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Raiskij hatte die Großtante gerade beim Frühstück der Kinder angetroffen. Sie schlug vor Überraschung die Hände zusammen und sprang von ihrem Stuhl auf. Fast wären dabei die Teller vom Tisch geflogen.
»Borjuschka! Oh, du Schelm! Kein Wort zu schreiben, so mit der Tür ins Haus zu fallen! Ich bin ja so erschrocken, wie du eben ins Zimmer tratst!«
Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, sah ihm ein Weilchen fest ins Gesicht, wollte in Tränen ausbrechen, besann sich jedoch eines Besseren, preßte seinen Kopf an ihre Schulter, warf einen raschen Blick auf das Porträt seiner Mutter an der Wand und unterdrückte einen Seufzer.
»Nun, nun, nun ...« – sie wollte sprechen und fragen, sprach und fragte aber nichts, sondern lächelte nur und wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge. »Ganz Mamas Sohn! Wirklich – auffallend ähnlich! Sieh nur, wie schön sie war! Sieh, Wassilissa ... Du erinnerst dich ihrer noch? Nicht wahr, er ist ihr sehr ähnlich?«
Kaffee, Tee, Weißbrot, das Frühstück, das Mittagessen – alles stürmte förmlich auf den jungen Studenten ein, der noch eine gute Portion Schüchternheit und Verschämtheit, dafür aber auch den ganzen gesunden Appetit der Jugend besaß und all den guten Bissen, die ihm aufgetischt wurden, tapfer zusprach. Die Großtante aber wandte nicht ein Auge von ihm.
»Ruft die Leute zusammen«, rief sie, »sagt es dem Starosten Dorfältesten., sagt es allen, allen: der junge Herr ist angekommen, unser richtiger Herr, der Besitzer des Gutes! Willkommen, Väterchen, willkommen im heimatlichen Nest!« sprach sie, in scherzhafter Weise die Art der Bauern nachahmend. »Versagen Sie uns nicht Ihre Gnade, Tatjana Markowna hat uns gekränkt, uns ausgesogen, nehmen Sie sich unser an, Väterchen! ... Hahaha! Da sind die Schlüssel, da sind die Jahresabrechnungen! Bitte, übernimm das Kommando, verlange Rechenschaft von der Alten, frag sie, wie sie alles verschwendet hat, warum die Bauernhütten so verfallen aussehen! ... Geh nach der Stadt, dort betteln die Bauern von Malinowka überall unter den Fenstern ... Hahaha! Und dann fahr mal zum Onkel hinüber, zum Vormund, nach dem anderen Gut – dort gehen die Bauern wochentags in geschmierten Stiefeln und roten Hemden, und ihre Häuser haben zwei Stockwerke, ja! ... Nun, warum schweigst du denn, gnädiger Herr? Warum verlangst du keine Rechnungslegung? Aber jetzt frühstücke erst mal, dann will ich dir alles zeigen.«
Nach dem Frühstück nahm die Großtante ihren mächtigen Sonnenschirm, zog sich ein Paar Schuhe mit dicken Sohlen an, setzte eine gesteppte Leinenmütze auf und verließ mit Boris das Haus, um ihm die Wirtschaft zu zeigen.
»Nun, gnädiger Herr, jetzt sieh dir alles an, gib genau acht, und wenn du etwas bemerkst, was dir nicht gefällt, dann rüffle die Tante nur ganz gehörig! Das Blumengärtchen hier vor den Fenstern habe ich erst kürzlich anlegen lassen«, sagte sie, während sie zwischen den bunten Beeten dem Hofe zuschritt. »Hier haben auch Werotschka und Marfinka ihr Plätzchen, hier spielen sie im Sand, ich habe sie da immer vor Augen. Auf die Kinderfrau ist ja doch kein Verlaß – und hier sehe ich immer, was sie treiben. Sind sie einmal größer, dann brauchen wir keine Blumen zu kaufen, dann haben wir unsere eigenen!« fügte sie scherzend hinzu.
Sie schritten über den Hof.
»Kirjuschka, Jerjomka, Matrjoschka! Wo habt ihr euch denn alle versteckt?« rief die Tante, mitten im Hof stehend. »Kommt alle her, rasch!« Matrjoschka kam auf sie zu und meldete, daß Kirjuschka und Jerjomka nach dem Dorf geschickt seien, um die Bauern zu holen.
»Sieh mal, das ist die Matrjoschka. Erinnerst du dich ihrer noch?« sprach die Großtante. »So komm doch näher, dummes Ding, was stehst du da? Küß doch dem gnädigen Herrn die Hand, das ist ja mein Großneffe!«
»Ich trau mich nicht, Herrin, ich wag's nicht!« versetzte Matrjoschka, kam jedoch näher auf Raiskij zu.
Er umarmte sie verschämt.
»Das Seitengebäude da ist neu, Tantchen, das habe ich noch nicht gesehen!« sagte Boris.
»Hast es also doch bemerkt! Ja, ja – erinnerst du dich noch des alten? Das war ganz verfault, handbreite Spalten waren im Fußboden, und so schwarz, so verräuchert war alles. Und nun sieh dir's mal an!«
Sie betraten das neu errichtete Gebäude. Die Großtante zeigte ihm dann die umfangreichen Reparaturen in den Stallungen, auch die Pferde wurden besichtigt. Hierauf ging er nach dem neuen Geflügelhaus, der Waschküche und den Viehställen.
»Auch die alte Küche ist nicht mehr vorhanden; dort ist die neue, ich habe sie absichtlich etwas abseits anlegen lassen, als besonderes Gebäude, schon wegen der Feuersgefahr und damit die Leute mehr Raum haben. Jetzt hat jedes seinen Winkel für sich, wenn er auch nur klein ist. Da ist der Getreidespeicher, hier die Vorratskammer, dort der neue Keller; den alten Keller habe ich umbauen lassen.«
»Was stehst du denn da?« wandte sie sich an Matrjona. »Geh, sag Jegorka, er soll ins Dorf laufen und dem Starosten sagen, daß wir selbst hinkommen.«
Im Park machte Tatjana Markowna den jungen Besitzer mit jedem Baum, jedem Strauch bekannt, führte ihn durch die Alleen, ließ ihn einen Blick von der Höhe in die bewaldete Schlucht tun und führte ihn schließlich ins Dorf. Es war ein warmer, sonniger Tag, der Winterroggen wogte leicht und gleichmäßig unter dem sanften Hauch des Mittagswindes.
»Das ist mein Neffe Boris Pawlytsch!« sagte sie zum Dorfältesten. »Nun, seid ihr mit dem Heu bald fertig? Beeilt euch, solange schönes Wetter ist, nach der Hitze wird es Regen geben. Da seht ihr nun den Herrn, euren wirklichen Herrn – heut ist er gekommen!« sagte sie zu den Bauern. »Hast du ihn schon mal gesehen, Garaska? Sieh dir ihn nur ordentlich an! Und du, Iljuschka, sag mal, ist das nicht dein Kalb dort im Roggen?« fragte sie im Vorbeigehen und warf dann einen Blick nach dem Teich.
»Da hängt schon wieder Wäsche auf den Bäumen!« rief sie zornig und wandte sich zum Starosten um. »Ich habe doch befohlen, daß eine Leine gekauft werden soll! Sag's der blinden Agaschka – sie ist's, die immer die Hemden auf die Weide hängt –, daß sie ihren Kram da wegbringen soll! Die Äste müssen ja abbrechen!«
»Eine so lange Leine ist nicht da«, erwiderte der Starost in schläfrigem Tone. »Man müßte in der Stadt eine neue kaufen.«
»Warum sagst du es nicht Wassilissa? Sie würde es mir sagen! Jede Woche fahre ich nach der Stadt, ich hätte längst eine Leine besorgt!«
»Ich hab's ihr ja gesagt; aber sie vergißt es – oder sie sagt, es lohne sich nicht, die Herrin damit zu belästigen.«
Die Großtante machte sich einen Knoten ins Taschentuch. Sie pflegte zu sagen, daß nichts in der Wirtschaft ohne sie geschehe. Eine Wäscheleine konnte schließlich auch jeder andere kaufen, aber um nichts in der Welt hätte sie das Geld dafür jemandem anvertraut.
Sie war nicht gerade geizig, ging jedoch mit dem Gelde sehr behutsam um; bevor sie etwas ausgab, überlegte sie lange, war sogar ein wenig ärgerlich; war das Geld jedoch einmal ausgegeben, dann hatte sie die Sache sogleich vergessen und notierte die Ausgabe nicht einmal gern; tat sie es dennoch, so geschah es, wie sie sagte, nur, um zu wissen, wo das Geld geblieben war, und nicht zu erschrecken, wenn es plötzlich fort war. Sehr ungern zahlte sie größere Summen auf einmal, namentlich wenn es plötzliche, unvorhergesehene Ausgaben waren.
Abgesehen von den allgemeinen Dispositionen, die sie zu treffen hatte, ging ihr Leben in lauter kleinlichen Sorgen und Tätigkeiten hin. Bald beschäftigte sie die Mädchen mit Zuschneide- und Näharbeiten, bald gab es zu flicken, zu kochen, zu scheuern. Wenn sie dabeistand und zusah, wie die anderen arbeiteten, so nannte sie das »alles selber machen«. Sie rührte nichts an, sondern stand in graziöser Kommandohaltung da, die eine Hand in die Hüfte gestützt und mit dem Zeigefinger der anderen da- und dorthin zeigend, wo etwas wegzunehmen oder hinzustellen war oder wie etwas gemacht werden sollte.
Der Schlüsselbund an ihrem Gürtel enthielt nur die Schlüssel zu den Schränken, Truhen und Schatullen im Hause, in denen das seit vielen Jahren aufgehäufte feine Leinenzeug, die schon vergilbten kostbaren Spitzen, die als Brautgabe für die Enkelinnen bestimmten Brillanten und vor allem das Geld aufbewahrt wurde. Die Schlüssel der Speisekammer und der sonstigen Behältnisse, in denen Tee, Zucker, Kaffee und andere Vorräte aufbewahrt wurden, befanden sich in Wassilissas Händen.
Hatte die Großtante am Morgen ihre Anordnungen in der Wirtschaft getroffen und, nach dem Kaffee am Schreibtisch stehend, an der Rechenmaschine die Kasse kontrolliert, dann setzte sie sich auf ihren Platz am Fenster und schaute aufs Feld hinaus, verfolgte die Arbeiten, beobachtete, was im Hof getrieben wurde, und schickte Jakow oder Wassilissa hinaus, wenn etwas nicht so gemacht wurde, wie sie es wollte.
Hierauf fuhr sie, wenn etwas einzukaufen war, nach der Stadt, besuchte die Läden und machte einige Visiten. Doch blieb sie nirgends lange, sprach nur an zwei, drei Stellen fünf Minuten lang vor und war zum Mittagessen wieder zu Hause.
Nicht so schnell ließ sie ihre eigenen Gäste los – wer kam, mußte, wenn es irgend ging, zum Frühstück oder Mittagessen dableiben. Nie, solange sie lebte, war jemand von ihr gegangen, ohne daß sie ihn, ganz gleich womit und zu welcher Tageszeit, bis oben hinauf vollgestopft hätte. Nach dem Mittagessen saß sie, wenn sie allein war, im Winter gern in nachdenklichem Schweigen am Kamin. In schöner Pose, als die vornehme Dame, die keine Sorgen hat, saß sie da, wie in tiefes Nachsinnen oder in Erinnerungen versunken, die sie weit, weit entführten. Dann mußte es ganz still um sie sein. Im Sommer hielt sie sich am Nachmittag im Garten oder im Park auf. Hier zog sie auch wohl gern einmal ein Paar Gemslederhandschuhe an, nahm den Spaten, die Harke oder die Gießkanne zur Hand und begann – »aus Gesundheitsrücksichten« – ein Beet umzugraben oder begoß die Blumen, raupte einen Strauch ab, entfernte das Spinngewebe von den Johannisbeersträuchern und endete schließlich, nachdem sie müde geworden, den Tag am Teetisch, wo ihr guter alter Freund und Berater Tit Nikonytsch Watutin ihr Gesellschaft leistete.