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Wij – ist eine großartige Schöpfung der Phantasie des einfachen Volkes. So heißt bei den Kleinrussen der Zwergkönig, dessen Augenlider bis zur Erde reichen. Diese ganze Erzählung ist eine Volkslegende. Ich wollte sie in gar nichts verändern und erzähle fast in der genau gleichen Einfachheit, wie sie mir erzählt ward. (Anmerkung des Dichters.)
Sobald am frühen Morgen nur eben die klangvolle Glocke des Seminars ertönte, die am Eingang zum Brüderkloster hing, eilten auch schon aus der ganzen Stadt in Scharen die Schüler und Bursaken Bursak hieß im 16. bis 17. Jahrhundert der Zögling des Kronspensionats im geistlichen Seminar in Kiew, der sogenannten »Burse«. herbei. Grammatiker, Rhetoriker, Philosophen und Theologen, die Hefte unter dem Arm, schleppten sich in die Klassen. Die Grammatiker waren noch sehr klein: im Gehen stießen sie einander und schimpften sich dann im allerfeinsten Diskant; sie trugen fast alle zerrissene und schmutzige Kleider, und ihre Taschen waren ganz angefüllt mit allerlei Zeug, wie Knöcheln, aus Federn gemachten Pfeifen, Brotresten und bisweilen sogar jungen Spatzen, von denen dann einer plötzlich aufzwitscherte, wenn es gerade ungewöhnlich still in der Klasse war, und das trug dann seinem Schutzherrn beträchtliche Tatzen auf beide Hände ein und bisweilen sogar auch Weichselruten. Die Rhetoriker schritten schon solider daher; ihre Kleider waren oft ganz heil; dafür trugen sie aber fast stets im Gesichte irgendeine Verzierung in Gestalt einer rhetorischen Trope: entweder ging das Auge bis an die Stirn hinauf, oder statt der Lippen war da eine ganze Blase oder irgendein anderes derartiges Merkmal; sie schwatzten und schwörten im Tenor. Die Philosophen sprachen schon um eine Oktave tiefer; in ihren Taschen war außer starkem Tabak … gar nichts. Vorräte legten sie keine an, und alles, was ihnen in die Hände fiel, aßen sie gleich auf der Stelle auf. Von ihnen roch es nach Tabak und Branntwein, bisweilen so weit, daß der vorbeigehende Handwerksmann stehenblieb und lange noch die Luft einzog, wie ein Jagdhund.
Der Markt pflegte sich um diese Zeit gewöhnlich eben erst zu beleben, und die Händlerinnen, die Brezeln, Brötchen, Melonenkerne und Mohnstangen feilboten, faßten diejenigen von den Vorübergehenden am Rockschoß, deren Kleider aus feinem Tuch oder feiner Leinwand waren.
»Herrschaften, Herrschaften! Hierher, hierher!« sprachen sie von allen Seiten. »Hier sind Brezeln, Mohnstangen, Hörnchen, schöne Weißbrötchen! Bei Gott, sie sind schön! Selbstgemachte! Mit Honig!« Eine andere hob etwas Längliches, aus Teig Gedrehtes empor und schrie: »Da ist zum Lutschen, Herrschaften, kauft nur zum Lutschen!«
»Kauft doch nicht bei dieser da: seht, wie eklig sie ist, seht die häßliche Nase und die schmutzigen Hände! …«
Mit den Philosophen aber und den Theologen fürchteten die Händlerinnen anzubinden, weil die stets nur zum Probieren zu nehmen pflegten, und dabei gleich ganze Hände voll …
Beim Eingang in das Seminar verteilte sich der ganze Haufe in die Klassenzimmer, die zwar niedrig, aber ziemlich geräumig waren und kleine Fenster, breite Türen und tintenbefleckte Bänke aufwiesen. Die Klasse füllte sich plötzlich mit vielstimmigem Summen: die Klassenleiter hörten ihre Schüler ab; der klangvolle Diskant des Grammatikers schallte wider die Scheibe des kleinen Fensters, und sie antwortete fast in dem gleichen Ton; in der Ecke brummte ein Rhetoriker, dessen Mund und dicke Lippen wenigstens der Philosophie hätten gehören müssen. Er brummte im Baß. Man vernahm von weitem nichts anderes als: buh, buh, buh … Während die Klassenlehrer abhörten, blickten sie mit einem Auge unter die Bank, wo aus der Tasche des ihnen untergebenen Bursaken ein Weißbrot herausschaute oder eine Topfnudel oder Melonenkerne.
War dieser ganze gelehrte Haufe etwas zu früh gekommen, oder hatte man erfahren, daß die Professoren später als gewöhnlich kommen würden, so veranstaltete man mit allgemeiner Zustimmung einen Kampf, und alle mußten mitwirken, sogar die Zensoren, die verpflichtet waren, auf Ordnung und Sittsamkeit des ganzen lernenden Standes zu achten. Zwei Theologen entschieden gewöhnlich, wie der Kampf vor sich zu gehen habe: ob jede Klasse für sich allein einstehen, oder sich alle in zwei Parteien teilen sollten: in die Burse und das Seminar. Auf jeden Fall begannen die Grammatiker zuallererst. Sobald sich aber nur eben die Rhetoriker einmischten, liefen sie davon und stellten sich an erhöhten Plätzen auf, um der Schlacht zuzuschauen. Alsdann griff die Philosophie ein mit ihren langen schwarzen Schnurrbärten und endlich auch die Theologie in furchtbaren Pluderhosen und mit ihren Stiernacken. Gewöhnlich endigte die Sache damit, daß die Theologie alle verhieb, die Philosophie in die Klasse gedrängt ward, sich die Seiten strich und zum Ausruhen auf den Bänken Platz nahm. Wenn dann der Professor, der einst selber an derartigen Kämpfen teilgenommen hatte, in die Klasse kam, in einem Augenblick an den entflammten Gesichtern seiner Zuhörer ersah, daß der Kampf nicht übel gewesen sei, und der Rhetorik mit Ruten auf die Finger schlug, bearbeitete in einer anderen Klasse ein anderer Professor die Hände der Philosophie mit hölzernen Schaufeln. Mit den Theologen ward aber wiederum auf ganz andere Art verfahren. Ihnen ward nach dem Ausdruck des Theologieprofessors jedem ein Maß »grobkörniger Erbsen« zugeschüttet, und das geschah mit kurzen ledernen Peitschen.
An Fest- und Feiertagen zogen die Seminaristen und Bursaken mit Puppentheatern in den Häusern umher. Bisweilen spielten sie auch Komödie, und in diesem Fall zeichnete sich stets ein gewisser Theologe aus, der ein klein wenig niedriger war als der Kiewer Glockenturm und die Herodias darstellte oder die Pentephria, die Gattin des ägyptischen Hofmarschalls. Zur Belohnung empfingen sie ein Stück Tuch oder einen Sack Hirse oder eine halbe gekochte Gans und dergleichen mehr. Dies ganze gelehrte Volk – sowohl das Seminar wie auch die Burse, die eine gewisse Erbfeindschaft gegeneinander hegten – war außerordentlich arm an Mitteln zur Ernährung und dabei ganz ungewöhnlich gefräßig, so daß es völlig unmöglich schien, zu berechnen, wieviel Topfnudeln ein jeder von ihnen beim Abendessen verschlang. Deshalb konnten auch die freiwilligen Spenden wohlhabender Bürger niemals ausreichen. Von Zeit zu Zeit schickte daher der »Senat«, der aus den Philosophen und Theologen bestand, die Grammatiker und Rhetoriker unter Anführung eines Philosophen – und bisweilen schloß er sich auch selber an – mit Säcken auf den Schultern aus, um fremde Gemüsegärten zu plündern – und in der Burse gab es dann einen einzigen Melonenbrei. Die Senatoren überaßen sich derart mit Wasserkürbissen und Melonen, daß am anderen Tag die Klassenlehrer von ihnen statt einer zwei Lektionen vernahmen: eine kam aus dem Munde, die andere knurrte im Magen des Senats. Die Burse und das Seminar trugen eine besondere Art langer Röcke, die »bis zum heutigen Tage« reichten: ein technischer Ausdruck, der bedeutete – länger als bis zum Absatz.
Das allerfeierlichste Begebnis für das Seminar waren – die Ferien: anfangs Juni, wann gewöhnlich die Burse nach Hause entlassen ward. Alsdann übersäten Grammatiker, Philosophen und Theologen die ganze Landstraße. Wer nicht ein eigenes Heim hatte, begab sich zu einem seiner Kameraden. Die Philosophen und Theologen traten in »Stellung«, das heißt, sie übernahmen es, die Kinder vermögender Leute zu unterrichten und vorzubereiten, und erhielten dafür im Jahr ein Paar neue Stiefel und bisweilen auch noch Stoff zu einem Rock. Dieser ganze Haufe zog sich hin wie eine Herde. Man kochte sich Grütze und übernachtete im Feld. Ein jeder schleppte einen Sack mit sich, in dem sich ein Hemd befand und ein Paar Fußlappen. Die Theologen waren ganz besonders achtsam und sorgfältig: um ja nicht ihre Stiefel zu vertragen, zogen sie sie aus, hingen sie an Stöcken auf und trugen sie auf der Schulter, besonders, wenn es schmutzig war. Dann streiften sie auch ihre Pluderhosen bis zu den Knien auf und tappten furchtlos mit bloßen Füßen in die Pfützen. Erblickten sie zur Seite des Weges einen Bauernhof, so wandten sie sich gleich dahin, und wenn sie bis an ein Haus herangekommen waren, das etwas sauberer gebaut war als die übrigen, dann stellten sie sich vor dem Fenster in einer Reihe auf, und die ganze Bande begann einen Lobgesang anzustimmen. Der Hausherr, irgendein alter Kosakenansiedler, hört ihnen lange zu, beide Arme aufgestemmt, dann fängt er bitterlich an zu schluchzen und spricht zu seiner Gattin: »Frauchen! Was da die Schüler singen, muß wohl sehr vernünftig sein, bring ihnen Speck heraus und irgend etwas von dem, was wir haben.« Und eine ganze Schüssel Topfnudeln wanderte in den Sack. Ein anständiges Stück Speck, einige Laibe Brot und bisweilen auch ein gefesseltes Huhn fanden sich dort zusammen. Nachdem sie sich durch einen solchen Vorrat gekräftigt hatten, setzten Grammatiker, Rhetoriker, Philosophen und Theologen ihren Weg fort. Je weiter sie indes kamen, um so mehr nahm ihr Haufe ab. Fast alle erreichten ihr Heim, und es blieben nur diejenigen zurück, deren Elternhaus weiter entfernt lag.
Während einer solchen Wanderung bogen einmal drei Bursaken von der Landstraße zur Seite, um sich auf dem ersten Bauernhofe, der ihnen in den Weg käme, mit Mundvorrat zu versehen, weil ihr Sack schon längst leer war. Das waren der Theologe Chaljava, der Philosoph Choma Brut und der Rhetoriker Tiberius Gorobez.
Der Theologe war ein hochgewachsener, breitschulteriger Mann und besaß einen außerordentlich seltsamen Charakter: alles, was nur irgendwie in seiner Nähe lag, stahl er unbedingt. In anderer Hinsicht war seine Gemütsart äußerst finster, und wenn er sich betrunken hatte, pflegte er sich im Steppengras zu verstecken, und es kostete dem Seminar große Mühe, ihn dort ausfindig zu machen.
Der Philosoph Choma Brut war von heiterem Charakter; er liebte sehr, irgendwo ausgestreckt zu liegen und seine Pfeife zu rauchen. Betrank er sich aber, so ließ er unbedingt Musikanten kommen und vollführte den Kosakentanz. Gar häufig probierte er die »grobkörnigen Erbsen«, indes durchaus mit philosophischem Gleichmut, indem er meinte, daß man dem, was einmal sein soll, doch nicht entgehe.
Der Rhetoriker Tiberius Gorobez hatte noch nicht das Recht, einen Schnurrbart zu tragen, Schnaps zu trinken und Pfeife zu rauchen. Er trug noch lange Haare, und deshalb hatte sich sein Charakter zu dieser Zeit erst wenig entwickelt. Indes, nach den großen Stirnbeulen zu urteilen, mit denen er häufig in der Klasse erschien, konnte man vermuten, daß auch aus ihm einstmals ein guter Krieger hervorgehen werde. Der Theologe Chaljava und der Philosoph Choma zogen ihn häufig am Schopf, zum Zeichen ihrer Gönnerschaft, und verwandten ihn zu Botendiensten.
Es war schon Abend, als sie die Landstraße verließen; die Sonne war eben erst untergegangen und die Tageswärme noch deutlich zu verspüren. Der Theologe und der Philosoph rauchten ihre Pfeifen und gingen schweigend dahin; der Rhetoriker Tiberius Gorobez schlug mit dem Stock den Disteln die Köpfe ab. Der Weg führte zwischen einzelnen Gruppen von Eichen und Haselnußsträuchern hin, die auf einer Wiese standen. Hügel und kleine Berge, grün und rund wie Kuppeln, unterbrachen hier und da die Ebene. Ein Feld mit abgemähtem Korn gab zu erkennen, daß bald ein Dorf erscheinen müsse. Sie waren aber schon mehr als eine Stunde an den Feldern vorbeigegangen und auf keinerlei Wohnhaus gestoßen. Schon umfing die Dämmerung völlig den Himmel, und nur im Westen schimmerte noch ein blasses Leuchten.
»Hol's der Teufel!« sprach der Philosoph Choma Brut. »Es schien doch ganz so, als käme sogleich ein Bauernhof.«
Der Theologe schwieg, schaute umher, nahm dann wiederum seine Pfeife in den Mund, und alle setzten ihren Weg fort.
»Bei Gott!« sprach wiederum der Philosoph, und er blieb stehen: »Nicht einmal eine Teufelsfaust ist zu sehen.«
»Aber vielleicht werden wir gleich einen Bauernhof antreffen«, sprach der Theologe, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.
Währenddessen war es schon völlig Nacht geworden und ziemlich dunkel. Kleine Wolken vermehrten die Finsternis, und allem Anschein nach konnte man weder auf die Sterne noch auf den Mond rechnen. Die Bursaken bemerkten, daß sie vom Wege abgekommen waren und schon längst nicht mehr die Richtung einhielten. Der Philosoph tastete mit den Füßen nach allen Seiten und sprach endlich stockend: »Wo ist denn eigentlich der Weg?«
Der Theologe schwieg, dachte nach und murmelte: »Ja, die Nacht ist dunkel.«
Der Rhetoriker ging auf die Seite und bemühte sich im Kriechen den Weg zu ertasten. Seine Hände griffen aber nur in Fuchslöcher. Nichts war zu sehen als Steppe, die, so schien es, noch kein Rad berührt hatte.
Die Wanderer bemühten sich, noch ein wenig vorwärts zu kommen, aber überall war die gleiche Wildnis. Der Philosoph versuchte durch Rufen sich bemerkbar zu machen, doch seine Stimme verhallte vollkommen und erhielt keinerlei Antwort. Ein wenig später vernahm man nur leises Stöhnen, ähnlich dem Winseln des Wolfes.
»Sieh mal an! Was soll man da anfangen?« sprach der Philosoph.
»Was denn? Haltmachen und im Felde übernachten«, sprach der Theologe, und er fuhr in die Tasche, um den Feuerstein hervorzuholen und seine Pfeife wieder anzuzünden. Der Philosoph konnte sich aber damit nicht zufriedengeben. Von jeher hatte er die Gewohnheit, auf die Nacht ein Halbpud Brot und vier Pfund Speck zu verschlingen, und fühlte diesmal eine ganz unerträgliche Öde in seinem Magen. Zudem fürchtete er sich, ungeachtet seines heiteren Charakters, ein wenig vor den Wölfen.
»Nein, Chaljava, das ist unmöglich!« sprach er. »Wie denn, soll man sich, ohne sich mit irgend etwas gestärkt zu haben, niederlegen und ausstrecken wie ein Hund? Laßt uns noch einmal versuchen, vielleicht stoßen wir auf irgendeine Wohnstätte und gelingt es uns, wenigstens einen Becher Schnaps zur Nacht zu trinken.«
Bei dem Wort »Schnaps« spuckte der Theolog zur Seite und murmelte: »Natürlich kann man nicht im Felde bleiben.«
Die Bursaken schritten voran, und zu ihrer größten Freude erklang in der Ferne Hundegebell. Nachdem sie gehorcht hatten, von welcher Seite es erschallte, beschleunigten sie ihren Schritt und erblickten nach einiger Zeit ein kleines Licht.
»Ein Hof, bei Gott, ein Hof!« sprach der Philosoph.
Seine Vermutungen hatten ihn nicht getäuscht. Nach einiger Zeit sahen sie ganz deutlich einen kleinen Bauernhof, der nur aus zwei Hütten bestand, die sich auf einem und demselben Hofe befanden. Im Fenster war Licht. Ein Dutzend Pflaumenbäume ragte über den Pfahlzaun hinüber. Die Bursaken schauten durch das Brettertor und erblickten einen Hof, in dem Lastfuhren standen. Irgendwo am Himmel waren zu dieser Zeit Sterne zum Vorschein gekommen.
»Gebt acht, Brüderchen, nur nicht müde werden! Wir müssen um jeden Preis ein Nachtlager erringen!«
Die drei gelehrten Männer schlugen mit Macht an das Tor und schrien: »Macht auf!«
In einer der Hütten knarrte die Tür, und einen Augenblick später sahen die Bursaken ein altes Weibchen in einem Pelzrock vor sich. »Wer da?« rief es und hüstelte dumpf.
»Laß uns übernachten, Mütterchen: wir haben uns verirrt; draußen im Felde aber ist es so übel wie in einem leeren Bauch.«
»Was seid ihr denn für Leute?«
»Wir sind harmloses Volk: der Theologe Chaljava, der Philosoph Brut und der Rhetoriker Gorobez.«
»Das ist unmöglich«, brummte die Alte. »Mein Hof ist voller Volk, und auch alle Winkel in der Hütte sind besetzt. Wo soll ich euch noch unterbringen? Ja, und dazu noch ein so kräftiges und gesundes Volk. Meine Hütte wird einbrechen, wenn ich euch aufnehme. Ich kenne diese Philosophen und Theologen: läßt man sich nur einmal darauf ein, solche Trunkenbolde zu beherbergen, so wird bald vom ganzen Hofe gar nichts mehr übrigbleiben. Macht, daß ihr fortkommt! Hier ist kein Platz für euch.«
»Erbarme dich unser, Mütterchen! Wie kann man denn zulassen, daß Christenseelen so um nichts und wieder nichts zugrundegehen? Wo du willst, da bringe uns unter; und wenn wir irgend etwas, so oder so, anstellen – so mögen uns die Hände vertrocknen oder so etwas zustoßen, was Gott allein weiß – so sei es!«
Die Alte schien ein wenig weich zu werden. »Schön«, sprach sie, als überlege sie: »Ich will euch einlassen, nur werde ich euch alle an verschiedenen Stellen unterbringen. Sonst wird es mir nicht ruhig im Herzen sein, wenn ihr zusammen liegt.«
»Wie du willst! Wir werden nicht widersprechen«, antworteten die Bursaken.
Das Tor öffnete sich knarrend, und sie betraten den Hof.
»Wie denn, Mütterchen,« sprach der Philosoph, indem er zur Alten herantrat, »könnte nicht etwa, sozusagen … bei Gott, es ist mir so im Bauch, als fahre dort jemand im Wagen herum: nicht einmal einen Holzspan habe ich vom frühen Morgen an zum Beißen bekommen.«
»Sieh mal an, wonach es ihn gelüstet!« sprach die Alte. »Nein, ich habe nichts dergleichen, auch brannte heute gar nicht der Herd.«
»Wir würden aber schon für dies alles morgen bezahlen, wie es sich gehört,« fuhr der Philosoph fort, »mit barem Geld. Ja!« sprach er leise für sich: »Wart', bis du schwarz wirst!«
»Vorwärts, vorwärts! Seid mit dem zufrieden, was man euch gibt. Sieh mal an, was mir da der Teufel für verzärtelte Herrensöhnchen geschickt hat!«
Der Philosoph Choma geriet bei diesen Worten ganz in Verzweiflung; plötzlich stieg ihm der Geruch von getrocknetem Fisch in die Nase; er blickte auf die Pluderhosen des Theologen, der neben ihm ging, und bemerkte, daß ihm ein gewaltiger Fischschwanz aus der Tasche hing: dem Theologen war es bereits gelungen, von einer Fuhre einen ganzen Karpfen beiseitezuschaffen. Und da er dies nicht irgendwie aus Habgier, vielmehr einzig und allein aus Gewohnheit getan hatte, hatte er den Karpfen schon ganz vergessen und spähte umher, wo noch etwas zu holen sei: denn er hegte durchaus nicht die Absicht, sich auch nur ein zerbrochenes Rad entgehen zu lassen. – Der Philosoph Choma ließ daher die Hand in die Tasche des Theologen gleiten, als wäre es die eigene, und zog den Karpfen heraus.
Die Alte brachte die Bursaken an verschiedenen Stellen unter: den Rhetoriker legte sie in die Hütte, den Theologen sperrte sie in eine leere Vorratskammer ein, den Philosophen aber führte sie in einen gleichfalls leeren Schafstall.
Kaum war der Philosoph allein geblieben, so aß er in einem Augenblick den Karpfen auf, untersuchte die geflochtenen Wände des Stalles, stieß mit dem Fuß einem neugierigen Schwein auf den Rüssel, den es aus einem anderen Stall hereingestreckt hatte, und legte sich auf die rechte Seite, um wie ein Toter einzuschlafen. Plötzlich öffnete sich die niedrige Tür, und in gebückter Haltung trat die Alte in den Stall.
»Was denn, Mütterchen, was willst du denn?« sprach der Philosoph.
Die Alte schritt aber mit ausgebreiteten Armen gerade auf ihn zu.
»Oho!« dachte der Philosoph. »Nein, meine Liebe, du bist mir zu alt!«
Er zog sich ein wenig zurück, doch die Alte trat ohne alle Umstände wiederum zu ihm hin.
»Hör mal, Mütterchen,« sprach der Philosoph, »jetzt ist es Fastenzeit; ich aber bin ein solcher Mensch, daß ich auch nicht für tausend Dukaten die Fasten brechen würde.«
Die Alte breitete indes ihre Arme aus und umfing ihn, ohne ein Wort zu sprechen.
Dem Philosophen ward es unheimlich zumute, besonders als er bemerkte, daß ihre Augen einen ganz ungewöhnlichen Glanz hatten. »Mütterchen! Was machst du denn? Geh, geh mit Gott!« schrie er.
Die Alte aber sprach kein Wort und griff nach ihm mit beiden Händen.
Er sprang auf und wollte davonlaufen; die Alte aber stellte sich in die Tür, richtete ihre funkelnden Augen auf ihn und begann von neuem, auf ihn zuzugehen.
Der Philosoph wollte sie zurückstoßen, zu seinem Staunen bemerkte er aber, daß er seine Arme nicht erheben und seine Beine nicht bewegen konnte; und mit Schaudern erkannte er, daß sogar kein Laut mehr über seine Lippen kam: klanglos bewegten sie sich. Er hörte nur sein Herz pochen; er sah, wie die Alte zu ihm hintrat, ihm die Hände ineinanderlegte, ihm den Kopf herunterbeugte und mit der Schnelligkeit einer Katze ihm auf den Rücken sprang. Sie schlug ihn mit dem Besen in die Seite, und er sprang wie ein Reitpferd und trug sie auf seinen Schultern. Das alles ging so rasch vor sich, daß der Philosoph kaum zur Besinnung kam und mit beiden Händen an seine Knie faßte, um seine Füße zurückzuhalten. Zu seinem höchsten Erstaunen erhoben sie sich aber gegen seinen Willen und begannen zu galoppieren, rascher als ein Tscherkessenrenner. Als sie schon den Hof hinter sich hatten, ein gleichmäßiger Hohlweg sich vor ihnen auftat und zur Seite ein Wald dahinlief, schwarz wie Kohle, da erst sprach er zu sich selber: »Oho, das ist ja eine Hexe!«
Die abnehmende Mondsichel leuchtete am Himmel. Der schüchterne Glanz der Mitternacht lag, einem durchsichtigen Schleier gleich, leicht und duftig, über der Erde. Wälder, Wiesen, Himmel und Täler schienen alle mit offenen Augen zu schlafen. Kein Hauch erhob sich ringsumher; etwas Feuchtwarmes lag in der nächtlichen Kühle. Die Schatten der Bäume und Sträucher fielen wie Kometen mit schmalen Streifen auf die sanft ansteigende Ebene. So war die Nacht, als der Philosoph Choma Brut mit seinem geheimnisvollen Reiter auf dem Rücken daherjagte. Er fühlte, wie ein ganz eigenartiges, quälendes, unangenehmes und dabei doch süßes Gefühl in seinem Herzen aufstieg. Er senkte die Augen und sah, daß das Gras, das fast zu seinen Füßen lag, in ferner Tiefe zu wachsen schien, und daß sich über ihm ein Wasser befand, durchsichtig wie ein Bergquell, und es sah so aus, als sei das Gras der Grund eines klaren und bis ganz zur Tiefe durchsichtigen Meeres. Wenigstens sah er deutlich, wie er sich in ihm widerspiegelte mitsamt der Alten, die auf seinem Rücken saß. Er erschaute, wie statt des Mondes dort irgendeine Sonne leuchtete, er hörte, wie die blauen Glockenblumen, ihre Köpfchen geneigt, läuteten; er sah, wie die Nixe aus dem Schilf hervorschwamm: hell leuchteten ihr Rücken und ihr Schweif, gerundet und elastisch, ganz gewirkt aus Glanz und Beben. Sie wendet sich ihm zu, sie nähert ihm schon ihr Antlitz: die hellen Augen strahlen und funkeln. Sie kommt heran mit seelenbezwingendem Gesang, und da ist sie bereits an der Oberfläche. Sie erbebt in schimmerndem Gelächter und entfernt sich wieder. Jetzt hat sie sich auf den Rücken gelegt, und ihre duftigen Brüste, matt wie ungeschliffenes Glas, glänzen an der Sonne rings um ihre weiße elastischzarte Rundung. Perlen gleich rinnt das Wasser an ihr herunter. Sie zittert am ganzen Leibe und lacht hell …
Sieht er das wirklich, oder sieht er es nicht, wacht er, oder träumt er? Aber was ist das dort? Wind oder Musik? Es klingt, es klingt, es schwillt an und kommt heran, und es dringt in die Seele mit einem unerträglichen Triller …
»Was ist denn das?« dachte der Philosoph Choma Brut, und er schaute hinunter, während er in vollem Lauf daherflog. Der Schweiß lief in Strömen an ihm hinunter. Er empfand ein wahnsinnig süßes Gefühl, ein ganz eigenartiges, unheimlich qualvolles Entzücken durchdrang ihn. Oft schien es ihm, als habe sein Herz schon längst zu schlagen aufgehört, und voller Schrecken griff er dann nach ihm. Erschöpft und verwirrt begann er, sich alle Gebete ins Gedächtnis zu rufen, die er nur kannte. Alle Verwünschungen gegen Geister sagte er sich her. Und plötzlich fühlte er so etwas wie Erleichterung; er fühlte, daß sein Schritt langsamer zu werden begann, die Hexe schien sich schwächer auf seinem Rücken zu halten. Das dichte Gras berührte ihn, und er sah schon nichts Ungewöhnliches mehr in ihm. Hell leuchtete die Mondsichel am Himmel.
»So ist es gut!« dachte der Philosoph Choma bei sich und begann fast laut Beschwörungen herzusagen. Endlich sprang er mit Blitzesschnelle unter der Alten hervor und schwang sich seinerseits auf ihren Rücken. Mit kleinen, trippelnden Schritten lief sie so rasch dahin, daß dem Reiter fast der Atem verging. Kaum schimmerte noch die Erde unter ihm; alles lag klar da bei Mondeslicht, wenn auch nicht voll beleuchtet; die Täler dehnten sich gleichmäßig aus vor seinen Augen; nur schimmerte alles undeutlich bei der Schnelligkeit des Laufes und verwirrte sich. Er faßte ein Scheit Holz, das am Wege lag, und begann aus allen Kräften die Alte zu schlagen. Wildes Stöhnen gab sie von sich; anfangs klang es zornig und drohend, dann ward es schon schwächer, angenehmer, reiner, und endlich klang es schon ganz leise, kaum vernehmbar, wie feine Silberglöckchen, und durchdrang ihm die Seele. Unwillkürlich blitzte es ihm durch den Kopf: Ist das denn wirklich eine Alte?
»Ach, ich kann nicht mehr weiter!« rief sie jetzt völlig erschöpft und fiel zur Erde.
Er erhob sich und schaute ihr in die Augen. (Der Morgen graute, und in der Ferne schimmerten die Goldkuppeln der Kiewer Kirchen.) Vor ihm lag eine Schönheit mit üppigem, zerzaustem Haar und Wimpern lang wie Pfeile. In Ohnmacht hatte sie ihre nackten weißen Arme von sich gestreckt und stöhnte, die tränenerfüllten Augen emporgerichtet.
Choma zitterte wie Espenlaub; Mitleid, eine ganz seltsame Erregung und eine ihm selber unbekannte Schüchternheit überwältigten ihn. Er begann aus allen Kräften davonzulaufen. Unterwegs schlug ihm unruhig das Herz. Und er vermochte sich durchaus nicht darüber klar zu werden, was für ein seltsames, neues Gefühl ihn erfaßt hatte. Er wollte schon nicht mehr aufs Land zurückgehen und eilte nach Kiew, wobei er die ganze Zeit über dieses geheimnisvolle Erlebnis nachdachte.
Es waren fast keine Bursaken mehr in der Stadt. Alle hatten sich auf die Höfe verteilt, entweder um dort in Stellung zu treten oder ohne diese Absicht, da man ja auf kleinrussischen Höfen Topfnudeln, Käse, Schmand, Maultaschen von der Größe eines Hutes verzehren kann, ohne einen Pfennig zu zahlen. Das große, ganz in die Breite gehende Haus, in dem sich die Burse befand, war völlig leer. Und wie sehr auch der Philosoph alle Ecken durchsuchte und sogar in alle Löcher hineingriff und in alle Verstecke unter dem Dache, er vermochte nirgends ein Stück Speck ausfindig zu machen, nicht einmal ein Stück altes Brot, was die Bursaken gewöhnlich zu verbergen pflegten.
Gleichwohl hatte der Philosoph rasch herausgefunden, wie er seinen Kummer besänftigen könne: vor sich hinpfeifend, war er dreimal über den Markt gegangen und hatte Blicke gewechselt mit einer jungen Witwe in einem gelben Kopfputz, die Bänder, Schrot und Wagenräder verkaufte – und noch am gleichen Tage ward er mit Pasteten aus Weizenmehl und Hühnerbraten gefüttert … mit einem Wort, man kann gar nicht erzählen, was da alles vor ihm auf dem Tische stand in dem kleinen Lehmhäuschen inmitten eines Kirschgartens. Am gleichen Abend sah man den Philosophen in der Schenke: seiner Gewohnheit nach lag er, sein Pfeifchen rauchend, auf der Bank und warf vor aller Augen dem jüdischen Schenkwirt einen halben Dukaten zu. Vor ihm stand ein Krug. Auf die Kommenden und Gehenden schaute er mit kaltblütig-zufriedenem Blick und dachte schon gar nicht mehr an sein ungewöhnliches Abenteuer.
Währenddessen verbreitete sich das Gerücht, die Tochter eines der reichsten Sotniks Sotnik, Kosakenführer und zugleich Gutsbesitzer., dessen Hof fünfzig Werst von Kiew entfernt lag, sei eines Tages ganz zerschlagen vom Spaziergang zurückgekehrt; sie habe kaum noch die Kraft gehabt, sich zum Vaterhause hinzuschleppen, sie liege auf dem Totenbette und habe vor ihrem Hinscheiden den Wunsch ausgesprochen, das Sterbegebet und die Gebete, die im Verlaufe dreier Tage nach ihrem Tode zu lesen wären, sollte einer von den Kiewer Seminaristen lesen: Choma Brut. Das hatte der Philosoph von dem Rektor selber erfahren, der ihn zu sich auf sein Zimmer hatte rufen lassen und ihm mitteilte, er solle sich ohne jeden Aufschub eiligst auf den Weg machen: der angesehene Sotnik habe Leute und Wagen nach ihm gesandt.
Der Philosoph erzitterte in einem ganz unwillkürlichen Gefühl, das er sich selber gar nicht zu deuten vermochte. Eine dunkle Vorahnung sagte ihm, ihn erwarte dort etwas Schlimmes. Ohne selber zu wissen weshalb, erklärte er rund heraus, er werde nicht dorthin fahren.
»Hör einmal, Domine Choma!« sprach der Rektor. (In gewissen Fällen pflegte er sich mit seinen Untergebenen in sehr höflicher Form auseinanderzusetzen.) »Kein Teufel fragt dich danach, ob du fahren willst oder nicht. Ich sage dir nur das eine, wenn du noch einmal deinen Schneid zeigen, ja, und gescheit reden wirst, dann werde ich befehlen, dir derart mit jungen Birken über den Rücken und das übrige zu streichen, daß du nicht einmal mehr ins Bad zu gehen brauchst.«
Der Philosoph kratzte sich leicht hinter dem Ohre und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte vor, bei der ersten günstigen Gelegenheit sich auf seine Beine zu verlassen. Nachdenklich stieg er die steile Treppe hinab, die in den pappelbepflanzten Hof führte. Als er einen Augenblick stehenblieb, hörte er ziemlich deutlich, wie der Rektor seinem Beschließer und noch irgendwem – wahrscheinlich einem von den Boten des Sotniks – Aufträge erteilte.
»Danke deinem Herrn für die Graupen und die Eier,« sprach der Rektor, »und sage ihm, ich werde ihm jene Bücher, von denen er schreibt, sogleich schicken, sobald sie fertig sein werden: ich gab sie schon dem Schreiber zum Abschreiben. Ja, und vergiß nicht, mein Freund, hinzuzufügen, daß es, wie ich weiß, bei deinem Herrn auf dem Hofe guten Fisch gibt, und besonders Stör. So möge er denn gelegentlich welchen schicken. Hier auf dem Markte sei er schlecht und teuer. Du aber, Jawduch, gib jedem der Burschen einen Becher Schnaps; ja, und den Philosophen soll man anbinden, denn sonst brennt er noch durch.«
»Sieh mal an, der Teufelssohn!« dachte der Philosoph bei sich. »Er hat es gerochen, der langbeinige Aal!«
Und er ging hinunter und sah einen Wagen, den er anfangs für einen Schafstall auf Rädern hielt. In der Tat, er war so tief wie ein Ofen, in dem man Ziegel brennt. Das war eine gewöhnliche Krakauer Equipage, in der sich die Juden, zu einem halben Hundert mitsamt ihren Waren, nach allen Städten zu begeben pflegen, wo nur ihre Nase einen Jahrmarkt wittert. Ihn erwarteten sechs kräftige und feste, wenn auch schon ein wenig bejahrte Kosaken. Ihre Röcke aus feinem Tuch mit Quasten daran zeugten, daß sie einem ziemlich bedeutenden und reichen Gutsbesitzer zugehörten. Kleine Narben gaben davon Kunde, daß sie irgendwann nicht ruhmlos ins Feld gezogen waren.
»Was soll man machen? Was geschehen soll, dem entgeht man schon nicht!« dachte der Philosoph bei sich und sprach laut zu den Kosaken: »Guten Tag, Brüder und Kameraden!«
»Guten Tag, Herr Philosoph!« antworteten einige von ihnen.
»Hier soll ich also mit euch zusammen sitzen? Das ist aber ein ausgezeichneter Wagen!« fuhr er fort, als er einstieg. »Man braucht nur noch Musikanten zu haben, und dann kann man tanzen!«
»Ja, das ist eine angemessene Equipage!« sprach einer von den Kosaken, wobei er sich auf den Bock setzte neben den Kutscher, der ein Tuch um den Kopf umgebunden hatte, an Stelle der Mütze, die er bereits in einer Schenke gelassen hatte. Die übrigen fünf krochen mit dem Philosophen in die Vertiefung und nahmen auf Säcken Platz, welche die in der Stadt gemachten Einkäufe enthielten.
»Es wäre interessant, zu erfahren,« sprach der Philosoph, »wenn man zum Beispiel diesen Wagen mit irgendeiner Ware beladen würde – nehmen wir an, mit Salz oder mit Eisenkeilen – wieviel Pferde man dazu brauchen würde?«
»Ja,« sprach nach einigem Schweigen der Kosak auf dem Bock, »man würde eine beträchtliche Zahl von Pferden brauchen.«
Nach dieser befriedigenden Antwort glaubte sich der Kosak berechtigt, den ganzen übrigen Weg zu schweigen.
Der Philosoph wollte indes sehr gern erfahren, was dieser Sotnik für ein Mensch sei, was er für einen Charakter habe, was man von seinem Töchterchen erzähle, die auf so ungewöhnliche Weise nach Hause zurückgekehrt sei und im Sterben liege und deren Geschichte nunmehr mit seiner eigenen verknüpft war, mit einem Wort, wie es bei ihnen zu Hause stehe, und was da vor sich gehe. Mit solchen Fragen wandte er sich auch an sie; die Kosaken waren aber augenscheinlich gleichfalls Philosophen, denn statt jeder Antwort fuhren sie schweigend fort, ihre Pfeifen zu rauchen und auf den Säcken zu liegen.
Nur einer von ihnen wandte sich zu dem auf dem Bock sitzenden Fahrer mit dem kurzen Befehl: »Schau zu, Overko, du, alter Maulaufsperrer, wenn du zur Schenke herankommen wirst, die am Wege nach Tschuchrailow steht, dann vergiß nicht, haltzumachen und mich und die übrigen Burschen zu wecken, wenn gerade irgendwer eingeschlafen wäre!«
Hierauf schlief er selber ziemlich geräuschvoll ein. Diese Ermahnungen waren übrigens durchaus unnötig. Denn kaum hatte sich der gigantische Wagen der Schenke am Wege nach Tschuchrailow genähert, als alle wie aus einem Halse schrien: »Halt!« Zudem waren die Pferde Overkos schon abgerichtet, daß sie ganz von selber vor jeder Schenke haltmachten.
Ungeachtet des heißen Julitages stiegen alle aus dem Wagen und begaben sich in das niedrige schmutzige Zimmer, wo der jüdische Schenkwirt voller Freude seine alten Bekannten zu begrüßen eilte. Der Jude brachte unter seinen Rockschößen einige Schweinswürste, legte sie auf den Tisch und wandte sich sogleich von dieser durch den Talmud »verbotenen Frucht« ab. Alle setzten sich um den Tisch herum. Vor jeden der Gäste ward ein Tonkrug gestellt. Der Philosoph Choma mußte an dem allgemeinen Gastmahl teilnehmen. Und da die Kleinrussen, wenn sie sich antrinken, unbedingt einander zu küssen oder zu weinen beginnen, so erfüllte sich bald die ganze Stube mit Umarmungen. »Nun, Spirid, küssen wir uns!« »Komm her, Dorosch, ich will dich umarmen!«
Ein Kosak, etwas älter als die übrigen, sein Schnurrbart war schon ergraut, hatte die Wange auf die Hand gestützt und begann aus ganzer Seele darüber zu schluchzen, daß er weder Vater noch Mutter habe und ganz allein auf der Welt sei. Ein anderer war ein großer Räsoneur und tröstete ihn beständig mit den Worten: »Weine nicht, bei Gott, weine doch nicht! Was ist denn dabei? … Gott wird schon wissen, wie und warum.« Ein anderer, mit Namen Dorosch, war außerordentlich neugierig. Er wandte sich an den Philosophen Choma und fragte ihn unaufhörlich: »Ich möchte wissen, was man euch in der Burse lehrt: ganz dasselbe, was der Küster in der Kirche liest, oder etwas anderes?«
»Frag doch nicht«, sprach gedehnt der Räsoneur. »Möge es dort sein, wie es ist. Gott wird schon wissen, was nötig ist; Gott weiß alles.«
»Nein, ich will aber wissen,« sprach Dorosch, »was da in den Büchern geschrieben steht; vielleicht ist das doch etwas ganz anderes, als was der Küster liest.«
»O mein Gott, mein Gott!« sprach dieser ehrwürdige Prediger. »Wozu spricht man nur solche Dinge? So hat es schon Gottes Wille bestimmt. Was Gott gab, kann man schon nicht mehr ändern.«
»Ich will alles wissen, was da geschrieben steht, ich will in die Burse gehen, bei Gott, ich will dorthin gehen. Du glaubst wohl, ich werde das nicht fertigbringen? Alles werde ich fertigbringen, alles …«
»O mein Gott, mein Gott!« sprach der Tröster und ließ sein Haupt schwer auf den Tisch sinken, weil er schon gar keine Kraft mehr hatte, es weiterhin auf den Schultern zu tragen. Die übrigen Kosaken sprachen über die Herrschaften und auch darüber, weshalb der Mond am Himmel steht.
Als der Philosoph Choma eine solche Stimmung der Geister erkannt hatte, beschloß er, Nutzen daraus zu ziehen und sich davonzumachen. Zunächst wandte er sich an den weißhaarigen Kosaken, der um Vater und Mutter trauerte: »Was weinst du denn, Onkel,« sprach er, »ich selber bin eine Waise, laßt mich frei, Kinder! Wozu braucht ihr mich?«
»Lassen wir ihn frei!« sprachen einige. »Er ist ja eine Waise; möge er gehen, wohin er will.«
»O mein Gott, mein Gott!« rief der Tröster und erhob sein Haupt: »Laßt ihn los! Möge er nur gehen!«
Und die Kosaken wollten ihn schon selber ins Freie geleiten; doch derjenige, der solche Neugierde gezeigt hatte, hielt sie zurück und sprach: »Rührt ihn nicht an, ich will mit ihm über die Burse sprechen, ich will selber in die Burse eintreten …«
Übrigens hätte diese Flucht kaum gelingen können. Denn als der Philosoph sich vom Tisch erheben wollte, kam es ihm so vor, als wären seine Beine von Holz. Und er begann eine solche Menge von Türen im Zimmer zu sehen, daß er wohl kaum die richtige ausfindig gemacht hätte.
Erst gegen Abend besann sich diese ganze Gesellschaft darauf, daß sie sich auf den Weg machen müsse. Nachdem sie in den Wagen hineingefallen waren, fuhren sie langsam davon. Sie trieben die Pferde an und sangen ein Lied dazu, dessen Worte und Sinn wohl kaum jemand erraten hätte. Nachdem sie den größeren Teil der Nacht herumgeirrt waren, wobei sie unaufhörlich vom Wege abkamen, den sie doch allesamt auswendig kannten, fuhren sie endlich von einem steilen Abhang in ein Tal hinab, und der Philosoph bemerkte zu beiden Seiten Zäune oder Hecken mit niedrigen Bäumen dahinter und unter ihnen hervorschauenden Dächern. Das war eine große Ansiedlung, die dem Sotnik gehörte. Mitternacht war längst vorüber. Am dunklen Himmel schimmerten da und dort kleine Sterne. In keiner einzigen Hütte mehr brannte Licht. Begleitet von Hundegebell fuhren sie in den Hof. Zu beiden Seiten standen strohbedeckte Scheunen und Häuserchen. Eines von ihnen, das sich gerade in der Mitte befand, dem Tore gegenüber, war größer als die übrigen und diente augenscheinlich dem Sotnik zur Wohnung. Der Wagen hielt vor einer Art kleiner Scheune, und unsere Reisenden begaben sich zur Ruhe. Der Philosoph wollte sich indes noch ein wenig das Herrenhaus von außen ansehen; wie sehr er aber auch seine Augen anstrengte, nichts wollte eine deutliche Gestalt annehmen: statt des Hauses sah er einen Bären; aus dem Kaminrohr ward der Rektor. Da gab der Philosoph es auf und ging schlafen.
Als er erwachte, war das ganze Haus in Bewegung: in der Nacht war die Tochter des Sotniks gestorben. Die Diener liefen eilig hin und her; einige alte Frauchen weinten; Neugierige schauten in Scharen durch den Zaun in den Herrenhof, gleich als könnten sie dort irgend etwas erblicken. Der Philosoph begann in aller Ruhe die Orte zu betrachten, die er in der Nacht nicht hatte unterscheiden können. Das Herrenhaus war ein niedriger kleiner Bau, wie man sie gewöhnlich in der alten Zeit in Kleinrußland ausführte; es war mit Stroh gedeckt: ein kleiner, hoher und spitzer Erker mit einem Fensterchen, das einem aufwärts blickenden Auge glich, war ganz bemalt mit blauen und gelben Blumen und roten Halbmonden. Er stand auf kleinen Eichenpfosten, die bis zur Mitte rund waren, unten sechseckig und oben einen zierlich geschnitzten Knauf trugen. Unter diesem Erker befand sich eine kleine Vortreppe. An den Seiten des Hauses waren Schirmdächer angebracht, auf ganz ebensolchen kleinen Pfosten, von denen einige gewunden waren. Ein hoher Birnbaum mit pyramidenförmigem Wipfel und sich leise bewegenden Blättern breitete seine Zweige vor dem Hause aus. Einige Vorratshäuser standen in zwei Reihen inmitten des Hofes und bildeten eine Art breiter Straße, die zum Hause führte. Hinter ihnen, ganz dicht beim Tore, befanden sich zwei Keller in Dreieckform, einer dem andern gegenüber, beide mit Stroh gedeckt. Die dreieckige Seite eines jeden von ihnen war mit einer niedrigen Tür versehen und mit mannigfachen Bildern geschmückt. Auf der einen von ihnen war ein Kosak dargestellt, der auf einem Fasse saß und einen Krug über den Kopf hielt. Darunter stand: »Alles werde ich austrinken!« Auf der anderen war eine Feldflasche abgebildet, eine Schnapsflasche, und seitwärts, zur Verzierung, ein Pferd, das die Beine in die Höhe streckte, eine Rauchpfeife und ein Tamburin. Darunter stand: »Der Wein – ist des Kosaken Lust!«
Vom Dachboden einer der Scheunen schauten durch eine gewaltige Luke eine Trommel und einige Trompeten hervor. Bei dem Tore standen zwei Kanonen. Alles wies darauf hin, daß der Herr des Hauses sich zu vergnügen liebte und der Hof häufig widerklang von den Rufen fröhlicher Zecher. Jenseits des Tores befanden sich zwei Windmühlen. Hinter dem Hause lagen die Gärten, und durch die Wipfel der Bäume war nichts zu erspähen als einzig und allein die dunklen Kaminhelme der im grünen Dickicht verborgenen Hütten. Die ganze Ansiedlung lag auf dem breiten und ebenen Abhang eines Hügels. Von der Nordseite beschirmte alles ein steiler Berg und reichte mit seinem Fuße unmittelbar an den Hof. Wenn man von unten her auf ihn hinblickte, so schien er noch steiler, und auf seinem hohen Gipfel ragten hier und da ungleichmäßige Halme dünnen Steppengrases empor und hoben sich ganz schwarz ab gegen den hellen Himmel. Der Anblick des kahlen Lehmhügels stimmte traurig; er war ganz ausgewaschen und durchzogen von Furchen und Wasserrinnen. An dem steilen Abhang standen zwei Hütten; über eine von ihnen breitete ein mächtiger Apfelbaum seine Äste. Er stand in aufgeschütteter Erde und ward an seiner Wurzel gestützt durch niedrige Stangen. Wenn der Wind die Äpfel vom Baume riß, fielen sie gerade in den Herrenhof. Von der Höhe des Berges schlängelte sich ein Weg hinab und führte am Hofe vorüber ins Dorf. Als der Philosoph seine furchtbare Steilheit erblickte und sich an die gestrige Reise erinnerte, entschied er, daß entweder die Pferde des Gutsherrn schon allzu gescheit oder die Köpfe der Kosaken schon allzu dick seien, da sie es ja in betrunkenem Zustand fertiggebracht hatten, nicht kopfüber herunterzufliegen mitsamt dem unermeßlichen Wagen und aller Bagage. Der Philosoph stand an der höchsten Stelle des Hofes. Als er sich umwandte und nach der entgegengesetzten Seite schaute, bot sich ihm ein ganz anderes Bild. Das Dorf zog sich dem Abhang nach zu der Ebene hin. Unübersehbare Wiesen erfüllten den fernen Horizont. Ihr saftiges Grün schien dunkler, je weiter es entfernt war, und ganze Reihen von Dörfern schimmerten bläulich in der Ferne, wenngleich mehr als zwanzig Werst dazwischen lagen. Rechts von diesen Wiesen zogen sich Hügel hin, und in kaum bemerkbarem, ganz fernem Streifen blitzte und dunkelte der Dnjepr.
»Ach, was ist das für ein schöner Ort!« sprach der Philosoph. »Hier möchte ich wohl leben, Fische fangen im Dnjepr und in den Teichen, mit Netzen oder mit dem Gewehr jagen gehen auf Trappen und Schnepfen. Ihrer gibt es, glaube ich, nicht wenige in diesen Wiesen. Das Obst kann man trocknen und in Mengen in der Stadt verkaufen. Oder noch besser, Schnaps aus ihm brennen. Obstschnaps läßt sich gar nicht vergleichen mit so einem Kornbranntwein. Ja, und es schadet auch gar nichts, daran zu denken, wie man von hier entwischen könnte.«
Hinter der Hecke hatte er einen schmalen Pfad bemerkt, der schon ganz mit Steppengras überwachsen war; unwillkürlich betrat er ihn in der Absicht, zunächst nur spazierenzugehen, dann aber ganz leise an den Hütten vorüber ins Feld zu entkommen – als er plötzlich eine ziemlich schwere Hand auf seiner Schulter fühlte. Hinter ihm stand jener selbige alte Kosak, der gestern abend so bitterlich geweint hatte über den Tod seines Vaters und seiner Mutter und über seine Verlassenheit.
»Ganz umsonst denkst du daran, Herr Philosoph, aus dem Hofe zu entwischen«, sprach er. »Es ist hier nicht so eingerichtet, daß man davonlaufen könnte; ja, und die Wege sind auch schlecht für einen Fußgänger; geh lieber zum Herrn: er erwartet dich im Gastzimmer.«
»Wie denn … mit Vergnügen – laß uns gehen!« sprach der Philosoph und machte sich hinter dem Kosaken her auf den Weg.
Der Sotnik, ein schon gealterter Mann mit grauem Schnurrbart und dem Ausdruck finsterer Trauer, saß im Gastzimmer am Tisch und stützte mit beiden Händen sein Haupt. Er mochte etwa fünfzig Jahre zählen. Aber die tiefe Trauer in seinem Gesicht und dessen fahle Farbe zeugten davon, daß seine Seele in einem einzigen Augenblick und völlig unerwartet zu Tode getroffen und daß seine ganze frühere Lustigkeit und sein Lebensübermut auf immer entschwunden waren. Als Choma mit dem alten Kosaken eintrat, ließ er eine Hand fallen und antwortete mit einem leichten Kopfnicken auf ihre tiefe Verneigung. Choma und der Kosak blieben ehrerbietig bei der Tür stehen.
»Wer bist du, von woher kommst du, und was ist dein Stand, guter Mensch?« sprach der Sotnik, weder freundlich noch streng.
»Ich bin ein Bursak, der Philosoph Choma Brut …«
»Wer war dein Vater?«
»Ich weiß es nicht, erlauchter Herr.«
»Und deine Mutter?«
»Auch meine Mutter kenne ich nicht. Nach gesunder Überlegung habe ich natürlich eine Mutter gehabt; wer sie aber war, und von woher, und wann sie lebte – bei Gott, Euer Gnaden, ich weiß es nicht.«
Der Gutsherr schwieg und schien einen Augenblick in Gedanken versunken. »Wie bist du mit meiner Tochter bekannt geworden?«
»Ich kenne sie überhaupt nicht, erlauchter Herr, bei Gott, ich kenne sie nicht. Ich habe noch niemals mit Fräuleins zu tun gehabt, solange ich auf der Welt lebe. Fort mit ihnen! Um nichts Unwürdigeres zu sagen.«
»Weshalb hat sie aber niemand anders als gerade dich zum Lesen bestimmt?«
Der Philosoph zuckte die Achseln: »Gott weiß, wie man das erklären soll. Es ist doch allbekannt, daß es den Herrschaften bisweilen nach solchen Dingen gelüstet, daß sich da auch der allergelehrteste Mensch nicht mehr auskennt. Ein Sprichwort sagt ja: Wie der Herr pfeift, so muß man tanzen.«
»Ja, lügst du denn nicht, Herr Philosoph?«
»Möge mich gerade hier, wo ich stehe, der Blitz niederschlagen, wenn ich lüge.«
»Wenn du nur ein Weilchen länger gelebt hättest,« sprach gramvoll der Sotnik, »dann hätte ich sicherlich alles erfahren. ›Laß niemand bei mir lesen, Vater, schicke aber sogleich ins Kiewer Seminar und laß den Bursaken Choma Brut kommen; drei Nächte soll er für meine sündige Seele beten. Er weiß …‹ Was er aber weiß, das habe ich nicht erfahren: sie, mein Täubchen, vermochte nur dies zu sagen, dann starb sie. Du, guter Mensch, bist wahrscheinlich durch dein heiliges Leben bekannt und deine gottwohlgefälligen Taten, und sie hat vielleicht was von dir gehört.«
»Wer? Ich?« sprach der Bursak, indem er vor Staunen zurücktrat. »Ich und ein heiliges Leben?« rief er aus und schaute dem Sotnik gerade in die Augen. »Gott mit Ihnen, Herr! Was sprechen Sie da! Ich – möge es auch unanständig sein, es auszusprechen – ich besuchte die Bäckerin am Vorabend des Gründonnerstags.«
»Nun … sicherlich ward es nicht ohne Grund so bestimmt, du mußt schon heute deine Tätigkeit beginnen!«
»Hierauf möchte ich Euer Gnaden entgegnen … natürlich kann jeder Mensch, der in die Heilige Schrift eingeführt ist, einigermaßen … nur wäre es ziemlicher, daß dies hier ein Diakon oder wenigstens ein Küster täte. Das sind erfahrene Leute und wissen schon, wie dies alles vor sich geht; ich aber … ja, ich habe auch nicht eine solche Stimme, und selber bin ich – der Teufel weiß was. Ich stelle ganz und gar nichts vor.«
»Wie du willst, nur werde ich alles, was mein Töchterchen auftrug, ausführen, koste es, was es wolle. Und wenn du vom heutigen Tage an drei Nächte, wie es sich gehört, an ihrem Sarge Gebete lesen wirst, so werde ich dich belohnen; wenn aber nicht – so möchte ich dem Teufel selber nicht raten, mich zu erzürnen.«
Die letzten Worte hatte der Sotnik so kräftig ausgesprochen, daß der Philosoph durchaus ihren Sinn verstand.
»Folge mir!« sprach der Sotnik.
Sie traten in den Vorraum. Der Sotnik öffnete die Tür in das gegenüberliegende Zimmer. Der Philosoph blieb einen Augenblick im Vorraum, um sich zu schneuzen, und überschritt dann die Schwelle in einer ihm selber ganz rätselhaften Furcht.
Der ganze Boden war mit rotem Stoff belegt. In der Ecke unter Heiligenbildern auf einem hohen Tische lag der Körper der Verstorbenen auf einer Decke aus blauem Samt, die mit goldenen Fransen und Quasten geschmückt war. Hohe Wachslichter, umwunden mit Maßholderzweigen, standen zu Füßen und Häupten der Toten und gaben einen trüben Schein, der sich im Tageslicht verlor. Das Gesicht der Toten verbarg ihm der untröstliche Vater, der mit dem Rücken zur Tür vor ihr saß. Den Philosophen erschütterten die Worte, die er nunmehr vernahm: »Nicht darum trauere ich, meine allerliebste Tochter, daß du in der Blüte deiner Jahre mir zum Kummer und zum Leide die Erde verließest, ohne das dir bestimmte Lebensalter zu erreichen; vielmehr darum trauere ich, mein Täubchen, daß ich den grausamen Feind nicht kenne, der die Ursache deines Todes war. Und wenn ich wüßte, wer auch nur daran zu denken wagte, dich zu beleidigen oder auch nur irgend etwas Unfreundliches über dich zu sagen, so würde er, ich schwöre es bei Gott, seine Kinder nicht wiedersehen, wäre er ebenso alt wie ich, und nicht Vater und Mutter, stände er erst im Blütenalter, und sein Leib würde den Vögeln und den Tieren der Steppe zum Fraße hingeworfen werden! Aber wehe mir, mein Feldblümchen, mein Rebhühnchen, mein Lichtchen, daß ich den Rest meines Lebens freudelos hinbringen muß, indem ich mir mit dem Rockschoß die dicken Tränen wische, die mir aus den alten Augen rinnen, während mein Feind sich vergnügen und insgeheim lachen wird über den schwachen Greis …«
Er hielt inne, der Kummer hatte ihn überwältigt, und er machte sich Luft in einem ganzen Strom von Tränen.
Ein so untröstlicher Schmerz rührte den Philosophen. Er hüstelte und räusperte sich dumpf, da er sich die Stimme frei machen wollte.
Der Sotnik wandte sich um und wies ihm einen Platz zu Häupten der Toten, vor einem Lesepult, auf dem Bücher lagen.
»Drei Nächte werde ich schon irgendwie überstehen«, dachte der Philosoph. »Dafür wird mir der Herr beide Taschen mit schönen Dukaten füllen.«
Er trat heran, räusperte sich noch einmal und begann zu lesen, ohne auf irgend etwas anderes achtzugeben und ohne sich zu entschließen, der Toten ins Antlitz zu schauen. Tiefe Stille herrschte. Er bemerkte, daß der Sotnik hinausgegangen war. Langsam wandte er sich um, die Tote anzuschauen, und …
Ein Zittern lief ihm über den ganzen Körper: vor ihm lag eine Schönheit, wie nur je eine auf der Welt war. Es schien, niemals noch offenbarten Gesichtszüge eine so ausgeprägte und dabei doch so harmonische Schönheit. Sie lag da wie lebend; ihre schöne Stirn, zart wie Schnee, wie Silber, schien nachzudenken. Ihre Brauen glichen der Nacht am hellichten Tage, schmal, gleichmäßig erhoben sie sich stolz über den geschlossenen Augen; die Wimpern lagen wie Pfeile auf den Wangen, auf denen das Feuer heimlicher Begierde glühte; die Lippen – Rubinen gleich und bereit, sich zu ergießen in einem Lachen voll Seligkeit, in einem Strom voll Freude … Indes gerade in ihnen, in diesen selben Gesichtszügen, erschaute er etwas furchtbar Eindringliches. Er fühlte, daß seine Seele ein ganz krankhafter Gram erfaßte, gleich als erschalle plötzlich inmitten wirbelnden Vergnügens und ausgelassener Freude ein Trauerlied. Ihre rubingleichen Lippen schienen sich ihm ans Herz zu saugen. Plötzlich kam ihm irgend etwas bekannt vor in ihrem Gesicht … »Die Hexe!« schrie er auf mit einer ihm selber ganz fremden Stimme. Er wandte sich ab, ward kreidebleich und begann seine Gebete zu lesen. Das war jene selbige Hexe, die er erschlagen hatte!
Als die Sonne zu sinken begann, brachte man die Tote in die Kirche. Der Philosoph trug auf seiner einen Schulter den schwarzen Sarg und fühlte dort so etwas wie Eiskälte. Der Sotnik selber schritt voran und stützte mit dem Arm die rechte Seite des engen Hauses der Toten. Die hölzerne Kirche hatte bereits eine schwärzliche Farbe angenommen und war mit grünem Moos bewachsen. Mit drei abgeschrägten Kuppeln stand sie fast am Ende des Dorfes, in einsamer Trauer. Es war zu ersehen, lange schon hatte man keinen Gottesdienst mehr in ihr abgehalten. Fast vor jedem Heiligenbild brannten Kerzen. Man stellte den Sarg in die Mitte der Kirche gerade dem Altar gegenüber. Noch einmal küßte der alte Sotnik die Tote, neigte sich zur Erde und ging mit den Sargträgern davon, nachdem er befohlen hatte, dem Philosophen ein gutes Abendessen zu geben und ihn danach in die Kirche zu geleiten. Als die Sargträger in die Kirche gekommen waren, begannen sie ihre Hände an den Ofen anzulegen, wie die Kleinrussen gewöhnlich tun, wenn sie einen Toten erschauten.
Um diese Zeit empfand der Philosoph einen lebhaften Hunger, und er zwang ihn, für einige Augenblicke die Tote überhaupt zu vergessen. Bald begann das ganze Hofgesinde, einer nach dem andern, in die Küche zu kommen. Diese war im Hause des Sotniks gleichsam der Klub, wo alle zusammenströmten, die auf dem Hofe wohnten, eingerechnet die Hunde, die schweifwedelnd an die Tür kamen und um Knochen und Spülwasser bettelten. Wer mit irgendwelchem Auftrag ausgesandt wurde, kam immer erst in die Küche, um einen Augenblick auf der Bank auszuruhen und ein Pfeifchen zu rauchen. Alle Unverheirateten, die im Hause wohnten und in Kosakenröcken einherstolzierten, lagen hier fast den ganzen Tag über auf der Bank oder unter ihr, oder auf dem Ofen – mit einem Wort: überall, wo man nur ein zum Liegen geeignetes Plätzchen ausfindig machen konnte. Zudem vergaß in der Küche fast jeder seine Mütze, oder die Hundepeitsche, oder irgend etwas dergleichen. Am allerzahlreichsten war aber die Gesellschaft während des Abendessens. Dann kam hierher der Pferdehüter, nachdem er seine Tiere in die Hürde gesperrt, und der Kuhhirt, sobald er die Kühe zum Melken heimgeführt hatte, und alle diejenigen, die man im Laufe des Tages gar nicht zu sehen bekam. Während des Abendessens bemächtigte sich die Schwatzlust auch der allerschweigsamsten Zungen. Dort sprach man gewöhnlich über alles: wer sich neue Pluderhosen hatte machen lassen, was sich im Innern der Erde befinde, und wer einen Wolf gesehen habe. Dort gab es eine Menge Spaßmacher, woran es unter den Kleinrussen niemals mangelt. Der Philosoph setzte sich mit den anderen in einem weiten Kreis in der freien Luft vor die Küchentür. Bald erschien ein Weib in einer roten Haube auf der Schwelle und hielt in den Händen einen heißen Topf mit Topfnudeln, den sie inmitten der zum Essen Bereiten niederstellte. Jeder nahm aus seiner Tasche einen Holzlöffel, und wer keinen hatte, einen Holzspan. Sobald sich nur eben die Münder ein wenig langsamer zu bewegen begannen und der Wolfshunger dieser ganzen Gesellschaft etwas gestillt war, begannen auch schon viele auf einmal zu sprechen. Das Gespräch mußte sich natürlich auf die Verstorbene beziehen.
»Ist es denn wahr,« sprach ein junger Schafhirt, der an seiner Pfeifenschnur so viele Knöpfe und Kupferbleche angehängt hatte, daß sie dem Laden einer Kleinhändlerin glich, »ist es wirklich wahr, daß das Herrentöchterchen, mit Respekt zu sagen, mit dem Teufel verkehrte?«
»Wer, das Herrentöchterchen?« sprach Dorosch, der schon von früher her unserem Philosophen bekannt war. »Ja, sie war eine richtige Hexe! Ich kann beschwören, daß sie eine Hexe war!«
»Genug, genug, Dorosch«, sprach ein anderer, der schon während der Hinfahrt eine große Bereitschaft zu beruhigen an den Tag gelegt hatte. »Das geht uns gar nichts an; Gott sei mit ihr. Hierüber soll man gar nicht sprechen.« Dorosch zeigte sich indes keineswegs geneigt, zu schweigen. Er war gerade vordem in einem wichtigen Auftrag mit dem Beschließer in den Keller gegangen, hatte sich zweimal zu zwei oder drei Fässern niedergebeugt und war außerordentlich vergnügt herausgekommen. Jetzt redete er ohne Unterlaß.
»Was willst du denn? Ich sollte schweigen?« rief er aus. »Ja, sie hat doch auf mir selber geritten. Bei Gott, sie hat auf mir geritten.«
»Wie denn, Onkelchen?« sprach der junge Hirt mit den Knöpfen. »Kann man eine Hexe an irgendeinem Anzeichen erkennen?«
»Nein«, antwortete Dorosch. »Man kann sie durchaus nicht erkennen; du kannst alle Psalmen hersagen, und du wirst sie doch nicht erkennen.«
»Man kann es, man kann es, Dorosch, sprich nicht so«, sagte der Tröster von vordem. »Gott gab schon nicht umsonst jedem seine besondere Gewohnheit: Leute, welche die Wissenschaft kennen, behaupten, jede Hexe habe ein Schwänzchen.«
»Wenn ein Weib alt ist, ist es so schon eine Hexe«, sprach kaltblütig der weißhaarige Kosak.
»Oh, ihr seid mir die Rechten!« mischte sich das Weib ein, das eben neue Topfnudeln in den leergewordenen Topf einschüttete. »Die richtigen fetten Schweine!«
Der alte Kosak, der Jawduch hieß und den Spitznamen »Kowtun« hatte, lächelte wohlgefällig, als er bemerkt hatte, daß seine Worte die Alte getroffen hatten; der Rinderhirt stieß aber ein so dröhnendes Gelächter aus, als brüllten gleichzeitig zwei Stiere einander gegenüber.
Dies Gespräch erregte in dem Philosophen das unwiderstehliche neugierige Verlangen, etwas Näheres über die verstorbene Tochter des Sotniks zu erfahren. Deshalb wandte er sich, um das Gespräch wiederum auf den früheren Gegenstand zurückzuführen, an seinen Nachbar mit folgenden Worten: »Ich möchte gern wissen, weshalb dieser ganze ›Stand‹, der da beim Essen sitzt, das Herrentöchterlein für eine Hexe hält. Wie denn, hat sie denn irgendwem Schaden zugefügt oder irgendeinen ins Verderben geführt?«
»Es gab da allerlei«, antwortete einer von den Dasitzenden, der ein so plattes Gesicht hatte, daß es außerordentlich einem Spaten glich.
»Wer erinnert sich denn nicht an den Hundewärter Mikita oder an jenen …«
»Halt! Ich will vom Hundewärter Mikita erzählen«, sprach Dorosch.
»Ich will von Mikita erzählen,« mischte sich der Pferdehüter ein, »denn er war mein Gevatter.«
»Ich will von Mikita erzählen«, sagte Spirid.
»Spirid soll erzählen!« rief der Haufe.
Spirid begann: »Du, Herr Philosoph Choma, hast Mikita nicht gekannt. Ach, was war das für ein seltener Mensch! Jeden einzelnen Hund kannte er so gut wie seinen leiblichen Vater. So war es! Der jetzige Hundewärter, Mikolo, er sitzt da zwei Plätze von mir, reicht ihm nicht das Wasser. Auch er versteht seine Sache, doch ist er im Vergleich zu ihm – Dreck, Jauche!«
»Schön erzählst du, schön!« sprach Dorosch und nickte zustimmend mit dem Kopfe.
Spirid fuhr fort: »Einen Hasen erschaute er rascher, als du dir den Tabak von der Nase abwischst. Es kam vor, er pfeift: ›Ah, nun, Räuber, ah, nun, Flinker!‹ Und selber jagt er auf seinem Roß in vollem Galopp daher, und man kann schon nicht mehr sagen, wer wen überholte: er den Hund oder der Hund ihn. Ein Quart Schnaps pfiff er so rasch hinunter, als wäre es überhaupt nicht dagewesen. Was war das für ein prächtiger Hundewärter! Unlängst begann er nun unaufhörlich auf das Herrentöchterchen hinzuschauen. Hat er sich wirklich in sie vernarrt, oder hat sie ihn so verzaubert? Jedenfalls ist der Mensch zugrundegegangen. Er ward ganz weibisch; er ward, weiß der Teufel, was, pfui, es ist unanständig, das auch nur auszusprechen.«
»Schön«, sprach Dorosch.
»Wenn nur, so kam es vor, das Herrentöchterchen auf ihn hinschaut, läßt er die Zügel aus Händen fallen. Den ›Räuber‹ nennt er ›Browok‹, stolpert und weiß nicht mehr, was er tut. Einmal kam das Herrentöchterchen zu ihm in den Stall, wo er gerade ein Pferd reinigte. ›Mikita,‹ spricht sie, ›laß mich mein Füßchen auf dich stellen.‹ Er aber, der Dummkopf, freut sich auch noch darüber. ›Nicht nur das Füßchen,‹ spricht er, ›setze dich vielmehr selber auf meinen Rücken!‹ Das Herrentöchterlein erhob ihr Füßchen, und als er ihr nacktes volles und weißes Beinchen sah, da, spricht er, habe ihn der Zauber nur so übermannt. Er, der Dummkopf, beugte seinen Rücken, faßte sie mit beiden Händen an ihren nackten Füßchen und begann wie ein Pferd über das ganze Feld zu galoppieren. Wohin sie ritten, vermochte er niemals zu erzählen; er kehrte nur halbtot zurück, und von da an ward er ganz hager, wie ein Holzspan. Als man einstmals in den Stall kam, lag statt seiner nur ein Haufen Asche da und ein leerer Eimer. Er war völlig verbrannt. Von selber war er verbrannt. Das war aber ein solcher Hundewärter, wie man ihn auf der ganzen Welt nicht wiederfindet!«
Als Spirid seine Erzählung beendet hatte, begann man von allen Seiten über die trefflichen Eigenschaften des Hundewärters zu sprechen.
»Aber hast du auch nichts gehört von der Scheptschicha?« sprach Dorosch, indem er sich an Choma wandte.
»Nein.«
»Oho, offenbar lehrt man euch in der Burse nicht allzu gescheite Dinge. So höre denn: In unserem Dorfe lebt ein Kosak namens Scheptun. – Ein guter Kosak. Er liebt bisweilen zu stehlen und ohne jede Not zu lügen. Er ist aber … ein guter Kosak. Seine Hütte steht ganz nah von hier. Zu ganz derselben Tageszeit, als wir jetzt eben hier sitzen, hatte Scheptun mit seinem Weibe das Abendessen beendet und wollte sich schlafenlegen. Da es schönes Wetter war, legte sich die Scheptschicha auf dem Hof nieder, Scheptun aber in der Hütte auf der Bank, oder nein: die Scheptschicha in der Hütte auf der Bank, Scheptun aber im Hofe …«
»Scheptschicha lag gar nicht auf der Bank, vielmehr auf dem Boden«, mischte sich das Weib ein, das an der Schwelle stand und die Wange mit der Hand stützte.
Dorosch schaute auf sie hin, blickte dann zu Boden, sah sie wieder an und sprach nach einigem Schweigen: »Wenn ich dir vor allen hier den Rock abnehme, dann wird es nicht schön sein!«
Diese Ermahnung übte ihre Wirkung. Die Alte verstummte und unterbrach schon kein einziges Mal mehr die Rede.
Dorosch fuhr fort: »Mitten in der Hütte hing aber eine Wiege, und darin lag ein einjähriges Kindchen; ich weiß schon nicht mehr, war es ein Knabe oder ein Mädchen. Die Scheptschicha lag da und hört auf einmal, daß an der Tür ein Hund kratzt und derart heult, daß man davonlaufen möchte. Sie erschrak, denn die Weiber – sind ein so dummes Volk, daß, wenn man einer am Abend durch die Türspalte die Zunge ausstreckt, ihr gleich das Herz in die Schuhe fällt. Gleichwohl denkt sie: ›Ich will dem verfluchten Hunde über das Maul schlagen, vielleicht wird er aufhören zu heulen‹ – und sie nahm das Feuereisen und ging, die Tür zu öffnen. Kaum hatte sie sie aber ein wenig geöffnet, als ein Hund sich zwischen ihren Füßen hindurch geradeswegs zur Kinderwiege hinstürzte. Scheptschicha sieht, daß dies schon kein Hund ist – vielmehr das Herrentöchterlein. Ja, wäre es in seiner eigenen Gestalt gewesen, wie sie es kannte – so hätte das noch gar nichts zu bedeuten gehabt, aber gerade darin liegt ja die Sache; sie war ganz blau, und ihre Augen brannten wie Kohle. Sie erfaßte das Kind, biß ihm die Kehle durch und begann, ihm das Blut auszusaugen. Scheptschicha schrie nur: ›Ach, was für ein Unglück!‹ und lief aus der Hütte. Sie sieht, daß im Vorraum die Tür geschlossen ist und stürzt auf den Dachboden; dort sitzt das dumme Weib und zittert am ganzen Leib; darauf sieht sie aber, daß das Herrentöchterlein auch zu ihr auf den Dachboden kommt, sich auf sie wirft und sie zu beißen beginnt. Erst am Morgen zog Scheptun seine Frau von dort herunter, am ganzen Körper zerbissen und blau geworden; am anderen Tag starb denn auch das dumme Weib. Da sehen Sie, was für Dinge und Verführungen auf dieser Welt vorkommen. Denn wenn man auch aus Herrengeschlecht stammt, so ist man gleichwohl eine Hexe, wenn man eine Hexe ist.«
Nach dieser Erzählung blickte Dorosch selbstzufrieden umher und steckte den Finger in seine Pfeife, um sie zum Stopfen zurechtzumachen. Das Gespräch über die Hexe erwies sich als unerschöpflich; ein jeder suchte seinerseits irgend etwas hinzuzufügen. Zu diesem war die Hexe in Gestalt eines Heuhaufens bis ganz zur Tür der Hütte herangekommen, bei jenem hatte sie die Mütze oder die Pfeife gestohlen; vielen Mädchen im Dorfe hatte sie den Zopf abgeschnitten; anderen hatte sie mehrmals Blut ausgesogen.
Endlich kam die ganze Gesellschaft zur Besinnung und sah, daß sie sich allzusehr verschwatzt hatte, weil es schon völlig dunkel geworden war im Hofe. Alle begannen auseinanderzugehen und ihre Nachtlager aufzusuchen, die sich entweder in der Küche befanden oder in den Scheunen oder inmitten des Hofes.
»Nun, Herr Choma! Jetzt ist es auch für uns Zeit, zur Toten zu gehen«, sprach der greise Kosak zum Philosophen, und alle vier, darunter auch Spirid und Dorosch, begaben sich zur Kirche, wobei sie mit ihren Knuten auf die Hunde einhieben, derer es auf der Straße eine große Menge gab und die sich aus Bosheit in ihre Stöcke verbissen.
Ungeachtet dessen, daß der Philosoph sich durch ein tüchtiges Krüglein Schnaps zu stärken vermocht hatte, fühlte er insgeheim, wie ihn eine Schüchternheit überkam, je mehr er sich der erleuchteten Kirche näherte. Die seltsamen Geschichten, die er da gehört hatte, erhöhten seine Einbildungskraft. Der Schatten unter dem Zaun und unter den Bäumen begann immer seltener zu werden; die Gegend ward kahler. Endlich traten sie durch das morsche Kirchengitter in ein kleines Höfchen, hinter dem schon kein Bäumchen mehr zu sehen war und sich nur noch das leere Feld und die von nächtlichem Dunkel umfangenen Wiesen eröffneten. Die drei Kosaken schritten mit Choma auf der steilen Treppe zur Kirchentür und traten ein. Hier ließen sie den Philosophen zurück, nachdem sie ihm gewünscht hatten, er möchte sein Amt wohlbehalten verrichten. Dann schlossen sie hinter ihm die Tür zu, wie ihr Herr befohlen hatte.
Der Philosoph blieb allein. Er gähnte und streckte sich. Dann blies er sich in beide Hände, und endlich schaute er sich auch schon um. Inmitten der Kirche stand der schwarze Sarg. Die Kerzen brannten trübe unter den dunklen Heiligenbildern: ihr Licht erhellte nur eben den Altar und ein wenig die Mitte der Kirche; die entfernten Ecken des Vorraums lagen im Dunkel. Der hohe altertümliche Altar zeigte bereits starken Verfall; seine durchbrochene, einstmals vergoldete Schnitzerei leuchtete nur noch an einzelnen Stellen: hier war die Vergoldung abgefallen, dort war sie ganz schwarz geworden. Die Gesichter der Heiligen, ganz dunkel geworden, schauten finster drein. Der Philosoph blickte sich noch einmal um. »Wie denn?« sprach er. »Wovor soll ich mich denn fürchten? Ein Mensch kann gar nicht hierherkommen, gegen die Toten aber und die Sendlinge aus jener Welt habe ich Gebete von solcher Kraft, daß, wenn ich sie hersage, sie mich nicht einmal mit dem Finger berühren werden. Das hat nichts zu sagen!« wiederholte er und machte eine abwehrende Bewegung. »Laß uns jetzt lesen.« Er schritt zum Chore und sah dort einige Bündel von Kerzen. »Das trifft sich gut so«, dachte der Philosoph. »Man muß die ganze Kirche so beleuchten, daß es taghell wird. Ach, wie schade, daß man im Tempel Gottes keine Pfeife rauchen darf!«
Und er begann, an allen Karniesen, Pulten und Heiligenbildern Wachskerzen anzukleben, ohne irgendwie sparsam mit ihnen umzugehen, und bald erfüllte sich die ganze Kirche mit Licht. Nur in der Höhe ward, so schien es, die Finsternis noch tiefer, und die strengen Heiligenbilder schauten noch verdrossener aus ihren alten geschnitzten Rahmen, an denen noch hier und da Gold schimmerte. Er schritt zum Sarge und schaute furchtsam der Toten ins Gesicht – und unwillkürlich erzitterte er und drückte seine Augen ein wenig zusammen; eine so furchtbare strahlende Schönheit war das!
Er wandte sich um und wollte weggehen. Aber aus einer seltsamen Neugierde, aus jenem eigenartig widerspruchsvollen Empfinden, welches den Menschen nicht losläßt, besonders wenn er Angst hat, hielt er nicht an sich und schaute im Weggehen noch einmal auf sie, und alsdann, in gleicher Weise am ganzen Körper bebend, noch ein drittes Mal. In der Tat: die ausgesprochene Schönheit der Toten konnte Furcht erregen. Vielleicht würde sie sogar nicht die Seele mit einem solchen panischen Schrecken erfüllt haben, wenn sie ein wenig weniger schön gewesen wäre. In ihren Zügen lag aber nichts Trübes, Unklares, Welkes. Sie war wie lebend, und es kam dem Philosophen so vor, als blicke sie auf ihn mit verschlossenen Augen. Ja, es schien ihm, als rinne unter dem Lid des rechten Auges eine Träne hervor, als sie aber auf der Wange stehenblieb, unterschied er deutlich, daß dies ein Blutstropfen war.
Eilig schritt er zum Chor zurück, öffnete das Buch und, um sich mehr Mut zu machen, begann er mit seiner allerlautesten Stimme zu lesen. Ihr Klang erschütterte die hölzernen Kirchenwände, die lange schon keinen Laut mehr vernommen hatten und taub geworden waren; gleichwohl fand sein tiefer Baß keinen Widerhall in der völligen Totenstille und schien sogar dem Leser selber ein wenig fremd. »Was fürchte ich denn eigentlich?« dachte er währenddessen. »Sie wird sich sicher nicht in ihrem Sarge erheben, weil sie das Wort Gottes fürchtet. Möge sie nur liegenbleiben, ja, und was bin ich denn für ein Kosak, wenn ich so in Furcht geraten kann? Ich habe wohl nur zu viel getrunken, und deshalb kommt mir das alles so schrecklich vor. Soll ich nicht etwas schnupfen? Ach, was für ein guter Tabak! Was für ein trefflicher Tabak! Was für ein schöner Tabak!« Während er indes eine Seite nach der anderen umblätterte, schielte er gleichwohl nach dem Sarg hin, und da war ihm, als flüstere ihm jemand zu: »Jetzt gleich wird sie aufstehen, gleich wird sie sich erheben, gleich wird sie aus dem Sarge herausblicken!«
Es herrschte aber Totenstille; unbeweglich stand der Sarg da. Die Kerzen ergossen einen ganzen Strom von Licht. Schrecklich ist eine erleuchtete Kirche bei Nacht, wenn ein Toter in ihr liegt und kein Mensch da ist!
Der Philosoph erhöhte seine Stimme und begann verschiedene Weisen zu singen, um den Rest von Angst in sich zu betäuben. Jeden Augenblick wandte er indes seine Blicke nach dem Sarge, als frage er sich unwillkürlich: »Wie, wenn sie jetzt aufsteht, wenn sie sich erhebt?«
Der Sarg blieb aber unbeweglich. Wenn sich nur irgendein Laut, irgendein lebendes Geschöpf hätte vernehmen lassen, sei es auch ein Heimchen im Winkel! Man hörte indes nichts als das leise, kaum hörbare Knistern einer entfernt stehenden Kerze oder das schwache, leichte Aufschlagen eines Wachstropfens auf den Boden.
»Nun, wenn sie sich jetzt erheben wird?«
Sie erhob ihren Kopf …
Wild schaute er hin und rieb sich die Augen. Aber tatsächlich! Sie liegt schon nicht mehr, sie sitzt in ihrem Sarge. Er wandte die Augen weg, und dann schaute er wiederum mit Entsetzen hin. Sie war aufgestanden … mit geschlossenen Augen geht sie in der Kirche umher und tastet unaufhörlich mit ihren Händen, gleich als wolle sie jemand fangen.
Sie geht gerade auf ihn zu. Voller Entsetzen zog er einen Kreis um sich – er tat sich Zwang an und begann Gebete zu lesen und Beschwörungen herzusagen, die ihn ein Mönch gelehrt hatte, welcher sein ganzes Leben lang Hexen und unreine Geister gesehen hatte.
Sie stand fast auf der Linie seines Kreises: es war aber zu sehen, daß es ihr an Kraft gebrach, sie zu überschreiten, und sie war ganz blau geworden, wie ein schon vor mehreren Tagen verstorbener Mensch. Choma fand nicht den Mut, sie anzuschauen: sie war zu furchtbar! Sie schlug die Zähne aufeinander und öffnete ihre toten Augen; da sie aber nichts sehen konnte, wandte sie sich in rasender Wut – was sich auf ihrem bebenden Gesichte malte – nach der anderen Seite, breitete die Arme aus und umfaßte jede Säule, jede Ecke, indem sie sich bemühte, Choma zu erwischen. Endlich blieb sie stehen, drohte mit dem Finger und legte sich in ihren Sarg.
Der Philosoph konnte immer noch nicht zu sich kommen und blickte voller Angst auf diesen engen Wohnort der Hexe. Plötzlich riß sich der Sarg von der Bahre los und begann sausend in der ganzen Kirche umherzufliegen, wobei er in allen Richtungen die Luft durchkreuzte. Der Philosoph erschaute ihn fast über seinem Haupte. Zugleich sah er aber auch, daß der Sarg nicht den Kreis berühren konnte, den er um sich gezogen hatte, und er verstärkte seine Beschwörungen. Krachend fiel der Sarg in der Mitte der Kirche nieder und blieb unbeweglich stehen. Wiederum erhob sich der Leichnam aus ihm, er war blau geworden, ja sogar grün angelaufen. In diesem Augenblick krähte aber in der Ferne ein Hahn, der Leichnam fiel in den Sarg zurück und schlug krachend den Sargdeckel zu.
Dem Philosophen klopfte das Herz, und der Schweiß lief in Strömen an ihm herab. Das Krähen des Hahnes hatte ihn aber ermuntert, und er las noch rasch die Seiten zu Ende, die er vordem hätte lesen sollen. Beim ersten Morgengrauen kamen ihn abzulösen der Küster und der greise Jawduch, von denen letzterer diesmal das Amt eines Kirchenältesten versah.
Nachdem der Philosoph in sein Nachtquartier gekommen war, vermochte er lange nicht einzuschlummern; schließlich überwältigte ihn die Müdigkeit, und er schlief bis zum Mittagessen. Als er erwachte, schien es ihm, als habe ihm der ganze nächtliche Vorfall nur geträumt. Man gab ihm zur Stärkung ein Quart Schnaps. Während des Mittagessens ward er bald munter und mischte sich da und dort in die Unterhaltung ein. Er aß fast allein ein ziemlich großes Ferkel; gleichwohl konnte er sich nicht entschließen, über das Vorkommnis in der Kirche zu sprechen: aus einem ihm selber ganz unerklärlichen Gefühl, und er antwortete nur auf die Frage der Neugierigen: »Ja, es gab dort allerart Wunder.« Der Philosoph gehörte zu jenen Leuten, die, wenn sie gut gegessen haben, eine ungewöhnliche Menschenfreundlichkeit überkommt. Er lag mit seiner Pfeife im Munde da, schaute mit außerordentlich süßen Blicken auf alle und spuckte unaufhörlich zur Seite.
Nach dem Mittagessen war der Philosoph durchaus bei Laune. Er brachte es fertig, die ganze Ansiedlung zu durchwandern und fast mit allen Bekanntschaft zu machen; aus zwei Hütten warf man ihn sogar hinaus. Ein niedliches, junges Weib schlug ihm dabei ziemlich kräftig mit einer Schaufel auf den Rücken, als ihn Neugierde erfaßt hatte, herauszubekommen, aus welchem Stoff ihr Hemd und Unterrock angefertigt seien. Je mehr sich aber der Abend näherte, um so nachdenklicher ward der Philosoph. Eine Stunde vor dem Abendessen versammelte sich fast das ganze Hofgesinde, um zu spielen – eine Art Kegelspiel, wobei man statt der Kugeln lange Stöcke verwendet und der Gewinner das Recht hat, auf seinem Mitspieler zu reiten. Das Spiel war sehr unterhaltend für die Zuschauer. Oft sprang der Treiber, breit wie ein Pfannenkuchen, dem Schweinehirten auf den Rücken, der ganz schmächtig und klein war und nur aus Runzeln bestand. Ein andermal bot der Treiber seinen Rücken Dorosch. Der sprang auf ihn und rief dann jedesmal: »Was ist das für ein kräftiger Stier!« Bei der Küchentür saßen diejenigen, die schon solider waren. Sie blickten außerordentlich ernst drein, die Pfeife im Munde, sogar auch dann, wenn die jungen Leute aus voller Kehle über irgendein witziges Wort des Viehtreibers oder Spirids lachten. Vergeblich versuchte Choma, sich in dieses Spiel einzumischen: irgendein finsterer Gedanke saß ihm wie ein Nagel im Kopf. Wie sehr er sich auch bemühte, sich zu erheitern, die Furcht ward stärker und stärker in ihm, je mehr sich das Dunkel am Himmel verbreitete.
»Nun, Herr Bursak, jetzt ist es Zeit für uns!« sprach zu ihm jener weißhaarige Kosak und erhob sich zugleich mit Dorosch von seinem Sitz. »Laßt uns zur Arbeit gehen!«
Wiederum führte man auf ganz die gleiche Weise Choma in die Kirche: wiederum ließ man ihn allein und schloß hinter ihm die Tür. Alsogleich begann sich die Angst in seine Brust einzuschleichen; wiederum erschaute er die dunklen Heiligenbilder, die leuchtenden Rahmen und den ihm so bekannten schwarzen Sarg, der inmitten der Kirche stand: unbeweglich in der drohenden Stille.
»Wie denn«, sprach er. »Jetzt ist mir dies Wunder nicht mehr neu! Das ist nur zum erstenmal furchtbar. Ja, das ist nur zum erstenmal ein wenig furchtbar! Jetzt aber ist es nicht mehr furchtbar; es ist schon ganz und gar nicht mehr furchtbar!«
Rasch trat er auf den Chor, zog einen Kreis um sich, begann einige Beschwörungen herzusagen und dann laut zu lesen: fest entschlossen, vom Buche nicht aufzublicken und auf gar nichts achtzugeben. Er hatte bereits eine Stunde gelesen und begann schon etwas müde zu werden und sich zu räuspern. Er nahm die Tabaksdose aus der Tasche, bevor er aber den Tabak zur Nase führte, blickte er scheu nach dem Sarge. Das Herz blieb ihm stehen. Der Leichnam stand schon vor ihm, ganz auf der Linie seines Kreises, und bohrte sich in ihn mit seinen toten, schon grün gewordenen Augen. Der Bursak fuhr zusammen. Eiskalt lief es ihm über den ganzen Körper. Er senkte die Blicke ins Buch, er begann lauter seine Gebete und Verwünschungen zu lesen und hörte, wie der Leichnam wiederum die Zähne aufeinanderschlug und mit den Händen herumfuchtelte, um ihn zu erfassen. Als er aber ein wenig mit dem einen Auge zur Seite schaute, sah er, daß die Tote nicht dort nach ihm griff, wo er stand, und ihn offenbar gar nicht zu erblicken vermochte. Dumpf begann sie vor sich hinzumurmeln und mit ihren leblosen Lippen schreckliche Worte hervorzustoßen. Heiser kamen sie heraus, und das klang so wie das Brodeln kochenden Teers. Was diese Worte bedeuteten, hätte er nicht sagen können. Aber irgend etwas Entsetzliches lag in ihnen beschlossen. Bebend vor Angst begriff der Philosoph, daß der Leichnam Verwünschungen ausstieß.
Von den Worten der Toten erhob sich ein Windhauch in der Kirche, und man vernahm ein Geräusch, wie von vielen, vielen schlagenden Flügeln. Er hörte, wie man mit Flügeln an die Kirchenfenster und an die eisernen Fensterrahmen schlug, wie man winselte, mit Krallen an dem Eisen herumkratzte, und wie eine unsichtbare Macht gegen die Tür schlägt und sie eindrücken will. Heftig bebte ihm das Herz die ganze Zeit über; er kniff die Augen zusammen, ununterbrochen las er Gebete und sprach Beschwörungen. Endlich erklang irgend etwas in der Ferne. Das war das Krähen eines Hahnes. Ganz erschöpft hielt der Philosoph inne und atmete auf.
Die zu seiner Ablösung herbeikamen, fanden ihn kaum noch am Leben; er hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und blickte unbeweglich mit starren Augen auf die eintretenden Kosaken. Man trug ihn fast hinaus und mußte ihn den ganzen Weg über stützen. Als er in dem Herrenhof angelangt war, kam er zu sich und bat, ihm ein Quart Schnaps zu geben. Er trank ihn aus, glättete sich seine Haare und sprach: »Viel Unrat jeder Art gibt es auf der Welt! Und solche Schrecken kommen vor, nun …« Hierbei erhob der Philosoph abwehrend die Hand.
Bei diesen Worten senkten alle, die sich um ihn versammelt hatten, die Köpfe. Sogar ein kleiner Knabe, dem das ganze Hofgesinde sich im Recht glaubte, von sich aus Befehle zu erteilen, wenn es sich darum handelte, den Stall zu reinigen oder Wasser zu schleppen, sogar dieser arme Knabe sperrte gleichfalls das Maul auf.
In diesem Augenblick ging ein noch nicht altes Weiblein vorüber: in einer eng anliegenden Bluse, die ihren festen und runden Wuchs zeigte, eine furchtbare Kokette, die es immer fertigbrachte, irgend etwas auf ihr Häubchen aufzustecken: entweder ein Bändchen oder eine Nelke oder auch nur ein Papierchen, wenn es nicht irgend etwas anderes war. »Guten Tag, Choma«, sprach sie, als sie den Philosophen erschaute. »Ai, ai, ai, was ist denn mit dir!« rief sie plötzlich und rang die Hände.
»Was denn, du dummes Weib?«
»Ach, mein Gott, du bist ja ganz grau geworden!«
»Oho! Ja, sie spricht die Wahrheit!« rief Spirid, indem er den Philosophen starr anblickte. »Du bist wirklich grau geworden wie unser alter Jawduch!«
Als der Philosoph dies vernommen hatte, lief er spornstreichs in die Küche, wo er an der Wand ein von Fliegen beschmutztes dreieckiges Stück Spiegelglas bemerkt hatte, vor dem Vergißmeinnicht, Nelken und sogar eine Girlande von Butterblumen angesteckt waren, was Zeugnis davon gab, daß dieser Spiegel der ausgeputzten Kokette zum Sichschönmachen diente. Mit Entsetzen erkannte er, daß sie die Wahrheit gesagt hatte: die Hälfte seiner Haare war wirklich grau geworden.
Choma Brut ließ den Kopf hängen und dachte nach. »Ich will zum Herrn gehen«, sprach er endlich. »Ich will ihm alles erzählen und ihm erklären, daß ich nicht weiter lesen will. Er soll mich sogleich nach Kiew zurückschaffen.«
In solchen Gedanken nahm er seinen Weg zur Pforte des Herrenhauses.
Der Sotnik saß fast unbeweglich in seinem Zimmer. In seinem Gesicht malte sich ganz der gleiche hoffnungslose Kummer, den Choma früher wahrgenommen hatte, nur waren seine Wangen noch bei weitem mehr eingefallen. Es war zu ersehen, daß er nur wenig Nahrung zu sich nahm oder solche vielleicht überhaupt nicht berührte. Seine außergewöhnliche Blässe gab ihm eine gleichsam steinerne Starrheit.
»Guten Tag, du Armer!« begann er, als er Choma erblickte, der mit der Mütze in der Hand bei der Tür stehengeblieben war. »Nun, wie geht es denn bei dir? Steht alles gut?«
»Ganz vortrefflich: eine solche Teufelei geht da vor sich, daß man nur seinen Hut nehmen möchte und davonlaufen, was das Zeug hält.«
»Wieso denn?«
»Ja, Herr, Ihr Töchterchen … Nach gesundem Urteil ist sie natürlich von Herrengeschlecht, das wird niemand bestreiten, nur, mit Erlaub zu sagen, Gott möge ihre Seele zur Ruhe kommen lassen …«
»Was ist denn mit meiner Tochter?«
»Sie hat sich mit dem Satan eingelassen. Solche Schrecken läßt sie los, daß kein Lesen dagegen aufkommt.«
»Lies nur, lies nur! Nicht umsonst befahl sie, dich zu rufen, sie sorgte sich, mein Täubchen, um ihre Seele und wollte durch Gebete jeden Anschlag des Bösen vereiteln.«
»Die Macht steht bei Ihnen, Herr: bei Gott, ich kann nicht mehr.«
»Lies nur, lies nur!« fuhr mit der gleichen eindringlichen Stimme der Sotnik fort. »Dir blieb jetzt nur noch eine Nacht; du tust ein christliches Werk, und ich werde dich belohnen.«
»Ja, wäre die Belohnung auch noch so groß … Wie du willst, Herr, ich werde nicht lesen!« sprach entschlossen Choma.
»Höre, Philosoph!« sagte der Sotnik, und seine Stimme ward fest und drohend, »ich liebe eine solche Sprache nicht. Die kannst du bei euch in der Burse tun, bei mir geht das nicht: ich werde dich schon ganz anders prügeln lassen wie der Rektor. Weißt du denn, was gute Lederriemen bedeuten?«
»Wie sollte ich das nicht wissen!« sprach der Philosoph, indem er seine Stimme dämpfte. »Jeder weiß, was das zu bedeuten hat: bei einer großen Zahl von Schlägen – ist das etwas ganz Unerträgliches.«
»Ja, du weißt aber noch nicht, wie meine Burschen zu hauen verstehen!« sprach drohend der Sotnik, indem er aufstand und sein Gesicht einen herrischen und bösen Ausdruck annahm: sein ganzer ungebändigter Charakter kam da zum Vorschein, den nur der Kummer zeitweilig abgeschwächt hatte. »Bei mir prügelt man zuerst, dann bespritzt man mit Schnaps, und dann prügelt man wieder. Geh nur, geh und verrichte deine Sache! Tust du es nicht, so wirst du nicht mehr aufstehen. Tust du es – so gebe ich dir tausend Dukaten!«
»Oho, ja, das ist ein Teufelskerl!« dachte der Philosoph, als er ihn verließ. »Mit diesem da ist es nicht gut, Kirschen zu essen. Aber warte nur, mein Freund, ich werde so rasche Beine machen, daß du mich mit deinen Hunden gar nicht mehr einholst.«
Und Choma beschloß, auf jeden Fall davonzulaufen. Er erwartete nur die Nachmittagsstunde, wann das ganze Hofgesinde sich gewöhnlich in den Scheunen aufs Heu zu legen, das Maul aufzusperren und ein solches Schnarchen und Pfeifen von sich zu geben pflegte, daß dann der Herrenhof einer Fabrik glich.
Endlich war diese Zeit gekommen. Sogar Jawduch zwinkerte mit den Augen und hatte sich in der Sonne ausgestreckt. Mit Furcht und Zittern begab sich der Philosoph ganz leise in den Garten des Herrenhauses, von wo es ihm bequemer und sicherer schien, ins Feld zu laufen. Dieser Garten war, wie das gewöhnlich so ist, furchtbar verwildert und demnach außerordentlich geeignet für jedes geheimnisvolle Unternehmen. Nur ein einziger kleiner Pfad war da ausgetreten – weil das die Wirtschaft erforderte. Alles übrige war dicht bedeckt mit verwachsenen Kirschbäumen, Holunder und Kletten, die bis ganz hinauf ihre hohen Stiele mit den rötlichen, klebrigen Köpfen emporreckten. Hopfen bedeckte wie mit einem Netz diese ganze bunte Gesellschaft von Bäumen und Sträuchern und bildete ein Dach über ihnen, das sich auch über die Hecke legte und von ihr hinabstieg wie sich ringelnde Schlangen, untermischt mit wilden Feldglockenblumen. Hinter der Hecke, die den Garten abgrenzte, zog sich ein förmlicher Wald von Steppengras hin, in den, so schien es, niemand hineinzuschauen begehrte. Und die Sense wäre in Stücke gebrochen, wenn man mit ihrer Schneide die dicken, verholzten Stengel berührt hätte.
Als der Philosoph über die Hecke klettern wollte, schlugen ihm die Zähne zusammen, und sein Herz pochte so heftig, daß er selber darüber erschrak. Es kam ihm so vor, als hafteten die Schöße seines langen Rockes fest an der Erde, als habe sie irgendwer angenagelt. Als er über die Hecke hinüber war, schien es ihm, als dröhne ihm mit betäubendem Pfeifen eine Stimme im Ohre: »Wohin, wohin?« Der Philosoph verschwand augenblicklich im Steppengras und begann davonzulaufen, wobei er unaufhörlich über alte Wurzeln stolperte und Maulwürfe zertrat. Er sah, daß, wenn er aus dem Steppengras herauskommen würde, er ein Feld durchlaufen mußte, hinter dem ein Dornendickicht dunkel hervortrat. Dort glaubte er sich in Sicherheit. Und wenn er es durchschritten hätte, so vermutete er, werde er gerade auf den Weg nach Kiew kommen. Rasch durchlief er das Feld und befand sich im Dornendickicht. Indem er sich durcharbeitete, hinterließ er als Straßenzoll Fetzen seines Rockes an jedem scharfen Dorne. So erreichte er eine kleine Schlucht. Dort breitete ein Weidenbaum seine Äste aus, die hier und da bis zum Boden reichten. Ein kleiner Quell schimmerte dort klar wie Silber. Zunächst warf sich der Philosoph zu Boden und begann zu trinken, weil er einen unerträglichen Durst empfand. »Gut ist das Wasser!« sprach er und trocknete sich die Lippen. »Hier könnte man ein wenig ausruhen.«
»Nein, lieber laß uns weiterlaufen, sonst holt man uns doch noch ein!«
Diese Worte klangen ihm unmittelbar an den Ohren. Er schaute sich um – vor ihm stand Jawduch.
»Teufelsjawduch!« dachte der Philosoph für sich im Herzen. »Ich möchte dich nehmen, ja, an den Beinen … und deine widerliche Fratze und alles, was an dir ist, möchte ich mit einer eichenen Latte verprügeln!«
»Ganz umsonst hast du einen solchen Umweg gemacht!« fuhr Jawduch fort. »Weit besser wäre es gewesen, den Weg zu erwählen, auf dem ich ging: gerade am Pferdestall vorüber. Ja, und zudem ist es schade um deinen Rock. Er ist aus gutem Tuch. Wieviel hast du für das Meter bezahlt? Übrigens sind wir genug spazierengegangen: jetzt ist es an der Zeit, nach Hause zu gehen.«
Der Philosoph kratzte sich hinter den Ohren und schleppte sich hinter Jawduch her. »Jetzt wird mir die verfluchte Hexe schon eins einpfeffern!« dachte er. »Ja, übrigens, was ist denn los? Was fürchte ich eigentlich? Bin ich denn kein Kosak? Schon zwei Nächte lang habe ich gelesen, Gott wird mir auch in der dritten beistehen. Offenbar hat die verfluchte Hexe ein ordentliches Maß von Sünden angesammelt, daß die unreine Macht so für sie einsteht!«
Unter solchen Erwägungen hatte er den Herrenhof erreicht. Diese Gedanken hatten ihm Mut gegeben. Er bat Dorosch, der sich mit dem Beschließer gut stand und deshalb bisweilen Zutritt in den Herrenkeller hatte, ein Maß Schnaps beiseitezubringen, und beide Freunde setzten sich dann unter das Schirmdach der Scheune und gossen fast einen halben Eimer hinter die Binde, so daß der Philosoph plötzlich aufsprang und schrie: »Musikanten her! Laßt unbedingt Musikanten kommen!« Und ohne sie zu erwarten, begann er inmitten des Hofes auf einem glatt gemachten Platze den Kosakentanz zu tanzen; er tanzte so lange, bis die Arbeitszeit gekommen war und das Hofgesinde, das, wie es in solchen Fällen zu sein pflegt, um ihn herum einen Kreis gebildet hatte, endlich ausspuckte und wegging mit den Worten: »Dieser Kerl da kann ja gar kein Ende finden!« Endlich legte sich der Philosoph gerade dort auch zum Schlafen nieder, und nur ein tüchtiger Eimer kalten Wassers vermochte ihn zum Abendessen zu wecken. Während des Abendessens sprach er darüber, was ein Kosak sei und daß er nichts auf der Welt fürchten dürfe.
»Es ist Zeit«, sprach Jawduch. »Laß uns gehen!«
»Möge dir die Zunge im Maul verbrennen, verfluchtes Schwein!« dachte der Philosoph, erhob sich und sprach: »Gehen wir!«
Unterwegs blickte der Philosoph unaufhörlich nach allen Seiten und sprach nur obenhin mit seinen Begleitern. Jawduch schwieg aber; sogar Dorosch war wenig wortreich. Es war eine höllische Nacht. In der Ferne heulten die Wölfe in ganzen Herden, und sogar das Bellen der Hunde klang ganz unheimlich.
»Es ist so, als heule da irgend etwas anderes. Das ist gar kein Wolf!« sprach Dorosch. Jawduch schwieg. Der Philosoph fand nichts zu sagen.
Sie näherten sich der Kirche und traten in ihre baufälligen hölzernen Hallen, die Zeugnis davon ablegten, wie wenig sich der Besitzer des Ortes um Gott und seine Seele bekümmerte … Jawduch und Dorosch entfernten sich wie früher, und der Philosoph blieb allein.
Alles war ganz ebenso, alles bot denselben wohlbekannten drohenden Anblick. Der Philosoph blieb einen Augenblick stehen. In der Mitte der Kirche stand immer noch ebenso unbeweglich der Sarg der furchtbaren Hexe.
»Ich fürchte mich gar nicht; bei Gott, ich fürchte mich nicht«, sprach er und zog wie vordem einen Kreis um sich. Darauf begann er sich auf alle seine Beschwörungen zu besinnen. Schreckliche Stille herrschte; das Kerzenlicht zitterte und erhellte die ganze Kirche. Der Philosoph schlug eine Seite um, dann eine andere und bemerkte plötzlich, daß er durchaus nicht das lese, was im Buche stand. Voller Schrecken bekreuzte er sich und hob zu singen an. Dadurch ward er etwas mutiger. Er kam weiter im Lesen, und ein Blatt nach dem andern ward umgeschlagen.
Plötzlich … inmitten der Todesstille zersprang krachend der eiserne Sargdeckel, und die Tote erhob sich. Noch furchtbarer war sie anzuschauen als das erste Mal. Schrecklich schlug sie die Zähne aufeinander; krampfhaft zuckten ihre Lippen, und wild winselnd stieß sie Verfluchungen aus. Ein Wirbelwind erhob sich in der Kirche, die Heiligenbilder fielen zur Erde, und klirrend flogen die zerbrochenen Fensterscheiben zu Boden. Die Türen wurden aus ihren Angeln gehoben, und gespensterhafte Ungeheuer flogen in unzähliger Menge in das Haus Gottes. Der schreckliche Lärm ihrer Flügel und kratzenden Krallen erfüllte die ganze Kirche. Alles flog und schwebte daher und suchte überall den Philosophen.
Choma war plötzlich ganz nüchtern geworden. Er bekreuzte sich nur und sprach alle Gebete durcheinander. In diesem Augenblick vernahm er, wie die unreine Macht ihn umschwebte und ihn fast mit den Spitzen ihrer Flügel und mit ihren widerlichen Schwänzen berührte. Er fand nicht den Mut, hinzuschauen. Er sah nur, daß die ganze Wand irgendein gewaltiges Ungeheuer bedeckte, das in seinen zerzausten Haaren dastand wie in einem Walde. Durch das Netz dieser Haare blickten unheimlich zwei Augen, wobei die Augenbrauen emporgezogen waren. Über ihm hielt sich in der Luft etwas in Gestalt einer gewaltigen Blase, aus deren Mitte Tausende von Krebsscheren und Skorpionenstacheln herausragten. Schwarze Erde hing in Klumpen an ihnen. Alle spähten nach dem Philosophen aus, suchten ihn und vermochten ihn nicht zu erblicken, da er von seinem geheimnisvollen Kreis umgeben war. »Führt Wij herbei! Holt Wij!« erklangen da die Worte der Toten.
Und plötzlich ward es mäuschenstill in der Kirche. In der Ferne vernahm man Wolfsheulen, und auf einmal dröhnten schwere Schritte und hallten in der Kirche wider. Der Philosoph schielte hin und sah, wie man ein untersetztes, kräftiges, bockbeiniges Wesen daherführte. Es war über und über mit schwarzer Erde bedeckt. Seine erdbedeckten Arme und Füße glichen sehnigen kräftigen Wurzeln. Schwer trat es auf und stolperte jeden Augenblick. Seine langen Lider hingen bis ganz zur Erde. Mit Entsetzen bemerkte Choma, daß sein Gesicht von Eisen war. Man führte es unter dem Arm und stellte es gerade dem Platz gegenüber, wo Choma stand.
»Hebt mir die Augenlider auf: ich sehe nichts!« sprach mit unterirdischer Stimme Wij – und die ganze Schar stürzte herbei, um ihm die Augenlider aufzuheben.
»Schau nicht hin!« flüsterte eine innere Stimme dem Philosophen zu. Er hielt aber nicht an sich und blickte auf.
»Da ist er!« schrie Wij und richtete seinen eisernen Finger auf ihn. Und alle, so viele es ihrer waren, stürzten sich auf den Philosophen. Entseelt fiel er zu Boden und gab sogleich vor Entsetzen seinen Geist auf.
Ein Hahn krähte. Das war schon zum zweitenmal. Das erste Krähen hatten die Geister überhört. Erschreckt stürzten sie sich Hals über Kopf nach den Fenstern und Türen, um möglichst rasch zu entschweben. Es war aber vergebens: so blieben sie dort in den Fenstern und Türen hängen.
Als der Geistliche eintrat, blieb er beim Anblick einer solchen Schändung von Gottes Heiligtum stehen und wagte es nicht, an einem solchen Orte die Totenmesse zu lesen. Und so blieben denn auf ewig die Ungetüme an den Türen und Fenstern der Kirche hängen. Sie selber ward überwachsen von Wald, Wurzeln, Steppengras und wildem Dorn, und niemand kann jetzt den Weg zu ihr finden.
Als die Nachricht hiervon Kiew erreichte und der Theolog Chaljawa endlich vernommen hatte, was für ein Schicksal dem Philosophen Choma zuteil geworden war, versank er eine ganze Stunde lang in Gedanken. Inzwischen war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Das Glück lächelte ihm. Als er den Kurs der Wissenschaften beendet hatte, ward er zum Glöckner des allerhöchsten Glockenturmes ernannt, und er ging von da an fast immer mit eingeschlagener Nase einher, weil die auf den Glockenturm führende Holztreppe außerordentlich dumm angelegt war.
»Hast du vernommen, wie es Choma ergangen ist?« sprach zu ihm Tiberius Gorobez, der zu dieser Zeit schon Philosoph geworden war und seinen ersten Schnurrbart trug.
»So hat es ihm Gott bestimmt«, sprach der Glöckner Chaljawa. »Laß uns in die Schenke gehen und seiner Seele gedenken!«
Der junge Philosoph, der mit dem Feuer der Begeisterung seine neuen Rechte derart genoß, daß seine Pluderhosen, sein Rock und sogar seine Mütze nur so rochen nach Schnaps und Tabak, war sogleich einverstanden.
»Ein ausgezeichneter Mensch war Choma!« sprach der Glöckner, als der lahme Schenkwirt den dritten Krug vor ihn hinstellte. »Ein prächtiger Mensch war er! Und um nichts und wieder nichts ist er zugrundegegangen.«
»Ich weiß aber, weshalb er zugrundeging: deshalb, weil er es mit der Angst zu tun bekam; hätte er keine Furcht gehabt, so hätte die Hexe gar nichts über ihn vermocht. Man muß sich nur bekreuzen und ihr dann gerade auf den Schwanz spucken, dann wird es gar nichts weiter geben. Das weiß ich ganz gewiß. Bei uns in Kiew sind ja alle Weiber, die auf dem Markt sitzen, ausnahmslos Hexen.«
Hierauf nickte der Glöckner nur mit dem Kopfe zum Zeichen seines Einverständnisses. Da er aber bemerkt hatte, daß seine Zunge schon kein einziges Wort mehr hervorbrachte, stand er vorsichtig auf und ging, nach beiden Seiten schwankend, hinaus, um sich an dem allerverstecktesten Orte im Steppengras zu verbergen. Hierbei vergaß er indes nicht, seiner Gewohnheit nach, eine alte Ledersohle mitzunehmen, die gerade auf der Bank herumlag.