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(Grauer Himmel mit tiefhängendem Gewölk über einer schneebedeckten und vereisten Ebene)
1. Szene
(Ulysses und Neoptolemus)
Neoptolemus :
Ulysses, alles ist bereit. Die Barke ist verankert. Ich habe das tiefe, vor dem Nordwind geschützte Wasser gewählt, aus Furcht, der Wind könnte das Meer zum Gefrieren bringen. Und obgleich diese so kalte Insel nur von den Vögeln der Klippen bewohnt zu sein scheint, habe ich die Barke an einer Stelle verborgen, die von keinem Vorüberkommenden eingesehen wird.
Auch meine Seele bereitet' sich vor; sie ist zum Opfer bereit. Sprich jetzt, Ulysses, alles ist fertig. Vierzehn Tage lang hast du, über die Ruder oder das Steuer gebeugt, nichts gesprochen als die barschen Weisungen, wie dem Anprall der Wogen zu begegnen wäre. Dein hartnäckiges Schweigen ließ meine Fragen verstummen. Ich begriff, daß eine große Traurigkeit deine geliebte Seele bedrückte, weil du mich zum Tode führst. Und auch ich schwieg, da ich fühlte, unsere Worte würden zu rasch vom Winde in die Unendlichkeit des Meeres verweht. Ich wartete. Ich sah, wie hinter uns unter dem Horizont des Meeres die schöne skyrische Küste versank, wo mein Vater gekämpft hatte; dann die goldsandigen oder felsigen Inseln, die ich liebte, da sie. mir Pylos zu gleichen schienen. Dreizehnmal habe ich die Sonne ins Meer tauchen sehen; jeden Morgen stieg sie wieder aus den Fluten, immer gleicher, immer langsamer und niedriger zog sie ihre Bahn, bis wir sie endlich am vierzehnten Tage vergeblich erwarteten. Und seither leben wir gleichsam zwischen Tag und Nacht. Eisschollen trieben auf dem Meere. Wir konnten des beständigen bleichen Schimmers wegen nicht mehr schlafen. Die einzigen Worte, die ich von dir hörte, sollten mich nur auf die Eisbänke aufmerksam machen, vor denen uns ein Ruderschlag rettete. Nun rede, Ulysses! Meine Seele ist gefaßt – nicht wie die Böcke des Bacchus, die man festlich geschmückt zum Opfertode führt, sondern wie Iphigenie, die einfach, sittsam und schmucklos zum Altar trat. Gewiß, ich hätte gleich ihr ohne Klagen im Schote Griechenlands sterben mögen, auf sonnenbestrahlter Erde. Gern hätte ich durch meinen freiwilligen Tod meine ganze Ehrfurcht vor den Göttern und alle Schönheit meiner Seele bewiesen. Sie ist tapfer und hat nicht gekämpft. Es ist hart, ruhmlos zu sterben! Und doch, ihr Götter, bin ich ohne Bitterkeit, da ich langsam alles verließ: die Menschen, den sonnigen Strand ... Und nun sind wir auf dieser ungastlichen Insel angekommen, die baumlos, ohne Sonne daliegt, wo alles Grün von Schnee bedeckt und jedes Leben eiserstarrt ist, unter einem grauweißen Himmel, der sich gleich einer zweiten Schneedecke über unseren Häuptern spannt, fern von allem, ach so fern ... Es scheint, das allein ist schon der Tod! Und mein Geist, allen Wünschen entsagend, wurde von Stunde zu Stunde kühler und reiner, so sehr, daß hier nur mehr der Körper zu sterben braucht.
Sag mir wenigstens Ulysses, durch mein treues Blut befriedigt, werde der geheimnisvolle Zeus den Griechen den Sieg gestatten? Du wirst ihnen doch wenigstens sagen, nicht wahr, Ulysses, daß ich deshalb ohne Zögern sterbe ... Du wirst ihnen sagen ...
Ulysses:
Kind, du sollst nicht sterben. Lächle nicht! jetzt will ich zu dir sprechen. Hör mich an, ohne mich zu unterbrechen. Die Götter mögen sich mit dem Opfer eines der Unsrigen zufrieden geben! Das, was wir zu tun hieher gekommen sind, Neoptolemus, ist weniger leicht als sterben ...
Die Insel, die dir verlassen scheint, ist es nicht! Ein Grieche bewohnt sie: er heißt Philoktet und dein Vater liebte ihn. Einst schiffte er sich mit uns auf der Flotte ein, die voll Hoffnung und Stolz Griechenland verließ, um Asien zu erreichen. Er war der Freund des Herkules und einer der Edelsten unter uns. Hättest du nicht bisher fern vom Lager gelebt, wüßtest du schon seine Geschichte. Wer bewunderte nicht damals seine Tapferkeit? Und wer nannte sie nicht später Verwegenheit? Diese war es, die ihn auf einer unbekannten Insel, vor der unsere Ruder stillhielten, ins Verderben stürzte ... Das Aussehen der Ufer war seltsam; böse Anzeichen hatten uns entmutigt. Da der Befehl der Götter, wie uns Kalchas sagte, dahin gelautet hatte, auf dieser Insel müsse geopfert werden, wartete jeder von uns, daß ein anderer ans Land gehe. Damals bot sich Philoktet lächelnd dazu an. Auf dem Strande der Insel biß ihn eine tückische Schlange. Zuerst zeigte uns Philoktet, auf die Barke zurückgekehrt, lächelnd die kleine Wunde an seinem Fuße. Sie verschlimmerte sich. Sein Lächeln erstarb, sein Antlitz erbleichte, in seinem trüben Blick zeigte sich angstvolle Verwunderung. Nach einigen Tagen erlahmte sein angeschwollener Fuß, und er, der niemals geklagt hatte, begann jämmerlich zu schreien. Zuerst bemühte sich jeder um ihn, um ihn zu trösten, zu zerstreuen; aber nichts half. Man hätte ihn heilen müssen, und als sich herausstellte, die Kunst des Machaon seiner Wunde gegenüber sei machtlos, da überdies sein Geschrei unseren Mut zu erschüttern drohte, ließen wir ihn, als sich das Schiff einer anderen Insel – dieser hier – genähert hatte, auf ihr zurück, allein mit seinem Bogen und seinen Pfeilen, die uns heute beschäftigen werden.
Neoptolemus:
Wie? Allein! Ihr ließet ihn allein, Ulysses?
Ulysses:
Je nun! Hätte er sterben müssen, hätten wir ihn, glaube ich, noch einige Zeit behalten können. Aber nein, seine Wunde ist nicht tödlich.
Neoptolemus:
Aber nun?
Ulysses:
Aber nun sollten wir die Tapferkeit eines Heeres der Verzweiflung, dem Jammer eines einzigen Menschen unterordnen? Man sieht wohl, daß du ihn nicht hörtest!
Neoptolemus:
War sein Schreien denn so schrecklich?
Ulysses:
Nein, nicht schrecklich; klagend – es erfüllte unsere Herzen mit Mitleid.
Neoptolemus:
Konnte denn nicht wenigstens einer von euch bei ihm bleiben, über ihn wachen? Was kann er, krank und verlassen, hier anfangen!
Ulysses:
Er hat seinen Bogen.
[ Neoptolemus:]
Seinen Bogen?
Ulysses:
Ja, den Bogen des Herkules. Und dann muß ich dir sagen, mein Kind: sein von Fäulnis ergriffener Fuß verbreitete im ganzen Schiff den unerträglichsten Gestank.
Neoptolemus:
Ach wirklich?
Ulysses:
Ja. Dann war er so mit seinem Übel beschäftigt, daß er niemals mehr einer neuerlichen Begeisterung für Griechenland fähig gewesen wäre.
Neoptolemus:
Umso schlimmer. Und nun, Ulysses, kommen wir ...
Ulysses:
Höre weiter, Neoptolemus. Du weißt, wie lange wir schon verurteilt sind, vor Troja zu liegen, wieviel Blut vergossen, wieviel Kraft, Geduld und Mut bewiesen werden mußte; verlassen die heimischen Herde und das teure Vaterland ... Nichts von alldem hat genügt. Durch den Priester Kalchas haben die Götter endlich erklärt, daß allein der Bogen des Herkules und seine Pfeile durch eine letzte Kraftanstrengung Griechenland den Sieg zu verleihen vermöchten. Nun siehst du, warum wir beide diese Fahrt unternommen haben – gesegnet sei das Los, das uns hiezu bestimmte! Es scheint, es werde sich jetzt auf dieser so fernen Insel, da wir nun allen Wünschen entsagt haben, unsere große Bestimmung endlich erfüllen und unser Herz hier in seiner völligen Hingabe zur vollkommensten Tugend gelangen.
Ist das alles? Und nun, nachdem du so gesprochen hast, was gedenkst du zu tun? Denn noch sträubt sich mein Geist, deine Worte ganz zu verstehen. Sag, Ulysses, warum sind wir hieher gekommen?
Ulysses:
Um den Bogen des Herkules zu holen; hast du es nicht verstanden?
Neoptolemus:
Ulysses, ist das dein Einfall?
Nicht der meinige, sondern jener, den die Götter mir gaben.
Neoptolemus:
Philoktet wird ihn uns nicht überlassen wollen.
Ulysses:
Daher werden wir uns desselben mit List bemächtigen.
Neoptolemus:
Ulysses, ich hasse dich. Mein Vater lehrte mich, ich solle mich niemals der List bedienen.
Ulysses:
Sie ist stärker als die Gewalt; diese wartet nicht. Dein Vater ist tot, Neoptolemus; ich lebe.
Neoptolemus:
Und sagtest du nicht, es wäre besser zu sterben?
Nicht, es sei besser, sondern leichter. Keine Tat darf uns für Griechenland zu schwer sein.
Neoptolemus:
Ulysses, warum hast du mich gewählt? Und was bedurftest du meiner für diese Handlung, die meine ganze Seele mißbilligt?
Ulysses:
Weil ich diese Handlung nicht vollbringen kann. Philoktet kennt mich zu gut. Wenn er mich sieht, wird er eine List argwöhnen. Deine Unschuld begünstigt unser Vorhaben. Diese Tat mußt du vollbringen.
Neoptolemus:
Nein, Ulysses! Beim Zeus, ich werde es nicht tun.
Ulysses:
Kind, sprich nicht von Zeus! Du hast mich nicht verstanden. Höre mich an! Wähnst du mich weniger traurig als dich, weil meine gequälte Seele sich verbirgt und in die Tat einwilligt? Du kennst Philoktet nicht, ich aber bin sein Freund. Mir fällt es schwerer, ihn zu verraten, als dir. Die Befehle der Götter sind grausam; sie sind eben Götter. Wenn ich in der Barke nicht mit dir sprach, so war eben mein Herz zu traurig, um selbst an Worte zu denken ... Aber du ereiferst dich wie dein Vater und gibst dann der Vernunft kein Gehör mehr.
Mein Vater ist tot, Ulysses; sprich nicht von ihm; er starb für Griechenland. Ach, für dieses zu kämpfen, zu leiden, zu sterben – erlange von mir, was du willst; aber nicht, einen Freund meines Vaters zu verraten!
Ulysses:
Kind, höre mich an und antworte: mußt du nicht die Freundschaft zu allen Griechen höher stellen als die zu einem einzigen? Oder vielmehr: ist das Vaterland nicht mehr als einer seiner Söhne? Und wärest du imstande, einen Menschen zu retten, wenn du hiefür Griechenland opfern müßtest?
Neoptolemus:
Ulysses, du sprichst wahr; ich wäre es nicht imstande.
Ulysses:
Und du gibst zu, daß, wenn die Freundschaft eine kostbare Sache, das Vaterland noch kostbarer ist? ... Sage mir, Neoptolemus, worin besteht die Tugend?
Neoptolemus:
Belehre mich, weiser Sohn des Laërtes.
Ulysses:
Beruhige deine Leidenschaft; stelle über alles die Pflicht ...
Neoptolemus:
Aber was ist die Pflicht, Ulysses?
Die Stimme der Götter, das Gebot des Himmels, unsere Aufopferung für Griechenland. Und wie man die Liebenden überall auf der Erde die kostbarsten Blumen als Gaben für die Geliebte suchen sieht und hört, wie sie für diese zu sterben wünschen, als ob die Unglückseligen ihnen nichts Besseres zu geben hätten als sich selbst: wenn es wahr ist, daß dir dein Vaterland teuer ist, was wäre dir zu kostbar für dasselbe? Gabst du nicht soeben zu, gleich nach ihm komme die Freundschaft? Was war dem Agamemnon teurer als seine Tochter, wenn nicht das Vaterland? Opfere wie auf dem Altar ... Und Philoktet? Was hat er auf dieser Insel, wo er ganz allein lebt, Kostbareres für sein Vaterland zu geben als diesen Bogen?
Ulysses:
Aber, Ulysses, wenn es so ist, verlange ihn doch von ihm!
Ulysses:
Er könnte sich weigern. Ich kenne seine Stimmung nicht, aber ich weiß, seine Aussetzung brachte ihn gegen die Führer des Heeres auf. Vielleicht erzürnt er die Götter durch seine Gedanken, vielleicht hat er aufgehört, uns den Sieg zu wünschen. Vielleicht auch wollen die beleidigten Götter ihn durch uns nochmals züchtigen lassen. Zwingen wir ihn zur Überlassung seiner Waffe und dadurch zur Tugend, werden die Götter weniger streng mit ihm verfahren.
Aber, Ulysses, können die Handlungen, die man wider seinen Willen vollbringt, verdienstlich sein?
Ulysses:
Glaubst du nicht, Neoptolemus, es käme vor allem darauf an, daß die Gebote der, Götter erfüllt werden, selbst ohne jedermanns Einwilligung?
Neoptolemus:
Alles, was du vorhin sagtest, billige ich; aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll, und es scheint mir sogar ...
Ulysses:
Still! Horch ... Hörst du nichts?
Neoptolemus:
Doch, das Brausen des Meeres.
Ulysses:
Nein. Er ist's! Sein furchtbares Geschrei dringt bis zu uns.
Neoptolemus:
Furchtbar? Ich höre im Gegenteil melodisches Singen, Ulysses.
Ulysses (lauschend:)
Wahrhaftig, er singt; das macht er gut! Jetzt, wo er allein ist, singt er! In unserer Nähe schrie er.
Neoptolemus:
Was singt er?
Noch kann man die Worte nicht verstehen. Horch, er kommt aber näher.
Neoptolemus:
Er hört auf, zu singen; er bleibt stehen; er hat unsere Fußspuren im Schnee gesehen.
Ulysses:
Und nun, hörst du? beginnt er wieder zu schreien. Ah, Philoktet!
Neoptolemus:
Sein Geschrei ist in der Tat entsetzlich.
Ulysses:
Geh, lauf zu den Felsen dort und lege mein Schwert hin! Er soll eine griechische Waffe erkennen und wissen, daß die Spuren, die er sah, von einem Landsmann herrühren. – Beeile dich! Nun ist er ganz nahe. – So ist's gut. – Komm jetzt, wir wollen uns hinter diesem Schneehügel verbergen, wo wir ihn beobachten können, ohne von ihm gesehen zu werden. Wie wird er zetern! »Unselige«, wird er ausrufen, »Verderben den Griechen, die mich im Stiche gelassen haben! Führer des Heeres! Und du, Schurke Ulysses! Und ihr, Agamemnon, Menelaos! Mögen sie ihrerseits von meinem Übel verzehrt werden! O Tod! Tod, den ich täglich rufe, bleibst du taub gegen meine Klagen! Kannst du niemals kommen! O Höhle! Felsen! Vorgebirge! Stumme Zeugen meiner Leiden, könntet ihr niemals ...
(Philoktet tritt auf; er bemerkt den Helm und die in der Mitte der Bühne niedergelegten Waffen)
2. Szene
(Philoktet, Ulysses, Neoptolemus)
Philoktet (schweigt).
1. Szene
(Ulysses, Philoktet, Neoptolemus, sitzend)
Philoktet.
Gewiß, Ulysses, erst seit ich fern von den anderen bin, verstehe ich, was man Tugend nennt. Der Mensch, der unter den anderen lebt, ist unfähig – unfähig, glaube es mir! – einer reinen und selbstlosen Handlung. Also ihr ... kamt hieher ... weshalb? ...
Ulysses:
Aber, um dich zu sehen, lieber Philoktet.
Philoktet.
Das glaube ich nicht und mache mir wenig daraus; die Freude, euch wiederzusehen, ist groß und genügt mir. Ich habe die Gabe verloren, nach den Beweggründen der Handlungen zu forschen, seitdem die meinigen kein Geheimnis mehr verbergen. Was ich bin, für wen würde ich es erscheinen wollen? Meine einzige Sorge ist, zu sein. Ich habe aufgehört zu jammern, wissend, daß kein Ohr mich hier hören kann, aufgehört zu wünschen, in dem Bewußtsein, hier keinen Wunsch erfüllt sehen zu können.
Ulysses:
Warum hörtest du nicht früher auf zu wehklagen, Philoktet? Wir hätten dich bei uns behalten.
Philoktet.
Das durfte ich nicht, Ulysses. Bei den anderen wäre mein Schweigen Lüge gewesen.
Ulysses:
Während hier ...
Philoktet.
... mein Leiden nicht mehr der Worte bedarf, um bekannt zu werden, da es nur mir bekannt ist.
Ulysses:
So hast du also seit unserer Abfahrt geschwiegen, Philoktet?
Philoktet.
Das nicht. Aber meine Klage ist, seit ich mich ihrer nicht mehr bediene, um mein Leiden zu verkünden, sehr schön geworden, so daß ich in ihr Trost finde.
Umso besser, mein armer Philoktet.
Philoktet.
Vor allem, beklage mich nicht! Ich habe aufgehört zu wünschen, da ich – wie ich schon sagte – weiß, daß ich nichts bekommen könnte ... Nichts von außen bekommen, allerdings, aber viel von mir selbst. Und seither ersehne ich die Tugend; meine Seele ist ganz von ihr erfüllt, und ich ruhe, trotz meiner Schmerzen, in der Stille – wenigstens war es so, als ihr kamt ... du lächelst?
Ulysses:
Ich sehe, daß du dich zu beschäftigen wußtest.
Philoktet.
Du hörst mir zu, ohne mich zu verstehen. Schätzest du die Tugend nicht?
Ulysses:
Doch – die meinige.
Philoktet.
Welche ist das?
Ulysses:
Du würdest mich anhören, ohne mich zu verstehen ... Sprechen wir lieber von den Griechen. Hat deine einsame Tugend bewirkt, daß du ihrer vergaßest!
Philoktet.
Um aufzuhören ihnen zu zürnen – ja, gewiß.
Paß auf, Neoptolemus! – Also der Erfolg des Kampfes, dem zuliebe ...
Philoktet.
... ihr mich zurückgelassen habt ... was soll ich davon denken, Ulysses? Wenn ihr mich zurückließet, so geschah das, um zu siegen, nicht wahr? Ich hoffe also für euch, daß ihr siegreich seid ...
Ulysses:
Und wenn nicht?
Philoktet.
Wenn nicht, hätten wir Hellas für zu groß gehalten. Ich bin auf dieser Insel von Tag zu Tag weniger Grieche, von Tag zu Tag mehr Mensch geworden ... Dennoch, wenn ich euch sehe, fühle ich ... Achill ist tot, Ulysses?
Ulysses:
Achill ist tot; der mich begleitet, ist sein Sohn. Wie? Du schluchzest, Philoktet? ... Diese Ruhe, nach der du so strebtest ...
Philoktet.
Achill! ... Kind, laß meine Hand diese so schöne Stirne streicheln ... Schon lange, lange hat meine Hand nur mehr kalte Dinge berührt; und selbst die Körper der Vögel, die ich töte und die in die Fluten oder auf den Schnee fallen, sind, wenn meine Hände sich ihnen nähern, eiskalt wie die höheren Regionen der Atmosphäre, die sie durchfliegen ...
Du drückst dich gut aus für einen, der leidet
Philoktet.
Ich habe es dir doch gesagt – hast du mich nicht verstanden? Ich drücke mich besser aus, seit ich nicht mehr zu Menschen spreche. Meine Beschäftigung zwischen Jagd und Schlaf ist das Denken. Meine Ideen haben in der, Einsamkeit, und da nichts, selbst der Schmerz nicht, sie stört, einen erhabenen Flug genommen, dem ich manchmal nur mit Mühe folge. Ich habe mehr von den Geheimnissen des Lebens begriffen, als mir alle meine Lehrer geoffenbart hatten. Ich beschäftigte mich auch damit, mir selbst mein Leid zu erzählen, und je schönere Sätze ich bildete, desto mehr ward ich durch sie getröstet; ja, es kam vor, daß ich über ihnen meine Traurigkeit vergaß. Ich begriff, daß die Worte schöner sind, sobald sie nicht mehr dem Wunsche dienen. Da es in meiner Nähe weder Ohren noch Münder gab, formte ich meine Worte nur in Schönheit Ich ließ sie auf der ganzen Insel, längs des Strandes erschallen. Und die Insel schien mir weniger einsam, da sie mir zuhörte. Die Natur glich meiner Traurigkeit. Es deuchte mir, ich wäre ihre Stimme, auf die die stummen Felsen warteten, um durch sie ihr Leid zu künden: denn ich habe gesehen, daß alles um mich herum krank ist ... und diese Kälte nicht normal, denn ich erinnere mich Griechenlands ... Und nach und nach nahm ich die Gewohnheit an, mehr die Not der Dinge als meine eigene hinauszuschreien; ich fand es besser so – wie soll ich es dir nur sagen? übrigens war diese Not der meinigen gleich, und ihre Verkündigung brachte mir Trost. Und dann fand ich meine schönsten Sätze, wenn ich vom Meere und der endlosen Woge sprach. Soll ich dir's gestehen, Ulysses – Ulysses! Manche dieser Sätze waren so schön, daß ich Tränen der Trauer darüber vergoß, daß kein Mensch sie hören könne. Seine Seele, so dachte ich, wäre durch sie verwandelt worden. Höre, Ulysses, höre! Noch hat mich niemand vernommen.
Ulysses:
Wie ich sehe, hast du dich daran gewöhnt, zu sprechen, ohne unterbrochen zu werden. Beginne also!
Philoktet ( deklamierend):
Unendliches Lächeln der Meereswogen ...
Ulysses ( lachend):
Aber, Philoktet, das ist ja von Äschylos!
Philoktet:
Vielleicht ... Stört dich das ...? (er verbessert sich) Unendliches Schluchzen der Meereswogen ... (er verstummt)
Ulysses:
Nun, und? ...
Ich weiß nicht mehr ... ich bin verwirrt.
Ulysses:
Je nun, du wirst ein andermal fortfahren.
Neoptolemus:
Ach, wenn du doch weiter sprächest, Philoktet!
Ulysses:
Schau, das Kind hörte dir zu!
Philoktet.
Ich kann nicht mehr sprechen.
Ulysses ( erhebt sich):
Ich lasse dich ein wenig, damit du deine Gedanken wieder findest. Auf Wiedersehen, Philoktet. – Aber sage: keine Gefangenschaft ist so hart, daß sie nicht doch Ruhe, Vergessen, Entspannung brächte? ...
Philoktet:
In der Tat, Ulysses. Eines Tages fiel, von meinem Pfeil getroffen, doch nur verwundet, ein Vogel zu Boden. Ich hoffte, sein Leben retten zu können. Doch wie hätte ich dieses Geschöpf, dessen ganzes Dasein Bewegung in den Lüften war, erhalten können, dessen Flug über diesen harten Boden glitt, wo die Kälte dem erstarrten Wasser selbst die Gestalt meiner logischen Gedanken gibt? Der Vogel starb; in wenigen Stunden habe ich ihn verenden sehen, nachdem ich vergeblich versucht hatte, ihm mit meinen Küssen und dem Hauch meines Mundes Wärme einzuflößen. Er starb, da er des Fluges beraubt war ...
Es scheint mir sogar, lieber Ulysses, daß der Strom der Dichtung, kaum meinen Lippen entquollen, erstarrt und erstirbt, da er sich nicht zu verbreiten vermag, und daß die innere Flamme, die ihn belebt, stets schwächer wird. Die Kälte durchdringt mich, teurer Ulysses, und jetzt erschrecke ich, denn ich finde darin und selbst in ihrer Strenge – Schönheit.
Ich schreite sicher über die Dinge und erstarrten Wasser hinweg. Ich träume niemals mehr, sondern denke nur. Ich hege keine Hoffnungen mehr und bin deshalb auch nie mehr trunken. Wenn ich hier, wo alles harter Stein ist, etwas – sagen wir, ein Samenkorn – setze, so finde ich es lange nachher unverändert wieder: es hat niemals gekeimt. Hier wird nichts, Ulysses – alles ist, alles bleibt. Kurz, man kann hier Forschungen anstellen! Ich habe den toten Vogel aufbewahrt – hier ist er; die Luft ist zu kalt, als daß er jemals verwesen könnte. Und meine Handlungen, Ulysses, und meine Worte sind gleichsam eingefroren und umgeben mich beständig wie im Halbkreis aufgestellte Felsblöcke. Und da ich sie täglich hier wiederfinde, schweigt jede Leidenschaft, ich fühle die Wahrheit immer stärker – und ich wünschte, meine Handlungen wären gleichfalls immer sicherer und schöner. Wahr, rein, kristallen, schön, ach schön, Ulysses, wie jene Rauhreifgebilde, durch die die ganze Sonne, wenn sie käme, hindurchschiene. Ich will keinen Strahl des Zeus aufhalten; er möge mich durchdringen, Ulysses, wie ein Prisma und dieses gebrochene Licht meine Handlungen liebenswert machen. Ich möchte zur größten Durchsichtigkeit gelangen und wünschte, selbst du fühltest, wenn du mich handeln siehst, mein Licht.
Ulysses ( im Abgehen):
Nun lebe wohl! ( auf Neoptolemus zeigend) Plaudere mit ihm, da er dir zuhört, ( ab)
2. Szene
(Philoktet, Neoptolemus)
Neoptolemus:
Philoktet, lehre mich die Tugend ...
1. Szene
(Philoktet tritt auf)
Philoktet ( verstört, in schmerzlicher Überraschung): Blinder Philoktet! Erkenne deinen Irrtum und beweine deinen Wahn! Daß das Wiedersehen mit den Griechen dein Herz entzücken konnte! ... Habe ich recht verstanden? – Sicherlich. Ulysses und Neoptolemus saßen beisammen. Da sie mich nicht in der Nähe vermuteten, hatten sie nicht einmal ihre Stimmen gedämpft; Ulysses beriet Neoptolemus und lehrte ihn, wie er mich verraten solle. Er sagte ihm ... Unglücklicher Philoktet! Dir deinen Bogen zu rauben, haben sie die weite Fahrt hier unternommen! Wie sehr müssen sie seiner bedürfen! Kostbarer Bogen, ach, einziges Gut, das mir blieb und ohne das ... ( er lauscht) Man kommt! Verteidige dich, Philoktet! Dein Bogen ist gut und sicher dein Arm! Tugend, Tugend, die ich so sehr liebte, da ich allein war! Fern von ihnen hatte mein schweigendes Herz Ruhe gefunden. Ah, jetzt weiß ich, was die Freundschaft wert ist, die sie mir vorschlagen! Ist das Griechenland, meine Heimat? Ulysses, den ich hasse, und du, Neoptolemus ... Und doch, wie er mir zuhörte! Welche Sanftmut! Kind, ebenso schön, o schöner noch, als dein Vater ... Wie kann eine so reine Stirn solchen Gedanken verbergen? »Die Tugend« sagte er »Philoktet, lehre mich die Tugend!« Was sagte ich ihm doch nur? Ich erinnere mich nur noch, daß ... Was liegt jetzt daran, was ich ihm gesagt haben konnte! ( er lauscht) Schritte! Wer kommt? Ulysses!( er faßt seinen Bogen) Nein, es ist ... Neoptolemus.
( Neoptolemus tritt auf)
2. Szene
(Philoktet und Neoptolemus)
Neoptolemus ( ruft):
Philoktet! ( er kommt heran und sagt, wie mit versagender Stimme:) Ach! Ich bin krank!
Krank?
Neoptolemus:
Du hast mich irre gemacht. Gib mir die Ruhe wieder, Philoktet. Alles, was du mir sagtest, ist in meinem Herzen aufgegangen. Während du sprachst, wußte ich nicht, was ich antworten sollte. Ich hörte zu. Mein einfältiges Herz öffnete sich deinen Worten. Du bist längst verstummt, und doch höre ich dich noch immer. Aber nun verwirrt sich alles und ich warte. Sprich! Ich habe nicht ganz verstanden ... Man muß sich aufopfern, sagtest du? ...
Philoktet ( verschlossen):
... Sich aufopfern.
Neoptolemus:
Aber auch Ulysses lehrt mich das. Sich aufopfern, wofür, Philoktet? Er sagt, für's Vaterland ...
Philoktet.
... Für's Vaterland.
Neoptolemus:
Ach sprich, Philoktet; du mußt jetzt fortsetzen.
Philoktet ( ausweichend):
Kind ... kannst du Bogen schießen?
Neoptolemus:
Ja, warum?
Könntest du diesen da spannen?
Neoptolemus ( enttäuscht):
Du willst ... Ich weiß nicht, ( er versucht es) Ja, vielleicht. – Gelungen!
Philoktet ( zur Seite):
Mit welcher Leichtigkeit! Es scheint, daß ...
Neoptolemus ( unentschlossen):
Und nun ...
Philoktet:
Ich habe gesehen, was ich sehen wollte, ( er nimmt den Bogen wieder)
Neoptolemus:
Ich verstehe dich nicht.
Philoktet.
Macht nichts: Ach! ... ( er besinnt sich) Hör Kind, glaubst du nicht, daß die Götter über Griechenland stehen und daß sie wichtiger sind als dieses?
Neoptolemus:
Nein, beim Zeus, das glaube ich nicht.
Philoktet.
Und warum denn, Neoptolemus?
Neoptolemus:
Weil die Götter, denen ich diene, nur Griechenland dienen.
Wie! Was! Sind sie unterworfen?
Neoptolemus:
Nicht unterworfen ... Ich weiß nicht, wie ich sagen soll ... Aber, schau! Du weißt, daß man sie außerhalb Griechenlands nicht kennt. Griechenland ist ebenso ihr Land, wie es das unsrige ist; diene ich diesem, so diene ich zugleich den Göttern; sie unterscheiden sich nicht von meinem Vaterland.
Philoktet:
Gleichwohl, siehst du, ich kann zu dir sprechen, der ich nicht mehr Griechenland angehöre, und ... ich diene ihnen ...
Neoptolemus:
Glaubst du? – Ach, armer Philoktet! Man entgeht Griechenland nicht leicht ... und selbst ...
Philoktet ( gespannt):
Und selbst? ...
Neoptolemus:
Ah, wenn du wüßtest ... Philoktet ...
Philoktet:
Wenn ich wüßte ... Was?
Neoptolemus ( sich eines anderen besinnend):
Nein, sprich du; ich bin gekommen, dich anzuhören, und du fragst. Ich fühle wohl, Ulysses und du, eure Tugend ist nicht dieselbe ... Aber, wenn du sprechen sollst, du, der du so gut sprachst, du zögerst ... Sich aufopfern, wem, Philoktet?
Philoktet:
Ich wollte dir gerade sagen: den Göttern ... aber, Neoptolemus, es gibt doch etwas, was noch über den Göttern steht.
Neoptolemus:
Über den Göttern?
Philoktet:
Ja, da ich nicht wie Ulysses handle.
Neoptolemus:
Sich aufopfern, wofür, Philoktet? Was steht über den Göttern?
Philoktet:
Es gibt ... ( (er nimmt den Kopf in beide Hände, wie von seinen Gefühlen übermannt) Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nicht ... Ah, Ah, sich selbst! ... Ich kann nicht mehr sprechen, Neoptolemus ...
Neoptolemus:
Sich aufopfern, wofür? Sag doch, Philoktet ...
Philoktet:
Sich aufopfern ... sich aufopfern ...
Neoptolemus:
Du weinst!
Kind! Ah, wenn ich dir die Tugend zeigen könnte ... ( er richtet sich jäh auf) Ich höre den Ulysses! Lebe wohl ... ( er entfernt sich und sagt im Weggehen:) Werde ich dich wiedersehen?
Neoptolemus:
Lebe wohl!
( Ulysses tritt auf)
3. Szene
( Ulysses und Neoptolemus)
Ulysses:
Komme ich zu rechter Zeit? Was hat er gesagt? Hast du nichts gesprochen, mein Schüler?
Neoptolemus:
Dank deinen Lehren besser als er. Aber was liegt daran – Ulysses, er hat mir seinen Bogen zu spannen gegeben! ...
Ulysses:
Seinen Bogen? Du scherzest! – Nun, warum hast du ihn denn nicht behalten, Sohn des Achilles?
Neoptolemus:
Was ist ein Bogen wert ohne Pfeile? Während ich den Bogen in Händen hatte, behielt er vorsichtig die Pfeile.
Der kluge Freund! ... Meinst du, er ahnt etwas? Was sprach er?
Neoptolemus:
O wenig, fast nichts.
Ulysses:
Und hat er dir wieder seine Sätze von der Tugend aufgesagt?
Neoptolemus:
Er, der vordem so gut redete, schwieg, sobald ich ihn fragte.
Ulysses:
Siehst du! ...
Neoptolemus:
Und als ich ihn fragte, wofür man sich aufopfern solle, wenn nicht für Griechenland, sagte er ...
Ulysses:
Er sagte dir? ...
Neoptolemus:
Er wisse es nicht. Und als ich ihm sagte, die Götter selbst – wie du es mich gelehrt hattest – unterwürfen sich ihm, antwortete er: »Es steht also über den Göttern« ...
Ulysses:
Was?
Er hat gesagt, er wisse es nicht.
Ulysses:
Nun, du siehst wohl, Neoptolemus ...
Neoptolemus:
Nein, Ulysses, ich glaube es jetzt zu verstehen.
Ulysses:
Verstehen, was?
Neoptolemus:
Etwas. Denn schließlich, welcher Sache weihte sich Philoktet auf dieser einsamen Insel, bevor wir kamen?
Ulysses:
Aber, du sagtest es schon: gar keiner. Wozu dient die einsame Tugend? Trotz allem, was er glaubt, übte er sie zwecklos. Wozu dienen alle seine Phrasen? Sie mögen ja schön sein ... Haben sie dich überzeugt? ... Mich auch nicht.
Wenn er also allein auf dieser Insel lebt, so mußte das sein, – das habe ich dir wohl bewiesen – um das Heer von seinem Wehklagen und seinem Gestank zu befreien. Darin besteht seine erste Aufopferung, darin seine Tugend, was immer er auch sagen möge. Seine zweite Tugend wird – wenn er wirklich so tugendhaft ist – darin bestehen, sich zu trösten, wenn er seinen Bogen verloren haben wird, in dem Gedanken, daß es für Griechenland geschah. Welch andere Hingabe läßt sich erdenken, wenn nicht die für's Vaterland? Er wartete, siehst du, daß wir kämen, um ihm diese anzubieten ... Aber, da er sich weigern könnte, ist es besser, daß wir seine Tugend erzwingen, ihm das Opfer auferlegen – und daher halte ich es für klüger, ihn einzuschläfern. Sieh dieses Fläschchen ...
Neoptolemus:
Ach, sprich nicht zu viel, Ulysses ... er, Philoktet, schwieg.
Ulysses:
Weil er nichts mehr zu sagen hatte.
Neoptolemus:
Und deshalb weinte er?
Ulysses:
Er weinte darüber, daß er sich getäuscht hatte.
Neoptolemus:
Nein, meinetwegen weinte er.
Ulysses ( lächelnd):
Deinetwegen? ... Was man aus Dummheit begonnen hat, das nennt man dann aus Hochmut – Tugend.
Neoptolemus ( in Tränen ausbrechend): Ulysses! Du verstehst Philoktet nicht ...
1. Szene
( Philoktet, Neoptolemus)
Philoktet ist allein; er sitzt, vom Schmerz übermannt – oder in Betrachtungen versunken.
Neoptolemus ( tritt eilig auf):
Wenn ich ihn nur rechtzeitig antreffe! ... Ah, du bist's, Philoktet! Höre mich eilends an! Das Vorhaben, deswegen wir hieherkamen, ist nichtswürdig. Aber sei du größer als wir: verzeihe mir! Wir kamen – ach, ich schäme mich, es zu sagen, um dir deinen Bogen zu stehlen, Philoktet!
Philoktet:
Ich wußte es.
Neoptolemus:
Du verstehst mich nicht! ... Um dir deinen Bogen zu stehlen, sage ich dir ... Ah, verteidige dich!
Philoktet:
Gegen wen? Gegen dich? Sag, mein Neoptolemus!
Neoptolemus:
Nein, gewiß nicht gegen mich: ich liebe dich und warne dich.
Philoktet:
Und verrätst Ulysses ...
Und bin verzweifelt ... Dir ergebe ich mich. Liebst du mich? Sprich, Philoktet. Ist das die Tugend?
Philoktet:
Kind!
Neoptolemus:
Sieh, was ich dir bringe. Dieses Fläschchen soll dich einschläfern. Aber ich gebe es dir – da! Ist das Tugend? – So sprich doch!
Philoktet:
Kind! Nur Schritt für Schritt gelangt man zur höchsten Tugend; was du da tust, ist nur ein Sprung.
Neoptolemus:
Also belehre mich, Philoktet!
Philoktet:
Dieses Fläschchen sollte mich einschläfern, sagst du? ( er nimmt es in die Hand und betrachtet es) Kleines Fläschchen ... du wenigstens sollst deinen Zweck nicht verfehlen! Siehst du, was ich mache, Neoptolemus? ( er trinkt)
Neoptolemus:
Was! Unglückseliger, aber das ist ...
Philoktet:
Benachrichtige Ulysses. Sag ihm ... er kann kommen.
( Neoptolemus läuft, von Schrecken ergriffen, schreiend weg)
2. Szene
( Philoktet, dann Ulysses und Neoptolemus)
Philoktet ( allein):
Und du wirst mich bewundern, Ulysses; ich will dich zwingen, mich zu bewundern. Meine Tugend übertrifft die deinige, und du fühlst deinen Wert vermindert. Begeistere dich, Tugend des Philoktet! Entzücke dich an deiner Schönheit! Neoptolemus, warum nahmst du meinen Bogen nicht gleich? Je mehr du mich liebgewannst, desto schwerer wurde dir diese Tat: du hast dich nicht genug aufgeopfert. Nimm sie ... ( er blickt um sich) Er ist nicht mehr da ...
Dieses Getränk hatte einen abscheulichen Geschmack; wenn ich nur daran denke, überkommt mich der Ekel; ich möchte schneller einschlafen ... Von allen Opfern ist jenes das törichteste, das man für die anderen bringt, denn dann wird man ihnen überlegen. Ich opfere mich auf, ja, aber nicht für Griechenland ... Ich bedauere nur eines: daß mein Opfer Griechenland zum Vorteil wird ... Doch nein, ich bedauere es nicht einmal ... Aber dann danke mir nicht: ich handle mir, nicht dir zuliebe. – Ulysses, du wirst mich bewundern, nicht wahr? – Aber wirst du mich wirklich bewundern? Ulysses! Ulysses! Wo bist du denn? Verstehe: Ich opfere mich auf, aber nicht für das Vaterland ... für etwas anderes, verstehe! Es geschieht für ... was? Ich weiß nicht. Wirst du verstehen? Ulysses, du wirst vielleicht glauben, ich opfere mich für Griechenland? Ah, dieser Bogen und diese Pfeile sollen ihm dienen! ... Wohin soll ich sie werfen ... Ins Meer! ( er will laufen, fällt aber, von der Wirkung des Trankes überwältigt, zu Boden) Ich bin kraftlos. Ach, mein Kopf wird irre ... Er wird kommen.
Tugend! Tugend! In deinem bitteren Namen suche ich ein wenig Trunkenheit. Sollte ich sie schon ganz aufgebraucht haben? Der Stolz, der mich stützt, schwankt und gibt nach: ich weiche überall zurück. »Keine Sprünge, keine Sprünge«, sagte ich zu ihm. Was man über seine Kräfte tut, Neoptolemus, das nennt man Tugend. Tugend ... ich glaube nicht mehr an sie, Neoptolemus. Aber so höre mich doch, Neoptolemus! Neoptolemus! Es gibt keine Tugend! – Neoptolemus! ... Er hört nicht mehr ... ( er sinkt und schläft ein)
Ulysses ( tritt auf und erblickt Philoktet):
Und jetzt laß mich mit ihm allein. ( Neoptolemus, aufs heftigste bewegt, zögert, sich zurückzuziehen) Nun ja! Geh, wohin du willst! Lauf zur Barke und mache sie bereit, wenn du willst. ( Neoptolemus ab)
Ulysses ( allein, tritt zu Philoktet und beugt sich über ihn):
Philoktet! Du hörst mich also nicht mehr, Philoktet? – Du wirst mich nicht mehr hören? – Was tun? Ich hätte dir gerne gesagt ... daß du mich besiegt hast, Philoktet. Und ich sehe jetzt, was Tugend ist; sie erscheint mir so schön, daß ich in deiner Nähe nicht mehr zu handeln wage. Meine Aufgabe erscheint mir wohl grausamer als die deinige, denn sie ist nicht so erhaben. Deinen Bogen ... ich kann, will ihn nicht mehr nehmen: du hast ihn hergegeben. – Neoptolemus ist ein Kind; er gehorche. Ah, da ist er! ( befehlend) Und nun, Neoptolemus, nimm den Bogen und die Pfeile und trag sie zur Barke. ( Neoptolemus tritt, aufs tiefste betrübt, zu Philoktet, beugt sich zu ihm herab, wirft sich auf die Knie und küßt ihn auf die Stirne)
Ulysses:
Ich befehle es dir! Ist es nicht genug, daß du mich verraten hast? Willst du auch dein Vaterland verraten? Sieh, wie er sich dafür aufgeopfert hat.
( Neoptolemus nimmt gehorsam Bogen und Pfeile auf und entfernt sich)
Ulysses ( allein):
Und jetzt lebe wohl, harter Philoktet! Hast du mich sehr verabscheut? Ach, ich möchte gerne wissen ... Ich wollte, er wüßte, daß ich ihn bewunderungswürdig finde ... Und daß ... dank ihm, wir siegen werden.
Neoptolemus ( ruft aus der Ferne):
Ulysses!
Ulysses:
Philoktet allein, auf einem Felsen sitzend. Die Sonne geht über einem vollkommen klaren Himmel auf. In der Ferne entschwindet eine Barke auf dem Meere. Philoktet sieht ihr lange nach.
Philoktet ( leise, sehr ruhig):
Sie werden nicht wiederkommen; es ist kein Bogen mehr zu holen ... Ich bin glücklich.
( Seine Stimme ist überaus schön und sanft geworden. Rings um ihn sprießen Blumen aus dem Schnee und die Vögel des Himmels fliegen herab, um ihn zu ernähren.)