs Gewölk, und es schien, als ob sein zauberisches Licht die Erde verwandle; hellseherisch blickte Cäcilie auf einmal in eine wundersam verklärte Zukunft. Und da erlosch auch das Licht der Lampe im Vaterhause hinter ihr; sie aber schritt wie eine Nachtwandlerin durch die Traumlandschaft festen Schrittes wieder zum Pavillon empor. Dort unten stand er ja, der ihrer harrte, an dessen Herzen ihre Zukunft lag. »Ich komme … ich werde kommen … lebe wohl!« Inbrünstig, glühend sprach sie diese Worte; dann breitete sie wie segnend ihre Hände über den Geliebten aus, und kaum den Dank des Beseligten abwartend, wandte sie sich zum Fortgehen, als könnte auf ein so großes, so entscheidendes Wort nichts mehr folgen als die Tat.

*

Etwa acht Tage mochten seit jenem Abschied verstrichen sein, als Wilbert in höchster Aufregung über die Brücke des Schloßteichs ging. Im Börsen- und Logengarten flammten Lichter und bunte Ballons spiegelten sich im Teiche; rauschende Musik ertönte; der Teich war mit Kähnen bedeckt, Lieder erklangen und ein fröhliches Leben bewegte sich darauf. Doch Wilbert hatte ein Gefühl unendlicher Bangigkeit, welches durch diesen Jubel der Menge ringsum nur erhöht ward; Freude und Glück lagen vor ihm, aber sie konnten ihm verhängnisvoll werden, und nicht grundlos waren die dumpfen Ahnungen, die seine Brust beklemmten. Er schritt dem Steindammer Tor zu: heute mußte er Cäcilie erwarten. Doch wie, wenn alles fehlgeschlagen, wenn sie im letzten Augenblicke sich besonnen und vor dem kühnen Entschluß zurückgeschreckt; wenn Doktor Martin keine glückliche Hand gehabt? Es waren die Würfel gefallen, die über ein Lebensschicksal entschieden, und auf ihm ruhte eine schwere Verantwortung. Mit fieberischer Hast näherte er sich dem Tor. Es war hier alles still und tiefdunkel; der Schein zweier schwankender Laternen warf nur einen matten Lichtschimmer in die Nacht. Gespannt horchte Wilbert auf den Lärm jedes ankommenden Wagens. Ein paar herrschaftliche Equipagen rasselten über das Pflaster; man kehrte von einem Landbesuch zurück. Sah er Gespenster? War das nicht der lange Herter, der dort aus dem offenen Wagenfenster hervorlugte und dann, zurückgelehnt, den mißliebigen Überschuß seiner Gliedmaßen, so gut es gehen wollte, in dem engen Kasten unterbrachte? Der flüchtige Lichtblick der Laterne hatte ihn nicht getäuscht! Wie, wenn Herter das Fuhrwerk des Doktors Martin zufällig erblickt, wenn er Cäcilie erkannt hätte? O, welche Gefahren lauerten überall!

.

Endlich … er glaubte Käthchens heiteres Gelächter zu vernehmen, und da wurde auch schon der Grundbaß des Doktors Martin hörbar, der seine etwas müden Rößlein mit lustigem Peitschenknallen ermutigte. Doch noch vernahm Wilbert nicht den Klang der Stimme, die ihm so ins Herz zu dringen pflegte. War das kühne Unternehmen mißlungen? Fehlte die dritte, die Geliebte? Doch nein, Martin hatte ihn erkannt … der Wagen hielt … ein leichter Aufschrei und Cäcilie lag in seinen Armen. Käthchen war in ausgelassener Stimmung über die verwegene abenteuerliche Fahrt, die so herrlich geglückt war; doch die beiden mußten noch mit dem Wagen und dem Gepäck, welches morgen zu Fräulein Michal gebracht werden sollte, in eine Ausspannung fahren. Wilbert aber wanderte, im Arm das geliebte Mädchen, durch die einsamen Nebengassen des Steindamms und die lärmenden der Altstadt, der städtischen Pregelinsel, dem Kneiphof zu. Die tiefverschleierte Cäcilie bebte vor Lust und Bangen im Arm des Geliebten. Sie war ja in seiner Macht, so ganz ihm hingegeben, und bei diesem einsamen Gang wuchs die zärtliche und opfermutige Neigung zu glühender Leidenschaft. Alles versank hinter ihr; er war ihr alles geworden.

Rahel Michal empfing die Geliebte des Freundes, die sie bei sich zu verbergen versprochen, mit gastlicher Höflichkeit; aber in ihren Zügen lag etwas Kaltes, Fremdes und Starres, welches durch das gelegentliche verbindliche Lächeln nicht gemildert werden konnte. Sie hatte Wilbert ihre Zusage nicht aus einem Gefühl warmer überströmender Freundschaft, nicht aus edler Hilfsbereitschaft erteilt; es war ein ungelöster Widerstreit unklarer Empfindungen, Neugierde, ihre Nebenbuhlerin kennen zu lernen, der Wunsch, sie in ihrer Macht zu haben, sei es zum Guten oder Schlimmen. Sie wußte selbst nicht recht, wozu dies Abenteuer führen würde, und bisweilen regte sich in ihr ein schwarzseherisches Behagen, daß diese Liebe doch dem Untergang geweiht sein müsse. Sollte sie retten, sollte sie verderben? Die Genien des Lichtes, die Dämonen der Finsternis stritten um ihre Seele; und dieser Kampf, den sie zu verbergen suchte, gab ihren Zügen etwas Larvenhaftes. Fast geängstigt schmiegte sich Cäcilie nach dieser Begrüßung an Wilbert; doch bald lenkte Rahel in das Alltägliche ein, das ja immer beruhigend auf das erregte Gemüt wirkt; sie führte den Gast in das Gemach, das für ihn zurecht gemacht worden und das in einem Alkoven ein prächtiges Himmelbett enthielt; durch dies Zimmer, das an den vorderen Salon grenzte, ging der Weg in Rahels Schlafgemach.

Die alte Sarah leuchtete diensteifrig; sie war nicht mit im Geheimnis; sie wunderte sich über das christliche Kuckucksei, das ihnen da ins Nest gelegt wurde. Dann machte sie vorn ein kleines Abendessen zurecht: Cäcilie sprach wenig, sie war erregt und abgespannt zugleich; was sie getan, schien ihr bisweilen unglaublich, unerhört, und lastete schwer auf ihrer Seele. Rahel ließ ihre tiefen Augen auf ihr ruhen; dann fing sie an, von gelehrten Dingen mit Wilbert zu sprechen, der sich bald selbst mit rückhaltloser Wärme diesem Gespräch hingab. Cäcilie saß da mit müden Augen, hörte nur halb hin auf Rede und Gegenrede und fühlte nur mit Unbehagen, wie Rahels Blicke sie musterten; es lag darin etwas so Herablassendes, fast Bedauerndes … und Wilbert … hatte er sie vergessen? Nein, er wollte zärtlichen Abschied nehmen, als Rahel selbst sie an die Ruhe gemahnt hatte, da sie der Ruhe bedürftig sein müsse; doch Cäcilie erwiderte die Zärtlichkeit des Geliebten nicht; es kam das Gefühl über sie, daß sie in Gegenwart einer Fremden ein verfemtes Liebesglück nicht zur Schau stellen dürfe; sie reichte Wilbert nur herzlich die Hand und wurde dann von Rahel in ihr Gemach geleitet; auch diese begab sich durch die Zwischentür in ihr benachbartes Schlafgemach.

Cäcilie war allein. Wie fremd alles ringsum, wie wenig anheimelnd! Prunkvolle Teppiche, prächtige gestickte Kissen auf dem Diwan. Da war Schnitzwerk an den Wänden von Cherubim, Palmen und Blumenwerk, und auf einem Tische standen goldene Leuchter, Schüsseln und Becken: es war wie ein kleines Abbild vom Tempel Salomonis.

Cäcilie machte ihr Haar im Spiegel für die Nacht zurecht. Warum sah sie so bleich, so niedergeschlagen aus? Sie erschrak vor sich selbst. Sie legte sich in das prächtige Himmelbett und versuchte zu schlafen. Ihr war so heiß, so glühend in dieser dumpfen Luft; die schweren Fußkissen stieß sie beiseite, die Decke streifte sie ab.

Die Augen hatte sie geschlossen, und im Halbtraum taumelten die bunten Bilder des letzten Tages vor ihrer Seele vorüber. Endlich verfiel sie in Schlummer. Da ging die Tür, und herein trat Rahel im Nachtgewand, in der Hand eine halb verdüsterte Lampe. Sie hatte ein Recht, für ihren Gast zu sorgen; man hatte versäumt, ihm eine Nachtlampe ins Zimmer zu setzen. Doch was sie trieb, war eine innere Unruhe; sie konnte nicht schlafen, sie mußte die Nebenbuhlerin, die ihr so nahe war, sehen, sprechen. Sie trat näher an das Lager heran; die Lampe warf ein helles Licht auf die Schlummernde. In der Tat, es war ein Mädchen von rührender Schönheit; ein Hauch knospenhafter Unschuld lag auf den holden Zügen; und doch, es war nicht die dürftige Unschuld der mittelalterlichen Heiligen; voll war der süße Leib erblüht, das plauderte die verschobene Decke aus. So anmutig geschwungen die Augenbrauen, ein so liebliches Lächeln um die Lippen; nur ein kleines Fältchen auf der Stirn sprach von der Angst eines Traumes.

O Reiz der Jugend, vergänglich zwar, doch siegreich vor dem Vergehen! Neidvoll blickte Rahel auf diese lügnerischen Reize.

Und unschuldsvoll … was ist die Unschuld? Hat diese mir nicht ein Glück gestohlen? Sie soll es wenigstens wissen, vielleicht lagern sich da mehr Falten auf dieser Stirn, und ich jage etwas Fieber in diese ruhigen Pulse. Der Lichtschein der Lampe fuhr blendend in das Gesicht der Schlummernden, daß sie die Augen rieb und erwachte. Sie fuhr zusammen, als sie über sich den düsteren Flammenblick der Jüdin sah, wie ein Täubchen sich duckt vor dem spähenden Habicht, der über ihm schwebt; in der Fortsetzung eines Traumes glaubte sie eine Mörderin zu sehen, die sich an ihr Lager geschlichen, und schaute um nach dem Dolch in ihrer Hand.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte Rahel, »ich kam nur, um Ihnen die vergessene Nachtlampe zu bringen; es schläft sich schlecht und ängstlich so ganz im Dunklen.«

»Ich danke,« versetzte Cäcilie mit bebenden Lippen, indem sie die Decke errötend in die Höhe zog.

»Was fürchten Sie?« fragte die Jüdin, »haben Sie ein böses Gewissen?«

»Ich habe niemandem etwas zuleide getan.«

»Glauben Sie? Wer kann es wissen! Sie haben eine Feindin: daß Sie jung sind, daß Sie schön sind, daß Sie lieben, und vor allem, daß Sie geliebt werden, damit haben Sie ihr weh getan. Sind das nicht Verbrechen genug … und was fragt Feindschaft nach Schuld? Aber wir jubeln über die Vernichtung unserer Feinde; das ist Brauch bei uns seit uralten Zeiten.«

Unwillkürlich faltete Cäcilie die Hände, als müsse sie um Gnade flehen.

»Was soll das mir?« rief sie angstvoll.«

»Das sollst du gleich erfahren. Plaudern wir ein wenig, mein Kind. Es plaudert sich so gemütlich in der tiefen stillen Nacht, wo nur die Träume und die Gespenster wach sind. Dein Wilbert hatte eine Freundin; doch war er ihr mehr und sie sollte ihm mehr werden. Das stand in den Sternen geschrieben, in denen sie zusammen lasen, in den Sternen der Geister, die am Firmament der Weltgeschichte leuchten. Gibt's einen schöneren Bund als gemeinsames Denken und Fühlen? Das ist der Boden, in dem die unvergängliche Liebe wächst, die weithin schattet über dem Haupt der Glücklichen. So mußte es kommen, so wäre es gekommen, wenn nicht etwas anderes dazwischen getreten: ein Golem, ein Teufelsspuk, eine aus Lehm geknetete Schönheitslüge, welche den Freund behexte. Nichts war ihnen gemein: nicht der Dienst der Gestirne, nicht die Verehrung der Unsterblichen, nicht die Begeisterung für den neuerwachten Genius der Menschheit; nichts als das dunkle Gefühl, welches die Sinne bestrickt und die Seele zu Träumen des Glückes ermutigt. Dieser Golem sind Sie, mein Kind; und das ist keine Schuld, sich zwischen zwei Herzen zu drängen mit dem bißchen Larve und der Teufelsschönheit, die der Kalender früh genug ruiniert?«

Cäcilie hatte sich im Bett aufgerichtet, anfangs mit ängstlich fragenden Blicken, dann mit fieberisch heißer Erregung. Jedes Wort traf sie wie ein Dolchstich; sie war wie vernichtet, und erst der Hohn der letzten Rede weckte ihren Stolz, daß sie sich selbst wiederfand.

»Das wußt' ich nicht, das konnt' ich nicht wissen; doch ich hatte ein Recht, meiner Liebe zu folgen. Doch wer ist jene Feindin?«

»Sie sind in ihrer Gewalt … und Sie dürften nicht klagen, wenn ihr ganzes zertrümmertes Leben über Ihnen zusammenbräche und Sie erstickte, wenn ich über Sie käme wie der Würgengel des Herrn und ausschüttete die Schale des Todes!«

Cäcilie schrak wiederum zusammen; die schöne Jüdin sah aus wie ein Gespenst; zu ihr empor warf die Nachtlampe in ihrer Hand die tiefen Schatten, die unter dem glühenden Auge sich lagerten; um ihre vollen Lippen schien es unheimlich zu zucken; doch da flammte es auch in Cäcilies Augen auf.

»Der heutige Tag hat mich gestählt … ich habe Mut und Kraft und trotze den Nachtgeistern, die mich bedrohen!«

»Gift und Dolch … o, es liegt eine Wollust in der Vernichtung! Sie steinigten ihre Opfer, die Abtrünnigen, die Verbrecher, die Feinde … hundertmal berichten es die heiligen Bücher. Rinnendes Blut, zermalmtes Gebein, der ganze Leib ein Schutthaufen! Und so … ein junges Leben auszulöschen, welches uns feindlich, das nichts ist als Verführung mit dem zarten Schmelz des Leibes, mit dem warmen Atem der sehnsüchtigen Brust, mit dem Blick der Taubenaugen und der erlogenen Unschuld, hinter welcher der Durst lauert nach dem schuldigen Glück … o, wäre das nicht ein Rausch, der vor keiner Sühne zurückbebt! Die Uhr zu zertrümmern, die mit lüsternen Zeigern nach seligen Stunden weist … ist das nicht süße Rache? Und wär's nicht Wonne zu sehen, wie die Natur sich dagegen sträubt, wenn man ihr zartes Gebilde, auf das sie so viel Mühe verwendet, zerbricht! Wenn das so eiskalt rinnt durchs Gebein, all die prunkende Leiblichkeit erstarrt, der wächserne Tod sich bis zum Herzen tastet und dann das Schönheitswunder nichts ist als ein Häufchen Staub, den der feuerschnaubende Ritt der Todesengel mit den Hufen ihrer Rosse zertritt … o Jehova, rächender Gott, gibt's einen entzückenderen Wetterstrahl in deinen Händen?«

Jetzt stieß Cäcilie die Jüdin, die sich über sie geneigt hatte, von sich fort, sprang vom Lager auf und eilte auf den Stuhl zu, über dem ihre Kleider hingen.

»Was wollen Sie?« fragte Rahel, der die Lampe aus der Hand geglitten und auf dem Fußboden zerschellt war.

»Ich will fort von hier … dem Alp entfliehen, der auf mir liegt!«

»Fort? … und wohin?«

»In ein Hotel!«

»Jetzt … einsam … zur Nachtzeit?«

Rahel hatte bisher gesprochen, wie man in wüsten Träumen spricht; jetzt erst brachte des Mädchens entschlossener Aufbruch sie zur Besinnung. Sie strich sich von der Stirn die Träume des Wahnsinns; es waren ja verzweifelte Selbstgespräche, zu deren Zeugin sie eine andere, eine Fremde gemacht hatte.

»Sie werden mich nicht verlassen, mein Kind! Ich werde Sie nicht länger, nicht wieder stören! Solche Anfälle werden sich nicht wiederholen … glauben Sie mir's! Mich quälen oft diese Träume, die sich ins Wachen fortsetzen, und ich habe dann keine Gewalt über sie. Sie müssen doch gesehen haben, wie unheimliche Gespenster mich verfolgen? Suchen Sie ruhig Ihr Lager wieder auf.«

Rahels Ton war ein so verwandelter, daß Cäcilie anfangs darüber erstaunte, dann aber wieder begann, Vertrauen zu fassen zu dem seltsamen Weibe. Sie ließ das Gewand, das sie schon ergriffen, auf den Stuhl zurückgleiten und wandte sich wieder ihrem Ruhebette zu.

»Noch eins müssen Sie mir versprechen,« sagte Rahel, »aber fest und feierlich: kein Wort von dem, was Sie gehört, an Wilbert zu verraten. Es würde ihn mißtrauisch machen, zum Zorn gegen mich entflammen, und das wäre unrecht.«

Nicht einen Augenblick zögerte Cäcilie, das zuzusagen; sie wußte ja, daß in einer Anklage Rahels auch ein Vorwurf gegen den Geliebten gelegen hätte, und wollte jeden Mißton in diesem so reingestimmten Verhältnis vermeiden.

»Und ich gelobe Ihnen,« versetzte Rahel, »daß Sie sicher sein sollen in meinem Schutz, sicher vor mir wie vor anderen. Die Stimme, die aus mir sprach, die zu sprechen wohl ein Recht hatte … sie soll für immer schweigen! Kommen Sie!«

Und sie umfaßte die liebliche Gestalt und führte sie selbst dem Lager zu.

Sanft legte sie das Mädchen, das sich jetzt willenlos von ihr führen ließ, auf das Lager nieder. Dann erschrak sie; es kam ihr auf einmal ein peinvoller Gedanke. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und sprach zu sich selbst:

»So wird er sie führen … und Wonneschauer werden ihn durchbeben … und ich bin vergessen.«

Cäcilie sah stumm das merkwürdige Gebaren der Jüdin, welche jetzt die Scherben der Nachtlampe mit einem kleinen Staubbesen in den Winkel fegte.

»Sie müssen jetzt schlafen in der lichtlosen Nacht,« sagte sie dann. »Nun, Ihnen leuchten ja die schönsten Sterne … nur bei mir drüben ist's dunkel, und flammte ein Lichtmeer um mein Himmelsbett … ein Himmelsbett … o, welche Lüge! Schlafen Sie wohl!«

Und Rahel begab sich in ihr Schlafgemach. Cäcilie aber, wie rätselhaft ihr auch die leidenschaftliche Jüdin erscheinen mochte, dachte jetzt darüber nicht nach; sie hatte nur ein Empfinden: sie war herausgerissen aus dem Frieden des väterlichen Hauses, und eine fremde Welt, wüst und unverstanden, umgab sie. Sie träumte sich in ihr Gemach in Wieselau zurück und darüber schloß sie endlich die Augen.

*

Einige Tage waren seit dem Einzug Cäciliens in die Wohnung der Jüdin vergangen: die Aufregungen hatten sie krank gemacht; sie lag im Fieber und konnte das Bett nicht verlassen. Rahel pflegte sie aufs sorgfältigste, und auch Wilbert blieb oft stundenlang bei ihr; dies Recht hatte ihm nicht nur die Geliebte, auch ihre Wächterin Rahel eingeräumt, die allein oft im Salon die Qualen jenes höllischen Trichters empfand, in welchem der Poet die Eifersüchtigen eingeschlossen. Oft verließ Wilbert spät am Abend das Gemach der Geliebten, welche nicht bloß der Pflege, sondern auch des Trostes bedürftig war; denn die Krankheit hatte ihren frischen Mut gelähmt und sie hatte stets das Gefühl, als ob etwas Entsetzliches in den Lüften lauere. Der junge Doktor traf dann seinen Freund, den Doktor Martin, in seinem Stammlokal. So war's auch an einem schwülen Juliabend; Martin saß bei einem Glase Grog. Und diesmal war er nicht allein, Käthchen war bei ihm, duftig und luftig, schalkhaft unterm Strohhut hervorlächelnd, den sie nicht abgelegt, weil der Spiegel ihr gesagt, daß er ihr allerliebst stehe.

»Setze dich zu uns,« sagte Martin mit seinem tiefsten Baß; »ich sage zu uns, denn das kleine Ding gehört jetzt zu mir. Ich glaube, es ist die beste Art, mit den Semestern, die sonst kein Ende nehmen wollen, abzuschließen, wenn man sich verheiratet. Da ist der Philister mit einem Schlage fertig. Ich hab' mir's überlegt, und da mir gerade dieser Kobold in den Wurf gekommen ist, so nehm' ich den zur Frau.«

Käthchen schmiegte sich lächelnd an den Bräutigam; nach seinen Erklärungen konnte er die Auszeichnung nicht ablehnen, die in dieser neuen Würde lag.

»Es wundert dich vielleicht daß ich gerade das Käthchen nehmen will! Eine Cousine ist sie von mir, doch das ist nichts Kanonisches; eine wilde Katze ist sie … das ist schon schlimmer.«

Käthchen warf ihm ein paar zornfunkelnde Blicke zu; doch er ließ sich dadurch nicht in seinen Selbstbekenntnissen stören.

»Ihre Vergangenheit ist nicht ganz fleckenlos; ruhig, Käthchen, nicht gemuckt! Wenn jemand ein Recht hat, dir den Spiegel vorzuhalten, so ist's dein sogenannter Bräutigam, der die Ehe sparsam anfangen kann und in Myrtenkränzen nichts zu verschwenden braucht. Man kann in der Welt nicht immer der erste sein; man heiratet ja auch Witwen und geschiedene Frauen, und das ist, abgesehen von einem kleinen Formfehler, ziemlich dasselbe. Gleichviel … diese Sünderin wird jetzt durch eine solide Ehe zurechtkalfatert; diese Magdalena soll Buße tun unter der Zuchtrute eines gestrengen Eheherrn.«

»Doch wie ist das so rasch gekommen?« fragte Wilbert.

»Es ist gar nicht rasch gekommen,« warf Käthchen ein; »wir lieben uns schon lange, wir wußten es nur nicht!«

»Da siehst du die Schwärmerin; etwas vom Mondschein bleibt an den wilden Katzen hängen, die auf die Dächer klettern. Wir lieben uns im Gegenteil erst seit ganz kurzer Zeit. Doch das genügt vollkommen … wenn auch das eine Ende unserer Liebe kurz ist, so ist doch das andere desto länger, das ja in eine jahrelange Ehe hineinreicht. Wir sind in letzter Zeit mehrmals durch den Wald gefahren; einmal, als ich sie vom Förster abholte, dann mit der stummen Begleitung deiner Cäcilie. Da fand ich denn, die Kleine hat Temperament, Rasse … das ist die Hauptsache; außerdem possierliche Einfälle, gescheite Gedanken und hing an mir wie eine Klette … mit Recht! Ich habe ja, was ich bald vergessen hätte anzuführen, sogar schon einen Schuß Pulver an sie verschwendet und die bösen Zungen Lügen gestraft, welche etwa behaupten wollten, daß sie keinen wert sei. So … das sind Gründe genug … und nun wird geheiratet.«

Trotz der anwesenden Gäste fiel Käthchen dem Doktor Martin um den Hals und küßte ihn herzlich.

»Doch nun zu deinen Angelegenheiten,« fuhr Martin fort; »Cäcilie wird sich hoffentlich bald wieder erholen, bei der Jüdin darf ihres Bleibens nicht sein. Vater Nortmann hat überall seine Spione, noch mehr der lange Paul, dem die Milch jetzt freilich sauer geworden ist, der aber diese Enttäuschung und Schmach nicht verwinden kann. Er würde dir schon längst seine Nähe und seinen Zorn fühlbar gemacht haben, wenn nur irgend ein Beweis gegen dich vorläge. Man ist zwar davon überzeugt, daß du der Schuldige bist; man lauert dir auf Schritt und Tritt auf; doch merkwürdigerweise sind gerade deine Besuche bei der Jüdin, von denen man wohl Wind bekommen hat, die unverdächtigsten; man hat sich erkundigt und erfahren, daß du schon seit lange mit der jungen Dame eine Liaison hast.«

»Eine Liaison …? Wer kann das behaupten?«

»Freue dich doch, daß man's glaubt … und was ist weiter dabei? Ihr habt Dante gelesen … ob das Inferno oder das Paradies, wer weiß dies denn so genau? Genug, vorläufig ist Cäcilie dort sicher. Doch auch mir hängen sich schon die Kundschafter an die Fersen. Da ist der Milech.«

»Und mir fällt dabei ein,« sagte Wilbert, »daß mehrfach Fremde in meiner Wohnung waren, sich erkundigten, ob sie demnächst zu vermieten sei, und von der Wirtin allerlei befremdliche Auskunft verlangten.«

»Siehst du,« versetzte Martin, »Herr Herter wirft das Geld mit vollen Händen aus, daran darfst du nicht zweifeln! Man wird euch früher oder später gewaltsam trennen, wenn nicht vorher etwas Entscheidendes geschehen ist. Ich bin unablässig tätig und hoffe in den litauischen Wäldern für euch einen Pater Lorenzo gefunden zu haben. Du kennst ja, wenigstens von Ansehen, den alten ›Schmiß‹, den der Willen seiner Eltern und der Zorn des Himmels zum Theologen gemacht hat. Er ist einer meiner besten Freunde. Vor kurzem hat er ein vermögendes Mädchen geheiratet und beabsichtigt, seine Pfarre aufzugeben und sich ein Gut zu kaufen. Ihm kommt's nicht weiter darauf an, in eine Disziplinaruntersuchung verwickelt und von seinem Amt suspendiert zu werden; er wird euch auch ohne Konsens der Eltern trauen; ja, ich glaube fast, es macht ihm Vergnügen, den vorgesetzten Behörden vor seinem Abgang noch einen Streich zu spielen. Eine solche Ehe, bei welcher der Herr Geistliche ein Versehen gemacht hat, hält aber in kirchlicher Hinsicht fest wie jede andere: sie ist einmal eingesegnet und es gibt keinen widerruflichen Segen.«

Käthchen klatschte in die Hände. »Da können wir uns ja gleich als Zugabe trauen lassen!« rief sie aus.

»Gut Ding will Weile haben,« sagte Martin, indem er sein viertes Glas Grog bestellte.

Wilbert aber schüttelte ihm herzhaft die Hand: »Du bist mein treuster Freund, es gibt keine andere Lösung.«

»Nun mache ich dich noch darauf aufmerksam,« versetzte Martin, »daß, wenn ihr euch nicht um den Vater kümmert, der Vater sich auch um euch nicht kümmern wird; das heißt ins Landrechtliche übersetzt: Cäcilie wird auf jede Erbschaft verzichten müssen.«

»Das wird sie mit Freuden,« rief Wilbert aus, »wenn sie nur mein Weib wird! O, sie wird sich rasch erholen bei dieser frohen Botschaft; es ist ihr unheimlich bei meiner Freundin Rahel; das Alte Testament gemahnt sie so fremdartig. Wir werden uns schon durchs Leben schlagen, bescheiden, aber tapfer, und ich bin stolz darauf, selbst für unsere, für ihre Zukunft zu sorgen!«

Wilbert erhob sich und Martin folgte ihm, um Käthchen in ihr Hotel zu geleiten.

*

Wiederum verging eine Woche. Cäcilie begann sich langsam zu erholen; mit Rahel selbst aber war eine große Veränderung vorgegangen. Sie hatte das Mädchen liebgewonnen. Stundenlang hatte sie mit ihr geplaudert und nicht nur ihr warmes, für alles Gute und Schöne empfängliches Gemüt erkannt, sondern auch ihren Geist, der durchaus nicht am Hergebrachten hing, sondern eigenen freien Aufschwungs fähig war. Vom Reiz und von der Anmut des Mädchens war sie ganz besiegt, und wenn auch die gesunde Frische seines Wesens eine leichte Einbuße erlitten hatte, so war diese doch noch immer größer als bei den meisten Stadtmädchen. Auch Cäcilie betrachtete die Vorgänge jener Nacht als einen wüsten Traum: es war offenbar ein Anfall geistiger Störung gewesen und das klare ruhige Wesen der Jüdin ließ sich damit nicht in Einklang bringen. Cäcilie gewann immer mehr Vertrauen und Zuneigung zu der geistreichen jungen Dame; sie konnte sich ja auch nicht verhehlen, daß sie ihr großen Dank schuldig sei.

In Rahel aber war's aufgestiegen, sonnenhaft wie über einem schwankenden Nebelmeer zerstobener Traumgestalten, der eine überzeugungsvolle Gedanke: dies Mädchen ist seiner würdig und sie werden zusammen glücklich sein. So will ich verzichten auf die Träume unmöglichen Glückes; so will ich edel, hilfreich und gut sein, wie es der große Dichter verlangt, und zwar nicht mit halber Seele, sondern aus vollem Herzen.

Es war bei einem einsamen Spaziergang auf dem Philosophendamm, wo sie diesen Entschluß gefaßt hatte, wo es über sie gekommen war wie selige Beruhigung. Der Abend war bewölkt, nur im Westen ein blauer Streif, über dem ein rosiger Lichtschimmer strahlte: es war wie ein Stück offenen Himmels, auf das sie unverwandt den Blick richtete; ihr war's, als wenn ihr von dort ein traumhaft Leuchten in die Seele fiele. Das Geläute christlicher Glocken tönte vom Haberberg herüber; ihr wurde so weich und wehmütig zumute. Fast rührte sie selbst der eigene Edelmut. Doch klar stand's vor ihrer Seele: jetzt hatte sie gebrochen mit der Vergangenheit, besiegt den aufwallenden Sturm und Drang ihrer Leidenschaft; sie atmete in einer reineren Luft und da waren ja der verspäteten Wanderin auch schon die Sterne am Himmel aufgegangen. Sie dachte des einsamen Mannes, der ja hier so oft in tiefsinnigen Gedanken gewandelt war und das große dauernde Weltgeheimnis verkündet hatte, das uns einen Halt geben sollte im vorüberrauschenden Leben, die Sterne droben und das Gesetz in unserer Brust.

So neigte sich ihr Sinnen und Trachten immer mehr dem bescheidenen Glücke zu, das die Hand eines wackeren Mannes ihr bot; sie konnte darauf eine Zukunft bauen. Schwere Kämpfe waren ihr da erspart; denn auch eine glückliche Liebe zu Wilbert hätte sie übers Meer geführt, um einen hier verfemten Bund zu schließen, hätte sie ihren Glaubensgenossen entfremdet: jetzt ersehnte sie eine Friedensstätte auf dem Schutte ihrer zerstörten Hoffnungen. Salo Roseck hatte sich ihr in den letzten Gesellschaften des Kommerzienrats Schwarz wieder genähert, ihr in auffälliger Weise gehuldigt, Rahel jetzt mit mehr als freundlichem Entgegenkommen diese Huldigungen angenommen. Und als er Rahel einmal besuchte, da hatte ein Druck der Hand ein schweigendes Bündnis geschlossen. Je mehr aber Salo dies schöne Weib als sein Eigentum zu betrachten anfing, desto mehr regte sich auch die Eifersucht in ihm. Doktor Wilbert war ihm noch immer ein bedrohlicher Nebenbuhler; man sprach zwar von seiner Liebe zu dem jetzt plötzlich verschwundenen Fräulein Nortmann, doch es schwebte darüber ein gewisses Dunkel und er konnte aus demselben immer wieder auftauchen. Salos Eifersucht erhielt aber neue Nahrung, als ihm zugetragen wurde, daß Wilbert in letzter Zeit wieder Rahel häufiger besuche.

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Und so kam er eines Abends zu später Stunde; es war schon längst keine Besuchszeit mehr. Mochte daraus ein Gerede entstehen: es band sie um so fester an ihn. Und seinen Besuch zurückweisen durfte sie nicht: das hieße ja sich von ihm lossagen; er wollte nicht angemeldet sein; es gab ihm eine Genugtuung, schon eine Art von Hausrecht in Anspruch zu nehmen; er klopfte an und trat ein. Rahel erschrak, denn Wilbert war nebenan bei Cäcilie.

»So spät, Salo …« sagte sie. »Man wird davon sprechen.«

»Mag man davon sprechen, ich möchte es fast wünschen, es würde Ihren zögernden Entschluß beschleunigen. Noch hab' ich nicht das feste Wort von Ihnen, das mich für immer glücklich macht!«

»Salo, ich danke Ihnen für Ihre Liebe, Ihr Vertrauen, glauben Sie mir, ich baue auf Ihre Freundschaft; sie ist ein Stern meiner Zukunft; doch jetzt nicht, hier … ich bitte Sie … ich beschwöre Sie …«

»Hier … diese Korallen und Perlen … empfangen Sie dies kleine Geschenk, nehmen Sie es an als Zeichen meiner Liebe, und indem Sie es annehmen, geben Sie mir ja zugleich eine kleine Bürgschaft meines Glückes.«

Rahel blickte überrascht auf die prachtvolle Gabe. Herzlich und innig dankte sie dem Manne, dem sie Herz und Hand zu geben jetzt fester als je entschlossen war. Und doch, es lauerte ja eine Gefahr in der Nähe; mit innerlichem Erzittern sann sie darüber nach, wie sie das Zimmer verlassen und Wilbert warnen konnte, daß er nicht jetzt in den Salon trat. Da kam ihr ein rettender Gedanke.

»Diese Kostbarkeiten, lieber Freund, dürfen hier nicht zur Schau liegen für neugierige Augen. Erlauben Sie mir, lieber Salo, daß ich sie drin in meinem Reliquienschrein verschließe; ich kehre gleich wieder zurück.«

Und sie griff nach den Etuis, in denen der unschätzbare Schmuck verborgen war, und wandte sich der Tür zu, die in das Gemach Cäcilies führte.

Da öffnete sich dieselbe und Wilbert trat heraus. Wie ein Ausruf des Schreckens entrang es sich den Lippen Rahels; sie trat an den Tisch zurück und die Etuis glitten aus ihren Händen. Salo aber stand mit düsterer Miene und unwillkürlich geballter Faust: es war ein Augenblick höchster Erregung, und niemand durfte das klärende lösende Wort sprechen. Auch Wilbert war betroffen; er wußte zwar nichts von Salos Bewerbung; aber es war ihm peinlich, hier aus den innersten Gemächern während der Anwesenheit eines Fremden hervorzutreten; und doch führte der einzige Ausgang durch den Saal. Er kam mit dem Hut in der Hand; er wollte nach Hause gehen.

»Ich danke Ihnen,« sagte er, »daß Sie mir einen Blick in das Prachtwerk gestatteten; es übertrifft alle meine Erwartungen, und ich werde für meine Arbeit Nutzen aus demselben ziehen.« Und dann verabschiedete er sich mit einem freundlichen Händedruck und einer höflichen Verbeugung gegen den Gast.

»Sie haben mich getäuscht, Rahel,« sagte Salo in großer Erregung; »es schmerzt mich tief!«

»Es handelt sich um keine Täuschung … Sie dürfen meinem Wort vertrauen!«

»Ich hatte schon oft erfahren, daß Doktor Wilbert jetzt wieder häufig bei Ihnen aus und ein geht. Doch jetzt … zu so später Stunde … ein so vertraulicher Verkehr – nein, Rahel, ich hätte Ihnen nimmer ein doppeltes Spiel zugetraut!«

»Sie beleidigen mich!«

»Ich habe kein Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen; ich trete gern hinter diesem geistreichen jungen Gelehrten zurück; aber Sie hätten mich nicht ermutigen, nicht Hoffnungen wecken sollen, die jetzt grausam zerstört werden.«

»Die Aufklärung, die ich Ihnen schulde, kann ich Ihnen jetzt nicht geben.«

»Ich verlange sie nicht mehr.«

»Vertrauen ist Anfang und Ende der Liebe, ist ihr bestes Teil! Ohne Vertrauen … es lohnt ja der Liebe nicht. Nehmen Sie Ihre Geschenke immer wieder zurück; das einzige, was für mich Wert hätte, weigern Sie mir.«

»Und muß ich nicht? Ich fühl' es ja nur zu klar … mein Geist kann nicht dem Fluge des Ihrigen folgen; und doch sollten Sie meinen Namen führen, meines Hauses Stütze und Stolz sein …«

»Wilbert liebt ein anderes Mädchen!«

»Und Sie liebten doch einen anderen Mann … Sie machten mich's glauben! Nein, nein, solche geistige Gemeinschaft ist eine Verschwörung, und Täuschungen ruhen in ihrem Schoß. Mit der Selbsttäuschung beginnt es, und enden wird's mit dem Betruge. O, ich fühl' es tief, auch ich habe mich getäuscht! Doch ich will zur rechten Zeit mich losreißen, ehe die Wunden heftiger bluten.«

»Perlen bedeuten Tränen,« sagte Rahel, indem sie die Etuis ihm zuschob; sie stand fest und stolz da, doch es durchschauerte sie etwas wie ein Gefühl zerstörten Lebensglückes, bescheidener Hoffnungen. Sie kannte diesen Mann, der so sanft und fest war; sie wußte, er werde nicht wiederkehren.

»Und Sie wollen kein Angedenken an unsere Freundschaft behalten?«

»Keins,« sagte Rahel abwehrend, »kein anderes als das, welches im dankbaren Herzen fortlebt für bewiesenes Wohlwollen, das so selten ist in dieser unfreundlichen Welt.« Und sie reichte Salo gerührt die Hand.

»Rahel!« rief er mit dem Ausdrucke tiefsten Schmerzes und verließ das Gemach.

Sie aber stand in sich gekehrt, in dumpfem Brüten. Da sah sie sich wieder auf dem Philosophendamm … die Glocken läuteten … und ein Stück blauen Himmels brach im lichten Abendglanz aus dem Gewölk. Damals hatte sie den Entschluß gefaßt, der leidenschaftlichen Neigung zu entsagen, die ihr Herz erfüllte, und den jungen Liebenden eine treue Freundin zu sein. Und jetzt hatte sie das Geheimnis derselben bewahrt auf Kosten des eigenen Glückes; sie hatte sich geopfert für das Glück des Geliebten. Das erhob sie in ihren eigenen Augen und tröstete sie. Und was blieb ihr noch? Der Umgang mit den großen Geistern aller Zeiten, die Begeisterung für die Lichtgedanken des Jahrhunderts.

*

Webernit hatte Slobitten gekauft und den kühnen Entschluß gefaßt, ehe er aus dem Dienste des Staates und der Kirche ausschied, noch den Wunsch seines Freundes Martin zu erfüllen und durch Nichtbeachtung vorgeschriebener Formen den Behörden ein Ärgernis zu geben. Das Schlimmste, was daraus folgen konnte, die Amtsentsetzung, hatte er ja durch sein Entlassungsgesuch vorweggenommen, und das reichte er an demselben Tage ein, an dem er Martin schrieb, daß er bereit sei zu der unerlaubten Amtshandlung.

Webernit hatte auf den Wunsch seiner armen Eltern Theologie studiert, hatte das Glück gehabt, ansehnliche Stipendien zu beziehen, und führte dabei ein flottes Leben als vorzüglicher Schläger und flotter Kneipbruder. Seine Fachwissenschaft behandelte er als Gedächtnissache; er dachte über das Eingelernte nicht weiter nach; es blieb gleichsam in seinem Kopfe eingekapselt, ohne mit seinem sonstigen Denken und Empfinden in Berührung zu kommen; er machte ein leidliches Examen und erhielt auch bald eine kleine Pfarrstelle. Hier in der ländlichen Einsamkeit begann er erst, über seine blind zusammengerafften geistigen und geistlichen Schätze Musterung zu halten, über seinen Beruf und dessen Pflichten nachzudenken … und der Erfolg war eine gänzliche Abkehr von demselben. Die Werke eines David Strauß, die philosophischen Schriften eines Feuerbach und Ruge verschlang er mit einem wahren Heißhunger, und bemerkte bald zu seinem Schreck, daß er mit der Kirche, die ihm ein Amt gegeben, nicht das Geringste gemein hatte, daß er dort saß, wo die Gottlosen sitzen. Als er nun das Glück hatte, eine reiche Gutsbesitzerstochter zu heiraten, da faßte er alsbald den Entschluß, aus dem Schifflein der Kirche herauszuspringen und es mit gewaltigem Fußstoß hinter sich in den Schlund der Wasser zu schleudern. Ein sehr unhöfliches Schreiben des Konsistoriums, welches eine seiner Predigten beanstandete, erfüllte ihn mit Ingrimm und erhöhte seine Lust, demselben einen Streich zu spielen. So erhielt denn Martin einen Brief mit der Zusage, das schutzbefohlene Paar solle auch ohne väterlichen Konsens getraut werden.

Rasch galt es jetzt, Cäcilie aus dem Ghetto des Fräulein Rahel, wie Martin sich ausdrückte, zu befreien und nach dem Pfarrdorfe zu bringen, wo dem Paar der kirchliche Segen zuteil werden sollte. Doch bedurfte es dabei der größten Vorsicht. Signalements des Doktor Wilbert und des Fräuleins Cäcilie wurden an alle Lohnkutscher, an alle Kapitäne von Schiffen, welche Passagiere aufnahmen, an die Posten ausgeteilt; sie sollten sogleich polizeilich angehalten werden, wenn sie Königsberg zusammen verlassen wollten. Noch fehlte der Beweis, daß Wilbert der Entführer war: doch er war augenblicklich erbracht, sobald dieser mit Cäcilie gesehen würde. Wilberts Schritte wurden überall belauert; sein Verkehr mit Doktor Martin erschien besonders verdächtig. Dieser dachte hin und her, wie er den Freund mit seiner Geliebten am sichersten dem Netze, das um sie ausgespannt war, entreißen konnte. Da kam ihm ein glücklicher Gedanke.

Die Dschimken, die auf dem Pregel mit ihren Flößen ankamen, pflegten, wenn sie ihre Waren losgeschlagen, auch diese Flöße auseinander zu nehmen und als Holz zu verkaufen. Dann gingen sie in dichten Scharen durch die Tore der Stadt der Heimat wieder zu. Doktor Martin meinte nun, wenn man einigen dieser Waldbewohner einen Kahn kaufte, so würden sie die Rückfahrt auf dem Pregel gewiß der langen Fußwanderung vorziehen; man würde aber daran die Bedingung knüpfen, daß sie drei Fahrgäste mit aufnähmen und bis an das Pfarrdorf Webernits ruderten, das am Pregel gelegen war. Für Wilbert sollte ein Dschimkenkostüm, ein grobes Hemd, ein grauer Rock, besorgt werden, und ein ländlicher Strohhut, während die zwei Damen sich in der schlichten litauischen Volkstracht dem Boote anvertrauen sollten. Martin wollte indes mit der Post vorausfahren und das Gepäck zum Anzug für die Festlichkeit in das Pfarrdorf besorgen, auch dem Brautpaar bei seinem Freunde Webernit Quartier bestellen. Wilbert erklärte sich mit all diesen Veranstaltungen einverstanden und Cäcilie freute sich, endlich aus ihrer Gefängnishaft erlöst zu werden. Beide zusammen machten die nötigen Gelder flüssig. Die Dschimken, gutmütige Natursöhne, ließen mit sich handeln, und der Maskenscherz, der ihnen so vornehme Genossen in ihrer Landestracht zuführen sollte, ergötzte sie. Käthchen war Feuer und Flamme für diese lustige Fahrt: sie besorgte die ländlichen Trachten und brachte sie in die Wohnung der Jüdin. Ein stattliches Boot war rasch gekauft und die Dschimken, die gemeinsam auf ihrem Floß den Pregel hinabgekommen, als Bootsinsassen und Rudermannschaft gewonnen.

Es war an einem trübverschleierten Juniabend, als Käthchen und Cäcilie Rahels Wohnung verließen und sich in ihrer Volkstracht auf den Weg nach dem Litauer Baum begaben. Der Abschied Cäcilies von der Jüdin war ein inniger und herzlicher. Rahel hatte ihr Herz bezwungen, ihr Glück geopfert: an der scheidenden Freundin blieb gleichsam alles haften, was sie von ihrem eigenen Leben abgestreift; darum liebte sie dieselbe jetzt als wäre sie ein Teil ihres eigenen Selbst und erflehte inbrünstig das Glück des jungen Paares, damit sie die schweren Opfer nicht umsonst gebracht. Wilbert hatte schon am Morgen mit gerührtem Danke von der Freundin Abschied genommen; er wollte, um jedes Aufsehen zu vermeiden, nicht zugleich mit den Mädchen das Haus verlassen. Die beiden Litauerinnen schritten unbeachtet durch die Straßen des Kneiphofes; es schien Cäcilie ein günstiges Vorzeichen, daß vom Dom herab gerade ein festliches Geläute tönte; es war wie die Vorfeier ihrer Hochzeit. Käthchen wußte genau die Stelle am Fluß, wo das Boot vor Anker lag; auch kam ihnen dort schon Wilbert entgegen, der mit seinen dunklen Zügen wie ein romantischer Hinterwäldler aussah. Auf dem Bohlenwerk des Ufers lagerte die Schiffsmannschaft, die sich rasch erhob, um die schmucken Genossinnen der Fahrt mit verschmitztem Lächeln zu begrüßen. Der Mond glomm trüb am Horizont; doch die wetterkundigen Leute rechneten auf eine sternenhelle Nacht; man wollte bis Mitternacht die Flußfahrt ausdehnen und hoffte bis dahin einen Krug zu erreichen, der in der Nähe des Flusses lag.

Die Ankerkette rasselte und das Schiff begann seine Fahrt. Cäcilie saß, Hand in Hand mit Wilbert, am Bord desselben und sah träumerisch die Häuser der Stadt und dann auch ihre Türme in der Ferne verschwinden; nichts als Wiesen und Wald und hier und dort der Kirchturm eines Dorfes, dessen Wetterhahn, von dem allmählich sich verstärkenden Mondstrahl angeblitzt, aus dem feuchten Nebelgeriesel hervorschimmerte. Immer sieghafter wurde der Mond, immer klarer sein Licht; der trübe Hauch, der den Himmel umflirrte, verschleierte bald nicht mehr sein azurnes Leuchten … alles still, nur Schwärme von Krähen flogen krächzend aus den Wäldern auf und der im Wasser plätschernde Ruderschlag belebte den schweigenden Fluß. Da klang ein weicher, zitternder Ton durch die Luft … und leise klagend folgten ihm andere, die sich in naher Folge an ihn schlossen. Es war ein Dschimke, der auf der C-Saite, der einzigen Saite seiner Violine, ein Volkslied spielte, das die ganze Wehmut des Abschieds atmete. Einem so verstümmelten Instrument vermochte der seltene Virtuos noch eine künstlerische Seele einzuhauchen. Da kam es über Cäcilie mit der ganzen Allmacht lang unterdrückter Empfindung: der Abschied vom Vaterhause, die Trennung von allem Heimatlichen, was ihr ans Herz gewachsen, die Flucht aus dem Schutz, der seit ihrer Kindheit über sie gewacht, und ohne den Segen, der ihr Häuser bauen sollte fürs Leben … und so hinaus in die Fremde! Wie kalt und gespenstig diese einsamen Baumgestalten … hier die verkrüppelten Weiden, dort die Eichen mit ihren weit vorgestreckten riesigen Ästen … hier ein Fernblick über die eintönige Landschaft … immer die versilberten Horizonte über Waldstreifen oder leis ansteigenden Hügeln mit kahlen oder grünschimmernden Äckern … nichts, was gastlich zur Ruhe ladet, o, diese Welt mit ihrer seelenlosen Weite, und so fern hinter ihr das trauliche Vaterhaus mit seinen engen, aber von freundlichen Erinnerungen belebten Räumen … es kam bewältigend über sie, sie entzog dem Geliebten die Hand, bedeckte das Gesicht und brach in ein Schluchzen aus.

Wilbert saß schweigend; er gönnte dem Ausbruche des Gefühls sein volles Recht und winkte nur dem Manne mit der C-Saite, daß er seinen Bogen beiseite lege. Er wußte, daß Cäcilie sich bald wieder fassen würde.

Es war Mitternacht, als der Kahn in der Nähe eines Kruges landete, der hier einsam an der Landstraße stand. Cäcilie und Käthchen fanden ein Unterkommen in dem Zimmer der Wirtin. Den Dschimken, zu denen auch Wilbert gehörte, wurde ein Heulager zurechtgemacht; doch Wilbert fand keinen Schlaf, sondern ging draußen am mondhellen Flusse auf und ab. Über ihn kam das Gefühl schwerer Verantwortung: er hatte aus allem gewohnten sicheren Behagen das zarte Mädchen herausgerissen mit der Gewaltsamkeit, welche jeder Leidenschaft eigen ist; er war verpflichtet, ihr eine neue sichere Stätte zu bereiten; wohl würde er noch kämpfen und ringen müssen, denn er stand ja abseits vom geraden Wege einer geregelten Laufbahn. Dann mischte sich eine neue Anklage in das Glück seiner Träume. Hatte er, nicht über seiner Liebe ganz vergessen, daß ihm eine Führerstelle im Kampfe der Parteien zukam? War er nicht wie Rinaldo in Armidas Zaubergarten eingeschlafen, statt das Schwert zu ziehen für die heilige Sache? Und doch war es ja gerade seine Begeisterung für dieselbe, was sein Lebensgeschick so verwirrt, was ihn in solche Abenteuer gestürzt hatte. Doch das gelobte er sich: stünde erst das anmutige, entzückende Weib an seiner Seite, dann werde er wieder in die vorderste Reihe der Kämpfer treten und mutvoll, wie er sich das Glück der Liebe erstritten, auch dem Vaterlande die Freiheit erstreiten helfen.

Nur kurze Zeit suchte er Ruhe auf dem Heulager unter den Genossen im grauen Rock und Schafpelz. Früh wurde zum Aufbruch gemahnt; morgenfrisch trat Cäcilie in den jungen Tag; die Kahnfahrt nahm heute einen fröhlicheren Fortgang. Der Fluß glänzte im Morgensonnenschein, Vögel sangen in den Laubgehölzen am Ufer und die taufunkelnden Wiesen blitzten wie Demantgeschmeide. Käthchen war bei munterster Laune; sie gefiel sich darin, das schlecht gesprochene Deutsch der Dschimken nachzuspotten und allerlei Geschichten in dieser Mischsprache zu erzählen. Wilbert und Cäcilie saßen wieder Hand in Hand, sie gaben sich den frohesten Hoffnungen hin; alles Bedrückende, Beklemmende konnte gegen das freudige Leuchten des jungen Tages nicht aufkommen. Die ganze Welt war ihr in Licht getaucht. Es ging an einer getürmten Stadt vorbei. Doch zu Mittag wurde auf einer grünen Wiese getafelt und von einer benachbarten Schenke der nötige Proviant herbeigeschafft; dann ging die Fahrt weiter, und als das Abendlicht die Wipfel vergoldete, war man am Ziel. Der goldene Knopf des zwiebelförmigen Kirchturms, dessen Glocken die Pfarrkinder Webernits zur frommen Andacht luden, funkelte zwischen hochragenden Pappeln hervor. Die Dschimken empfingen mäßigen Tageslohn und setzten dann auf dem Boote, das jetzt ihr eigen war, die Fahrt in ihre Wälder fort. Wilbert und Cäcilie hatten gehofft, von Doktor Martin bereits empfangen zu werden; die drei Ankömmlinge mußten zu Fuß und allein den Weg ins Pfarrhaus antreten. Es war ihnen dies peinlich, da sie eine Art von Maskenscherz auf offener Landstraße nur ungern durchführten. Die Dorfbewohner blickten mit Mißtrauen auf diese vom Fluß hergekommenen Fremden. Am peinlichsten war es indes für die Wandernden, daß ein Reiter herangesprengt kam, der sein Pferd zu langsamer Schrittart anhielt, als er den auffallenden Fremden begegnete, dieselben sehr scharf ins Auge faßte und dann noch einmal zurückgesprengt kam, im Schritt neben ihnen herritt und ihnen das Geleite bis dicht vors Pfarrhaus gab, offenbar um sich zu überzeugen, wohin sie ihre Wanderschaft richteten. Wilbert glaubte anfangs, es sei vielleicht ein Freund Doktor Martins, der ihnen eine Botschaft von demselben überbringe, sich aber nicht an sie heranwage, weil er seiner Sache nicht sicher sei; doch er überzeugte sich bald, daß der elegante Reiter, offenbar ein Gutsbesitzer der Umgegend, nur aus Neugier und zu seinem eigenen Behagen den fremdartigen Aufzug mustere; sie waren daher froh, als sie die Schwelle des Pfarrhauses überschritten und so vor den zudringlichen Blicken des Begleiters zu Pferde sicher waren.

Der Pfarrer Webernit und seine Frau empfingen die Gäste aufs herzlichste; er war ein junger stattlicher Mann; sein Gesicht war mit Schmarren und Narben bedeckt, und es schien, als ob sein kahler Scheitel auch infolge verschiedener chirurgischer Operationen seine Haardecke eingebüßt habe. Auch das Zimmer des Pfarrherrn selbst war noch sehr akademisch ausgestattet, wie Wilbert, welcher dort zunächst hineingeführt wurde, zu seinem größten Erstaunen bemerkte; ein Paar gekreuzte Schläger an der Wand bildeten den hauptsächlichsten Zimmerschmuck. Die Farben der Verbindung, welcher Webernit angehört hatte, waren in Schleifen und Bändern überall angebracht, und eine Reihe schlicht eingerahmter Bilder von allen Formaten bedeckten die Wände, lauter Korpsbrüder mit flotten Mützen und Gesichtern; auch das Hauptkneiplokal hing als Architekturbild von mäßigem Verdienst daneben.

Wilbert erhielt sein Gemach in einem Seitenbau angewiesen. Cäcilie und Käthchen mußten sich in eine Giebelstube teilen, in welche sie die Frau Pfarrerin hinaufgeleitet hatte. Das war eine sanfte, schwärmerische, junge Dame, die als Tochter eines reichen Rittergutsbesitzers sich viel mit der Lektüre von Romanen beschäftigt hatte und jetzt überglücklich war, daß sich so etwas wie ein Roman in die Räume ihres Pfarrhauses verirrt hatte; sie drückte Cäcilie wiederholt die Hände als Ausdruck ihrer Freundschaft und der Bewunderung, die sie für ein junges Mädchen hegte, das sich kopfüber in ein solches Romankapitel zu stürzen den Mut hatte. Daß ihr Mann darunter mitleiden mußte, zum mindesten einigen Unannehmlichkeiten ausgesetzt war, gab ihr ein Gefühl der Befriedigung; denn der Roman färbte ja dann auch bei ihr etwas mit ab.

Das Ausbleiben des Doktor Martin beunruhigte einigermaßen die Gemüter, und beim Abendessen tauschte man Bedenken darüber aus. Wilbert erkundigte sich nach dem Reiter, der ihnen im Dorfe begegnet war, und erfuhr, daß dies der Gutsherr sei, welchen Webernit ebenfalls zu seinen Pfarrkindern rechnen müsse, da sein Dominium in seinem Sprengel liege.

»Herr von Pansen besucht meine Kirche nicht,« sagte er; »hielte er sich fern aus Abneigung gegen Predigten, so würde ich ihm das weiter nicht sehr verdenken, da ich im Grunde diese Abneigung teile. Doch er besucht bisweilen die Kirche des Nachbardorfes, wo ein sehr kirchlich gesinnter Amtsbruder die langweiligsten Reden hält. Er ist dabei ein Lebemann, der mit der goldenen Jugend der Provinz in beständigem Verkehr steht. Seiner politischen Überzeugung nach ist er ein wütender Gegner von allem, was mit der neuen Bewegung zusammenhängt, also auch von mir, da er in mir einen roten Jakobiner wittert.«

Es war Wilbert durchaus nicht genehm, daß auch hier in diesem verlorenen Landwinkel ein Vertreter der feindlichen Richtung seinen Pfad gekreuzt hatte; doch er stand ja dicht vor dem Ziele, und wer konnte ihm jetzt noch hindernd in den Weg treten? Die Mädchen gingen nach dem Abendessen bald zur Ruhe: es war Cäcilie peinlich, in diesem Kostüm an dem Familientische eines Pfarrers zu verweilen und in ihrem Herzen brachte sie demselben wenig Sympathien entgegen. Der Pfarrer von Wieselau war ein milder, versöhnlicher alter Herr; und so dachte sie sich die Lehrer des göttlichen Wortes; solch ein Raufbold, wenn er auch von Geist und Leben übersprudelte, wie Webernit, paßte durchaus nicht zu dem Bilde, das sie sich von einem würdigen Geistlichen machte. Käthchen aber war vom Singen, Sprechen, Rudern müde geworden und hörte gähnend einer Unterhaltung zu, die sich allmählich um gelehrte Dinge zu bewegen anfing. Nachdem die beiden unter Begleitung der jungen Pfarrerin aufgebrochen, kam das Gespräch noch einmal auf die bevorstehende Trauung:

»Wenn Doktor Martin morgen gekommen sein wird, was doch sicher anzunehmen, so bin ich bereit, meine höchst unbotmäßige Gesinnung übermorgen am Sonntag durch Ihre Trauung mit Fräulein Nortmann zu bewähren und zwar bald nach Schluß der Vormittagskirche, wenn sich das Volk wieder verlaufen hat. Da haben sie schon ihr Pensum Kirche genossen und gewiß wenig Neigung, in das Gotteshaus zurückzukehren.«

»Und ist dann unsere Ehe unanfechtbar?« fragte Wilbert.

»Die Kirche hat dies stets angenommen und für niet- und nagelfest erklärt, was einmal der Hammer des Geistlichen zusammengeklopft hat: doch gibt das Gesetz noch dem Vater Nortmann Handhaben, die Ehe anzufechten. Euer Gewissen aber ist nach dem Segen der Kirche nicht mehr beschwert, und der gute Papa wird sich hüten, da noch einzuschreiten, wo er doch in jeder Hinsicht zu spät kommt. Er wird für das Bündnis keine Subsidien beischießen, weder jetzt, noch später, wenn er ein toter Mann ist, und mir selbst geht es an Hals und Kragen, was aber auch nicht viel auf sich hat; denn ich habe meinen Hals schon aus der Schlinge gezogen und das hochnotpeinliche Halsgericht braucht mir den Kragen nicht mehr abzureißen, da ich ihn schon selbst abgelegt habe.«

Die beiden jungen Männer blieben noch lange im Gespräch zusammen.

Am andern Morgen erschien Doktor Martin schon in aller Frühe: er war die Nacht hindurch mit der Postkutsche gefahren und kam jetzt von der Chaussee herüber in einem Strohwägelchen, welches das ganze Gepäck der Fußfahrer barg. Groß war die Freude im Pfarrhause: welchen vornehmen Eindruck machte Cäcilie in modischer Toilette, wie schlicht auch immerhin ihr Gewand war, und wie ganz als Zofe erschien Käthchen neben ihr. Auch Wilbert war froh, den Rock der ostpreußischen Hinterwäldler ablegen zu können.

Doktor Martin hatte noch seine Verspätung zu rechtfertigen; er erzählte, daß er bei der Mutter Hechtschen den Milech, einen abtrünnigen Studiengenossen, mit einer ganzen Schar auf dem Comptoirsessel reitender Genossen getroffen: »Er sagte mir auf den Stopf zu, daß ich Cäcilie entführt habe; es seien Augenzeugen vorhanden, die mich an dem Tage, an dem sie das elterliche Haus verlassen, mit ihr zusammen auf einem Wägelchen gesehen. ›Wir glauben gar nicht' meinte der Schleicher, ›daß du so anmaßend warst, dir einzubilden, diese Goldfrucht sei für dich gewachsen; du hast jedenfalls nur Handlangerdienste für deiner: Freund Wilbert getan, von dem es ja bekannt ist, daß er die Dreistigkeit hatte, sich um die Hand des Fräulein Nortmann zu bewerben. Doch wo ist Cäcilie? In welcher Räuberhöhle hast du sie versteckt? Du mußt uns jetzt Rede stehen‹. Ich hätte den Burschen gleich auf krumme Säbel gefordert, doch es fiel mir zur rechten Zeit ein, daß er ja der Universität die Schande angetan, sich aus der freien Luft des geistigen Lebens in die Stickluft eines Comptoirs zu flüchten. Es war also nichts Ehrenhaftes mit dem Burschen anzufangen. Inzwischen umgaben mich seine Genossen wie ein Gewölk, das sich aus den schmutzigen Dünsten der kaufmännischen Spielhöllen und Beutelschneidercomptoire zusammengeballt hatte. ›Wo ist Cäcilie?‹ schrieen sie mit herausfordernder Einstimmigkeit. ›Sag es lieber gleich‹, meinte Milech, ›da ersparst du der Polizei morgen eine Vorladung; denn ihr ist von jener Fahrt durch den Wald heute Anzeige gemacht worden.‹ Da stieß ich die Nächsten zurück und wollte mir wie Winkelried eine Gasse durch das Gesindel bahnen; doch ich fühlte, wie sich einige Stöcke unsanft auf meinen Kalabreser niedersenkten, und es begann mir im Gehirn zu dröhnen und ein Erdbeben oder Weltuntergang hätten mir da nicht mehr Spektakel machen können. Da kam Hilfe in der Not. Einige Kommilitonen zogen gerade singend bei der Mutter Hechtschen ein; sie erkannten mich und meine Bedrängnis, und mit Hurra ging's auf die Heringsbändiger los. Trotz der Dumpfheit meines unter der Hirnschale zusammengetrommelten Geistes war mein Arm noch willenskräftig genug, sich an dem Kampf zu beteiligen, und wir blieben Sieger auf dem Schlachtfelde, das allerdings mit mehreren verbogenen und zertretenen Albertussen bedeckt war, die wie die Maikäfer vom Baum durch den Sturm des Kampfes herabgeschüttelt waren. Doch die Flüchtigen sammelten sich vor meiner Wohnung, in welcher die gepackten Koffer bereitstanden, und ich konnte zunächst nicht dorthin zurückkehren, um dann mit der Morgenpost abzufahren. Ich hoffte, daß sie nicht bis zum Abend Posten ausstellen würden, obschon den Tag über, wie ich von ferne sah, einer und der andere mit verdächtigen Mienen vor meinem Hause auf und ab patrouillierte. Ich benutzte den Tag, um mich noch mit einigen nötigen Zeugnissen auszurüsten, wie mit dem Konsens von Käthchens Vormund; denn ich springe nicht so ohne weiteres mit beiden Füßen in die Ehe wie mein Freund Wilbert; ich habe ja diesen romantischen salto mortale gar nicht nötig und will das Konto meines Freundes Webernit nicht ohne Grund noch mehr belasten. Als ich abends vor mein Haus kam, war die Luft rein – Nahrungssorgen und Bierdurst hatten die Ehrenwache in die Standquartiere zurückgetrieben. Ich konnte mit Hilfe einiger Kofferträger als Reisemarschall das ganze Hochzeitsgepäck auf die Post schaffen und setzte mich dann selbst in den gelben Kasten. Ich bemerkte keinen Spion auf dem Posthofe, und auch die mitfahrenden Passagiere waren so harmlos wie möglich, ein paar kulmische Bauern aus der Gegend von Insterburg und eine strohgelbe Gouvernante, alles gelb, Hut, Kleid, Gesicht und Sonnenschirm. Und da bin ich, und schon habt ihr euch ja in schmucke Schmetterlinge verwandelt und den Puppenzustand abgestreift. Und was dich betrifft, Käthchen, von morgen ab mein süßes Ehegespons, so sollst du später neben Frau Doktor Wilbert nicht allzu tief in den Schatten treten. Ich habe den kühnen Entschluß gefaßt, mir ebenfalls den Doktorhut zu verschaffen.«

Die heitere Laune des Doktor Martin, die den ganzen Tag über unverwüstlich blieb, konnte über die schwermütigen Gedanken, denen sich Cäcilie hingab, doch nicht den Sieg davontragen. Je näher die Entscheidung kam, desto banger wurde ihr zumute, desto schwerer lastete die Schuld und Verantwortung auf ihr. Immer sah sie das Vaterhaus vor Augen, das so vereinsamt war durch ihre Flucht; sie sah den traurigen erzürnten Vater, der Nachbarn Achselzucken, glaubte der Nachbarinnen Zischelreden zu hören. Sie zog sich in ihr Giebelzimmerchen zurück, griff zur Feder und versuchte an ihren Vater einige Zeilen zu schreiben; doch die Sätze wollten sich nicht nach Wunsch gestalten: es ging ein zu schmerzlicher Riß durch ihre Seele; zu gewaltsam war der Bruch mit dem Vaterhause gewesen. Sie zerriß immer wieder das Papier mit den angefangenen Zeilen und saß dann unter Tränen da, das Haupt auf die Hand gestützt. Endlich gelang es ihr, einige zusammenhängende Gedanken auf das Papier zu bannen; sie zeigte ihre morgen bevorstehende Trauung an, bat um Verzeihung für ihre Flucht aus dem Vaterhause; zu allmächtig sei die Liebe gewesen, die sie zu Wilbert hege, und nie hätte sie einem ungeliebten Manne die Hand reichen können; der Vater möge ihr seinen Segen nicht versagen. Sie fühlte sich ruhiger nach diesen Zeilen, kuvertierte und siegelte und flog dann zu Wilbert hinunter; krampfhaft schluchzend warf sie sich an seine Brust. »Rette, schütze, halte mich, du mein alles jetzt und immerdar!«

Der Tag verging unter wechselnden Gesprächen und Spaziergängen: im Waldesschatten saßen die Liebenden, die Mädchen wanden Waldblumenkränze; es herrschte eine feierliche Stille unter den nur leise schwankenden Zweigen, den zitternden Sonnenlichtern. Frieden ringsum! Doch wie der große Trauermantel dort über der Glockenblume, so schwebte über Cäciliens Gemüt ein dunkles Weh! O wie hätte sie den Hauch des Friedens mit vollen Zügen einatmen, sich dem Gefühl schrankenlosen Glückes hingeben können, wäre nicht das eine gewesen … dieser eine nagende, bohrende Gedanke von verletzter Kindespflicht! Und er verfolgte sie auch auf ihr nächtliches Lager und raubte ihr den Schlaf. Als sie endlich eingeschlummert, da quälten sie unruhige Träume: sie wandelte mit Wilbert durch einen Rosengarten; es waren die prächtigsten Rosen, voll erschlossen die einen, lieblich knospend die anderen, von einer wunderbaren Farbenpracht, wie sie auf Erden nicht zu finden, und die Luft war so balsamisch weich und der Äther so traumhaft hell und sie wandelten wie mit schwebenden Schritten und streiften die Erde kaum. Und Wundervögel sangen mit menschlicher Stimme: Liebe! Liebe! Farbe und Duft der Natur! Dein Hauch blättert die Rosen auf, er blättert das All auf, er erquickt die durstende Seele der Welt! Da plötzlich ein schwarzer Punkt in dem lichten Äther … ein Blitz zuckt hernieder … noch begrüßen ihn die Wunderblumen und Wundervögel als einen Strahl des Entzückens, welcher der Liebe weites Reich bis ins Innerste erschauern macht! Doch der Himmel verdunkelt sich … Blitz auf Blitz … jetzt fährt's hernieder wie ein Flammenregen … ängstlich umklammert sie den Geliebten … einen erschreckten Blick wirft sie um sich … da sind alle die Rosen schwarz geworden … alle die Blumengesichter haben das Grinsen des Todes angenommen … ringsum verkohlt der Blumenhag, und mühsam wankt der Schritt durch die Asche … und als sie näher hinsieht … wer wandelt an ihrer Seite? Ein Gespenst, ein Schatten, aschfahle Züge … es zerstiebt in ihrem Arm … und auf der Erde liegt Ernst Wilberts Leiche.

Tieftraurig erwachte Cäcilie und konnte dieser Regung nicht Herr werden an dem Freuden- und Ehrentag, der sonst der Bräute Herz mit Seligkeit erfüllt. Alle Welt war von ihrer Schönheit entzückt, als sie wie eine Rose im Brautgewand einherschritt, denn es lag etwas Sinniges und Weihevolles in ihrem Wesen. Ganz anders Käthchen, die sich herausgeputzt hatte, als ging' es zum Tanz, und munter hin und her hüpfte und schlüpfte wie ein Kätzchen, das von dem Hochzeitskuchen naschen will. Die Glocken läuteten zur Kirche, alles strömte ins Gotteshaus – doch es geschah nicht zu Ehren der Brautpaare, welche im Pfarrhause harrten, bis der Gottesdienst vorüber war. Und erst als alles um die Kirche recht still und einsam war, da schlüpften die Brautpaare in dieselbe, vorbei an den Totenkreuzen und Grabsteinen, in die einsame, kalte, nüchterne Kirche, als begäben sie sich an einen verbotenen Ort. Einzelne Streifen der schläfrigen Mittagssonne fielen auf den schmucklosen Altar, und die Fensterkreuze zeichneten sich auf den ausgetretenen Steinplatten ab. Keine Familie, keine Zeugen, nur der Pfarrer im Talar mit dem zerhackten Gesicht, dem dieser unbotmäßige Akt immerhin peinlich war und der so rasch wie möglich darüber Hinwegzukommen suchte. Er gab die Paare zusammen nach den Worten der Agende; ihr Ja hallten die Wände der leeren Kirche hell und laut, fast schrill wider. Noch der feierliche Segen, und sie verließen das hell angestrichene Gotteshaus … und wieder an den Totenkreuzen vorüber … durch die Hecke des umgebenden Kirchhofes, deren stachelige Ranken sich an Cäciliens Kleid festnestelten, ging's zum schlichten Hochzeitsmahle, das Webernit als Gastgeber mit den bescheidenen Mitteln einer Pfarrküche angerichtet. Er selbst trug zunächst die vollbrachte geistliche Amtstat in das Kirchenbuch ein; Cäcilie hatte die Genugtuung, von ihm, von Martin und der Pfarrköchin als Frau Doktor Wilbert angeredet zu werden.

Schönheit und Liebe … unermeßlich sind die Brautkammern der Natur und unter dem nächtlichen Laubdach des Waldes waltet das lebenbrütende Geheimnis. Die Sterne wissen nichts davon und brauchen nichts davon zu wissen: denn hinter dem trügerischen Licht bergen sich dunkle Massen, die nur das Gesetz der Schwere treibt, leblos und lieblos aus der Gärung und Mischung der Stoffe geboren; doch wo zwei Herzen sich gefunden – da hat die Welt eine Seele gewonnen und für sie kreisen selbst die Sterne melodisch mit Sphärengesang.

Doch welch ein Mißklang in die entzückenden Melodien der Hochzeitsnacht! Grille, schrille Klänge tönen näher und näher … die ferne Tanzmusik aus dem Krug ist auf die Dorfgasse hinausgewandert. Geigen, Trommel und Baßgeige rasen sinnlos durcheinander, von dem Gejohle einer durch die Nacht summenden Volksmenge begleitet. Nicht weit vom Pfarrhause machen sie Halt, und der Tumult der durcheinandertaumelnden Töne wird eine ohrzerreißende Missetat.

Das ist Hohn, aber noch schlimmer … es liegt in diesem Hohn eine Drohung; etwas Feindseliges lauert in der Nähe. Doch rasch erscheint Doktor Martin unten, einen kräftigen Knüppel schwingend; seine Donnerstimme ertönt und scheucht das Volk zurück, das Fell der großen Trommel schmettert er auseinander, unter lautem Hilferuf und Wehegeheul der fliehenden Musikanten, und nur von ferne noch ertönt der Lärm des Volkes. Doch von dem dunklen Knäuel auf einer leichten Erhöhung der Dorfstraße zeichnen sich im Mondlicht zwei scharfe Silhouetten ab; es sind keine Leute aus dem Dorfe, sie sind feiner gekleidet und in ihrem Wesen zeigt sich vornehmere Haltung. Freilich, der eine, der baumlange, hat etwas Schlenkrichtes in seinen Bewegungen. Martin war überzeugt, daß dies Herter sei; doch er wollte Wilbert und Cäcilie nicht durch diese Nachricht erschrecken. Da indes der Feind keine Anstalten mehr machte, näher zu rücken, zog sich Martin in seine Verschanzungen zurück, auf denen die Fahne des kleinen Liebesgottes wehte.

Wilbert und Cäcilie berieten sorgenvoll über den Anlaß der Veranstalter der rohen Störung; ein Akt der Rache; doch von wem konnte er ausgehen? Wie kamen die Feinde in dies entlegene Dorf? Sinnend saßen sie in bangem Gespräch … Mitternacht tönte vom Turm … eine Stunde erklang nach der anderen … über den dunklen Linien der Wälder am Horizont dämmerte der Morgen auf … heller wurde der rote Streif, hier und dort ein Laut des Lebens … in der Dämmerung schien das Orchester der Natur seine Instrumente zu stimmen … dann fuhren die Lerchen aus den Furchen in die Lüfte und die Primadonnen des jungen Morgens schmetterten sein Festlied.

Es galt so früh als möglich das gastliche Pfarrhaus zu verlassen. Wilbert schlug eine Postfahrt nach den masurischen Seen vor, um die Verfolger irrezuführen, und von dort aus müsse man sich einen Weg nach Deutschland suchen.

»Heimatlos« … dies eine Wort erschöpfte Cäciliens Weh; sie schloß den Geliebten ans Herz … das war ihre Heimat. Und doch … ein Gefühl banger Sehnsucht griff immer hinaus über dies krampfhaft festgehaltene Glück. Wilbert sah sie so erregt, so verstört; er riet ihr, sich noch einige Stunden auszuruhen, er werde inzwischen für alles andere Sorge tragen. Es war noch früh am Morgen; er ging in den Garten unter die taublitzenden Blumen; im Pfarrhause schlummerte noch alles; auch Martin und Käthchen schliefen den Schlaf der Gerechten.

Da klirrte die kleine Gartentür, die aus dem Pfarrgarten auf einen Fußpfad hinausführte – ein fremder Herr begrüßte ihn höflich und trat zu ihm hin.

»Herr Doktor Wilbert?«

»Der bin ich!«

»Mein Name ist Pansen, von Pansen. Sie werden sich wundern über einen so frühen Besuch; doch es handelt sich um die dringlichste Angelegenheit, die vor Ihrer vermutlich nahe bevorstehenden Abreise erledigt werden muß.«

»Ich bin in der Tat erstaunt und kann nicht erraten –

»Ich habe einen Freund, der Ihnen nicht unbekannt sein wird; sein Name wird Ihnen vielleicht den Schlüssel zu dem Rätsel geben, das Sie jetzt befremdet. Es ist Herr Paul Herter, den die ganze Provinz als einen Ehrenmann kennt. Er fühlt sich gedrungen, die Schmach zu rächen, die einer ihm teuren Familie angetan worden. Es bedarf wohl jetzt keiner weiteren Auseinandersetzungen, Sie sind jedenfalls über alles vollkommen unterrichtet. Im Namen des Herrn Herter überbringe ich Ihnen seine Forderung und bitte Sie, mir den Herrn zu nennen, mit dem ich alles Nähere verabreden kann.«

»Mein Freund – Studiosus Schleier, ich rufe ihn bald herunter,« sagte Wilbert aufs höchste betroffen und erregt um Cäciliens willen. Welch ein Erwachen war der Schlummernden bereitet!

»Noch eine Frage: Herr Herter ist hier?«

»Er wohnt auf meinem Schlosse!«

»Doch wie in aller Welt hat er erfahren –?«

»Sehr einfach, Herr Doktor! Aus seinen Briefen erkannte ich zur Genüge die schwere Beunruhigung, die ihm die Flucht des Mädchens verursachte, das er nach des Vaters Wunsch und Willen als seine Braut betrachten durfte; er wußte auch, daß man Sie für diese Entführung verantwortlich machte. Sie sind ein berühmter Mann, Herr Doktor: ich kenne Ihre Porträts, Ihre Karikaturen; ich hatte oft das Vergnügen, Sie vor versammeltem Volke sprechen zu hören; ich sah Sie oben auf den verschiedenartigsten Tribünen stehen. So hatte ich mir Ihr Bild tief genug eingeprägt, um Sie neulich auch in der Verkleidung als Dschimke zu erkennen, um so mehr, als Ihre zweifelhafte Gefolgschaft meinen Argwohn verstärken mußte. Die eine der jungen Begleiterinnen war keinesfalls eine auf dem Dorfanger gewachsene Blume. Ich nahm Extrapost nach Königsberg, um meinen Freund von meiner Wahrnehmung zu unterrichten, und eine andere Extrapost führte uns sogleich zusammen wieder hierher. Sie können sich denken, daß mein Freund Eile hatte, und da Sie, wie es scheint, auch Eile haben, um so rasch wie möglich die Provinz zu verlassen, so ist eine Beschleunigung der Angelegenheit jedenfalls in beiderseitigem Interesse.«

»Ich werde meinen Freund rufen,« sagte Wilbert mit höflicher Verneigung. Er eilte hinauf zu Martin, und es gelang ihm allmählich, diesen aus seinem tiefen Schlafe aufzuwecken. Er verständigte sich rasch mit ihm an der Kammertür und eilte dann zu Cäcilie … leise öffnete er die Tür … sie war in der Tat entschlummert. Ihre sanften Atemzüge zeigten, daß sie Sorge und Aufregung nicht mit in ihre Träume genommen hatte. Sie lag da, so lieblich, so rosig angehaucht, und um ihre Lippen spielte ein leises Lächeln. Er drückte einen Kuß auf dieselben … und sie erwachte nicht … war es ein Abschiedskuß … und vielleicht für immer? So möge ihren ganzen Lebenstraum der Nachschimmer eines kurzen Glückes verklären.

Martin hatte mit Pansen alles verabredet; er sah ein, daß Wilbert diesem Duell nicht aus dem Wege gehen konnte; er mußte sich seine Braut noch einmal mit der Waffe in der Hand erkämpfen. Es war ein trostloser Beginn des ehelichen Glückes; doch mutig vorwärts: dieser Pistolenschuß kettete die Ehe ebenso fest wie des Pfarrers Segen. Der Gegner bot selbst gleichwertige Waffen, noch dazu zur Wahl an; den Ort im Walde hatte Pansen aufs genaueste bezeichnet; wenn die Gegner auf die übliche vierundzwanzigstündige Frist verzichteten, sollte nach zwei Stunden um acht Uhr der Zweikampf stattfinden. Wilbert hatte oft genug unerschrockenen Mut bewährt; aber jetzt sträubte er sich doch innerlichst gegen die harte Zumutung, sein Leben in die Schanze zu schlagen, das gerade jetzt für ein anderes Leben so unendlichen Wert gewonnen; er sträubte sich dagegen, an der Pforte eines mühsam erkämpften Glückes innehalten, ja vielleicht umkehren zu müssen; und wo blieben alle die großen Aufgaben seines Lebens? Bange Ahnungen umschleierten sein Gemüt und er konnte eine Träne nicht unterdrücken, als er zum Fenster der Giebelstube hinaufsah, in welcher Cäcilie schlummerte.

Doch das Pfarrhaus wollte man in früher Ruhe nicht stören; am Frühstückstisch konnte man in solcher Aufregung nicht erscheinen; es war das beste, einen Spaziergang in den Wald zu machen bis zur festgesetzten Stunde, und so wurde auch der dienstbare Geist des Pfarrhauses unterrichtet.

»Man muß eine solche Sache nicht zu ernst nehmen,« sagte Martin, »es gibt Unglücksfälle überall im Leben und so kann auch bei einem Duell einmal ein Unglück passieren. Ich bin mit heiler Haut aus so vielen Kämpfen mit Schläger und Pistole hervorgegangen, daß ich diese Abenteuer nicht sonderlich hoch taxiere. Mich ärgert nur, daß uns dieses Pack doch noch den Weg kreuzt; ich glaubte, wir würden diesen Rothäuten schon entronnen sein und nun müssen wir uns doch noch mit diesem Gesindel herumschlagen, das sich mit lauter verrückten Begriffen von Familienehre tätowiert hat.«

»Im Grunde ist's doch der verbitterte Parteikampf, der uns hier die Pistole in die Hand drückt,« versetzte Wilbert; »man wird es schon in kurzer Zeit nicht glauben, daß hier ein solcher Kampf entbrennen konnte um politische Freiheiten, die allen gebildeten Nationen schon jetzt ein selbstverständlicher Besitz sind.«

»Ja, wir müssen uns hier noch mit den Auerochsen herumschlagen, die in anderen Ländern schon längst ausgestorben sind.«

Martin war in ärgerlicher Stimmung. Der unberechenbaren Entscheidung von Pulver und Blei sollte noch einmal ein so wohlvorbereiteter und durchgeführter Liebeshandel preisgegeben werden. Als er mit Wilbert die Waldwege nach der bezeichneten Lichtung einschlug, da machte er seinem Unmut Luft, indem er mit seinem schweren Wanderstab auf das ganze Blumengesindel losschlug, das unter den Büschen am Pfade blühte. Noch einmal lagerten sie an einer malerischen Stätte des Waldes unter hochragenden Eichen; dann mahnte die Uhr zum Aufbruch, und Martin, der einen geübten Ortssinn besaß, fand nach der Beschreibung bald den für die Begegnung bestimmten Platz.

Die Gegner waren schon anwesend. Martin prüfte die Waffen, welche Pansen für beide Parteien mitgebracht hatte, und das Los bestimmte die Wahl. Auch der Arzt aus dem benachbarten Städtchen war zugegen. Die Entfernungen wurden gemessen: zehn Schritt Barriere, Feuer im Avancieren, war bestimmt.

Finkenschlag ertönte aus dem Walde, eine Amsel rief vom Wipfel einer Fichte herunter; tausendfaches Leben schwirrte durch die grünen Hallen; Wilbert hatte nur einen Gedanken: Cäcilie. Wie ein Nachtwandler schritt er dem Feinde entgegen; der Ruf: »Feuer!« ertönte! Gleichzeitig schossen die beiden Kämpfer ihre Pistolen ab. Wilbert brach zusammen: er war ins Herz getroffen. Der Arzt neigte sich über ihn – keine Hoffnung mehr! Herter, der ihn ingrimmig haßte, wandte sich ab von ihm, er ließ ihn wie ein Wild auf der Strecke liegen. Pansen sprach dem Doktor Martin sein Bedauern aus und bot ihm seinen Wagen an. Zwei wildschäumende Schecken kamen herangebraust; sie hatten wenig Talent zu einer Leichenfuhre. Martin und der Arzt hoben den Toten in den Wagen. Mit Mühe zügelte der Kutscher sein Gespann, daß es langsamen Schrittes über die Waldwege nach dem Pfarrhause des Dorfes fuhr.

Cäcilie war erwacht: der heitere Morgen, der durch die Fenster blickte, hatte sie mit frischem Lebensmut erfüllt; fest war sie entschlossen, dem Geliebten kein bekümmertes Gesicht mehr zu zeigen, ihm freudig zu folgen, wohin er sie führen wollte, ihm treu für immer anzugehören. Dieser feste Entschluß gab ihr innere Zuversicht und Heiterkeit wieder. Sie ging hinunter in den Blumengarten und suchte den Geliebten. Webernit kam ihr entgegen mit der Mitteilung, die Herren seien in den Wald gegangen, sie würden wohl bald zurückkehren.

»Setzen Sie sich hier in die Laube, Frau Doktor; Sie sehen heute wieder reizend aus. Ich höre, daß Sie uns so rasch verlassen wollen; stellen Sie meiner Gastfreundschaft nicht ein so ungünstiges Zeugnis aus. Bleiben Sie noch einige Zeitlang hier, meine Frau wünscht es so dringend wie ich … und was kann Ihnen jetzt noch begegnen, da Sie den Segen der Kirche haben?«

»Wir sind und bleiben Ihnen dankbar für das, was Sie an uns getan; doch Feindseligkeit, Hohn und Spott folgt hier unseren Schritten, wie der Lärm dieser Nacht bewies. Lassen Sie uns eine Zeitlang in der Ferne weilen: dann wird die Heimat uns wieder mit alter Freundlichkeit willkommen heißen.«

Jetzt kam Käthchen herbei, ein graues Kätzchen im Arm, das sie sich von einem Ahorn, auf den es gesprungen war, heruntergeholt hatte.

»Das sind Männer! Schon am ersten Morgen nach der Hochzeit ergreifen sie vor uns die Flucht, um allein zu sein mit sich, der langweiligsten Gesellschaft von der Welt! Da müssen wir beizeiten einschreiten, Frau Doktor! Wenn wir einmal das Ehekreuz zu tragen haben, so muß der Gatte gehörig mithelfen. Ruhig, Fräulein Murr! Das Kratzen kommt später … bei dir und bei uns … dazu ist's noch Zeit.«

Nun kam auch die blasse, sanfte Frau Pfarrerin heran und half dem Mädchen den Frühstückstisch zurechtmachen: sie war heute weniger aufgeweckt als die Tage vorher. Hatte sie doch jetzt ein Romankapitel zu Ende gelesen, das sie vorher in lebhafter Spannung erhalten: es war eine Pause eingetreten, sie wartete auf das nächste Abenteuer, auf irgend ein neues überraschendes Ereignis.

Über das lange Ausbleiben der beiden Herren wurde Käthchen immer unwilliger; sie hatte in diesem Augenblick mehr Sehnsucht nach dem Frühstückskaffee als nach ihrem Doktor Martin. Da endlich … ein Wagen kam langsam vor der Tür des Pfarrhauses vorgefahren … sie glaubte Martins Stimme zu hören. Eine gewisse Unruhe schien da drinnen zu herrschen … dann wurde es wieder still und man sah durch die Bäume des Pfarrgartens, wie die Schecken des Herrn von Pansen mit dem Wagen desselben vorübergaloppierten. Schon erhob sich Webernit, da erschien die Magd, händeringend und unfähig ein Wort hervorzubringen … bald darauf Doktor Martin: »Fassen Sie sich, Cäcilie, Wilbert ist schwer verwundet!«

Ein lauter Aufschrei!

»Verwundet?« rief Webernit.

»Ja, in einem Duell mit Herter!«

Wie ein Gespenst jagte Cäcilie an ihnen vorbei, durch die Gartenwege ins Pfarrhaus, die Treppe hinauf!

Sie trat in ihr Schlafgemach; ein Blick auf Wilbert genügte.

»Tot!« rief sie in wahnsinnigem Ausbruch des Schmerzes.

Der Arzt nickte schweigend mit dem Kopfe … sie brach an der Leiche zusammen!

*

Es mochte ein Jahr nach diesen Vorgängen sein, als zwei angesehene Rittergutsbesitzer, Webernit und Schleier, auf dem kleinen Kirchhof an der Dorfkirche auf und ab gingen; sie erwarteten die Kränze, die von ihren Wagen herbeigeholt wurden: es galt damit ein Grab zu schmücken, das sich in der Nähe des alten Kirchturms erhob. Es war ein gemeinsames Grab: goldene Lettern verkündeten, daß hier Doktor Ernst Wilbert und sein Weib, Cäcilie, ruhten; ja, nicht allzulange war sie dem Geliebten nachgestorben. Schreck, Schmerz, Verzweiflung hatten sie auf das Krankenlager geworfen, von dem sie nicht wieder erstehen sollte. Der Vater, der, alte Nortmann, mit der treuen Martha und dem ritterlichen Valdenius waren herbeigeeilt; Nortmann im größten Jammer verhieß ihr Verzeihung und volle Liebe, er rang die Hände, raufte sich die Haare … alles zu spät! Cäcilie hörte kaum seine Beteuerungen und Äußerungen, sie war meistens in bewußtlosem Zustande. Sehr erschwerend war für den Vater das peinliche Gefühl, daß ihm in der Zwischenzeit sein Groll gegen Wilbert mehr und mehr abhanden gekommen, ja, daß er fast seine Strenge und Härte zu bereuen anfing; denn es regte sich in ihm selbst auf einmal etwas von jenem Geist der Opposition, den er bis dahin so leidenschaftlich bekämpft hatte. War doch seine Parteinahme für die Regierung mit schnödem Undank belohnt worden. Sein lebhafter Wunsch, die neue Chaussee möchte an seinem Besitztum vorbeigeführt werden, war aus dem Kreistage vom Landrat und bei einer Berufung später von den höheren Regierungsbehörden in ablehnender Weise behandelt worden. Und bei dem letzten Ordensfest hatten der Matrenka und selbst der Herr von Grehlen, der stets mit der Opposition geliebäugelt, Auszeichnungen erhalten, und nur er, Nortmann, war leer ausgegangen. Das hatte ihm anfangs tiefen Schmerz bereitet, dann bei ihm Bedenken über die Gerechtigkeit der jetzigen Regierung erregt, und in diesen Bedenken lag bereits ein gefährlicher Berührungspunkt mit den Anschauungen der Opposition. Und allmählich zu seinem eigenen Schrecken drohte sein ganzer innerer Mensch sich umzuwenden; er wagte gar nicht hinzusehen, welche Wandlung sich da in ihm vollzog; doch gelegentlich ertappte er sich auf Ansichten, die ihm früher verbrecherisch vorgekommen wären! Und Wilbert … und sein armes Kind … da lag es im Fieber glühend, bewußtlos … und noch so schön! Martha rang die Hände; Valdenius, der auf sein inständiges Bitten bisweilen an Cäciliens Krankenlager zugelassen wurde, stand fassungslos da mit Tränen im Auge.

In ihren Fieberphantasien erschien sie jetzt, wo der Freund von ihrer Seite gerissen, als eine Verworfene, mit einem unauslöschlichen Makel behaftet. Alle wandten sich von ihr ab … und er, der einzige, dessen Liebe Ersatz geboten für den Haß und die Verachtung der Welt … er war dahin, mit ihm alles Glück, alle Hoffnung … und zu ihm hinab neigte sich all ihr Sehnen, Fühlen, ihr ganzes Dasein, wie die Trauerweide ihr hängendes Gezweig senkt in den unergründlichen See. Und so starb sie dahin … der Körper, noch ehe sie das Auge schloß, aufgezehrt von der sterbenden Seele.

Sie wollte mit Wilbert zusammen ruhen. Diesen Wunsch der Sterbenden, ausgesprochen in einem lichten Augenblick, ehrte der Vater. Den Rebellen ausgraben lassen und in Wieselau mit der Tochter zu beerdigen: das wäre ein zu herausfordernder Hohn gewesen gegenüber allem Vergangenen. So blieben beide Liebenden im gemeinsamen Grab an Webernits früherer Pfarrkirche.

Und nicht einsam blieb dies Grab … die alte Martha, Valdenius, Doktor Martin und Käthchen kommen trotz des weiten Weges oft von den entlegenen Gütern herüber, um es mit Kränzen zu schmücken.

Und mehrmals kam auch ein einsames Weib von fremdartiger Schönheit und legte üppig blühende dunkle Blumen auf das Grab. Dem Sterbenden hielt Rahel Michal die Treue – und jetzt war's ihr fast ein Trost, daß nach der letzten Begegnung Salo Roseck sich von ihr gewendet und schon nach wenigen Tagen mit einer jungen reichen Dame in der Vorstadt verlobt hatte.

Später erfuhr er das Mißverständnis – und auch sein Herz empfand tiefes Weh.

Sie war nicht ganz verlassen. Dante und die großen Geister aller Zeiten sprachen mit ihr Tag für Tag – und ihr war's, als hörte sie Wilberts Stimme.

Doktor Martin reichte dem Freunde stumm die Hand: »Es ist einer der Toten, die vor der Zeit des großen Kampfes gefallen. Die Welt wird andere Opfer heischen. Wahren wir diesen beiden, Romeo und Julie am Pregel, ein liebevolles Angedenken!«

Finis


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