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Viertes Capitel.

Constanze hatte also doch Recht gehabt, als sie den Luther des neunzehnten Jahrhunderts Caesar comicus nannte! Ernst Wagner fiel es schwer auf das Herz, ihr Unrecht gethan zu haben; aber hatte er sie bisher verachtet, so fing er nach dieser kecken, ihren Scharfblick bezeugenden Bemerkung an, sie zu scheuen. Er schämte sich vor sich selbst und vor Constanze, sich so in einem Menschen täuschen zu können; er fürchtete sie, weil er meinte, sie übersähe ihn weit und habe nicht die große Meinung von ihm, die jeder Idealist von sich selbst zu haben pflegt. Wenn er sich früher ihr nicht genähert hatte, so floh er sie jetzt absichtlich, und je mehr sie sich bestrebte, sich ihm von ihrer bedeutenden Seite zu zeigen, um so weniger wäre es ihr gelungen, ihn in ihrer Nähe zu fesseln und sein Vertrauen zu gewinnen, wenn nicht die gemeinsame Wirksamkeit an einem öffentlichen Unternehmen sie von der Gemeinsamkeit ihrer Bestrebungen überzeugt hätte.

Es war damals die Zeit, wo Eugen Sue's »Geheimnisse von Paris«, in Feuilletoncapiteln erscheinend, auch in Deutschland alle Augen auf die »socialen Zustände« gerichtet hatten. Auch in der Provinzialstadt, in welcher Ernst sich damals befand, war man so glücklich gewesen, »sociale Zustände« zu entdecken. Ein wohlmeinender Publicist hatte das fürchterliche physische und moralische Elend jener geschilderten Armenwohnungen in dem alten Kasemattengebäude aufgedeckt, und die Herzen, die über den Pariser Scenen geweint hatten, fühlten sich verpflichtet, auch bei diesen heimatlichen Schilderungen ihre Thränen nicht zurückzuhalten. Man opferte aber nicht blos Thränen; man muß es namentlich dem Theile der Nation, der sich der Bewegung des sogenannten neuen Lebens damals anschloß, zum Ruhme nachsagen, daß tausend und abertausend Hände sich rührten und öffneten, um zu zeigen, daß das Gefühl der Nächstenliebe im menschlichen Geschlechte noch nicht erstorben war und daß es vornehmlich dort erstarkte, wo die Theilnahme an den öffentlichen Dingen wahrhaft menschliche Regungen wieder erweckt hatte.

Die christkatholische Gemeinde, deren Seelsorger Ernst Wagner geworden war, hatte auf Hermann's Anregung beschlossen, zum bevorstehenden Weihnachtsfeste für mehrere hundert Armenkinder der Stadt eine reichliche Bescheerung und eine herzerhebende Feierlichkeit zu veranstalten.

Wagner, als besoldeter Beamter der Gemeinde, hatte die Leitung des Werkes zu übernehmen, und unterzog sich ihr mit allem Eifer des warmen Menschenfreundes. Er ließ sich durch keine Mühe und keine Widerwärtigkeit abhalten, um die der Unterstützung bedürftigen, vielleicht verschämten Familien herauszufinden; und als er jetzt die Wohnstätten der Armuth besuchte, lernte er erst kennen, was für Noth in der Welt es gibt. Der Nahrung und Kleidung entbehrende Arme, erfrierende Greise, hülflose Wöchnerinnen, verhungernde, in Krankheit verlassene Kinder, das Alles hatte ihm bisher unter die Kanzelphrasen zum Evangelium vom reichen Jünglinge und armen Lazarus gehört; als er aber jetzt jene Casernen des Elends und das wilde Viertel ringsum besuchte, da mußte er kennen lernen, daß während sonst die Wirklichkeit nie die Idee erreicht, von dieser Wirklichkeit jede Vorstellung, die er sich vom Leiden der Armuth machen konnte, erschreckend übertroffen wurde. »Euch muß geholfen werden, daß ihr alle wieder Menschen seid. Hier ist es, wo das Reich der allgemeinen Bruderliebe seine erste Macht beweisen muß.« Das war es, was als die erste Aufgabe des Apostels ihm jetzt vor die Augen trat. Was bisher nur als abstracte Consequenz für sein Denken existirt hatte, das beschäftigte jetzt als die nächste und nothwendigste Foderung sein Gemüth wie seinen Geist.

Und er war von Jubel erfüllt, dieses Bewußtsein so tief in Aller Herzen wurzelnd zu finden. Staunenerregend war es, welche Summe er täglich als für die Wohlthätigkeitszwecke eingegangen mit dem Namen der Geber in der Zeitung veröffentlichen konnte; rührend, welche Hände sich ihm anboten, bei den Veranstaltungen behülflich zu sein. Von den Damen zeichnete sich eine am meisten aus, der man bisher eine so ausdauernde und aufopfernde Thätigkeit nicht zugetraut hatte, die bisher prüde und verwöhnt ihren Fuß nur auf Teppiche gesetzt hatte und nun plötzlich alle Scheu verloren, die Schwellen der Armuth zu überschreiten, in Lumpen gekleidete Kinder zu küssen und kranken alten Frauen den Puls zu fühlen. Constanze hatte hastig diese Gelegenheit ergriffen, dem Manne, dem ihre Angriffe galten, den Ernst und die Ausdauer ihres Charakters zu beweisen; und was ihr anfangs nur berechnete Coketterie war, das erkannte sie bald als die Befriedigung des eigensten innersten Bedürfnisses. Sie hatte bisher noch nicht gewußt, was eine angestrengte Thätigkeit und eine Thätigkeit für Andere ist. Sie war ein sehr kluges Mädchen, aber ihre Klugheit war Naturell, nicht Studium; sie hatte nie über etwas mit Absicht nachgedacht, sondern las und sah, und wenn sie darüber sprach, blitzten so viel gescheidte Einfälle in ihr auf, daß sie den erfahrensten Mann und besonders einen so gründlichen Gelehrten wie Ernst in Erstaunen setzte. So hatte sie in Nichts Anstrengung oder Entsagen kennen gelernt. Aber dennoch, wenn sie sich auch nie unbefriedigt gefühlt hatte, weil sie nie etwas vermißte, so war sie auch nie wahrhaft befriedigt, weil sie nie etwas Vermißtes erreicht sah. Noch unermüdlicher als Ernst selbst, besuchte sie jetzt in dem rauhen Winterwetter an seiner Seite die Schmerzenslager der Armuth, half sie ihm Anordnungen treffen, um die Zellen jener Caserne wohnlicher einzurichten, und traf die Veranstaltungen zu dem Kinderfeste, dessen oberste Leitung von dem Frauenvereine in ihre Hand gelegt war. Noch nie hatte sie sich so innerlichst befriedigt gefühlt, als wenn sie jetzt, indem der Diener folgte, neben dem verschlossenen Manne, der oft auf langen Wegen kein Wort zu ihr sprach, einhergehend dem Sturm und Regen trotzen und ihre eigene Ermattung überwinden mußte, und wenn sie dann in eine niedere Hütte tretend, den Verzweifelten Hülfe bringend mit ihm als ein von Gott gesandtes Engelpaar begrüßt wurde! Welch ernsten, starken Geist fühlte sie neu über sich gekommen, wenn sie so recht herzlich ermüdet spät auf ihr jungfräuliches Lager sank, das Herz, statt halberfüllt von der spöttischen Freude über die Schmeicheleien, die sie zurückgewiesen, und die Triumphe, die sie erlangt, jetzt hoch aufgeschwellt von dem Bewußtsein, wie viel Thränen des Jammers sie heute wieder zu Thränen des Dankes verklärt hatte!

Am Tage vor dem heiligen Weihnachtsabende fand das große Kinderfest nach der Anordnung Constanze's statt. Sie hatte darin ihr edles Herz wie ihren feinen Sinn auf gleiche Weise bewiesen. Sie hatte es nicht bei einer bloßen Abfütterung und geschäftsmäßigen Austheilung von Almosen in großem Style gelassen, sondern hatte es verstanden, ein wirkliches Fest zu arrangiren, indem jedes Kind seine besondere Freude hatte und trotz der Oeffentlichkeit das Familiaire nicht verloren ging. Den Mädchen und den Knaben und beiden wieder nach den verschiedenen Altern, den einzelnen endlich nach den verschiedenen Bedürfnissen und Wünschen, die sie so fein zu errathen wußte, hatte sie verschieden aufgetischt. In einem großen Saale, auf langen Tafeln für die größeren und auf Bänken für die kleineren Kinder, waren die Geschenke ausgelegt, bei jedem Platze eine Nummer, nach welcher jedes Kind seine Bescheerung zu finden hatte. Mit mächtig hohen, grünen Weihnachtsbäumen waren die Tische geziert, und von ihnen herab erleuchteten unzählige Kerzen den weiten Raum, der sich endlich den hundert Kinderseelen als ein Feenreich erschloß. Staunend und zagend blieben die Kleinen stehen, als die Thüren sich öffneten; erst das Zureden eines so Vertrauen erregenden Engels, als Constanze es ihnen war, die sie alle schon kannten, konnte ihnen den Muth zum Nähertreten einflößen. Das Staunen wich der Hast, mit der jedes den Platz seiner Nummer suchte, und nachdem aus dem Wirrwarr des Durcheinanderlaufens sich die Ordnung entwickelt hatte, löste die Hast sich in allgemeinen Jubel auf.

Welch eine unermeßliche Fülle von Glück erblühte aus diesen Filzstiefeln, Handschuhen, Wintermützen, Tüchern, Kuchen, in diesen vielen hundert Kinderherzen! Wie war für die meisten derselben dies die glücklichste Stunde ihres vergangenen Lebens, – für wie manche sollte sie das für das ganze Leben vielleicht bleiben! Dazu die Freude der Aeltern über die beglückten Kinder, und dazu endlich die Freude derer, die die Urheber dieses Glückes waren! Als die erste Ueberraschung über die Geschenke vorüber war, wurde von allen Anwesenden das Lied angestimmt: »Nun danket Alle Gott!« Kein Auge blieb trocken; es war ein Moment allgemeiner Erhebung. Auch Wagner fühlte sich in Andacht emporgetragen, und er fühlte, daß sie diesmal reiner, würdiger und berechtigter war als damals auf Hermann's Souper. Damals war er von bloßen Worten, den Ergüssen augenblicklicher, vielleicht künstlicher Erregung fortgerissen, heute waren es Thaten, segensreiche Früchte der Bruderliebe, aus denen er die allgemeine Begeisterung erkennen und mit ihr sich fortreißen lassen konnte. Er sah sich nach Hermann um, und auch diesem, dem sonst das Wasser nicht hoch in den Augen zu stehen schien, trieb es eine Thräne zwischen die blinzelnden Lider, aus der Wagner ersah, daß er immer noch der warme Freund der Menschheit sei, für den er ihn bisher gehalten, und daß ihr neulicher Disput nichts als ein Streit über die Tactik für ihre gemeinsamen Principien war, den sie als Bekenner derselben Vernunft noch unter sich ausgleichen mußten! Auch mit dem wohlmeinend dicken Stadtrath war er wieder versöhnt; er hörte ihn von dem anderen Ende des Saales her heulen; und so konnte er sich über den Irrthum an dem ordinair rationalistischen Probste leicht hinwegsetzen; alle anderen Herzen standen ja noch zu ihm; wollte nicht hier schon das Reich der allgemeinen Bruderliebe in so schöner Weise sich zu verwirklichen beginnen?

So triumphirend blickte Wagner, eben wieder sicher auf dem Boden des Gedankens, um sich, als mit dem Verklingen des Liedes die schöpferische Zauberin dieses Festes an ihn herantrat und mit der ihren Bewegungen eigenthümlichen, schmeichlerischen Eleganz ihm ihr kleines, zartes Händchen aus dem Pelzmuff heraus entgegen reichte. Als er sie jetzt ansah, und sie wieder den Lockenkopf mit so übermüthiger Keckheit zu ihm emporwarf, aber dabei doch, in jedem Auge eine Thräne zerdrückte, da mußte er denken: welch reicher Charakter! Mit ihrer stets, auch unter Thränen, lächelnden Anmuth sagte sie ihm: »Ich danke Ihnen.«

»Wofür hätten Sie mir zu danken? Ich muß Ihnen danken, die Sie sich ganz aufgeopfert haben –.«

»Ebendeshalb habe ich Ihnen zu danken. – Sie haben mich gelehrt, glücklich machen, und darum – glücklich sein.« Mit diesen Worten stockte ihre Sprache, zwei helle Perlen rollten über ihre Wangen und spülten nun doch das Lächeln hinweg; mit einem tief ernsten Ausdrucke, den Niemand an ihr kannte, und der zeigte, wie sie ihrer selbst nicht mächtig war, blickte sie ihn an, aber nur einen Augenblick, – so lange, daß er gerade dieses Bild auffassen konnte, und als er es festhalten wollte, war es schon wieder umgeschmolzen in das freudige Lächeln, mit dem sie plötzlich überging, ihm zu sagen: »Sehen Sie nur, diese Freude der Kinder; wie sie so mannigfaltig sich ausspricht! Das eine jubelt laut, das andere ist still in sich versunken; dies lacht, jenes weint; dies sieht neidisch auf die Geschenke des andern, und – sehen Sie nur diesen kleinen, fünfjährigen Burschen, wie er seine Sachen in Sicherheit gebracht hat, die Mütze auf dem Kopfe, die Handschuh an den Händen, die Tafel unter dem einen Arm, den Kuchen unter dem andern, und nun blickt er mit so funkelnden Augen um sich, – o, du allerliebster Bube!« rief sie aus, war zu ihm geeilt, wischte ihm das schmutzige Näschen ab und, nachdem sie ihn recht herzlich geküßt, band sie ihm die Ohrenklappen an der Mütze unter dem Kinn zusammen, dann war sie in ihrer hin- und herfliegenden Beweglichkeit auch schon wieder bei Wagner und sagte mit so recht herzlicher Fröhlichkeit: »Nun sieht er aus wie ein kleiner Eskimo, dieser köstliche Bursche«, und in demselben Zuge fuhr sie fort: »o, wie ich die Menschen liebe!«

Ein paar Kleine, die über die Grenzen ihrer Geschenke in Streit gerathen waren, riefen Constanze's Vermittelung herbei, und Wagner blieb in tiefem Nachdenken versunken stehen. »Wie ich die Menschen liebe!« diese Bemerkung fiel ihm schwer in den Sinn; er mußte plötzlich denken, wie er nur die Menschheit liebte, aber die Menschen –? Er mußte sich gestehen, daß er diese Kinder, die über so rein materielle Dinge in solches Entzücken geriethen und so weit von dem, was er die Bestimmung des Menschen nannte, entfernt blieben, daß er überhaupt die Menschen, wie sie waren, nicht liebte, sondern nur in sich die Aufgabe fühlte, sie für sein Ideal der Menschheit zu erziehen. Als er darüber nachdachte, wie frostig sein eigenes Herz geblieben war bei seinem Bestreben, die Menschheit zu beglücken, wie er dabei das Glück so manches Herzens schon geopfert hatte, wie Constanze aber durch ihren Trieb, die Menschen glücklich zu machen, selbst so beseligt war und so viele hundert Gemüther zu beseligen verstanden, da ging es dem Denker auf, daß er bei aller Consequenz seines Denkens doch etwas vergessen haben müsse, was ihn mit den Thränen dieses jungen Mädchens so gerührt hatte. Er wußte selbst nicht klar, was es war, aber fühlte es, daß er jetzt Constanze's Gemüth nicht zu fürchten brauchte, daß er sie lieben durfte, um von ihr zu lernen, die Menschen lieben.

Als er das Fest verließ, war er nicht von Begeisterung trunken wie nach jenem Zweckessen; auch diesmal war sein Herz zwar hoch geschwellt von dem Bewußtsein, einem erhabenen Ziele entgegen zu streben, aber er war auch von der Rührung zitternd durchbebt, daß der Weg dazu noch nicht ganz gebahnt war und daß es aller seiner Kräfte bedurfte, ihn zu vollenden. Dennoch war seine Zuversicht auch heute eine felsenfeste, und er glaubte mit mehr Berechtigung als damals, weil er in sich das Bewußtsein seines Mangels trug, und den Vorsatz, ihn auszufüllen; er wollte allen Menschen jetzt mit Liebe entgegenkommen.

Indem er mit diesem Gefühle nach seiner Wohnung geht, begegnet ihm auch schon auf der halberleuchteten Straße ein Mann, mit dem er durch liebevolles Entgegenkommen sich über ein Mistrauen, das zwischen sie beide getreten war, zu verständigen hatte. Es war der Schneider Krist. Als Wagner in die Gemeinde eingetreten war, fand er in Krist einen seiner eifrigsten Verehrer und sah in dem Schneider, der an den öffentlichen Dingen sich betheiligte und in den Gemeindeversammlungen mit dem Zeugniß von Belesenheit und Verstand darüber zu sprechen wußte, das, was er sich unter dem Ideal eines Arbeiters dachte. Es dauerte aber nicht lange, so bemerkte er an Krist, ohne eine Veranlassung dazu sich denken zu können, eine auffallende Veränderung seines Betragens; er nannte ihn nicht mehr »Bruder«, sondern mit hämischer Unterwürfigkeit stets »Sie« und »Herr Prediger«. Ernst fing an, bei seinen grünlichen, umherirrenden Augen ein tiefes, unheimliches Gefühl zu empfinden. Der Schneider war schon mehrere Schritte an ihm vorübergegangen; er rief ihm nach. Krist erwiderte erstaunt und höhnisch den Gruß des Predigers. Dieser schloß sich ihm zur Begleitung an.

»Wie kommt es, daß ich Sie auf diesem Wege treffe? Waren Sie nicht bei dem Kinderfeste?« frug Wagner.

»Nein«, erwiderte der Schneider kurz.

»Sie haben wol vor dem Feste zu viel Arbeit?«

»Nein.«

»Haben Sie dem Feste nicht beiwohnen wollen?«

»Nein!«

»Haben Sie kein Interesse dafür?«

»Nein, gar keines!«

»Wollen Sie nicht, daß der leidenden Menschheit geholfen werde?«

»O ja, das will ich allerdings.«

»Nun, warum betheiligen Sie sich nicht, wenn man ihr hilft, oder nehmen wenigstens Theil an der Freude darüber?«

»Zum Donnerwetter, Herr, wenn Sie es durchaus aus mir herausspioniren wollen, – weil die Kinderfeste der Menschheit nichts helfen, und weil ich mit dieser zweckessenden, Almosen gebenden Bourgeoisie nichts gemein habe. Nun wissen Sie's, und damit basta!«

Der Schneider war mit diesen Worten ohne Abschied in ein Haus gebogen. An dem Tone seiner Rede und der unsichern Bewegung beim Abwenden in die Hausthür merkte Wagner, daß er betrunken war. Er glaubte das Motiv seines schroffen Betragens gegen ihn und seine Freunde in dem Gefühl der persönlichen Zurücksetzung zu finden, darüber, daß er zu den Festlichkeiten der wohlhabenden Gemeindemitglieder, sowie zu der Commission, welche die Sammlungen und Vertheilungen der Almosen zu übernehmen hatte, nicht mit hinzugezogen war. Wagner nahm sich vor, über beides ihn zu versöhnen. Bei Hermann und dessen Freunden glaubte er, daß es ein Leichtes sein werde, sie auf den Verstoß aufmerksam zu machen, daß sie ein Mitglied der Partei, welche den Unterschied der Stände aufheben wollte, um seines niederen Standes willen von ihren Geselligkeiten auszuschließen schienen. Seine Hinzuziehung zu der Wohlthätigkeitscommission in Anregung zu bringen, fand er gleich am anderen Morgen Gelegenheit. Die Commission versammelte sich, um Rechnung über die Einnahmen und Ausgaben zu dem Feste abzulegen. Man fand einen bedeutenden Ueberschuß vor, die Anwesenden, noch gerührt von den gestrigen Scenen, fügten neue, bedeutende Summen hinzu, und auf dieser Basis beschloß man das Fortbestehen der Commission und ihre Ausdehnung zu einem Vereine, der sich in ausgebreiteter, großartiger Weise die Hebung der Noth im Bezirke der Stadt zur Aufgabe machen sollte. Wagner war entzückt von dieser aufopfernden Bruderliebe; er glaubte, dies sei der Moment, aufmerksam zu machen auf die Zurücksetzung, in der man einen der Brüder übersähe und schlug vor, den Schneider Krist mit zu dem Vorstande des neuen Vereins hinzuzuziehen.

Er war erstaunt, als auf seinen Antrag, statt der allgemeinen Acclamation, die er erwartet hatte, ein lautloses Schweigen eintrat. Als nun aber Hermann der Geschäftsordnung nach ums Wort bat, mit scharfer, betonter Beziehung auf Ernst sagte, Krist sei ein Mensch, mit dem ein ehrlicher Mann so wenig als möglich zu thun haben müsse, und deshalb zur Verwerfung dieses Antrages ohne Discussion auffoderte, da war es Ernst wie einem, der in Fieberphantasien mit kaltem Wasser überstürzt wird. Die Abstimmung ging lautlos, in formeller Weise vor sich und keine Hand erhob sich für Krist.

Wie in der Musik der Sinn der Töne stets nach dem abschließenden Accorde strebt; wie dieser aber, wenn er gefunden ist, sich immer wieder auflöst in einen neuen Satz von anderer Harmonie, und so fort und fort, bis im letzten Satze endlich alle Disharmonie aufgelöst wird und alle Melodien ihren Abschluß finden; so sucht auch der ringende Menschengeist im Leben unablässig die Harmonie mit sich selbst und mit der ganzen Welt, den Halt, von dem aus er alle seine Bedürfnisse und Bestimmungen erfüllt ansehen kann; aber so oft wir einen solchen ewigen Halt gefunden zu haben glauben und wir beginnen, ihn im Leben zu bewähren, dann treten neue Widersprüche, weitere Bestimmungen uns entgegen; in einem neuen Lebensabschnitte beginnt der alte Kampf und so fort bis zum Schlusse des Lebens, dem Tode, – nur daß das Leben kein Kunstwerk ist, sondern rauhe Wirklichkeit und das Ende des Lebens nicht immer versöhnende Harmonie, oft das Abbrechen des Tones mitten im Schwellen der Melodie, oft das Zerreißen aller Saiten mit der schroffsten Dissonanz.

Einen solchen absoluten Halt, diese harmonische Einheit mit sich und mit der Welt glaubte Ernst Wagner in dem Dienste der Idee, in dem Hingeben an die liberale Bewegung gefunden zu haben. Und nun plötzlich, durch die persönliche Kränkung in seiner Verwirrung bestärkt, klingt eine Dissonanz nach der andern ihm entgegen, sieht er Gegner, wo er Freunden sich an die Brust werfen will. Ist er misverstanden, oder hat er in den Andern sich geirrt? Der Boden wankt unter seinen Füßen keinen Tritt wagt er weiter, um nicht wieder einen Fehltritt zu thun, um nicht von neuem den Grund unter sich brechen zu sehen. Es war der Nachmittag des heiligen Weihnachtsabends. Wagner war ein schlechter Christ und er haßte die volksthümlichen Gebräuche; aber dennoch trug der heutige Tag noch dazu bei, die Sehnsucht nach Harmonie ihm recht schmerzlich lebhaft werden zu lassen.

Er floh dahin, wo er noch eine Seele fand, die ewig eins mit ihm war; in Delphinens beseligender Nähe wollte er einen wahrhaft heiligen Abend, einen Abend heiliger Weihe feiern.

*


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