Johann Wolfgang Goethe
Italienische Reise
Johann Wolfgang Goethe

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Den 6. Januar.

Daß ich auch einmal wieder von kirchlichen Dingen rede, so will ich erzählen, daß wir die Christnacht herumschwärmten und die Kirchen besuchten, wo Funktionen gehalten werden. Eine besonders ist sehr besucht, deren Orgel und Musik überhaupt so eingerichtet ist, daß zu einer Pastoral-Musik nichts an Klängen abgeht, weder die Schalmeien der Hirten, noch das Zwitschern der Vögel, noch das Blöken der Schafe.

Am ersten Christfeste sah ich den Papst und die ganze Klerisei in der Peterskirche, da er zum Teil vor dem Thron, zum Teil vom Thron herab das Hochamt hielt. Es ist ein einziges Schauspiel in seiner Art, prächtig und würdig genug, ich bin aber im protestantischen Diogenismus so alt geworden, daß mir diese Herrlichkeit mehr nimmt als gibt; ich möchte auch wie mein frommer Vorfahre zu diesen geistlichen Weltüberwindern sagen: »Verdeckt mir doch nicht die Sonne höherer Kunst und reiner Menschheit.«

Heute, als am Dreikönigsfeste, habe ich die Messe nach griechischem Ritus vortragen sehen und hören. Die Zeremonien scheinen mir stattlicher, strenger, nachdenklicher und doch populärer als die lateinischen.

Auch da hab' ich wieder gefühlt, daß ich für alles zu alt bin, nur fürs Wahre nicht. Ihre Zeremonien und Opern, ihre Umgänge und Ballette, es fließt alles wie Wasser von einem Wachstuchmantel an mir herunter. Eine Wirkung der Natur hingegen wie der Sonnenuntergang, von Villa Madama gesehen, ein Werk der Kunst wie die viel verehrte Juno machen tiefen und bleibenden Eindruck.

Nun graut mir schon vor dem Theaterwesen. Die nächste Woche werden sieben Bühnen eröffnet. Anfossi ist selbst hier und gibt »Alexander in Indien«; auch wird ein »Cyrus« gegeben und die »Eroberung von Troja« als Ballett. Das wäre was für die Kinder.

 
Den 10. Januar.

Hier folgt denn also das Schmerzenskind, denn dieses Beiwort verdient »Iphigenia«, aus mehr als einem Sinne. Bei Gelegenheit, daß ich sie unsern Künstlern vorlas, strich ich verschiedene Zeilen an, von denen ich einige nach meiner Überzeugung verbesserte, die andern aber stehenlasse, ob vielleicht Herder ein paar Federzüge hineintun will. Ich habe mich daran ganz stumpf gearbeitet.

Denn warum ich die Prosa seit mehreren Jahren bei meinen Arbeiten vorzog, daran war doch eigentlich schuld, daß unsere Prosodie in der größten Unsicherheit schwebt, wie denn meine einsichtigen, gelehrten, mitarbeitenden Freunde die Entscheidung mancher Fragen dem Gefühl, dem Geschmack anheimgeben, wodurch man denn doch aller Richtschnur ermangelte.

»Iphigenia« in Jamben zu übersetzen, hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens »Prosodie« nicht ein Leitstern erschienen. Der Umgang mit dem Verfasser, besonders während seines Krankenlagers, hat mich noch mehr darüber aufgeklärt, und ich ersuche die Freunde, darüber mit Wohlwollen nachzudenken.

Es ist auffallend, daß wir in unserer Sprache nur wenige Silben finden, die entschieden kurz oder lang sind. Mit den andern verfährt man nach Geschmack oder Willkür. Nun hat Moritz ausgeklügelt, daß es eine gewisse Rangordnung der Silben gebe, und daß die dem Sinne nach bedeutendere gegen eine weniger bedeutende lang sei und jene kurz mache, dagegen aber auch wieder kurz werden könne, wenn sie in die Nähe von einer andern gerät, welche mehr Geistesgewicht hat. Hier ist denn doch ein Anhalten, und wenn auch damit nicht alles getan wäre, so hat man doch indessen einen Leitfaden, an dem man sich hinschlingen kann. Ich habe diese Maxime öfters zu Rate gezogen und sie mit meiner Empfindung übereinstimmend getroffen.

Da ich oben von einer Vorlesung sprach, so muß ich doch auch, wie es damit zugegangen, kürzlich erwähnen. Diese jungen Männer, an jene früheren, heftigen, vordringenden Arbeiten gewöhnt, erwarteten etwas Berlichingisches und konnten sich in den ruhigen Gang nicht gleich finden; doch verfehlten die edlen und reinen Stellen nicht ihre Wirkung. Tischbein, dem auch diese fast gänzliche Entäußerung der Leidenschaft kaum zu Sinne wollte, brachte ein artiges Gleichnis oder Symbol zum Vorschein. Er verglich es einem Opfer, dessen Rauch, von einem sanften Luftdruck niedergehalten, an der Erde hinzieht, indessen die Flamme freier nach der Höhe zu gewinnen sucht. Er zeichnete dies sehr hübsch und bedeutend. Das Blättchen lege ich bei.

Und so hat mich denn diese Arbeit, über die ich bald hinauszukommen dachte, ein völliges Vierteljahr unterhalten und aufgehalten, mich beschäftigt und gequält. Es ist nicht das erste Mal, daß ich das Wichtigste nebenher tue, und wir wollen darüber nicht weiter grillisieren und rechten.

Einen hübschen geschnittenen Stein lege ich bei, ein Löwchen, dem eine Bremse vor der Nase schnurrt. Die Alten liebten diesen Gegenstand und haben ihn oft wiederholt. Ich wünsche, daß ihr damit künftig eure Briefe siegelt, damit durch diese Kleinigkeit eine Art von Kunstecho von euch zu mir herüberschalle.

 
Den 13. Januar 1787.

Wieviel hätte ich jeden Tag zu sagen, und wie sehr hält mich Anstrengung und Zerstreuung ab, ein kluges Wort aufs Papier zu bringen. Dazu kommen noch die frischen Tage, wo es überall besser ist als in den Zimmern, die ohne Ofen und Kamin uns nur zum Schlafen oder Mißbehagen aufnehmen. Einige Vorfälle der letzten Woche darf ich jedoch nicht unberührt lassen.

Im Palaste Giustiniani steht eine Minerva, die meine ganze Verehrung hat. Winckelmann gedenkt ihrer kaum, wenigstens nicht an der rechten Stelle, und ich fühle mich nicht würdig genug, über sie etwas zu sagen. Als wir die Statue besahen und uns lang dabei aufhielten, erzählte uns die Frau des Kustode, es sei dieses ein ehmals heiliges Bild gewesen, und die Inglesi, welche von dieser Religion seien, pflegten es noch zu verehren, indem sie ihm die eine Hand küßten, die auch wirklich ganz weiß war, da die übrige Statue bräunlich ist. Auch setzte sie hinzu, eine Dame dieser Religion sei vor kurzem dagewesen, habe sich auf die Knie niedergeworfen und die Statue angebetet. Eine so wunderliche Handlung habe sie, eine Christin, nicht ohne Lachen ansehen können und sei zum Saal hinausgelaufen, um nicht loszuplatzen. Da ich auch von der Statue nicht weg wollte, fragte sie mich, ob ich etwa eine Schöne hätte, die diesem Marmor ähnlich sähe, daß er mich so sehr anzöge. Das gute Weib kannte nur Anbetung und Liebe, aber von der reinen Bewunderung eines herrlichen Werkes, von der brüderlichen Verehrung eines Menschengeistes konnte sie keinen Begriff haben. Wir freuten uns über das englische Frauenzimmer und gingen weg mit der Begier, umzukehren, und ich werde gewiß bald wieder hingehen. Wollen meine Freunde ein näheres Wort hören, so lesen sie, was Winckelmann vom hohen Stil der Griechen sagt. Leider führt er dort diese Minerva nicht an. Wenn ich aber nicht irre, so ist sie von jenem hohen, strengen Stil, da er in den schönen übergeht, die Knospe, indem sie sich öffnet, und nun eine Minerva, deren Charakter eben dieser Übergang so wohl ansteht!

Nun von einem Schauspiel anderer Art! Am Dreikönigstage, am Feste des Heils, das den Heiden verkündigt worden, waren wir in der Propaganda. Dort ward in Gegenwart dreier Kardinäle und eines großen Auditorii erst eine Rede gehalten, an welchem Orte Maria die drei Magos empfangen, im Stalle oder wo sonst? Dann nach verlesenen einigen lateinischen Gedichten ähnliches Gegenstandes traten bei dreißig Seminaristen nach und nach auf und lasen kleine Gedichte, jeder in seiner Landessprache: Malabarisch, Epirotisch, Türkisch, Moldauisch, Elenisch, Persisch, Kolchisch, Hebräisch, Arabisch, Syrisch, Koptisch, Sarazenisch, Armenisch, Hibernisch, Madagaskarisch, Isländisch, Boisch, Ägyptisch, Griechisch, Isaurisch, Äthiopisch etc. und mehrere, die ich nicht verstehen konnte. Die Gedichtchen schienen, meist im Nationalsilbenmaße verfaßt, mit der Nationaldeklamation vorgetragen zu werden; denn es kamen barbarische Rhythmen und Töne hervor. Das Griechische klang, wie ein Stern in der Nacht erscheint. Das Auditorium lachte unbändig über die fremden Stimmen, und so ward auch diese Vorstellung zur Farce.

Nun noch ein Geschichtchen, wie lose man im heiligen Rom das Heilige behandelt. Der verstorbene Kardinal Albani war in einer solchen Festversammlung, wie ich sie eben beschrieben. Einer der Schüler fing in einer fremden Mundart an, gegen die Kardinäle gewendet: »Gnaja! gnaja!«, so daß es ungefähr klang wie »Canaglia! canaglia!«. Der Kardinal wendete sich zu seinen Mitbrüdern und sagte: »Der kennt uns doch!«

 
Den 13. Januar.

Wieviel tat Winckelmann nicht, und wieviel ließ er uns zu wünschen übrig! Mit den Materialien, die er sich zueignete, hatte er so geschwind gebaut, um unter Dach zu kommen. Lebte er noch, und er könnte noch frisch und gesund sein, so wäre er der erste, der uns eine Umarbeitung seines Werks gäbe. Was hätte er nicht noch beobachtet, was berichtigt, was benutzt, das von andern nach seinen Grundsätzen getan und beobachtet, neuerdings ausgegraben und entdeckt worden. Und dann wäre der Kardinal Albani tot, dem zuliebe er manches geschrieben und vielleicht manches verschwiegen hat.

 
Den 15. Januar 1787.

Und so ist denn endlich auch »Aristodem«, und zwar sehr glücklich und mit dem größten Beifall, aufgeführt. Da Abbate Monti zu den Hausverwandten des Nepoten gehört und in den obern Ständen sehr geschätzt ist, so war von daher alles Gute zu hoffen. Auch sparten die Logen ihren Beifall nicht. Das Parterre war gleich von vornherein durch die schöne Diktion des Dichters und die treffliche Rezitation der Schauspieler gewonnen, und man versäumte keine Gelegenheit, seine Zufriedenheit an den Tag zu legen. Die deutsche Künstlerbank zeichnete sich dabei nicht wenig aus, und es war diesmal ganz am Platze, da sie überhaupt ein wenig vorlaut ist.

Der Verfasser war zu Hause geblieben, voller Sorge wegen des Gelingens des Stücks, von Akt zu Akt kamen günstige Botschaften, welche nach und nach seine Besorglichkeit in die größte Freude verwandelten. Nun fehlt es nicht an Wiederholung der Vorstellung, und alles ist in dem besten Gleise. So kann man durch die entgegengesetztesten Dinge, wenn nur jedes sein ausgesprochenes Verdienst hat, den Beifall der Menge sowohl als der Kenner erwerben.

Aber die Vorstellung war auch sehr löblich, und der Hauptakteur, der das ganze Stück ausfüllt, sprach und spielte vortrefflich: man glaubte einen der alten Kaiser auftreten zu sehen. Sie hatten das Kostüm, das uns an den Statuen so sehr imponiert, recht gut in Theaterpracht übersetzt, und man sah dem Schauspieler an, daß er die Antiken studiert hatte.


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