Johann Wolfgang Goethe
Clavigo
Johann Wolfgang Goethe

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Dritter Akt

Guilberts Wohnung

Sophie Guilbert. Marie Beaumarchais.

Marie. Du hast ihn gesehen? Mir zittern alle Glieder! Du hast ihn gesehen? ich war nah an einer Ohnmacht, als ich hörte, er käme, und du hast ihn gesehn? Nein, ich kann, ich werde, nein, ich kann ihn nie wieder sehn.

Sophie. Ich war außer mir, als er hereintrat; denn ach! liebt ich ihn nicht, wie du, mit der vollsten, reinsten, schwesterlichsten Liebe? Hat mich nicht seine Entfernung gekränkt, gemartert? – Und nun, den Rückkehrenden, den Reuigen zu meinen Füßen – Schwester! es ist so was Bezauberndes in seinem Anblick, in dem Ton seiner Stimme. Er –

Marie. Nimmer, nimmermehr!

Sophie. Er ist noch der alte, noch ebendas gute, sanfte, fühlbare Herz, noch ebendie Heftigkeit der Leidenschaft. Es ist noch ebendie Begier, geliebt zu werden, und das ängstliche, marternde Gefühl, wenn ihm Neigung versagt wird. Alles! alles! Und von dir spricht er, Marie! wie in jenen glücklichen Tagen der feurigsten Leidenschaft; es ist, als wenn dein guter Geist diesen Zwischenraum von Untreu und Entfernung selbst veranlaßt habe, um das Einförmige, Schleppende einer langen Bekanntschaft zu unterbrechen und dem Gefühl eine neue Lebhaftigkeit zu geben.

Marie. Du redst ihm das Wort?

Sophie. Nein, Schwester, auch versprach ich's ihm nicht. Nur, meine Beste, seh ich die Sachen, wie sie sind. Du und der Bruder, ihr seht sie in einem allzu romantischen Lichte. Du hast das mit gar manchem guten Kinde gemein, daß dein Liebhaber treulos ward und dich verließ! Und daß er wiederkommt, reuig seinen Fehler verbessern, alle alte Hoffnungen erneuern will – das ist ein Glück, das eine andere nicht leicht von sich stoßen würde.

Marie. Mein Herz würde reißen!

Sophie. Ich glaube dir. Der erste Anblick muß auf dich eine empfindliche Wirkung machen – und dann, meine Beste, ich bitte dich, halt diese Bangigkeit, diese Verlegenheit, die dir alle Sinne zu übermeistern scheint, nicht für eine Wirkung des Hasses, für keinen Widerwillen. Dein Herz spricht mehr für ihn, als du es glaubst, und eben darum traust du dich nicht, ihn wiederzusehen, weil du seine Rückkehr so sehnlich wünschest.

Marie. Sei barmherzig!

Sophie. Du sollst glücklich werden. Fühlt ich, daß du ihn verachtetest, daß er dir gleichgültig wäre, so wollt ich kein Wort weiter reden, so sollt er mein Angesicht nicht mehr sehen. Doch so, meine Liebe – Du wirst mir danken, daß ich dir geholfen habe, diese ängstliche Unbestimmtheit zu überwinden, die ein Zeichen der innigsten Liebe ist.

Die Vorigen. Guilbert. Buenko.

Sophie. Kommen Sie, Buenco! Guilbert, kommen Sie! Helft mir dieser Kleinen Mut einsprechen, Entschlossenheit, jetzt, da es gilt.

Buenco. Ich wollte, daß ich sagen dürfte: Nehmt ihn nicht wieder an!

Sophie. Buenco!

Buenco. Mein Herz wirft sich mir im Leib herum bei dem Gedanken: Er soll diesen Engel noch besitzen, den er so schändlich beleidigt, den er an das Grab geschleppt hat. Und besitzen? – warum? – wodurch macht er das all wieder gut, was er verbrochen hat? – Daß er wiederkehrt, daß ihm auf einmal beliebt, wiederzukehren und zu sagen: »Jetzt mag ich sie, jetzt will ich sie!« – Just als wäre diese treffliche Seele eine verdächtige Ware, die man am Ende dem Käufer doch noch nachwirft, wenn er auch schon durch die niedrigsten Gebote und jüdisches Ab- und Zulaufen bis aufs Mark gequält hat. Nein, meine Stimme kriegt er nicht, und wenn Mariens Herz selbst für ihn spräche. – Wiederzukommen, und warum denn jetzt? – jetzt? – Mußte er warten, bis ein tapferer Bruder käme, dessen Rache er fürchten muß, um wie ein Schulknabe zu kommen und Abbitte zu tun? – Ha! er ist so feig, als er nichtswürdig ist!

Guilbert. Ihr redet wie ein Spanier, und als wenn Ihr die Spanier nicht kenntet. Wir schweben diesen Augenblick in einer größern Gefahr, als ihr alle nicht seht.

Marie. Bester Guilbert!

Guilbert. Ich ehre die unternehmende Seele unsers Bruders, ich habe im stillen seinem Heldengange zugesehn und wünsche, daß alles gut ausschlagen möge, wünsche, daß Marie sich entschließen könnte, Clavigo ihre Hand zu geben, denn – lächelnd ihr Herz hat er doch. –

Marie. Ihr seid grausam.

Sophie. Hör ihn! ich bitte dich, hör ihn!

Guilbert. Dein Bruder hat ihm eine Erklärung abgedrungen, die dich vor den Augen aller Welt rechtfertigen soll, und die wird uns verderben.

Buenco. Wie?

Marie. O Gott!

Guilbert. Er stellte sie aus in der Hoffnung, dich zu bewegen. Bewegt er dich nicht, so muß er alles anwenden, um das Papier zu vernichten; er kann's, er wird's. Dein Bruder will es gleich nach seiner Rückkehr von Aranjuez drucken und ausstreuen. Ich fürchte, wenn du beharrest, er wird nicht zurückkehren.

Sophie. Lieber Guilbert!

Marie. Ich vergehe!

Guilbert. Clavigo kann das Papier nicht auskommen lassen. Verwirfst du seinen Antrag und er ist ein Mann von Ehre, so geht er deinem Bruder entgegen, und einer von beiden bleibt; und dein Bruder sterbe oder siege, er ist verloren. Ein Fremder in Spanien! Mörder dieses geliebten Höflings! – Schwester, es ist ganz gut, daß man edel denkt und fühlt; nur, sich und die Seinigen zugrunde zu richten –

Marie. Rate mir, Sophie, hilf mir!

Guilbert. Und, Buenco, widerlegen Sie mich!

Buenco. Er wagt's nicht, er fürchtet für sein Leben; sonst hätt er gar nicht geschrieben, sonst böt er Marien seine Hand nicht an.

Guilbert. Desto schlimmer; so findet er hundert, die ihm ihren Arm leihen, hundert, die unserm Bruder tückisch auf dem Wege das Leben rauben. Ha! Buenco, bist du so jung? Ein Hofmann sollte keine Meuchelmörder im Sold haben?

Buenco. Der König ist groß und gut.

Guilbert. Auf denn! Durch all die Mauern, die ihn umschließen, die Wachen, das Zeremoniell und all das, womit die Hofschranzen ihn von seinem Volke geschieden haben, dringen Sie durch und retten Sie uns! – Wer kommt?

Clavigo kommt.

Clavigo. Ich muß! Ich muß!

Marie tut einen Schrei und fällt Sophien in die Arme.

Sophie. Grausamer! in welchen Zustand versetzen Sie uns!

Guilbert und Buenco treten zu ihr.

Clavigo. Ja, sie ist's! Sie ist's! Und ich bin Clavigo. – Hören Sie mich, Beste, wenn Sie mich nicht ansehen wollen! Zu der Zeit, da mich Guilbert mit Freundlichkeit in sein Haus aufnahm, da ich ein armer unbedeutender Junge war, da ich in meinem Herzen eine unüberwindliche Leidenschaft für Sie fühlte, war's da Verdienst an mir? Oder war's nicht vielmehr innere Übereinstimmung der Charaktere, geheime Zuneigung des Herzens, daß auch Sie für mich nicht unempfindlich blieben, daß ich nach einer Zeit mir schmeicheln konnte, dies Herz ganz zu besitzen? Und nun – bin ich nicht ebenderselbe? Warum soll ich nicht hoffen dürfen? warum nicht bitten? Wollten Sie einen Freund, einen Geliebten, den Sie nach einer gefährlichen, unglücklichen Seereise lange für verloren geachtet, nicht wieder an Ihren Busen nehmen, wenn er unvermutet wiederkäme und sein gerettetes Leben zu Ihren Füßen legte? Und habe ich weniger auf einem stürmischen Meere diese Zeit geschwebet? Sind unsere Leidenschaften, mit denen wir im ewigen Streit leben, nicht schrecklicher, unbezwinglicher als jene Wellen, die den Unglücklichen fern von seinem Vaterlande verschlagen! Marie! Marie! Wie können Sie mich hassen, da ich nie aufgehört habe, Sie zu lieben? Mitten in allem Taumel, durch all den verführerischen Gesang der Eitelkeit und des Stolzes hab ich mich immer jener seligen unbefangenen Tage erinnert, die ich in glücklicher Einschränkung zu Ihren Füßen zubrachte, da wir eine Reihe von blühenden Aussichten vor uns liegen sahen. – Und nun, warum wollten Sie nicht mit mir alles erfüllen, was wir hofften? Wollen Sie das Glück des Lebens nun nicht ausgenießen, weil ein düsterer Zwischenraum sich unsern Hoffnungen eingeschoben hatte? Nein, meine Liebe, glauben Sie, die besten Freuden der Welt sind nicht ganz rein; die höchste Wonne wird auch durch unsere Leidenschaften, durch das Schicksal unterbrochen. Wollen wir uns beklagen, daß es uns gegangen ist wie allen andern, und wollen wir uns strafbar machen, indem wir diese Gelegenheit von uns stoßen, das Vergangene herzustellen, eine zerrüttete Familie wieder aufzurichten, die heldenmütige Tat eines edlen Bruders zu belohnen und unser eigen Glück auf ewig zu befestigen? – Meine Freunde, um die ich's nicht verdient habe, meine Freunde, die es sein müssen, weil Sie Freunde der Tugend sind, zu der ich rückkehre, verbinden Sie Ihr Flehen mit dem meinigen! Marie! Er wirft sich nieder. Marie! Kennst du meine Stimme nicht mehr? Vernimmst du nicht mehr den Ton meines Herzens? Marie! Marie!

Marie. O Clavigo!

Clavigo springt auf und faßt ihre Hand mit entzückten Küssen. Sie vergibt mir, sie liebt mich! Er umarmt den Guilbert, den Buenco. Sie liebt mich noch! O Marie, mein Herz sagte mir's! Ich hätte mich zu deinen Füßen werfen, stumm meinen Schmerz, meine Reue ausweinen wollen; du hättest mich ohne Worte verstanden, wie ich ohne Worte meine Vergebung erhalte. Nein, diese innige Verwandtschaft unserer Seelen ist nicht aufgehoben; nein, sie vernehmen einander noch wie ehemals, wo kein Laut, kein Wink nötig war, um die innersten Bewegungen sich mitzuteilen. Marie – Marie – Marie! –

Beaumarchais tritt auf.

Beaumarchais. Ha!

Clavigo, ihm entgegen fliegend. Mein Bruder!

Beaumarchais. Du vergibst ihm?

Marie. Laßt, laßt mich! Meine Sinnen vergehn. Man führt sie weg.

Beaumarchais. Sie hat ihm vergeben?

Buenco. Es sieht so aus.

Beaumarchais. Du verdienst dein Glück nicht.

Clavigo. Glaube, daß ich's fühle!

Sophie kommt zurück. Sie vergibt ihm. Ein Strom von Tränen brach aus ihren Augen. »Er soll sich entfernen«, rief sie schluchzend, »daß ich mich erhole! Ich vergeb ihm. – Ach Schwester!« rief sie, und fiel mir um den Hals, »woher weiß er, daß ich ihn so liebe?«

Clavigo, ihr die Hand küssend. Ich bin der glücklichste Mensch unter der Sonne. Mein Bruder!

Beaumarchais umarmt ihn. Von Herzen denn. Ob ich Euch schon sagen muß: noch kann ich Euch nicht lieben.Und somit seid Ihr der Unsrige, und vergessen sei alles! Das Papier, das Ihr mir gabt, hier ist's. Er nimmt's aus der Brieftasche zerreißt es und gibt's ihm hin.

Clavigo. Ich bin der Eurige, ewig der Eurige.

Sophie. Ich bitte, entfernt Euch, daß sie Eure Stimme nicht hört, daß sie sich beruhigt.

Clavigo, sie rings umarmend. Lebt wohl! Lebt wohl! – Tausend Küsse dem Engel! Ab.

Beaumarchais. Es mag denn gut sein, ob ich gleich wünschte, es wäre anders. Lächelnd. Es ist doch ein gutherziges Geschöpf, so ein Mädchen – Und, meine Freunde, auch muß ich's sagen: es war ganz der Gedanke, der Wunsch unsers Gesandten, daß ihm Marie vergeben und daß eine glückliche Heurat diese verdrießliche Geschichte endigen möge.

Guilbert. Mir ist auch wieder ganz wohl.

Buenco. Er ist Euer Schwager, und so adieu! Ihr seht mich in eurem Hause nicht wieder.

Beaumarchais. Mein Herr!

Guilbert. Buenco!

Buenco. Ich haß ihn nun einmal bis ans Jüngste Gericht. Und gebt acht, mit was für einem Menschen ihr zu tun habt! Ab.

Guilbert. Er ist ein melancholischer Unglücksvogel. Und mit der Zeit läßt er sich doch wieder bereden, wenn er sieht, es geht alles gut.

Beaumarchais. Doch war's übereilt, daß ich ihm das Papier zurückgab.

Guilbert. Laßt! Laßt! Keine Grillen! Ab.


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