Jean Giraudoux
Bella
Jean Giraudoux

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Drittes Kapitel

Die Familie Rebendart stand der meinen an Lebenskraft nicht nach. Sie hatte seit zwei Jahrhunderten Frankreich eine erkleckliche Anzahl von hohen Würdenträgern, Ministerpräsidenten und Vorstehern der Advokatenschaft geliefert. Doch während meine Familie sich an den magischen Punkten gefiel, wo die Metalle schmelzen, die Nationen zusammenwachsen, und das Übel trotz der Wirklichkeit nicht zu kennen schien, so wie sie an einem für einen Ausflug bestimmten Tage sich an Regen und Schnee nicht kehrte, hatten die Rebendart, alle Advokaten, zu ihrer Lebensatmosphäre alles erwählt, was mit Verbrechen und Streit in Frankreich zu tun hatte. Die gleiche Anzahl von Rebendarts und Dubardeaus standen auf französischen Plätzen in Bronze aufgerichtet, die gleiche Anzahl von Straßen und Marktplätzen waren auf ihre Namen getauft, doch verkörperten die Dubardeaus, obgleich im Gedächtnis der Generationen mit dem Gift verbunden, das sie besiegt, mit dem Gas, das sie gezähmt, mit der Theorie, die sie zur Geltung gebracht hatten, in den Augen der Stadtverwaltungen und der bürgerlichen Klassen viel weniger die Gerechtigkeit und die Unbescholtenheit als die Rebendarts, deren Name einzig die Strafprozesse, in denen sie verteidigt haben, von Madame Lafargue bis zu Ravachol und Landru, in Erinnerung brachte. Aus jeder ihrer Ehen mit dem Verbrechen oder mit dem betrügerischsten Bankerott des Jahrhunderts, durch alle die Prozeßakten, welche sie mit Giftmischerinnen und Verrätern verbanden, erwuchs ihnen eine grenzenlose Verehrung für ihre Ehrbarkeit und ihre Achtung vor den Gesetzen. Ich kannte die Familie Rebendart. Ich hatte sie den ganzen vorangegangenen Sommer in ihrem Stammsitz selbst, in Ervy in der Champagne beobachtet, wohin ich meinen Onkel Jacques auf der Verfolgung einer Spitzmaus begleitete und wo ich mich damit beschäftigte, die Kirche mit Fresken auszumalen. Der Park meiner Pension war nur durch eine lebende Hecke vom Garten Rebendarts getrennt, und ich konnte bei jeder Blütezeit, durch Klematis, Rosen und Jasmin hindurch, die Verwandten unseres Widersachers sehen. Es war zur Erntezeit. Ich wußte, was die Schnitter, die Heuer, die Rübenbauer und schließlich – höchste Instanz – die Winzer von den Rebendarts hielten. Die Jagdsaison hatte begonnen. Ich wußte, was die Jäger, die einen Jagdschein besaßen, aber auch was die Wilddiebe über Rebendarts dachten. Dieses Prisma ist auf dem Lande notwendig, wenn man eine Familie gut kennen will. Ihr Haus schien, wie es da stand, von Vesinet herübergebracht worden zu sein: es glich unserm Hause in Argenton, nur mit dem Unterschied, daß die Verschönerungen, welche an unserem von Krämern und Kneipwirten, hier mit noch weniger Geschmack von Gerichts- und Kammerpräsidenten vorgenommen worden waren. Zwischen den bürstenförmig geschnittenen Gesträuchen, die von Schwertlilien eingerahmt waren, entsandten Geranium, Begonien und Georginen in die stille Luft die Düfte der Champagne. Gerade diese wie aus Blech geschnittenen Blumen waren es, die für die Rebendarts die Familie, die Erholung, ja das Landleben selbst verkörperten; es wäre ihnen ebensowenig in den Sinn gekommen, Heliotrop oder Fuchsie dazuzutun, als für Jungfräulichkeit und Ruhm andere Embleme als Orangenblüte und Lorbeer zu finden. Wenn ich darnach, was ich sah und hörte, urteilen soll, wurde bei den Rebendarts offenbar noch ganz anders als bei uns auf Formen gehalten. Der Ritus der französischen Familie herrschte hier bis ins kleinste. Es gab da eine besondere Manier, jeden Rebendart anzusprechen, ein besonderes Benehmen für jeden, eine besondere Sprache fast. Ihr Clan schien in moralischer wie in physischer Beziehung aus erstaunlich verschiedenen Wesen zusammengesetzt, und im Verlauf eines einfachen Frühstücks im Freien konnte ich ein Zeremoniell beobachten, das viel rigoroser war als das irgendeiner Hofhaltung in Europa. Die Unterhaltung enthielt so viel falsche Betonungen wie eine Vorstellung des ›Tartüff‹ in der Comédie Française. Man mußte seine Stimme zuspitzen, wenn man zu der Cousine Claire sprach, ironisch die Worte skandieren mit dem Schwager Andrè, so daß ich unwillkürlich nach ihrem Gedeck und ihrer Serviette sah, ob sie nicht von verschiedenem Leinen und Porzellan wären. Ein Zeremoniell, offenbar seit langer Zeit eingeführt, seit dem Tag, als man den Vater Andrè von Riceyswein angeheitert fand und die Cousine Claire bei der Lektüre von ›Nana‹ ertappte. Es gab da eine bestimmte Redeweise zwischen der älteren und jüngeren Generation, einen besonderen Stimmfall für die Minister, welche auf der Universität keine Preise bekommen, und für die heruntergekommenen Greise, welche bei Preisbewerbungen eine ehrenhafte Erwähnung erlangt hatten. Ich hatte manchmal den Eindruck, daß sie Hühner aus Pappe äßen, falsches Brot wie auf dem Theater. Während in unserer Familie das gemeinschaftliche Leben die Scheidewand zwischen ihren Mitgliedern allmählich verschwinden machte, wie es nie in einer französischen Familie geschah, so daß der Altersunterschied zwischen Vätern und Söhnen fast weggewischt war, bewirkte es bei den Rebendarts, daß der Abstand zwischen ihnen wie durch Eisengitter aufrechterhalten blieb. Nichts war in ihrem Familienbuch ausgelöscht, von den ersten Flüchen, den ersten Verstößen und Mißverständnissen an. Man stieß jedes neugeborene Kind schon in diese Flut hinein.

Ich lernte übrigens mit Hilfe der Nachbarn zwei Arten von Rebendarts unterscheiden; die Familie war nicht so bürgerlich großartig oder mittelmäßig, wie ich ursprünglich dachte. Unterhalb der Rebendarts, die man allein in Paris und im öffentlichen Leben kannte, alle Wassertrinker, alle untadelhaft, alle unerbittlich gegen ihre Gesundheit und in ihrer Arbeit, stets schwarz gekleidet, die nie irgendeine ihrer zahlreichen Auszeichnungen zur Schau trugen, jedoch mit Arroganz unter ihrem Kleid auf hundert Meter sichtbar ihre inneren Auszeichnungen, die da heißen die Pflicht, die Unbestechlichkeit, das Großkreuz der Pflicht, der Großkordon des Patriotismus, lebte in Ervy eine den Rebendarts, welche die akademischen Palmen trugen, sehr unähnliche Gruppe von Verschwendern, Trunkenbolden und Wüstlingen. Alles läßt sich in einer Familie mobilisieren, bis auf die Kropfbehafteten, wenn es sich wie bei uns und bei nicht wenig andern um einen Zug nach der Wahrheit handelt. Doch bei den Rebendarts handelte es sich um einen Zug nach Ehren, und dabei gibt es Nachzügler. Bei ihrer fabelhaften Kenntnis der modernen und antiken Prozesse nutzten sie alle Mittel, die geeignet sind, die Ehre einer Familie aufzuputzen, sauber zu waschen, einbegriffen die von Brutus und Regulus angewandten Tricks; und sobald ein Rebendart von der andern Zone gestohlen, desertiert oder vergewaltigt hat, kam der Minister Rebendart selbst vor Gericht, um gegen ihn zu zeugen und ihn öffentlich zu verleugnen. Es macht einen besseren Eindruck, ein Kind dem Zuchthaus als der Armenpflege zu überlassen. Diese eitle Demut genügte den Geschworenen, um in weitestem Maße freizusprechen. So daß zu guter Letzt allen Rebendarts eine Art von Straflosigkeit zugebilligt war, und ihre öffentlichen Verirrungen: Diebstahl, Betrug, Sittlichkeitsvergehen Familienangelegenheiten und Familienfehler blieben. Die Champagne hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Sie verbarg ihn heuchlerisch vor jedem in der Provinz fremden Staatsmann, der zu Besuch kam, aber die erhabenen Rebendarts verlangten dafür von den Paria-Rebendarts, daß sie nie ihren Heimatbezirk verließen. Es war ihnen erlaubt, sich in Troyes zu betrinken, in Châlons, allenfalls noch in Vaucouleurs; doch die Tür, welche die Jungfrau von Orleans benutzt hat, und die saubere Seite der Rebendarts war ihnen verschlossen. Denjenigen, welche nach Amerika auswandern wollten, wurden die Pässe verweigert. Man kann sich auch zwischen Reims und Romilly reichlich austoben. So daß die Rebendarts, die Minister waren, wenn sie an ihre Laster dachten, auf die Champagne beschränkt blieben, während sie ihren Glanz in der ganzen Welt ausgebreitet sahen. Übrigens legten sie auch sich selbst auf, was sie von den schwachen Mitgliedern ihrer Familie forderten. In der Champagne taten sie ihre Toga ab, sie verglichen sich. Im Parlament und in Paris Atheisten, hatten sie in Ervy einen Geistlichen, der die religiöse Erziehung ihrer Söhne überwachte. Von Provins an Anhänger des Milizsystems, waren sie in Sainte-Menehould für die dreijährige Dienstzeit. Für die ganze Welt Demokraten, empfingen sie in ihrem Landhause nur Adelige und Großbürger. Damit ihre Regierungshandlungen, ihr politisches Schild rein und fleckenlos blieben, nahmen sie es hin, daß die Familie eine Rumpelkammer war, wohin sie ihre Fehler und ihre Sittenverderbnis wegräumten. So daß es hier schmutzig war wie unter einem Schwalbennest.

Von ihrer Kindheit an waren die jungen Rebendarts in diesen heuchlerischen Gegensatz eingeklemmt zwischen einer Sternenreinheit in Paris und der Familienbloßstellung in Ervy. Aber sobald sie die Lage begriffen und hingenommen zu haben schienen, wurden sie von ihren Eltern an den Fuß der Verwaltungskarriere gesetzt, worauf sie die Sprossen, mochten sie noch so hoch sein, mit der Sicherheit einer Drahtseilbahn hinaufkletterten. Söhne von Andrè Rebendart, dem Trunkenbold oder dem Dieb, von dem Bankerotteur Rebendart, übten sie mit tyrannischer Härte ihr Amt eines Richters oder Finanzinspektors aus, da sie, in einer luftdichten Champagne in dem kleinen blumigen Behälter von Ervy zusammengedrängt und sogar von den Bewohnern gegrüßt, alles in Sicherheit wußten, was ihre Familie und ihr Charakter des Entehrenden enthielt. Gewöhnt, einen Teil der Ihrigen zu verachten, verachteten sie die ganze Menschheit und kamen auf der Milchstraße der französischen Beamtenschaft, über Lyon, Marseille, Lille und Bordeaux, ohne jemals eine Stadt von weniger als zweihunderttausend Einwohnern zu berühren, ohne jemals die Einsamkeit zu streifen, als Direktoren der Tabakmanufaktur, die niemals rauchten, Direktoren des Alkoholmonopols, die nicht tranken, Direktoren der Armenpflege, die nie jemand geliebt hatten, noch jung, aber bereits unerbittlich nach Paris. Der Krieg, der sich nicht betrügen läßt, hatte seine Front gerade zwischen den reinen und den unreinen Rebendarts gelegt. Aber es gelang ihm nicht, sie zu trennen. Ervy wurde vom Feinde besetzt. Alle Beleidigungen, Kränkungen und Leiden, durch deren Erduldung unter dem Joch der Fremdherrschaft die Unbescholtenheit, der Eifer, der Patriotismus der reinen Rebendarts, die übrigens alle nach Bordeaux geflüchtet waren, sich verdient hätten machen können, hatten die Marodeure, Diebe, Pflastertreter unter den Rebendarts, die im besetzten Land geblieben waren, von den Deutschen zu ertragen. Sie hatten einzig wegen ihres klingenden Namens drei Jahre Gefängnis, zwei Jahre Hunger, eine Stunde der Marter zu erdulden, was Frankreich natürlich auf die Rechnung ihrer berühmten Verwandten setzte; und als der Trunkenbold Rebendart wegen Widerstandes gegen einen deutschen Feldwebel erschossen wurde, überzeichnete die ganze Welt, ergriffen von Begeisterung und Rührung, die Subskription auf das Denkmal von Rebendart, dem Vorstand der Advokatenschaft, der an Wassersucht gestorben war, derart, daß man es aus reinem Silber hätte gießen können ... So vorteilhaft ist es, seine Fehler außerhalb seiner unterzubringen und sie dann von den bayrischen Armeen durcheinanderrütteln zu lassen!

Was mir am meisten an dieser Familie auffiel, deren Spuren man bis auf Heinrich II. zurückverfolgen kann, war das Fehlen von Künstlern. Das Wissen um die Staatspflicht und um die Arbeit im Staat war die einzige Leuchte für ihr Hirn, so daß diejenigen, für die sie ausgelöscht war, unmittelbar in die Blutschande und in die Ausschweifung stürzten, ohne sich auf den Zwischenstationen aufzuhalten, als da sind die Malerei oder das Modellieren. Es passierte keinem Rebendart, wie so vielen andern Notaren und Anwälten, seinen Namen auf einem vom Sturm herabgestürzten Hahn eines Kirchturms zu finden, den ein Urgroßvater Schmied dort eingraviert hätte. Ebensowenig gab es im Salon Aquarelle von Familienmitgliedern. Ihre Hände verstanden weder den Ton, noch den Stein, noch die Bronze zu liebkosen, nicht einmal ihre eigenen Hände, die sie getrennt hielten, als gehöre jede zu einem andern Teil der Familie. Man konnte in ihrem Hause nur die Geschenke bewundern, die die Republik verschiedenen Rebendarts gemacht hat, überlebensgroßen Kitsch wie für übermenschliche Zahnärzte. Die Familienszenen spielten sich zwischen Wandplatten aus Sèvres ab, und zwischen mit Mühe im Gleichgewicht gehaltenen Riesentöpfen trat der Wilddieb seinem Bruder, dem Minister, mit einer Behutsamkeit entgegen, die dieser seinem Ansehen zu verdanken meinte, die aber nichts anderes war als die Angst vor so viel Porzellan. Alle Stationen, welche zwischen dem Haus meiner Väter und dem Staatsrat, dem Rechnungshof und dem Obersten Rat der nationalen Verteidigung lagen, wie die Akademie der bildenden Künste, die Akademie Julian, das Tanzlokal Bullier, existierten nicht für die Rebendarts; jeder von ihnen hatte nur eine nackte Frau gesehen: seine Frau.

Ihre wahre Größe, welche die Bewunderung der Champagne rechtfertigte, verdankte die Familie Rebendart übrigens nicht ihren Männern, sondern ihren Frauen. Die auf der Höhe ihrer Karriere angelangten Rebendarts wählten ihre Frauen nicht, sie wurden ihnen von der dankbaren Provinz dargebracht. Schenkte ihnen die Republik eine Cornelia in Bronze, eine Dido in Porzellan, so beschenkte die Champagne sie mit ihren jungen Mädchen. Man vergißt leicht, daß Domremy in der Champagne liegt. Der Name Rebendart war mit den Worten Pflicht, Beständigkeit, Ehre dermaßen identisch, daß, sobald ein Rebendart seinen Wunsch zu heiraten zu erkennen gab, alle Fabrikanten und Winzer der Provinz sich in Bewegung setzten, um eine Frau zu finden und vorzuschlagen, die einfach fähig wäre, mit so erhabenen Worten zusammenzuleben. Es war nicht immer die häßlichste. Es war auch nicht immer das Zusammenleben mit Pflicht und Ehre, das diesen Frauen schwierig erschien; sie wußten auch darin verborgene Schätze von Zärtlichkeit, Nachsicht und Willigkeit zu entdecken, doch schwierig war wohl das Leben mit einem Präsidenten, dessen Herz vertrocknet war. Es war der Ehemann, der so kalt war wie ein Symbol, stumm im Familienkreise, wie es Symbole sind, kühl an Gefühlen wie sie, dagegen wurden die wirklichen Symbole gerührt, leisteten der Frau Gesellschaft, wurden in ihrer Nähe menschlich, erleichterten ihr den Schlaf und den Spaziergang im Walde. Ein hartes Leben, das sie jedoch ohne Bitterkeit hinzunehmen versuchten. Sie waren glücklich, wenn ihre Männer in der Kammer sich öffentlich gegen das Frauenstimmrecht erklärten, empfanden diese Beleidigung als erste ihrer häuslichen Macht widerfahrene Huldigung, als die erste Spur von Eifersucht, als die erste Liebkosung. Ihre einzige und ungewollte Vergeltung war, daß sie von vier Söhnen zwei zigeunerhafte und renitente Rebendarts zur Welt brachten. Man entführte ihnen mit zwölf Jahren die beiden braven Söhne, die, während sie noch die erste Fibel, die erste Grammatik lernten, bereits auf die Bahn des Staatsrechts gesetzt wurden, und ließ ihnen für das Leben die beiden mißratenen. Sie kamen selten nach Paris. Die Witwen der Großwürdenträger wohnten in einem abgelegenen Haus am See, die andern Witwen in einem Jagdpavillon, der zweihundert Meter entfernt lag und an dem ein Bach vorbeifloß. Die Rebendarts, die an der Macht waren, überließen von ihrem Hügel mit dem Begoniengarten aus ihren Müttern die Weiden und das Wasser; sie meinten wohl, daß sie sie dadurch in die Vergessenheit und in die Einsamkeit verwiesen, doch sie überlieferten sie nur der Zärtlichkeit.

Diese stets lächelnden Gesichter, auf welche die Rebendartsche Kälte nur als Entfärbungsmittel gewirkt hatte, ihre nervösen und stolzen Erscheinungen zogen mich an, ich hatte mich durch den Pfarrer vorstellen lassen und kam oft, sie zu besuchen. Stets bei Einbruch der Nacht, aus Angst, daß einer der Söhne oder Neffen mich erkenne. Ich drang zu den alten Damen über den Balken der Schleuse, oder indem ich bei Sonnenuntergang über die Jasminhecke sprang, wie ein Liebender ein. Oder auch ich ging zu ihnen, ohne eine Spur zu hinterlassen, durch den Bach, in dem ich mit nackten Füßen Krebse fischte. Den ganzen Sommer war es ihre Unterhaltung, mich abends zu erwarten, sie hielten mich für einen jungen ungeselligen Maler und behandelten mich mit der Rücksicht und Dankbarkeit, die eine Frau für einen Mann hat, der sie mitten unter wilden Tieren und schwimmend zu besuchen kommt. Ich kam immer gelegen, wie man in jedes wahrhafte Leben gelegen kommt. Ich fand sie damit beschäftigt, irgendein Möbel oder einen Gegenstand unterzubringen, die aus der überfüllten Wohnung des Ministers entfernt wurden, weil dort ein neues offizielles Geschenk eingetroffen war. Einmal war es ein Spinnrad, das von einer vom König von Serbien geschenkten Jardiniere aus gesponnenem Glas verdrängt war, ein andermal mußte eine Empirekonsole einem Zentauren in spanischem Porzellan, einem Geschenk Alfons des Dreizehnten, weichen. Zuweilen mußte ich auf meiner Schleuse oder in meinem Bach warten, weil das Abendläuten erklang, und ich stand mit bloßem Kopf wie ein Bauer von Millet da, doch die Füße im Wasser. Sie waren fromm, die Damen, die eine auf etwas kindliche Art, die andre ernsthafter, jede hatte sich von ihrer Kindheit an einem Heiligen geweiht, der jeweils mit dem Mann ein von ihnen verehrtes geistiges Paar bildete, der Jurist Rebendart zusammen mit dem heiligen Antonius von Padua, der Handelsminister Rebendart mit der heiligen Therese. Seit dem Tode ihrer Männer genossen sie, ohne es sich zu gestehen, eines tiefen Friedens. Der Grund war, daß mit den Advokaten das Gesetz gestorben war, daß keine ihrer Bewegungen, keines ihrer täglichen kleinen Erlebnisse durch die Jurisprudenz mehr bestimmt wurde. Sie führten keine Prozesse mehr mit den Jägern, welche die Wasserhühner schossen, sie drohten ihnen höchstens mit dem Stock. Wenn ein militärisches Flugzeug in ihrem Obstgarten niederging, strengten sie keinen Prozeß gegen die Militärverwaltung an, sondern luden den Unteroffizier zum Essen ein. Sie merkten es gar nicht, daß sie im Einklang mit den Gesetzen, die ihre Männer gemacht hatten, am Ende der gesetzmäßigen Jahre aus Witwen Geschiedene wurden, geschieden nach Herz und Sinn. Der Beweis war, daß sie jetzt alle Männer liebten. Sie liebten die Gärtner mit ihren Händen, die in die Erde hineinfassen, die Bereiter aus Sedan, die mit ihren Pferden über die Hecken des Parkes setzten. Sie waren die höflichsten Wesen mit den Tieren. Sie liebten sie. Sie liebten die Landstreicher mit ihren spitzen Ohren, mit den Federn und Strohhalmen auf ihren Kleidern, je nachdem sie in einem Stall oder in einem richtigen Zimmer übernachtet hatten; sie liebten die Direktoren der Fabriken von Wendel, mit ihren stets sauberen Röcken, die immer im Reichtum sich wälzten ... und mich. An diesen Abenden in der Champagne, die so urweltlich sind, zur Stunde, da die Hirsche im Nebel schreien oder im Mondschein schweigen, während sie sich in den Tiefen des Teiches spiegeln, da die Steinmarder, die Dachse, die Füchse mit dem verschiedenen Schritt des Todes sich nach den Hühnerställen begeben, folgte ich den Weiden entlang einem nassen Weg, der neben dem Bach herlief und der mich niesen machte, und brachte ihnen alles mit, was man jungen Mädchen nur bringen kann: Kunstzeitschriften, Francis Jammes und Schokoladekirschen. Sie empfingen mich mit einem Blick auf meine Taschen, wischten mir den ersten Hauch des Nachttaues ab, zogen mich an den Kamin und ließen ein Rebenholzfeuer aufflammen, das aus dem Gast Postkarten von Vezelay, die Lebensgeschichte Artur Rimbauds, die Sitten der Frauen auf den Fidschi-Inseln und ein bißchen Liebe verdampfen ließ. Darauf genossen sie, bleich trotz dem Feuerschein, weiß wie Salatherzblätter, die man zu stark ausgedrückt hat, in dem Glauben, daß es die Konsequenz und Entschädigung ihrer Witwenschaft, ihres hohen Alters sei, die ersten Früchte der Jugend. Ich dachte, daß Rebendart sich wohl wunderte, so spät Licht bei seiner Tante und bei seiner Schwägerin zu sehen. Es war der Sohn seiner Feinde, der zu ihnen kam. Er brachte Verlaine mit und steckte jenen Teil der Familie Rebendart, der dicht vor dem Tode stand, mit Begeisterung an. Wenn ich nach Paris zurückfuhr, gab ich ihnen, wie man es mit Probiermamsells macht, meine postlagernde Adresse mit falschen Anfangsbuchstaben. Sie schrieben mir getreulich und waren durchaus nicht beunruhigt, daß ich inzwischen weder einen Namen noch eine Wohnung gefunden habe.

Eines Abends erwarteten sie mich wieder. Es war der Namenstag der einen. Ich hatte mich etwas verfrüht und setzte mich, meinen Blumenstrauß in der Hand, auf der Höhe des Hügels auf die Familienbank. Ich setzte mich so, wie es kein Rebendart getan hätte. Ich hatte die Lehne vor meinem Bauch. Ich war nicht gegen Deutschland, gegen den Rhein gerichtet ... Rebendart in solcher Stellung, das hätte bedeutet, daß es keinen Erbfeind mehr gäbe ... Die Sonne war im Untergehen. Ich folgte ihr in der Richtung nach Amerika, soweit man das von dieser Landschaft aus nur kann. Ich sah, wie die kraftlose sich in ihrem Todeskampf bei allem aufhielt, was in der Natur glänzt, bei den violetten Pflaumen, am See, so wie ein Sterbender seinen Blick noch auf dem kleinen Löffel, auf der Nachtlampe ruhen läßt – um dann zu sterben. Schon war das Licht im Pavillon erloschen, das des großen Hauses ging an. Das bedeutete, daß die Witwe zur Großtante hinübergegangen war, um mich zu erwarten, und der Kronleuchter angezündet wurde. Eine Laterne wand sich die Treppe entlang. Das bedeutete, sie gingen in den Keller. Denn sie lockten mich, wie nur junge Witwen einen hübschen jungen Mann zu verlocken wissen, versprachen mir Tokaier und Kuchen mit Speck. Ohne mir auch nur eine Stunde Frist zu lassen, überfiel mich, der ich schon von der Sonne besiegt war, der Mond. Der Bach, stellenweise glühend und sonst ganz dunkel, glänzte unter den Weiden und bedeckte sich mit Silber. Die Tannen, die man hier um die Bürgerhäuser wie um eine Gruft pflanzt, rauschten mit der Stimme, die den Lebenden und den Toten, den pensionierten Würdenträgern und den Schatten gleicherweise vertraut ist. Jetzt standen die alten Damen gekrümmt im Keller, beugten sich über die Flaschen, und da sie in dieser Haltung bei allen großen Ereignissen ihres Lebens gestanden hatten, an Wiegen, an Sterbebetten, bei Verwundeten, tiefernst, weil ihnen das Herz dabei aussetzte, glaubten sie sich ernst wegen des Tokaiers. Ich wurde nicht müde, dieses Kommen und Gehen der Freundschaft zu verfolgen, das in dieser Nacht durch die entsprechenden Lichtzeichen sichtbar wurde. Ich dachte mit Liebe an meine alten Freundinnen. Ich fühlte auf mir ihr ganzes Alter, die ganze Erfahrung, von denen ich sie entlastete. Diese Irrlichter da waren zwei schöne lebende Seelen, noch lebende. Meine ganze verjährte Gymnasiastenbegeisterung war ich im Begriff nicht für meinen Sohn wiederaufleben zu lassen, sondern für zwei bejahrte Lebewesen, für die es vielleicht das letzte Spiel war. Ich brachte heute Shakespeare mit, den sie nicht kannten. Ich wollte heute abend jene Dämonen loslassen, welche die Weite eines ganzen Lebens beanspruchen: Desdemona, Hamlet und die andern, welche selbstsüchtig junge Seelen in ein ganz kleines vom Tod umschlossenes Gebiet reißen, um sie zu foltern. Die Dichtung, der sie zum erstenmal begegneten, riß sie hin. Alle diese Leute, welche, statt mit den Nachbarn, mit den Wilddieben, mit der Verwaltung zu prozessieren, dem Meer, der Natur, dem Schicksal den Prozeß in Versen machten, begeisterten sie. Das hier war die wahre Formel der Rechtswissenschaft. Die unerbittliche oder tolle Haltung der Dichter gegen alles, was sie nicht kannten, Armut, Hunger, Kälte, Leiden, entzückte sie. Die Poesie kam, um diese Ammen von Advokaten und Kämpfern in ihrem letzten Lustrum zu grüßen. Desdemona, Hamlet sollten ihre Rollen vor einer Zukunft spielen, welche der Tod war, und am Abend hörten meine alten Freundinnen, bis in die Tiefe ihrer reinen Seelen erschauernd, das ganze Gefolge des Bösen und der Vampire auch in der abgeschwächten Gestalt der Eule und des Waldkauzes mich begleiten.

An diesem Abend war ich im Jackett. Da sie sich für Stoffe und Kleider, die ebenfalls eine Offenbarung für sie waren, begeisterten, machte es mir Spaß, mich für sie anzuziehen. Ohne daß ich jemals am Nachmittag etwas zu tun gehabt hätte, wofür ich ein anderes Gewand als meinen Malerkittel brauchte, zeigte ich ihnen unter falschen Vorwänden die ganze Garderobe eines modernen jungen Mannes. Ich gab vor, Tennis gespielt zu haben, um sie meinen Flanellanzug, meine weißen, für die Sonne gemachten Hemden bewundern zu lassen, auf die nur Mondschein und Tau gefallen war. Wie gern hätten sie mit solchen Farben ihre Söhne bedeckt, denen die Rebendarts seit ihrer Taufe nur Schwarz erlaubten. Ich sagte, ich käme von einem Abendessen in Troyes, und erschien im Frack, tadellos vor diesen Pflaumenbäumen, im Frack für die Weiden. Sie lernten, daß am Frack eine Brusttasche erlaubt war; die Rebendarts hatten keine Brusttasche. Keine Bewegung, welche die Hand dem Herzen nähert, selbst nur um ein Taschentuch herauszuziehen, war ihnen vertraut. So mußte man ihnen auch den Mechanismus, der die Perlen der Hemdbrust befestigt, erklären, das Uhrkettchen, bis zum aufklappbaren Kragenknopf hinauf. Sie probierten das Geheimnis. Diese Wissenschaft der männlichen Toilette, welche die unanständigen Frauen so selbstverständlich besitzen, mußte ich ihnen erst beibringen. Sie sahen an einem Mann zum erstenmal weiche Wäsche, Seide. Es schien ihnen, daß das Leben für die Männer anschmiegsamer geworden sei. Es schien ihnen, daß jetzt endlich etwas Sanftmut sich auch auf die Männer niedergelassen habe. Sie streichelten meine Krawatten, mein Haar. Ich kam auch in meinem Malerkittel, zeigte ihnen die Farben an mir, denn mein Kittel war allmählich eine wahre Palette geworden. Sie fanden auf ihm die Farbe von Rebendarts, des Präsidenten, Augen, sie waren davon gerührt: so hatte er doch eine Farbe an sich gehabt, Farbe der Kornblume an diesem Präsidentenkörper! ... So als vielfarbige Hotelratte erweiterte ich die Grenzen ihres Gebiets. Die Hunde, in ihren ersten Schlummer, der auch die Portiers zu überkommen pflegt, versunken, bellten leise. Ich kam sacht und unbemerkt bis vor den Glassalon, wo sie mich erwarteten. Sie stritten, ich hörte ihre Stimmen. Die Tante belehrte die Schwägerin: Nein! das Symbol der Phantasie war Ariel und nicht Caliban! Warum? Weil das so ist. Nein, das »Trunkene Schiff« ist nicht von Fernand Gregh. Warum? Weil Fernand Gregh seine Jugend in Paris nicht zugrunde gerichtet hat, weil er nicht in Abessinien gestorben war. Wie? das soll nicht stimmen? ... Ein andermal hätte ich die Tür aufgestoßen und wäre eingetreten, hätte als Schiedsrichter Caliban die minutenlange Herrschaft über Schönheit und Geist, Fernand Gregh die »Erleuchtungen« genommen ... Doch heute abend mischte sich eine dritte Stimme unter ihre beiden, ebenfalls eine Frauenstimme, doch ein wenig rauh, verschleiert bis zur Lautlosigkeit, offenbar eine unversehens erschienene Jugendfreundin oder irgendeine alte poetische Seele, die sie in ihren in die Umgebung von Reims gelegten Hinterhalt gelockt hatten. Gefaßt, einer neuen Verkörperung des Alters mit dem Zauber eines frischen, bejahrten und pathetischen Herzens vor mir zu sehen, klopfte ich an ...

Man errät jetzt wohl den Sinn dieses Prologs, das Verweilen bei diesen Stunden, in denen ich den Mannequin von Doucet und Shakespeare vor den Damen Rebendart machte. Zwischen ihnen saß auf einem dieser niedrigen plüschbezogenen Sessel, welche in Frankreich das Bürgertum vom Tode trennt, fast auf dem Boden, mit leichtgekreuzten Beinen eine junge Frau. Die Nacht war warm. Die Frau hatte nackte Arme, ein leichtes Kleid. Der Tokaier, von dem sie getrunken hatte, stand neben ihr. Sie war vom Sommer vergoldet, sie schien aus der Flasche gestiegen zu sein. Ich, der ich einen Besuch beim Gerichtspräsidenten von Nancy zum Vorwand nahm, um mein Jackett aus wolligem Tuch zu zeigen, verbeugte mich, meinen Seidenhut in der Hand. In dieser Trauungsuniform, den Rohrstock mit dem goldenen Knopf in der linken Hand, reichte ich ihr die Rechte, um ihr beim Aufstehen zu helfen, gleichsam um eine Furt zu überschreiten, und die Bewegung, die sie machte, war so heftig, daß sie fast auf mich fiel, daß sie in mein Leben hineinfiel. Erst dachte ich, daß die alten Damen, wie alle, die einen Schatz gefunden haben und ihn gerade dem Geizhals und dem Kenner gern zeigen, der Versuchung nicht haben widerstehen können, einer jungen Frau den Spezialgesandten zu präsentieren, der diesen Sommer von den Mächten der Literatur und der Mode an sie entsandt worden war. Ich irrte mich. Es war die Schwiegertochter des gerade für einige Tage abwesenden Ministers Rebendart, welche vom Hügel gekommen war, um den Abend bei ihrer Tante zu verbringen. Auch sie war überrascht, denn meine beiden Freundinnen hatten nicht daran gedacht, ihr zu sagen, daß ich jung war. Der Abend war drückend, von einem Ernst, den die alten Damen, die eine der Neuralgie, die andere dem Gewitter zuschrieb, dessen Grund aber einfach in der Anwesenheit der Jugend lag. Sie verstanden nicht, weshalb ich es heute abend ablehnte, ihr Vorleser zu sein, ihnen Plato und Theokrit zu erklären, wie ich es vor einer Stunde noch getan hätte. Alle Geschichten, die Helden und Heldinnen, die Schriftsteller, die sich mir freundlichst für ein harmloses Spiel herliehen, wenn ich allein mit ihnen war, zogen sich vor Bella zurück. Bei ihrem Anblick fühlte ich, wie alle Phantasiegebilde, die ich sonst ohne Gefahr in diesem Saal losließ, ihre ganze Essenz, ihre Kraft wieder gewannen. Bella ihrerseits tat übrigens nichts, was den Abend hätte beleben können. Sie sprach kein Wort. Der redseligste Mann in Frankreich hatte zur Schwiegertochter die schweigsamste Frau. Diese Art Verdunstung, die das Wort ist, ging in ihr nicht vor, so unterirdisch und entfernt von ihr selbst war ihr Gedanke. Die von meinen alten Freundinnen geköderten Hirten Theokrits flohen, daß die Sandalen flitzten, beim Anblick dieses schönen modernen Gesichts, wie beim Anblick der Medusa, ins Altertum zurück. Ich fühlte mich, zumal mit meinem Zylinder in der Hand, mit ihren zurückgelassenen Hirtenstäben lächerlich belastet. Meine ganze Kavallerie von Zentauren und Amazonen, die ich seit einem Monat gewöhnt war harmlos in Bewegung zu setzen, befand sich plötzlich in einem wirklichen Krieg und fiel übereinander her ... Endlich schlug es Mitternacht. Ich begleitete erst mit Bella die Tante und dann Bella selbst bis zur Wohnung auf dem Hügel. Die paar Sterne, deren Namen ich weiß, waren hinter mir, die Milchstraße floß von meiner Rechten nach der Linken. Am Himmel war augenscheinlich alles verkehrt. Alle Gewohnheiten, die ich unbewußt seit meiner Kindheit bei Nacht hatte und die mich stets in der gleichen Richtung orientierten, sobald nur der Große Bär sichtbar wurde, waren durch diesen Gang weggewischt oder durchkreuzt. Ich hatte die Zukunft in meinem Rücken, die Inbrunst fern zu meiner Rechten, das Unbekannte vor mir. Bella hatte meinen Arm genommen. Der ganze für den Abend mit Theokrit auf meinen Lippen vorbereitete Wortschatz, der Bohnenbaum, der Rosmarin, die zarten Pappeln, verschwanden beim Anblick dieser Geranien und Begonien; ich stieg in ein dunkles Gebiet hinein. So war es jedesmal: wenn Rebendart sich zu den Toten begab, um zu sprechen, kam seine Schwiegertochter zu den Lebenden, um zu schweigen.

Rebendart war auf einer Reise abwesend, und ich sah sie jeden Abend wieder. Wir nahmen die Sprache auf an ihrem Urbeginn; wir sagten uns jetzt »Guten Tag«, »Guten Abend.« Wir nannten die Tiere bei ihren Namen. Ich glaube, daß ich sie liebte. Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt zwischen Tieren, zwischen Wesen, die weder zu sprechen noch sich zu berühren verstehen, so hat sich eine solche Liebe, durch unser Schweigen getäuscht, zu uns verirrt. Ihr Körper, ihr Fleisch schien eingeschlafen zu sein und gab nur einzelne Worte, Seufzer und jene halbgesungenen Laute von sich, wie sie der Schlummer erzeugt. Es war nicht eine Bewegung an ihr, die sie nicht auch in ihrem Bett hätte machen können. Sie schien neu, ohne Kindheit, ein ganz neugeschaffenes Wesen, und die ganze Künstlichkeit unseres Lebens auf dieser Erde: die Unannehmlichkeiten der Fallgesetze, die Kompliziertheit der menschlichen Atmung, kam einem ins Bewußtsein, wenn man sie sah. Daß Bella sich auf der Schleuse aufrecht erhielt, schien eine wunderbar gefährliche Leistung. Ich traute mich nicht, sie anzurühren. Man muß wahrhaftig nicht wissen, was die Milz, die Leber ist, um ein menschliches Wesen fest an sich zu drücken. Ich fühlte es in ein Meer von Säuren, von giftigen Grundstoffen eingetaucht, denen zu entkommen man Glück haben mußte. Und außerdem hatten wir gar nicht viel Zeit! Es ist beglückend, mit einer Frau die Schrecken des ersten Menschen wieder zu erleben, die Angst, daß sie plötzlich sich in Luft auflöst, daß ein jäher Sprung von der Stirn bis zur Zehe sie entzweibricht. Es gab keine Zwischenfälle, keine Offenbarungen in unserer Freundschaft. Es passierte niemals etwas, das für kultiviertere Geister den Anfang und das Wachsen ihrer Beziehungen bezeichnet. Wir trafen nie einen Bettler, der mit uns das Dasein Gottes diskutiert hätte. Wir entdeckten nie innerhalb einer spitzbogigen Ruine einen verwundeten Hasen, wir retteten nie ein kleines Mädchen aus den Händen seiner Rabenmutter. Dieselbe Kirsche fand sich nie zugleich auf unsern Lippen. Im Gegenteil, die Welt wurde flach und glatt um uns herum, und nichts in unsern Gedanken nahm feste Form an. Ohne Kenntnis von den Geheimnissen dieses Landes und von ihm nicht gekannt, war uns alles vereinfacht; unsere Spaziergänge durch die seit Chlodwig und Attila berühmten Schlachtfelder waren für uns nur Spaziergänge durch den Klee; statt eine Bache oder eine Trappe aufzuscheuchen, die reichlich da waren, ließen unsre Schritte nur Spatzen und Hühner auffliegen. Wir hatten einen unfehlbaren Instinkt für unmalerische Wege, lauter solche, die auf der Karte von Michelin nicht grün umrahmt sind. Ein Instinkt führte uns auf flache Graswiesen, in rübenbepflanzte Ebenen. Die Champagne legte vor Bella ihr malerisches Wesen, ihre Trockenheit, ihre Vergangenheit ab, eine Art von Beauce blühte unter unsern Schritten auf, reich an leeren Nachmittagen, an Abenden ohne Geschichte. Keine heftigen, plötzlichen Regenfälle, keine Gewitter. Nichts in der ganzen Natur geriet in Bewegung, um uns herauszufordern. Auch wir selbst gerieten kaum in Bewegung, und alle jene Ereignisse, die plötzlich einen elektrischen Kontakt zwischen zwei verliebten Körpern bewirken, etwa ein Luchs, der dem jungen Mädchen ins Gesicht faucht, eine Krähe, die eine Nuß knackt, eine Ringeltaube, auf die sich der Bussard stürzt, blieben uns erspart. Und so war auch das Nachher unsrer Spaziergänge ohne Bedauern, ohne innern Vorwurf, ohne Unbehagen, eine Beauce an Zufriedenheit und Erinnerung. Ich fand Bella stets fertig, ohne daß sie eine Minute mehr für ihre Toilette gebraucht hätte, elegant, obgleich in Kleidern, die man seit tausend Jahren trägt; und wenn ein Dorn ihren Strumpf zerriß oder ein Tropfen auf ihr Foulard fiel, machte sie so wenig daraus, als wenn die Zeit das schon von selbst reparieren würde. Sie wollte die Freske sehen, die ich in der Kirche malte, und lehnte sich unachtsam an einen Pfeiler, den ich ebenfalls bemalt hatte. Auf ihrer weißen Bluse blieb ein breiter roter Streifen, der ganze Mantel des heiligen Martin, der diesmal doppelt freigebig war; aber sie sagte nichts. Sie kam mit diesem blutigen Streifen wieder, den sie wie eine Narbe, die geheilt ist, wenn sie trocknet, zu berühren vermied. Wir kehrten manchmal in einen Gasthof ein. Ich bestellte, ohne sie zu fragen, einen Byrrh Cassis, eine Picon Grenadine, einen Chambéry mit Erdbeeren. Sie trank es mit einem Zuge aus, ohne sich näher zu erkundigen. Sie hielt alles für das gleiche Getränk. Sie wunderte sich, daß jedes Glas anders schmeckte. Die Freundschaft gibt den Getränken gewöhnlich den gleichen Geschmack. Dagegen hatte sie das Gedächtnis einer Ameise. Ich bezeichnete ihr im letzten Augenblick den nächsten Treffpunkt, den ich in der Hast und aufs Geratewohl wählte, etwa den dritten Nußbaum im Feld, die fünfte Schleuse. Ich machte mir am nächsten Tage Vorwürfe, in solcher Eile den Ort bezeichnet zu haben, ich war selber nicht mehr meiner sicher. Doch ich traf Bella stets am Fuß des richtigen Baumes, vor der richtigen Schleuse, immer noch vor der bestimmten Zeit, denn sie war gar nicht kokett. Sie war über die Gestalt der Bäume, über die Strömung der Bäche nie im Zweifel; ein besonderer Sinn, eine Begabung, die wohl die Frauen der Eichhörnchen, doch selten die Schwiegertöchter der Minister haben, unterrichtete sie über den Unterschied zwischen einem japanischen Firnisbaum, einem Katalpabaum und einer Kastanie. Schließlich, als ich nach Paris abreisen mußte, hatten wir von diesen fünfzehn Tagen keine andere Erinnerung als die einer unendlichen Zeit, eines Horizontes ohne Hindernisse, einer Sprache ohne Worte, besaßen wir voneinander kein anderes Pfand, als daß zwei Existenzen sich so nahe als möglich gekommen waren, ohne daß sie dabei aufgehört hätten parallel zu sein, und daß wir die Liebkosung eines ganz verschiedenen, ganz fremden, doch ganz nahen Lebens erfuhren. Ich glaube, daß der erste Tag, an dem ich sie von vorn sah, der Tag meiner Abreise war, am Bahnübergang von Ervy. Ich war traurig, denn ich hatte ihr irrtümlicherweise den Bahnübergang von Raas angegeben, an dem mein Zug gar nicht vorbeikam, doch sie hatte mit einer Sicherheit, die mir kein Fahrplan geben konnte, es von selbst berichtigt. Dort stand sie ganz in Hellgrau, an einen Pfeiler gelehnt, der mir übrigens frisch gestrichen schien, und schrie mir ein Wort zu, das ich natürlich nicht verstehen konnte, das vermutlich das Geheimnis ihres Wesens, der Inhalt ihres Herzens war; denn sie errötet und schweigt, wenn ich sie jetzt darum bitte, daß sie es wiederholt oder aufschreibt.


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