Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre
Johann Wolfgang von Goethe

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Fünftes Kapitel

Sie waren unter diesem Gespräch im Garten auf und ab gegangen, Natalie hatte verschiedene Blumen von seltsamer Gestalt gebrochen, die Wilhelmen völlig unbekannt waren und nach deren Namen er fragte.

»Sie vermuten wohl nicht«, sagte Natalie, »für wen ich diesen Strauß pflücke? Er ist für meinen Oheim bestimmt, dem wir einen Besuch machen wollen. Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der Vergangenheit, ich muß Sie diesen Augenblick hineinführen, und ich gehe niemals hin, ohne einige von den Blumen, die mein Oheim besonders begünstigte, mitzubringen. Er war ein sonderbarer Mann und der eigensten Eindrücke fähig. Für gewisse Pflanzen und Tiere, für gewisse Menschen und Gegenden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er eine entschiedene Neigung, die selten erklärlich war. ›Wenn ich nicht‹, pflegte er oft zu sagen, ›mir von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der beschränkteste und unerträglichste Mensch geworden: denn nichts ist unerträglicher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Tätigkeit fordern kann.‹ Und doch mußte er selbst gestehen, daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit nachsähe und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. ›Meine Schuld ist es nicht‹, sagte er, ›wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht völlig habe in Einstimmung bringen können.‹ Bei solchen Gelegenheiten pflegte er meist über mich zu scherzen und zu sagen: ›Natalien kann man bei Leibesleben seligpreisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht.‹«

Unter diesen Worten waren sie wieder in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte ihn durch einen geräumigen Gang auf eine Türe zu, vor der zwei Sphinxe von Granit lagen. Die Türe selbst war auf ägyptische Weise oben ein wenig enger als unten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen Anblick vor. Wie angenehm ward man daher überrascht, als diese Erwartung sich in die reinste Heiterkeit auflöste, indem man in einen Saal trat, in welchem Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab aufhoben. In die Wände waren verhältnismäßige Bogen vertieft, in denen größere Sarkophagen standen; in den Pfeilern dazwischen sah man kleinere Öffnungen, mit Aschenkästchen und Gefäßen geschmückt; die übrigen Flächen der Wände und des Gewölbes sah man regelmäßig abgeteilt und zwischen heitern und mannigfaltigen Einfassungen, Kränzen und Zieraten heitere und bedeutende Gestalten in Feldern von verschiedener Größe gemalt. Die architektonischen Glieder waren mit dem schönen gelben Marmor, der ins Rötliche hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen von einer glücklichen chemischen Komposition ahmten den Lasurstein nach und gaben, indem sie gleichsam in einem Gegensatz das Auge befriedigten, dem Ganzen Einheit und Verbindung. Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar, und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne.

Der Türe gegenüber sah man auf einem prächtigen Sarkophagen das Marmorbild eines würdigen Mannes, an ein Polster gelehnt. Er hielt eine Rolle vor sich und schien mit stiller Aufmerksamkeit daraufzublicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: »Gedenke zu leben!«

Natalie, indem sie einen verwelkten Strauß wegnahm, legte den frischen vor das Bild des Oheims; denn er selbst war in der Figur vorgestellt, und Wilhelm glaubte sich noch der Züge des alten Herrn zu erinnern, den er damals im Walde gesehen hatte. »Hier brachten wir manche Stunde zu«, sagte Natalie, »bis dieser Saal fertig war. In seinen letzten Jahren hatte er einige geschickte Künstler an sich gezogen, und seine beste Unterhaltung war, die Zeichnungen und Kartone zu diesen Gemälden aussinnen und bestimmen zu helfen.«

Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstände freuen, die ihn umgaben. »Welch ein Leben«, rief er aus, »in diesem Saale der Vergangenheit! Man könnte ihn ebensogut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles, und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich als der eine, der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf.«

Wilhelms Augen schweiften auf unzählige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ruhigen, abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man in schöner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborne Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen. Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt, den Krug aus dem klaren Wasser wieder heraufzuheben, und indessen ihr Bild gefällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen, zeigte sich alles bedeutend und kräftig.

Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stätte umgab, und außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten erregten, außer den Empfindungen, welche sie einflößten, schien noch etwas andres gegenwärtig zu sein, wovon der ganze Mensch sich angegriffen fühlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu können. »Was ist das«, rief er aus, »das, unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an, ohne daß ich jenes begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte! Welchen Zauber ahn ich in diesen Flächen, diesen Linien, diesen Höhen und Breiten, diesen Massen und Farben! Was ist es, das diese Figuren, auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierat so erfreulich macht? Ja, ich fühle, man könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen fassen, sich glücklich finden und ganz etwas andres fühlen und denken als das, was vor Augen steht.«

Und gewiß, könnten wir beschreiben, wie glücklich alles eingeteilt war, wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegensatz, durch Einfärbigkeit oder Buntheit alles bestimmt, so und nicht anders erschien, als es erscheinen sollte, und eine so vollkommene als deutliche Wirkung hervorbrachte, so würden wir den Leser an einen Ort versetzen, von dem er sich so bald nicht zu entfernen wünschte.

Vier große marmorne Kandelaber standen in den Ecken des Saals, vier kleinere in der Mitte um einen sehr schön gearbeiteten Sarkophag, der seiner Größe nach eine junge Person von mittlerer Gestalt konnte enthalten haben.

Natalie blieb bei diesem Monumente stehen, und indem sie die Hand darauflegte, sagte sie: »Mein guter Oheim hatte große Vorliebe zu diesem Werke des Altertums. Er sagte manchmal: ›Nicht allein die ersten Blüten fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Räumen verwahren könnt, sondern auch Früchte, die am Zweige hängend uns noch lange die schönste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet.‹ Ich fürchte«, fuhr sie fort, »er hat auf das liebe Mädchen geweissagt, das sich unserer Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu neigen scheint.«

Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: »Ich muß Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Bemerken Sie diese halbrunden Öffnungen in der Höhe auf beiden Seiten! Hier können die Chöre der Sänger verborgen stehen, und diese ehrnen Zieraten unter dem Gesimse dienen, die Teppiche zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bei jeder Bestattung aufgehängt werden sollen. Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne Gesang leben und hatte dabei die Eigenheit, daß er die Sänger nicht sehen wollte. Er pflegte zu sagen: ›Das Theater verwöhnt uns gar zu sehr, die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen. Bei Oratorien und Konzerten stört uns immer die Gestalt des Musikus; die wahre Musik ist allein fürs Ohr; eine schöne Stimme ist das Allgemeinste, was sich denken läßt, und indem das eingeschränkte Individuum, das sie hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstört es den reinen Effekt jener Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch, dessen Gestalt und Charakter die Rede wert oder unwert macht; hingegen wer mir singt, soll unsichtbar sein; seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irremachen. Hier spricht nur ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht eine tausendfältige Welt zum Auge, nicht ein Himmel zum Menschen.‹ Ebenso wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester soviel als möglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bemühungen und durch die notdürftigen, immer seltsamen Gebärden der Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt werde. Er pflegte daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören, um sein ganzes Dasein auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu konzentrieren.«

Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange heftig laufen und den Felix rufen hörten: »Nein ich! nein ich!«

Mignon warf sich zuerst zur geöffneten Türe herein; sie war außer Atem und konnte kein Wort sagen; Felix, noch in einiger Entfernung, rief: »Mutter Therese ist da!« Die Kinder hatten, so schien es, die Nachricht zu überbringen, einen Wettlauf angestellt. Mignon lag in Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam.

»Böses Kind«, sagte Natalie, »ist dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? Sieh, wie dein Herz schlägt!«

»Laß es brechen!« sagte Mignon mit einem tiefen Seufzer, »es schlägt schon zu lange.«

Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Bestürzung kaum erholt, als Therese hereintrat. Sie flog auf Natalien zu, umarmte sie und das gute Kind. Dann wendete sie sich zu Wilhelmen, sah ihn mit ihren klaren Augen an und sagte: »Nun, mein Freund, wie steht es, Sie haben sich doch nicht irremachen lassen?« Er tat einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse. »O meine Therese!« rief er aus.

»Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine!« rief sie unter den lebhaftesten Küssen.

Felix zog sie am Rocke und rief: »Mutter Therese, ich bin auch da!« Natalie stand und sah vor sich hin; Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder.

Der Schrecken war groß: keine Bewegung des Herzens noch des Pulses war zu spüren. Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf, der schlotternde Körper hing über seine Schultern. Die Gegenwart des Arztes gab wenig Trost; er und der junge Wundarzt, den wir schon kennen, bemühten sich vergebens. Das liebe Geschöpf war nicht ins Leben zurückzurufen.

Natalie winkte Theresen. Diese nahm ihren Freund bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Er war stumm und ohne Sprache und hatte den Mut nicht, ihren Augen zu begegnen. So saß er neben ihr auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zuerst angetroffen hatte. Er dachte mit großer Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er dachte nicht, er ließ das auf seine Seele wirken, was er nicht entfernen konnte. Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die Begebenheiten gleich geflügelten Weberschiffchen vor uns sich hin und wider bewegen und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder weniger selbst gesponnen und angelegt haben. »Mein Freund!« sagte Therese; »mein Geliebter!« indem sie das Stillschweigen unterbrach und ihn bei der Hand nahm, »laß uns diesen Augenblick fest zusammenhalten, wie wir noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen, werden zu tun haben. Dies sind die Ereignisse, welche zu ertragen man zu zweien in der Welt sein muß. Bedenke, mein Freund, fühle, daß du nicht allein bist, zeige, daß du deine Therese liebst, zuerst dadurch, daß du deine Schmerzen ihr mitteilst!« Sie umarmte ihn und schloß ihn sanft an ihren Busen; er faßte sie in seine Arme und drückte sie mit Heftigkeit an sich. »Das arme Kind«, rief er aus, »suchte in traurigen Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen; laß die Sicherheit des deinigen mir in dieser schrecklichen Stunde zugute kommen.« Sie hielten sich fest umschlossen, er fühlte ihr Herz an seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es öde und leer; nur die Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft.

Natalie trat herein. »Gib uns deinen Segen!« rief Therese, »laß uns in diesem traurigen Augenblicke von dir verbunden sein.« Wilhelm hatte sein Gesicht an Theresens Halse verborgen; er war glücklich genug, weinen zu können. Er hörte Natalien nicht kommen, er sah sie nicht, nur bei dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Tränen. »Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden«, sagte Natalie lächelnd, »aber verbinden kann ich euch nicht und kann nicht loben, daß Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder völlig aus euren Herzen zu verbannen scheint.« Wilhelm riß sich bei diesen Worten aus den Armen Theresens. »Wo wollen Sie hin?« riefen beide Frauen. »Lassen Sie mich das Kind sehen«, rief er aus, »das ich getötet habe! Das Unglück, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als wenn unsere Einbildungskraft das Übel gewaltsam in unser Gemüt einsenkt; lassen Sie uns den abgeschiedenen Engel sehen! Seine heitere Miene wird uns sagen, daß ihm wohl ist!« Da die Freundinnen den bewegten Jüngling nicht abhalten konnten, folgten sie ihm; aber der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entgegenkam, hielt sie ab, sich der Verblichenen zu nähern, und sagte: »Halten Sie sich von diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daß ich den Resten dieses sonderbaren Wesens, soviel meine Kunst vermag, einige Dauer gebe. Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu erhalten, bei diesem geliebten Geschöpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraussah, habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem Gehülfen hier soll mir's gelingen. Erlauben Sie mir nur noch einige Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben.«

Der junge Chirurgus hatte jene merkwürdige Instrumententasche wieder in Händen. »Von wem kann er sie wohl haben?« fragte Wilhelm den Arzt. »Ich kenne sie sehr gut«, versetzte Natalie, »er hat sie von seinem Vater, der Sie damals im Walde verband.«

»Oh, so habe ich mich nicht geirrt,« rief Wilhelm, »ich erkannte das Band sogleich! Treten Sie mir es ab! Es brachte mich zuerst wieder auf die Spur von meiner Wohltäterin. Wieviel Wohl und Wehe überdauert nicht ein solches lebloses Wesen! Bei wieviel Schmerzen war dies Band nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer! Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen! Es war gegenwärtig in einem der schönsten Augenblicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag und Ihre hülfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit blutigen Haaren, mit der zärtlichsten Sorgfalt für mein Leben besorgt war, dessen frühzeitigen Tod wir nun beweinen.«

Die Freunde hatten nicht lange Zeit, sich über diese traurige Begebenheit zu unterhalten und Fräulein Theresen über das Kind und über die wahrscheinliche Ursache seines unerwarteten Todes aufzuklären; denn es wurden Fremde gemeldet, die, als sie sich zeigten, keinesweges fremd waren. Lothario, Jarno, der Abbé traten herein. Natalie ging ihrem Bruder entgegen; unter den übrigen entstand ein augenblickliches Stillschweigen. Therese sagte lächelnd zu Lothario: »Sie glaubten wohl kaum, mich hier zu finden; wenigstens ist es eben nicht rätlich, daß wir uns in diesem Augenblick aufsuchen; indessen sein Sie mir nach einer so langen Abwesenheit herzlich gegrüßt.«

Lothario reichte ihr die Hand und versetzte: »Wenn wir einmal leiden und entbehren sollen, so mag es immerhin auch in der Gegenwart des geliebten, wünschenswerten Gutes geschehen. Ich verlange keinen Einfluß auf Ihre Entschließung, und mein Vertrauen auf Ihr Herz, auf Ihren Verstand und reinen Sinn ist noch immer so groß, daß ich Ihnen mein Schicksal und das Schicksal meines Freundes gerne in die Hand lege.«

Das Gespräch wendete sich sogleich zu allgemeinen, ja man darf sagen, zu unbedeutenden Gegenständen. Die Gesellschaft trennte sich bald zum Spazierengehen in einzelne Paare. Natalie war mit Lothario, Therese mit dem Abbé gegangen, und Wilhelm war mit Jarno auf dem Schlosse geblieben.


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