Nikolai Gogol
Die Geschichte vom großen Krakeel zwischen Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch
Nikolai Gogol

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Das siebente und letzte Kapitel

»Ah, guten Tag! Ja, warum necken Sie denn meine Hunde?« fragte Iwan Nikiforowitsch, als er Golopus erblickte. Denn mit Golopus sprach niemand anders als im Tone der Verulkung.

»Daß sie allesamt verreckten!« fluchte Golopus. »Wer neckt sie denn?«

»Natürlich Sie. Ach, lügen Sie doch nicht!«

»Bei Gott, ich lüge nicht! – Der Polizeimeister läßt Sie zu Tische bitten.«

»Hm!«

»Bei Gott! Er bittet Sie so dringend, daß ich es kaum wiedergeben kann. ›Ich weiß nicht, was das sein soll‹, sagte er, ›Iwan Nikiforowitsch meidet mich wie einen Feind – er kommt nie mehr bei mir vorbei und sitzt nie mehr bei mir und schwatzt mit mir.‹«

Iwan Nikiforowitsch streichelte sein Knie.

»›Wenn jetzt Iwan Nikiforowitsch‹, sagte mir der Polizeimeister, ›auch heute ausbleibt, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll – dann hat er gegen mich was vor. Ach, seien Sie doch so freundlich, lieber Golopus, und überreden Sie Iwan Nikiforowitsch!‹ – Also denn, Iwan Nikiforowitsch, gehn wir! Und Sie finden dort auch eine reizende Gesellschaft.« Doch Iwan Nikiforowitsch richtete den Blick auf einen Hahn, der auf der Treppe stand und krähte, was sein Kehlkopf hergab.

»Ach, Iwan Nikiforowitsch, wenn Sie wüßten«, fuhr der tüchtige Abgesandte fort, »welch einen wundervollen Stör und was für einen frischen Kaviar der Polizeimeister geschickt bekommen hat!«

Hier wendete Iwan Nikiforowitsch plötzlich den Kopf und hörte mit Interesse zu. Das gab dem Abgesandten neuen Mut.

»Kommen Sie schnell; auch Foma Grigorjewitsch ist da. – Na, kommen Sie?« fuhr er dann fort, als sich Iwan Nikiforowitsch nicht rührte. »Gehn wir jetzt, oder gehn wir nicht?«

»Ich denk nicht dran.«

Dies ›Ich denk nicht dran‹ verblüffte Golopus – er hatte schon geglaubt, durch sein eindringliches Zureden diesen immerhin sehr ehrenwerten Mann vollends herumgekriegt zu haben, und statt dessen hörte er jetzt dies entschiedne ›Ich denk nicht dran‹.

»Ja, warum wollen Sie denn nicht?« rief er mit einem Ärger, wie er ihn selbst dann nur selten zeigte, wenn man ihm ein angezündetes Stück Papier auf die Haare legte, womit sich der Richter und der Polizeimeister besonders gern vergnügten.

Iwan Nikiforowitsch schnupfte und blieb stumm.

»Tun Sie, was Ihnen paßt, Iwan Nikiforowitsch. Ich versteh allerdings nicht, was Sie abhalten kann.«

»Warum soll ich denn hin?« brummte Iwan Nikiforowitsch endlich. »Sicher ist der Räuber da!« So pflegte er Iwan Iwanowitsch zu nennen. – Und doch, gerechter Gott, wie lange war es her . . .?

»Bei Gott, er ist nicht da! So wahr ein Gott lebt, nein, er ist nicht da! Hier auf der Stelle soll mich gleich der Blitz erschlagen, wenn's nicht wahr ist«, sagte Golopus, der gern in einer Stunde zehnmal schwor. »Iwan Nikiforowitsch, kommen Sie doch mit!«

»Sie lügen, Golopus, er ist ganz sicher da.«

»Bei Gott, er ist nicht da! Ich will nicht mehr lebendig hier vom Fleck gehn, wenn er da ist! Überlegen Sie doch selbst, zu welchem Zweck sollte ich lügen? Hände und Füße mögen mir verdorren . . .! Glauben Sie mir jetzt noch immer nicht? Versteinern will ich hier vor Ihren Augen! Meine Eltern und ich selber sollen nach dem Tod nicht selig werden . . .! Glauben Sie mir jetzt noch immer nicht?«

Iwan Nikiforowitsch fühlte sich durch diese feurigen Beteuerungen beruhigt und ließ sich von seinem Kammerdiener in den grenzenlosen Rock, die weiten Hosen sowie den Kosakenrock aus Nanking helfen.

Mir scheint es vollkommen überflüssig, zu beschreiben, wie Iwan Nikiforowitsch sich die Hosen anzog, wie man ihm die Halsbinde umband und ihm zum Schluß in den Kosakenrock hineinhalf, der bei dieser Gelegenheit unter dem linken Arm zerriß. Es mag genügen, wenn ich feststelle, daß er sich dabei nicht in der an ihm gewohnten Ruhe stören ließ und keine Silbe auf die Vorschläge des tüchtigen Golopus erwiderte, der sich gegen seinen Tabakbeutel irgend etwas andres von ihm eintauschen wollte.

Mittlerweile harrte die Gesellschaft voll Ungeduld auf die entscheidende Minute, wo Iwan Nikiforowitsch erscheinen und sich endlich auch der allgemeine Wunsch erfüllen würde, daß die beiden würdigen Ehrenmänner sich versöhnen möchten. Viele konnten es sich überhaupt nicht denken, daß Iwan Nikiforowitsch kommen würde. Und der Polizeimeister, der wollte sogar ganz ernsthaft mit dem schielenden Iwan Iwanowitsch darauf wetten; und bloß darum wurde nichts aus dieser Wette, weil der schielende Iwan Iwanowitsch verlangte, daß der Polizeimeister sein angeschossenes Bein gegen sein scheeles Auge setze – was der Polizeimeister sehr übelnahm, während die übrige Gesellschaft leise kicherte. Noch hatte sich kein Mensch zu Tisch gesetzt, obgleich es längst schon zwei geschlagen hatte – eine Zeit, um die in Mirgorod das Essen sogar bei den zeremoniellen Festlichkeiten längst im Gange ist.

Als Golopus dann in der Tür erschien, war er im Augenblick von aller Welt umringt. Er hatte aber auf die vielen interessierten Fragen nur die kurze und entschiedene Antwort: »Er kommt nicht!«

Kaum hatte er das ausgesprochen, als auch schon ein Sturm von Vorwürfen und Schimpfworten, vielleicht sogar von Nasenstübern auf das Haupt des Ärmsten sich entladen wollte, doch da ging die Tür auf – und Iwan Nikiforowitsch trat herein.

Wäre der Satan selber oder ein Gespenst erschienen, so hätte das Staunen der Gesellschaft kaum viel größer sein können, als da Iwan Nikiforowitsch vollkommen unerwartet eintrat. Golopus hielt sich die Seiten und zerplatzte fast vor Freude, weil es ihm gelungen war, die würdige Gesellschaft so schön anzuführen.

Sei es, wie es sei – dem ganzen Kreise schien es fast unglaublich, daß Iwan Nikiforowitsch sich in dieser kurzen Zeit so hatte anziehn lassen können, daß er wie ein richtiger Edelmann gekleidet war. Iwan Iwanowitsch befand sich in diesem Augenblick just nicht im Zimmer, weil er, weiß der liebe Gott warum, hinausgegangen war. Als man aus dem Erstaunen zu sich kam, erkundigte sich alle Welt, wie es Iwan Nikiforowitsch gehe; und man stellte mit Vergnügen fest, daß seine Korpulenz noch zugenommen habe. Und Iwan Nikiforowitsch küßte sich mit allen ab und sagte: »Danke sehr!«

Inzwischen füllte der Geruch der Rote-Rüben-Suppe das Gemach und kitzelte den Gästen, die recht ausgehungert waren, angenehm die Nase. Alles strömte in das Eßzimmer. Ein Zug von Damen, teils geschwätzig und teils schweigsam, teils beleibt, teils mager, ging voran und ließ den langen Tisch mit einem Schlag in hundert Farben flimmern. Ich will die Speisen nicht beschreiben, die es auf dem Tische gab! Ich sage nichts vom Quarkgebäck in saurer Sahne, nichts von den Kaldaunen, die es zu der Rote-Rüben-Suppe gab, auch nichts vom Puter mit Pflaumen und Rosinen, nichts von dem Gericht, das aussieht wie in Weißbier aufgeweichte Stiefel, und nichts von der Sauce, diesem Schwanenlied des alten Kochs, der Sauce, die in blauen Weingeistflammen lodernd aufgetragen wurde, was die Damen gleichzeitig ergötzte und erschreckte. Ich will nichts von diesen herrlichen Gerichten sagen, weil es mir unendlich viel vergnüglicher erscheint, sie zu verspeisen als sie zu beschwatzen.

Iwan Iwanowitsch gefiel ein Fisch, der mit Meerrettichsauce aufgetragen wurde, ganz besonders gut. Und er beschäftigte sich intensiv mit dieser nützlichen und nahrhaft kräftigen Angelegenheit. Er suchte selbst die feinsten Gräten vorsichtig heraus und legte sie auf den Tellerrand. Dabei sah er zufällig auch einmal nach seinem Gegenüber. Schöpfer des Himmels und der Erden, nein, wie war das sonderbar: ihm gegenüber saß Iwan Nikiforowitsch!

Zur gleichen Zeit sah auch Iwan Nikiforowitsch auf! – Nein, nein! . . . Ich kann nicht . . .! Gebt mir eine andre Feder! Meine Feder ist zu welk, zu tot, hat einen gar zu feinen Spalt für dieses Bild! – Zwei verwunderte Gesichter starrten reglos, wie aus Stein. Jeder von den beiden sah einen langjährigen Bekannten vor sich und empfand den dunklen Drang, sich ihm wie einem alten Freund zu nähern, ihm seine Tabakdose hinzuhalten und zu sagen: ›Bitte sehr‹ oder ›Darf ich bitten, mir die Ehre anzutun?‹ Doch gleichzeitig sah jeder in dem andern etwas Schreckerregendes und gleichsam eine schlimme Vorbedeutung; deshalb rann der Schweiß Iwan Iwanowitsch wie Iwan Nikiforowitsch förmlich in Strömen von der Stirn.

Alle Anwesenden, so viele es am Tische gab, verstummten vor Aufmerksamkeit und wendeten kein Auge von den ehemaligen Freunden. Selbst die Damen, die sich lebhaft interessiert darüber unterhalten hatten, was Kapaune eigentlich von Hähnen unterscheide, unterbrachen ihr Gespräch. Es wurde völlig still. Dies war ein Bild, des Pinsels eines großen Malers würdig. Endlich zog Iwan Iwanowitsch sein Taschentuch hervor und begann sich mit Gewalt zu schneuzen. Iwan Nikiforowitsch aber sah sich um und schweifte mit den Augen nach der offnen Tür. Der Polizeimeister bemerkte diesen Blick sofort und ließ die Tür vorsorglich fest verschließen. Da begannen beide Freunde stumm zu essen, und kein Blick mehr wurde zwischen ihnen ausgetauscht. Kaum aber war das Mahl zu Ende, als die beiden sich erhoben und nach ihren Mützen suchten, um sich unauffällig zu entfernen. Doch der Polizeimeister winkte Iwan Iwanowitsch – nicht unserm Iwan Iwanowitsch, sondern dem andern mit dem scheelen Auge –, worauf dieser sich hinter Iwan Nikiforowitsch stellte, während der Polizeimeister schleunigst hinter Iwan Iwanowitsch trat. Und jeder schob nun seinen Mann gewaltsam vorwärts, um die beiden so einander nah zu bringen und nicht nachzulassen, bis sie sich die Hände reichten. Iwan Iwanowitsch mit dem scheelen Auge schob Iwan Nikiforowitsch zwar ein bißchen schief, doch immerhin noch halbwegs in die Richtung, wo Iwan Iwanowitsch stand. Der Polizeimeister jedoch nahm seinen Kurs nebenhinaus, weil er sich leider nicht mit seinem eigenwilligen Fußwerk in das rechte Einvernehmen setzen konnte, da es heute absolut nicht dem Kommando folgen wollte und, gleichsam aus Bosheit, große Bogen nach der falschen Seite schlug (was daher kommen mochte, daß bei Tisch recht viel verschiedner Likör getrunken worden war). So rannte denn Iwan Iwanowitsch mit einer Dame in hellrotem Kleid zusammen, die sich neugierig bis mitten in den Kreis gedrängt hatte. Dieses Vorzeichen bedeutete gewiß nichts Gutes. Aber um die Sache richtig ins Lot zu bringen, trat nun der Richter an den Platz des Polizeimeisters, sog mit der Nase allen Tabak von der Oberlippe fort und schob Iwan Iwanowitsch nach der andern Seite. Dies war die Art, auf die die Mirgoroder Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen pflegten. Als der Richter nun Iwan Iwanowitsch schob, spannte Iwan Iwanowitsch mit dem scheelen Auge alle Muskeln an und schob Iwan Nikiforowitsch, dem der Schweiß herunterlief wie Regenwasser aus der Traufe, vorwärts. Und so heftig sich die beiden Freunde auch entgegenstemmten, schließlich stießen sie zusammen, weil die Leute, die sie schoben, tüchtige Unterstützung durch die andern Gäste fanden.

Diese schlossen sich zum Kreis und ließen ihre Opfer nicht hinaus, bis sie sich endlich doch die Hände reichten.

»Lieber Gott, Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch! Fragen Sie sich selbst auf Ihr Gewissen: warum haben Sie sich eigentlich verzankt? Wahrhaftig doch um einen Dreck! Ja, schämen Sie sich denn nicht vor den Menschen und vor Gott?«

»Ich weiß nicht«, keuchte Iwan Nikiforowitsch ganz erschöpft (und man sah wohl, daß er einer Versöhnung gar nicht abgeneigt war), »ich weiß nicht, was ich Iwan Iwanowitsch getan habe, daß er deswegen meinen Stall zertrümmern und Anschläge auf mein Leben machen mußte!«

»Und ich bin mir keines schlimmen Anschlags bewußt«, sagte Iwan Iwanowitsch, ohne Iwan Nikiforowitsch anzusehn. »Ich schwöre hier vor Gott, wie auch vor Ihnen, ehrenfeste adlige Versammlung, daß ich meinem Feinde nichts getan habe. Weswegen schmäht er mich und schädigt meinen Rang und Stand?«

»Wieso hab ich Sie denn geschädigt, werter Herr?« fragte Iwan Nikiforowitsch.

Nur noch einen Augenblick der Aussprache, und eine lange Feindschaft wäre ausgelöscht gewesen. Und Iwan Nikiforowitsch griff schon in die Tasche, die Tabakdose daraus hervorzuholen und zu sagen: ›Bitte sehr!‹

»Bedeutet das denn keine Schädigung, geehrter Herr«, erwiderte Iwan Iwanowitsch mit immer noch gesenktem Blick, »wenn Sie mir Rang und Namen durch ein Wort verunehren, das hier an dieser Stelle auszusprechen unfein wäre?«

»Gestatten Sie mir eine freundschaftliche Mitteilung, Iwan Iwanowitsch!« und dabei faßte Iwan Nikiforowitsch seinen ehemaligen Freund an einem Knopf, was doch gewiß Versöhnlichkeit bedeutete. »Sie fühlen sich durch weiß der Teufel was gekränkt; weil ich zu Ihnen sagte ›Gänserich‹ . . .«

Iwan Nikiforowitsch spürte gleich, wie unvorsichtig es von ihm gewesen war, sich dieses Ausdrucks zu bedienen; doch es war zu spät: nun war es schon gesagt. Und alles ging zum Teufel! Hatte dieses Wort Iwan Iwanowitsch, als es unter vier Augen ausgesprochen wurde, schon empört und einen Zorn in ihm erregt, in dem ich keinen Menschen sehen möchte, dann wird sich der liebe Leser denken können, was geschah, als dieses mörderische Wort vor einem großen Kreise ausgesprochen wurde, dem auch viele Damen angehörten, in deren Gesellschaft sich Iwan Iwanowitsch besonders wohlanständig zu benehmen liebte! Hätte es Iwan Nikiforowitsch nur ein bißchen anders angefaßt, hätte er ›Vogel‹ gesagt statt ›Gänserich‹, dann wäre immer noch die Möglichkeit gewesen, alles wieder gutzumachen. Jetzt aber war es einfach aus! Er warf Iwan Nikiforowitsch einen Blick zu – oh, und was für einen Blick! Hätte dieser Blick vollziehende Gewalt gehabt, so wäre sicherlich Iwan Nikiforowitsch auf der Stelle in Staub verwandelt worden. Und die andern Gäste fühlten auch, was dieser Blick bedeutete – sie trennten die gewesenen Freunde schleunigst. Und der sanfte Mensch, der nie an einer Bettlerin vorüberging, ohne sie nach allem auszufragen, ging in fürchterlicher Wut nach Hause. So gewaltige Stürme bringt die Leidenschaft hervor!

Einen vollen Monat hörte man nichts weiter von Iwan Iwanowitsch. Er schloß sich ab vor aller Welt und machte die Schatulle auf, die ein Familienerbstück war. Was aber holte er daraus hervor? Was glaubt ihr? Silberrubel! Alte Silberrubel, die dort seit Großvaters Zeiten ruhten. Und die Silberrubel nahmen ihren Weg in die verschmutzten Hände widerlicher Tintenschmierer. Der Prozeß ging weiter an das Bezirksgericht. Erst als Iwan Iwanowitsch die frohe Botschaft hörte, daß die Sache morgen endgültig entschieden werde, zeigte er sich wieder vor der Welt und wagte sich aus seinem Haus. Doch o weh: seitdem hat das Bezirksgericht jeden geschlagnen Tag erklärt, daß morgen die Entscheidung fallen würde, und das nun schon seit zehn Jahren.

Fünf Jahre sind es jetzt, seit ich zum letztenmal durch Mirgorod kam. Ich reiste damals zu ungünstiger Zeit, im Herbst, bei traurig feuchtem Wetter, Schmutz und Nebel. Ein Grün, das beinah unnatürlich wirkte und die Ausgeburt der ewigen, langweiligen Regengüsse war, bedeckte Flur und Feld mit einem dürftigen Netz und stand ihnen so an, wie Narrenspossen einem alten Mann und Rosen einer Greisin zu Gesicht stehn. Das Wetter hatte damals starke Einwirkung auf meine Stimmung – war es trüb, so war auch meine Laune trüb. Und doch, als ich nun Mirgorod näher kam, da fühlte ich mein Herz lebhafter pochen. Gott, alle die Erinnerungen! Seit zwölf Jahren hatte ich den Ort nicht mehr gesehn. Und damals lebten hier in rührender und vorbildlicher Freundschaft zwei wahrhaft seltne Männer, zwei wahrhaft seltne Freunde. Und wie viele bekannte Leute waren unterdes gestorben! Beispielsweise war der Richter schon aus dieser Welt geschieden, und Iwan Iwanowitsch mit dem scheelen Auge hatte sich gleichfalls empfohlen. Ich kam in die Hauptstraße; wohin man blickte, standen Stangen mit darangebundnen Strohwischen – eine Planierung war also im Gang. Einige Hütten waren abgerissen, und die Überreste ihrer Flechtwerkzäune stachen melancholisch in die Luft.

Es war ein Feiertag; ich ließ meinen mit einer Matte überdeckten Bauernwagen vor der Kirche halten und trat mit so leisen Schritten ein, daß sich kein Mensch nach mir umschaute. Übrigens, wer hätte das auch tun sollen? Die Kirche war fast leer. Kaum ein paar Leute waren zu erblicken. Selbst die Frömmsten hatten sich wohl vor dem Schmutz gescheut. Die Kerzen wirkten in dem trüben oder, besser ausgedrückt, kränklichen Tageslicht sonderbar unbehaglich; Trauer wehte einen aus den dunklen Kirchenschiffen an; die hohen, schmalen Fenster mit den Butzenscheiben waren überströmt von Regentränen.

Ich betrat das Mittelschiff und fragte einen ehrwürdigen alten Mann mit grauem Haar: »Gestatten Sie die Frage: lebt Iwan Nikiforowitsch noch?« In diesem Augenblick sprühte die Lampe vor einem Heiligenbilde heller auf, und ihr Licht schien dem alten Mann gerade ins Gesicht. Wie staunte ich, als ich bei näherer Betrachtung merkte, daß da ein Bekannter vor mir stand! Es war Iwan Nikiforowitsch selber! Aber wie verändert sah er aus!

»Geht's Ihnen gut, Iwan Nikiforowitsch? Nein, wie Sie alt geworden sind!«

»Ja, ich bin alt geworden. Ich komm eben aus Poltawa«, erwiderte Iwan Nikiforowitsch.

»Was Sie sagen! Nach Poltawa fahren Sie bei diesem schlechten Wetter?«

»Ja, was soll man machen? Der Prozeß . . .«

Bei diesem Wort seufzte ich unwillkürlich auf.

Iwan Nikiforowitsch hörte diesen Seufzer wohl und sagte mir zum Trost: »Beruhigen Sie sich – ich hab sichre Nachricht, daß die Sache nächste Woche zur Entscheidung kommt, und zwar gewinn ich den Prozeß.«

Ich zuckte die Achseln und ging weiter, um auch nach Iwan Iwanowitsch zu fragen.

»Oh, Iwan Iwanowitsch ist hier«, sagte mir ein gefälliger Mann, »dort oben auf dem Chor.«

Und ich erblickte eine hagre Gestalt. War das Iwan Iwanowitsch? Runzeln durchfurchten sein Gesicht, das Haar war weiß wie Schnee. Nur die Pekesche hatte sich gar nicht verändert.

Nach den ersten Worten der Begrüßung sagte mir Iwan Iwanowitsch mit dem vergnügten Lächeln, das sein trichterförmiges Gesicht so liebenswürdig machte: »Soll ich Ihnen eine angenehme Neuigkeit erzählen?«

»Was für eine Neuigkeit?« erkundigte ich mich.

»Morgen wird mein Prozeß bestimmt entschieden; das Bezirksgericht hat es mir fest zugesagt.«

Ich seufzte noch viel tiefer, nahm dann schleunigst Abschied – weil ich in einer wichtigen Sache unterwegs war – und setzte mich in mein Gefährt. Die magren Gäule, die in Mirgorod Kurierpferde vorstellen müssen, zogen an und machten mit den Hufen, die tief in dem grauen Dreck versanken, ein den Ohren unsympathisches Geräusch. Der Regen goß in Strömen auf den Juden nieder, der in eine Matte eingewickelt auf dem Bock saß. Die Nässe ging mir durch und durch. Der traurige Schlagbaum mit der Wächterbude, darin der Invalide seine graue ›Rüstung‹ flickte, zog langsam vorbei. Und wieder freies Feld, hier aufgepflügt und schwarz, dort grünlich schimmernd, nasse Raben, eintöniger Regen und der weinerliche Himmel ohne einen hellen Fleck. – Ja, meine Herren, dies ist eine Tränenwelt!

 


 


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