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XIX

Die Großtante schickte, als Raiskij bei ihr eintrat, sogleich Paschutka hinaus und verschloß die Tür des Kabinetts. Sie war anscheinend heftig erregt. Raiskij erschrak.

»Ist etwas Schlimmes geschehen, Tantchen?« fragte er und nahm ihr gegenüber Platz.

»Was geschehen mußte, ist eben geschehen«, sagte sie niedergeschlagen, während sie zur Seite blickte.

»Sagen Sie es rasch – ich sitze wie auf Nadeln!«

»Der alte Spitzbube Tytschkow hat an uns beiden seine Rache genommen. Ja, auch über mich hat er sich da von einer verrückten Person eine alte Geschichte erzählen lassen. Es ist aber nichts dabei herausgekommen ... die Vergangenheit interessiert die Leute nicht, und überdies stehe ich ja schon mit einem Fuß im Grab und mache mir nichts daraus. Aber Wera ...«

Sie seufzte.

»Was ist mit Wera?«

»Ihre Geschichte ist kein Geheimnis mehr. Es gehen Gerüchte in der Stadt um«, flüsterte Tatjana Markowna schmerzlich bewegt. »Ich achtete erst gar nicht darauf, daß mich am Sonntag in der Kirche die Frau des Vizegouverneurs so angelegentlich nach ihr fragte, ob sie denn gesund sei, und daß ein paar Damen sogleich die Köpfe zwischen uns steckten und horchten, was ich wohl sagen werde. Ich sah mich rings um und las auf allen Gesichtern die Frage: ›Was ist mit Wera?‹ – ›Nun, sie war krank‹, sag ich, ›ist aber jetzt wieder gesund.‹ Alle fragten sogleich, was ihr denn gefehlt habe. Ich konnte mich ihrer gar nicht erwehren, wußte nicht, was ich ihnen sagen sollte.«

»Ist etwas bekannt geworden?«

»Das, was wirklich vorgefallen ist, wissen sie Gott sei Dank nicht! Ich hörte gestern von Tit Nikonytsch dies und das, der Klatsch verfolgt eine falsche Spur.«

Die Großtante wandte sich ab.

»Wen hat man in Verdacht?«

»Iwan Iwanowitsch – das ist eben das Schlimme. Er, der am wenigsten Anlaß gegeben hat. Du wirst dich erinnern, daß er an Marfinkas Geburtstag herkam und erst ganz still und in sich gekehrt dasaß. Als dann Wera hereinkam, war er plötzlich wie ausgewechselt. Alle Anwesenden sahen es, und es war ja ohnedies kein Geheimnis, daß er Wera liebt, aufs Verheimlichen seiner Gefühle versteht er sich nicht. Es wurde allgemein bemerkt, daß er mit ihr in den Garten ging und daß er bald darauf wegfuhr, während sie sich auf ihr Zimmer begab. Weißt du vielleicht, weshalb er damals kam?«

Raiskij nickte bejahend mit dem Kopf.

»Du weißt es? Nun, siehst du – und jetzt sind Wera und Tuschin in aller Munde.«

»Was habe ich nun dabei zu tun? Sie sagten, daß Tytschkow auch an mir Rache genommen habe.«

»Dich hat Polina Karpowna in die Sache hineingezogen. Sie suchte dich an jenem Abend im Park, als du noch so spät mit Wera spazierengingst. Du hast ihr da irgend etwas vorgeredet – jedenfalls im Scherz, aber sie hat es eben auf ihre Weise aufgefaßt und sich eine Geschichte zurechtgemacht, in der auch du eine Rolle spielst. Sie sagt, du seiest in Wera verliebt gewesen, doch habe sie dich ihr abspenstig gemacht. Sie habe dich aus dem Abgrund, wie sie sagt, emporgezogen. Ich werde daraus nicht recht klug. Was gab es denn zwischen euch, und was für Geheimnisse hattet ihr eigentlich mit Wera? Du wußtest offenbar um ihre Heimlichkeiten schon lange, nur vor Tantchen habt ihr die Schlüssel versteckt. Da seht ihr, was bei all eurer Freiheit herauskommt!«

Sie seufzte so schwer, daß es im Zimmer widerhallte.

Raiskij ballte die Fäuste.

»Diese alte Vogelscheuche hat noch nicht genug bekommen! Ich will morgen mit ihr abrechnen, daß sie zeitlebens daran denken soll!« rief er drohend.

»Das verlohnt sich gerade! Es hat keinen Sinn, sie zur Rechenschaft zu ziehen, sie ist eine komische Person, und kein Mensch schenkt ihr Glauben. Aber dieser alte Klatscher, der Tytschkow, hat da einen Brei eingerührt. Er hat irgendwie erfahren, daß Wera an Marfinkas Geburtstag in den Park hinausging, daß sie dort eine lange Unterredung mit Tuschin hatte, daß sie am Abend vorher sehr spät fortblieb und dann krank im Bett lag. Alles, was Polina Karpowna erzählte, hat er sich auf seine Weise zurechtgelegt. ›Nicht Raiskij war es‹, sagt er, ›sondern Tuschin, mit dem sie an jenem Abend und schon in der Nacht vorher Spaziergänge machte!‹ Er hat dann die Geschichte in der Stadt verbreitet. Außerdem ist da noch ein Geklatsch im Gange, das eine alte Trunkenboldin über mich aufgebracht hat. Tytschkow hat auch diese Geschichte aufgegriffen.«

Tatjana Markowna senkte die Augen; ihr Gesicht wurde für einen Augenblick von einer Röte bedeckt,

»Ah, das ist etwas anderes!« sagte Raiskij ernsthaft und begann erregt im Zimmer auf und ab zu gehen. »Die Lektion, die Sie damals dem alten Burschen erteilten, hat nicht gewirkt, ich muß sie wiederholen!«

»Was fällt dir ein? Gott bewahre! Rühr lieber nicht daran! Es verlohnt wirklich nicht, die Sache breitzutreten. Es kommt jetzt nur darauf an, festzustellen, wo eigentlich Iwan Iwanowitsch an jenem Abend gewesen ist – wenn er zu Hause war, am anderen Wolgaufer, mit wem war dann Wera zusammen? So werden die Leute fragen. Dich hat die Krizkaja doch im Park getroffen, du warst allein – wo steckte also Wera?«

Tatjana Markowna ließ den Kopf sinken.

Raiskij warf sich heftig erregt in einen Sessel.

»Ja, was soll da geschehen?« sagte er in banger Sorge um Wera.

»Was Gott uns schickt!« flüsterte Tatjana Markowna resigniert. »Gott richtet die Menschen durch die Menschen, darum dürfen wir ihr Urteil nicht gering achten. Da heißt es eben, sich unterwerfen! Das Maß ist offenbar noch nicht voll.«

Wiederum stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

Raiskij ging im Kabinett auf und ab. Beide schwiegen. Sie verhehlten sich nicht, daß die Sachlage recht schwierig und verworren war. Die Leute in der Stadt waren dahintergekommen, daß sich da irgendein Drama abspielte, wenn sie zunächst auch nur gewisse äußere Momente bemerkt hatten. Daß Wera sich stets für sich hielt, daß Tuschin ihr eifriger, treuer Verehrer war, daß sie sich von der Autorität der Großtante frei gemacht hatte – alles dies wußte man ja schon lange, und man hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt.

Hierzu hatten sich jedoch in neuerer Zeit einige Nebelflecke gesellt, über die man sich nicht recht klar war. Daß Raiskij Wera den Hof machte, war den Beobachtern nicht entgangen, selbst Uljana Andrejewna hatte davon gehört und gelegentlich zu ihm eine Bemerkung darüber fallenlassen. Auch die Krizkaja hielt mit ihrem Wissen nicht hinterm Berg. Dennoch blieb man dabei, daß Tuschin der aussichtsreiche Bewerber um Weras Hand war, wie man auch Marfinka und Wikentjew schon lange füreinander bestimmt hatte. Nun kamen alle diese Unbegreiflichkeiten, die sich an Marfinkas Geburtstag zugetragen hatten. Wera erschien für einen einzigen kurzen Augenblick unter den Gästen, sprach mit niemandem ein Wort, ging mit Tuschin in den Park und von da auf ihr Zimmer, während Tuschin abfuhr, ohne sich von der Dame des Hauses zu verabschieden.

Von der Krizkaja hörte man, daß Raiskij am Abend vor dem Geburtstag lange Zeit mit Wera spazierengegangen sei. Dann war nach dem Geburtstag Wera erkrankt, und auch Tatjana Markowna war leidend. Das Haus war wie abgesperrt, niemand wurde vorgelassen. Raiskij lief verstört umher und ging allen Leuten aus dem Wege. Von den Ärzten war nichts Rechtes herauszubekommen, die sprachen nur ganz allgemein von »Krankheit«. Von der Heirat Weras war es wieder ganz still geworden. Warum machte Tuschin keinen Antrag, oder, wenn er ihn schon gemacht hatte, warum hatte man ihn nicht angenommen? Es wurde der Verdacht ausgesprochen, daß Raiskij vielleicht mit Wera angebändelt hatte – warum heiratete er sie dann aber nicht? Die öffentliche Meinung forderte unbedingt die Schuldigen wie die Unschuldigen vor ihr Tribunal, um ihr Urteil zu sprechen.

Tatjana Markowna sowohl wie Raiskij verhehlten sich die Schwierigkeit der Lage nicht und sahen mit bangem Gefühl dem Urteil entgegen, das die öffentliche Meinung über Wera fällen würde. Nur Wera selbst fürchtete dieses Urteil nicht und wußte überhaupt von nichts. Andere Sorgen waren es, die sie bedrückten. Immer noch fühlte sie den tiefen Schmerz, der ihre Seele heimgesucht hatte, und auf seine Linderung verwandte sie alle ihre Kraft, wenn auch bisher noch vergebens.

»Hören Sie einmal, Tantchen!« sagte Raiskij plötzlich, nachdem er eine ganze Weile geschwiegen. »Vor allem müssen Sie selbst Iwan Iwanowitsch alles sagen. Er ist in diesen Klatsch hineingezogen worden, ihm steht es daher zu, zu bestimmen, was dagegen zu geschehen hat. Er wird schon das Richtige treffen, Sie brauchen seine Entscheidung nicht zu fürchten. Ich kenne ihn jetzt und vertraue ihm ganz. Er wünscht sicherlich Wera nur das Beste, denn er liebt sie – ohne daß wir nur ein Wort von ihr sprachen, habe ich das gesehen. Er beunruhigt sich um ihr Ergehen weit mehr als um sein eigenes. Er ist auch jetzt nur ihretwegen mit mir hierhergekommen. Ihr Brief an mich hat ihn beunruhigt, weil er fürchtete, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte. Dann erst, sobald Sie mit ihm gesprochen haben werden, will ich mit Polina Karpowna – und vielleicht auch mit Herrn Tytschkow reden.«

»Ich will aber nicht, daß du mit diesem Menschen sprichst!«

»Ich kann ihn nicht gut umgehen, Tantchen!«

»Ich will es auf keinen Fall, Boris!« sagte sie so entschieden und streng, daß er den Kopf sinken ließ und nicht mit einem Wort widersprach. »Es kann wirklich nichts Gutes dabei herauskommen. Was du sonst sagtest, ist ganz vernünftig. Ich will zuerst mit Iwan Iwanowitsch sprechen, und dann wollen wir sehen, ob es notwendig ist, daß du zur Krizkaja gehst, um von ihr zu hören, was eigentlich die Leute reden. Je nachdem, was du da erfährst, wird man eben die Dinge anders deuten ... oder die Wahrheit sagen!« fügte sie mit einem Seufzer hinzu. »Wir wollen sehen, wie Iwan Iwanowitsch die Sache auffaßt. Geh, ruf ihn hierher zu mir, sag aber Wera kein Wort! Sie weiß von gar nichts, Gott behüte, daß sie überhaupt etwas erfährt!«

Raiskij begab sich ins obere Stockwerk, um Wera Gesellschaft zu leisten, während Tuschin ihn bei Tatjana Markowna ablöste.


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