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Rusts Tagebuch ist uns erhalten geblieben. Und besonders die Aufzeichnungen, die er über die Unheilsreise der Kleopatra und den Untergang des Schiffes hinterlassen hat (es sind nur wenige Blätter, und wie flüchtige Augenblicksbilder in eilender Kurzschrift hingeworfen), sie verdienen es, daß der Erzähler dieser Geschichte auf einige Zeit zurücktritt und Rust selber sprechen läßt. Der Abschnitt der wenig umfangreichen Niederschrift, den wir hier herausgreifen, beginnt mit dem Tag der Ausreise der Kleopatra. Hören wir, was uns Rust berichtet.
An Bord der Kleopatra.
Hamburg, den 3. September.
Die Trossen sind losgeworfen. Der elfte Glockenschlag von St. Katharinen zittert noch in der grauen Luft dahin über die flatternden Wimpel des Indiahafens, als von der Schiffsbrücke der Kommandoruf »Anker auf!« erschallt. Ein knirschendes Spannen der Kette, ein Krick und Krack in den Klüsen – und das aufgestörte Ungetüm erhebt schon das eiserne Haupt seines Unwillens triefend aus der Tiefe. Den Platz des Steuermanns, oben auf hoher Brücke am Ruderrade, hat der Lotse eingenommen, während neben ihm der Kapitän wartet, mit dessen Rufe »Langsam vorwärts!« ins Sprachrohr des Maschinenraums hinunter, achtern die Schraube angeht und ihre schweren Flügel in das aufschäumende Wasser schlägt. Am Eck des Afrikahöftes, ehe wir aus der mastenstarrenden Schiffestadt hinausdrehen in die freie Elbe, muß ich noch einmal den Blick wenden und ihn mit einem letzten Gruße zurück zum schwindenden Ufer schicken, zu einem ehrwürdigen Haupte drüben, dessen Schnee noch immer im Winde weht. Ein Gefühl sagt mir, ich werd es niemals wiedersehen!
4 Uhr nachmittags.
Kuxhaven Feuerturm passiert. Und schon ein Mißgeschick! Es ist nur der Bruch eines kleinen Maschinenteils, aber dieses Ungemach zwingt uns, nach Kuxhaven zurückzuwenden und die Ausbesserung des Schadens, die einige Stunden in Anspruch nehmen kann, dort abzuwarten. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich muß doch sagen, daß mir unser Unfall ein gewisses Mißbehagen verursacht, welches zu überwinden ich alle Kraft des Willens aufbiete. Ja. ich will es nicht verschweigen, es beherrscht mich sogar ein seltsames Gefühl, das mir für diese Reise wenig Gutes zu künden scheint. Es ist merkwürdig, und doch sträubt sich mein Verstand es zu glauben, daß Ereignisse ihren Schatten in eine Seele schon vorauswerfen können.
Abends 8 Uhr.
Der Schaden ist glücklich ausgebessert, und wir haben nun schon hinter Neuwerk das weiße Blinklicht des Elbfeuerschiffs I passiert, wo der Lotse uns verlassen hat. Vor uns ausgebreitet wälzt das nordische deutsche Meer die abendgrauen Wellen, über die schon die Fittiche der Nacht schlagen, wilde Rosse und Reiter jagend, bis daß sie weißschäumen.
Zwischen 9 und Mitternacht.
Nordnordwestlich über Steuerbord werden Lichter sichtig. Es ist der Dreiblitz von Helgoland, der mit feurigem Finger nach Nord und Ost und West in die Schwärzen der Nacht schreibt. Wir laufen mit zwölf Knoten in der Stunde und gelangen um die Mitte der ersten Nachtwache, also zehn Uhr etwa, in die Feuerkreise des Roten Sand-Leuchtturms und des Weserschiffes hinab, dessen drei Feuer wiederum mit dem viermal blitzenden Licht des Turmes von Wangeroog wechseln. So reicht ein Licht dem andern wie leuchtende Schwestern die Flammenhand, so wechseln die Kreise der Blitz- und Blinklichter, festen und Funkelfeuer die ganze befeuerte Küste entlang und lassen wohl kaum eine Lücke der Finsternis offen, in die sich die Tücke der Nacht verbergen könnte.
Schon schlägt die Schiffsglocke das letzte Glas vor der Mitternachtswache an, als weit links von Bord das Feuerschiff Borkum Riff erscheint. Der letzte Blick der Heimat! ... Deutsche Heimat, leb wohl! ...
Am 4. September 9 Uhr abends.
Nach einer stürmischen Nachtfahrt, der ein nebeliger Morgen und trüber Tag folgte, sichteten wir steuerbords am andern Abend die Lichter einer Stadt. Es waren die Leuchtfeuer und Laternen von Dover. Bald waren die Flammen nur Flämmchen noch und lagen hinter uns, verschlungen vom Nebel der Nacht.
Am 5. September.
Der Morgen graute, als westlich aus dem Wasserrauche die Feuer von Portsmouth aufschimmerten. Es fehlte noch ein Viertel an Sieben, da wir Sinah-Feuer passierten, eine Stunde noch früher, als wir ursprünglich gerechnet hatten. Da das Barometer in der Nacht noch mehr gefallen war, hatte der Kapitän in die Kesselfeuer werfen lassen, was möglich war, und so mit fünfzehn Knoten die äußerste Geschwindigkeit erreicht, die er dem Schiffe zumuten konnte. Wäre die Anfurt des Portsmouther Hafens aus einem geschäftlichen Grunde (wir hatten dort noch eine Ladung einzunehmen und eine andere zu löschen dafür) nicht unvermeidlich gewesen, so hätten wir lieber die Straße des Kanals innegehalten und wären vom Kurs auf Portsmourh gänzlich abgefallen, nur um so bald als möglich die offene See zu erreichen. Es war uns daher eine große Beruhigung, daß der Auswechsel der betreffenden Güter glatt vonstatten ging, so daß wir, da wir die Kessel unter Dampf gehalten hatten, schon morgens gegen zehn Uhr wieder den Anker lichten konnten. So schwammen wir denn bald wieder auf der Höhe des Kanals und passierten schon gegen Mittag St. Catharines Hochfeuer, die Südspitze der Insel Wight.
Nachmittags, drei Uhr dreißig Minuten, Weymouth in Sicht. Feuer von Portland an Steuerbord vorüber.
Acht Uhr abends die Lichter von Plymouth gesichtet.
Abends neun Uhr Leuchtturm von Eddystone passiert. Starkbewegte See, die den Brandungsgischt hoch hinauf bis über das Glasgehäuse der Laterne spritzt. Drei steil übereinander gefügte hochgelegene Turmfenster, die hell erleuchtet sind, scheinen manchmal, wenn das freundliche Lampenlicht dieser Meerfeste wie plötzlich erloschen ist, von den andonnernden Wasserbergen völlig bedeckt zu werden. Ich neide den Türmer nicht, und doch muß es ein köstliches Leben sein, das sich geborgen weiß auf einem so kleinen Pünktlein ruhender Sicherheit inmitten des Gewaltigen, des unvergleichlich Erhabenen der Schrecken des Meeres.
Um Mitternacht.
Als wir gegen elf Uhr nachts Kap Lizard, die äußerste Südspitze des englischen Festlandes, hinter Steuerbord zurücklassen, verspüren wir sofort das Atmen des Ozeans an dem frischeren Nordwester und den schweren westlichen Seen, die ununterbrochen wider das Schiff heranrollen und es stampfen und stöhnen lassen.
Um uns rabenschwarze Nacht, wir hören die Finsternis! Ihre Stimme ist das Meergebrüll, das uns umdonnert. Nur vorn am Bug des Schiffes, wo die ansausenden Wasser hochhinaufstürmen und zerschnitten auseinanderstäuben, leuchten die Schäume im Schimmer der Brückenlichter.
Ich stand, in sinnende Betrachtung versunken, vorn auf der Back und blickte hinaus in die weite, undurchdringliche Wasserwelt, als gen Mitternacht das Verschwinden eines Matrosen vom Schiffe gemeldet wurde. »Mann über Bord!« hallte der Alarmruf vom Vorderdeck bis zum Stern hinunter. Wir stoppten und suchten wohl eine Stunde lang das Meer mit dem Scheinwerfer ab, alles vergebens. Schon am Vormittage hatte sich der Vermißte – Cordus ist sein Name – krank gemeldet und ist seither nicht mehr gesehen worden. Sicher wird den Unglücklichen, als ihn Luftverlangen auf Deck getrieben, eine Sturzsee gefaßt und über Bord gewaschen haben.
Als ich sah, daß hier nicht mehr zu helfen war, suchte ich meine Kajüte auf und streckte mich, müde und abgespannt, wie ich war, lang hin auf das harte Lager meiner Schlafkoje. Links der Tür eingebaut, nimmt sie ziemlich die ganze Schmalseite der kleinen, aber hübsch und behaglich ausgestatteten Kabine ein. Ich konnte jedoch den erwünschten Schlummer nicht finden, und so kletterte ich aus meinem Bettkasten, eigentlich mehr einem schrankartigen Verschlage, dessen Luke man erklimmen muß, nochmals heraus, um Licht zu machen. Dann überließ ich mich meinen Träumen und Gespinsten wieder. Wie ich nun so lag und sinnend in das abbrennende Licht blickte, vernahm ich unter mir, wie aus der Tiefe des Raums herauf, ein sonderbares Geräusch. Das ging und tropfte wie ein verfallendes Wasser im Bergwerk ... gluck ... gluck ... gluck ...
Was konnte das sein? Ganz deutlich klang es in der Stille der Nacht als eine leise, geheimnisvolle Begleitung zu dem gedämpften Baß der ferne stampfenden Maschine oder zu der eintönigen Hauptmelodie des ewigen Wellenschlages ...
Gluck ... gluck ... gluck ... so gings und sickerte es die ganze Nacht hindurch. – Eine Stimme flüsterte: » Aufstehen! Aufstehen, Michel!« Da rieb ich die Augen und reckte mich – wo ist es? ... Rasmus –? Willst du nicht suchen helfen? ... Wiederum raunte es: » Dort unten! ...« In der Kluft der Wettersohle unten –? ... In der alten Wasserhöhle –? ... Ps...s, Rasmus, Rasmus, hörst dus nicht –?! ... Sieh, das sickert und tropft ... Siehst du, wie es tropft ... und – tropft ... und – tropft ...
So war ich eingeschlafen.
6. September.
Am andern Morgen, oben auf Deck, erzählte ich von meinem Traume. Man legte ihm jedoch kein Gewicht bei und meinte, ich hätte wohl das Bilgewasser Bilgewasser: das sich im untersten Raum des Schiffes sammelt. gehört. Ich schwieg daher und beruhigte mich. – So spinnen unsere Träume durch die Raumwüsten der Meere selbst und schweben in der Ewigkeit.
Infolge des unglücklichen Aufenthaltes der vergangenen Nacht hatten wir Wolfs Rock, eine Felsenklippe zwischen Lands End und den Scillyinseln, erst in der dritten Morgenstunde erreicht. Und es kam schon mit dem grauenden Tage das Abglasen der Mitternachtswache heran, als wir endlich, südlich unter den Inseln, das letzte Feuer Europas im Turme von Bishop Rock passierten und nunmehr, vier Uhr früh, hinausgelangten in die unendlichen Breiten des Weltmeeres.
Hinter uns weit, wie schon im Strome des Vergessens versinkend – das letzte Feuer, die letzte Landmarke einer Welt! ...
Wiederum zwölf Stunden seither durchpflügen wir die ungeheuere, einem grauen, grenzenlosen Schlackenfelde gleichende Wasserwüste, ohne den Rauch eines Schiffes zu sichten, ohne einem einsamen Segel zu begegnen oder auch nur dem Fluge eines Vogels, der, von seinen Weggenossen verschlagen, verirrt wäre. Nicht eine Möwe mehr, die unsern Mast umflattert! Nichts, nichts als die umkreisende Einsamkeit ... Wind- und Wellengesang.
Schwere von Nordnordwest nach Südwest drehende Stürme empfangen uns unterm zwölften Grad westlicher Länge. Unser Schiff hat zu kämpfen in kurz stoßenden Querseen, die den alten hölzernen Rippenbau steuerbords mit voller Wucht treffen. Wir waren gerade, der Kapitän, der erste Steuermann, der Schiffsarzt, der Proviantmeister und ich, in der Kampanje bei Tisch versammelt, als plötzlich, alle Wasser überstürzend, eine gewaltige Woge kam und dem erkrachenden Schiffe tiefe Schlagseite nach Backbord gab. Der Wasserprall, der uns in diese gefährliche Lage brachte, war so furchtbar, daß alles auf Deck die Taue erhaschen oder sonst sich anklammern mußte, um nicht mit den schäumenden Sturzseen über Bord zu gehen. In diesem schrecklichen Augenblicke, als die überschlagende Backbordreling mit den Davits auf das Wasser klatschte, daß sämtliche Boote lossprangen; als wir hochbords fast mit den Füßen auf der Unteren Köpfe standen und keine Haarbreite mehr fehlte, daß wir alle wie wir waren, Mann und Maus, mit dem Schiffe kenterten: da hörte ich, von unten her im Raume des Schiffs, ein verdächtiges Rauschen und Schwappen wie von überschießenden Wassern. Und wieder dann dieses ... Gluck ... gluck ... gluck ...
Mein Kopf brannte wie Feuer. Eine jähe Ahnung fuhr in mir auf und durchsank meine Seele. Stunden vorher schon war mir der Tiefgang des Schiffes aufgefallen, der mir etwas größer vorkam als bei der Ausreise der Kleopatra, und ich glaubte sogar wahrzunehmen, daß das Schiff ein wenig achterlastig Achterlastig: mit Übergewicht nach hinten. gehe. Der Kapitän aber, dem ich mein Bedenken mitgeteilt, ebenso wie schon das frühere von dem geheimnisvollen Wasserlaute, hatte wiederum den Kopf dazu geschüttelt: das sähe nur so aus, weil die See so steil gehe! Jetzt nun, wie mich das Schwappen und Schwimmen im Raume auf mein Traumerlebnis der vergangenen Nacht von neuem zurückbringt und ich eben wieder mich frage, was das Geräusch, dieser sonderbare, schreckliche Gurgelton, wohl zu bedeuten habe ... gluck ... und – gluck ... und – gluck ... kreischt plötzlich wie aus der Unterwelt eine schrille Stimme herauf: »Das Schiff ist angebohrt, wir sind verloren!« ...
Der Aufruhr auf Deck, den wie ein kalter Schlag dieses Schreckenswort hervorbrachte, war unbeschreiblich. Einen Augenblick lang blieb alles starr wie die Stengen. Dann aber brach den Bann, Wind und Wellen überdonnernd, die Stimme des Kapitäns: »Schotten dicht!« während fünf eherne Schläge auf den Gong, die sich in Zwischenräumen wiederholten, den gefürchteten Klang durch das ganze Schiff trugen. Alles, wie besessen, stürzte nach den Kajütentreppen und Luken, die einen, um den Befehl auszuführen, die anderen, von der Wirklichkeit des Entsetzlichen sich zu überzeugen. Diese übertraf selbst unsre schlimmsten Befürchtungen! Von den kaum fünf oder sechs wasserdichten Zellen, die man in das alte Schiff nachträglich noch hineingebaut hatte, waren die Achterräume schon nahezu vollgelaufen und nur vorn gelang es noch, das Fangschott Fangschott: Kollisionsschott. zu schließen und die ihm nachgelagerten beiden Querabteile. Über die Ursache und Lage des Lecks war nichts mehr festzustellen, so hoch schon stand das Bad im Raume. Ob das Schiff leck gesprungen war an den Wassern, ob es angebohrt worden von Menschenhand, ob es sinkt durch die Lockerung oder auch die absichtliche Öffnung eines der Unterwasserventile – niemand kann es sagen. Ein Umstand jedoch, und zwar dieser, daß der Matrose Cordus beobachtet worden ist, wie er sich an den Verschlüssen zu schaffen machte, spricht für das letztere. Und so sterben wir wohl als das Opfer eines Verbrechens! – – –
*
Nachmittags 4 Uhr 50 Minuten.
Ich habe soeben drei in der Hauptsache gleichlautende Flaschenposten versiegelt und sie dem Meere anvertraut. Eine für meine liebe Tochter, die andere für meinen väterlichen Wohltäter und die dritte für meinen Freund und Mitreeder bestimmt. Auch diese Zeilen meines Tagebuches, wenn sie ein glücklicher Umstand erhalten sollte, mögen für mein geliebtes Kind sein, damit es weiß, daß der große Ruf ihren Vater bereit fand. Ich schreibe sie, die letzten meines Lebens, im Kartenhause auf der Brücke, während das Schiff langsam tiefer und tiefer sinkt. Ich gebe ihm keine halbe Stunde mehr, trotzdem das ganze Schiffsvolk um die Pumpen versammelt ist. Diese werfen ihre Rüssel in die Nustergaten Nustergaten: Decklöcher für die Pumpenschläuche. hinab und saugen doch nur die Verzweiflung an; unerschöpflich steigen die Wassersäulen in den Schläuchen hoch und werden nicht weniger! Wahrscheinlich stehen Luken offen, die bereits unter Wasser sind, denn immer wilder stürzt das Meer durch unsichtbare Pforten herein, man weiß nicht, woher es kommt! Den Tod schon im Herzen, singen die Matrosen zum Takte ihrer Sisyphusarbeit alte Schifferlieder. Die Stunde hat sie zu Helden gemacht!
Auch der Kapitän scheint die Hoffnung aufgegeben zu haben. Er giebt Befehl, die Schiffskanone abzufeuern und Raketen steigen zu lassen, vielleicht, daß uns noch ein Schiff entdeckt. Dumpf dröhnt der erste Schuß über die wogende Meeresfläche – unser Todesschrei. Wir halten den Atem an und hören mit hundert Ohren zugleich, ob uns nicht noch ein Blitz und Pulver Antwort sprechen wird – nichts! Ein rückrollendes Echo aus weiter Gewässerferne und wieder das Donnertosen des windüberstürmten Wassersturms. Da aber plötzlich – ganz unerwartet, wie von einem glücklicheren Stern herab – ein Ruf von oben aus der Bramsaling: »Schiff in Sicht!« Der Ausguckposten in der Mars ist hinauf unter die Toppen geentert und winkt von seiner Rast herab wie toll vor freudiger Erregung und ruft es immer wieder.
Oh, meine Tochter! ...
Ein Schiff in Sicht! ... Hörst du es nicht –?!
Ein Schiff in Sicht! – Alles, was nicht lenzt an den Pumpen, rennt, springt und klettert auf die Back hinauf, den Retter in der Not zu sichten. Mit dem Fernrohr können wir jetzt deutlich die grauen Umrisse eines fremden Kriegsschiffes erkennen, das unter uns südlich steuernd anscheinend denselben Kurs verfolgt wie bisher die Kleopatra. Um uns bemerkbar zu machen, lösen wir noch einen zweiten und dritten Kanonenschuß, ohne jedoch auch diesmal irgendein Gegenzeichen von unserm Mitfahrer zu empfangen. Da der Wind inzwischen ein wenig gedreht hat und jetzt etwa vier Strich aus Westsüdwest zu Süden steht, so ist es bei der Entfernung auch nicht möglich, daß uns das fremde Schiff vernehmen kann. Unterdessen hat der Feuerwerksmaat den Raketenwerfer klargemacht, und die erste Signalrakete steigt kerzengerade in die graue Luft hinauf. Verglühend und zerstiebend wie der letzte Schimmer einer Hoffnung! ... Aller Augen starren nach Süden ... Da – horch! Ein dumpfer Kanonenschuß, dessen Donner zu uns herüber auf dem Rücken des Windes reitet. Man hat uns bemerkt! Jetzt gehen wir an den Leinen mit Tuch und Farbe empor. Nachdem erst das Achtungssignal, Wimpel Rotweiß, gestiegen ist, hissen wir nacheinander vier Flaggen hoch, die in der Sprache des Ozeans die Buchstaben H B – N D bedeuten, das von allen Völkern, die seefahren, verstandene Notsignal: »Hilf uns schnell, müssen das sinkende Schiff verlassen!«
Nun können wir auch schon die Flagge des fremden Schiffes und die drei Rauchfahnen über seinen Schloten erkennen: es ist ein holländisches Kriegsschiff. Wenigstens noch vier Seemeilen von uns entfernt, dampft es jetzt mit äußerster Kraft heran.
Es war die höchste Zeit für uns. Denn schon hangen wir, Sturmdeck und Steuerbord, 45 Grad schief in der Luft hoch, jeden Augenblick zum Abschießen in die Tiefe bereit, während das vollgesackte Hinterschiff, das schon bis zum Großmast heran unter Wasser liegt, mit seinem Gewichte tiefer und tiefer uns zieht. Noch aber hat das Vorderschiff Übergewicht. Noch! – – – – – –
*
Der Kapitän gab indessen ruhig seine Befehle weiter: »Steuerbord sämtliche Boote klar zum Wasser!«
Ich sah ihm scharf ins Gesicht: »Wird es nicht zu spät sein?«
»Das wird davon abhängen,« antwortete er und zog dabei seine Uhr hervor, »wie lange noch die nächste Schottwand dem Wasserdrucke widersteht; ich rechne noch – auf zehn Minuten.«
Er sagte das leise und in einer besonderen Betonung, daß ich wohl heraushörte, wie er dachte.
Die Hoffnung sank wieder, wie immer tiefer die Kleopatra sank.
Von den vier Beibooten, die wir noch besaßen, wurden drei sofort vom Meere verschlungen, und nur das letzte, vierte Boot gelangte unversehrt in sein Element. Es hatte Platz für 24 Mann, gerade die Hälfte unsrer Besatzung, wobei die Führung der zweite Steuermann übernahm. Mittlerweile war nun auch der Holländer so nahe herangekommen, daß wir uns durch Zurufe verständigen konnten. Mit Hilfe der Kleopatra zugeschossener Raketen gelang es sogar, zwischen beiden Schiffen eine Verbindung herzustellen. Zunächst nur in einer dünnen Schweifleine der Rakete bestehend, die ein stärkeres Tau nach sich zog, war es zuletzt eine kräftige, straffgespannte Trosse, auf deren Gleitung eine Hosenboje lief. Einer nach dem andern von uns, zuerst der Schiffsjunge, bestieg dieses ebenso seltsame wie zuverlässige Rettungsgefäß und gelangte glücklich auf das gastliche Deck unserer Retter hinüber. So blieben schließlich, als nun auf diese Weise alle bis zum Drittletzten abgeritten waren, nur noch der Kapitän und ich übrig, und es entspann sich in der Zwischenzeit bis zur Wiederkehr des Korbes ein opferwilliger Streit zwischen uns beiden, wer von uns der Letzte sein solle. Jeder wollte es sein und sich dieses edle und vornehme Recht einer unerschrockenen Seele nicht nehmen lassen, um so weniger, als die Gefahr des Unterganges nunmehr auf das höchste gestiegen war. Der Kapitän begründete seinen Anspruch, altem Herkommen gemäß, mit seiner seemännischen Eigenschaft als der Schiffer, während ich wieder als Grund dafür meine Lage als Reeder des Schiffes entgegenhielt und daß es mir als solchem doch schlecht anstehen würde, wenn ich es verließe, solange noch, außer mir, an Bord ein Menschenleben atme. Endlich, da wir uns durchaus nicht einigen konnten und der wandernde Korb schon wieder zurückkam, ließen wir das Los entscheiden. Es traf den Kapitän.
Ich habe den Wackeren nicht wieder gesehen. Ein letzter Händedruck, und ich schwebe über den Wogen dem neugeschenkten Leben zu.
Noch einmal kehrte der Rettungskorb zur sinkenden Kleopatra zurück, noch einmal wurde er begrüßt und von einem Menschen bestiegen, der in seinem Herzen das Gefühl haben mußte: »Jetzt bist du denen, die dich lieb haben, gerettet!« ...
Ein tragisches Verhängnis ließ es anders kommen. Als der Korb, zwischen Wolken und Schäumen, nochmals in der Mitte ungefähr seiner Bahn schwebte, sahen wir plötzlich die Kleopatra im Wasser verschwinden, hinter sich einen tiefen Strudel lassend – und dann nichts mehr. Die Trosse, mitten durchgerissen, schwamm noch zu der einen Hälfte, die an dem Holländer befestigt war, auf dem Meere. Die andere Hälfte aber, mit Korb und Kapitän, war spurlos hinweggelöscht. –
An Bord des Nordbrabant.
Als ich gestern abend um die sechste Stunde in meinem sonderbaren Rettungsgefährt an Bord des Holländers einlief, traf ich auch schon sämtliche Insassen des zuletzt ausgebrachten Bootes an, und der sofortige Aufruf der Geretteten ergab, daß außer unserem braven Kapitän keiner weiter fehlt. Von unsern Gütern ist durch die Mannschaft der Pinasse nur das Tagebuch des Kapitäns und die Schiffskasse gerettet worden. Mein eigenes Tagebuch mit Brieftasche und den Bildern meiner Lieben habe ich an meiner Brust geborgen.
Vom Kommandanten des Kreuzers (zufälligerweise dem Sohne eines Amsterdamer Freundes des alten Wullenweber, wie sich bald herausstellte) höre ich, daß der Name des Schiffes Nordbrabant sei und daß es nach Niederländisch-Guayana bestimmt ist, wo es dann die weiteren Befehle der Regierung abwarten soll. – Das trifft sich ziemlich günstig. Paramaribo, die Hauptstadt von Holländisch-Guayana, liegt an der Seefahrtstraße nach Pernambuco, jenem Brasiliahafen, wo uns der Sperber erwarten soll. Wird es auch bis dahin dann noch immer einige wohlgezählte Hunderte von Seemeilen sein (1200 wenigstens), so kommen wir unserm Ziele doch immerhin um ein recht beträchtliches Stück näher und können von Surinam aus auch mit ziemlicher Sicherheit auf eine baldige Schiffsgelegenheit nach der brasilianischen Küste hinunter rechnen. Man wird es daher uns Schiffbrüchigen lebhaft nachfühlen, wie dankbar wir dem Kapitän sind, daß er uns bis Paramaribo mitnehmen will, anstatt uns schon in Funchal oder Teneriffa, den nächsten Anlaufhäfen, an Land zu setzen.
Todmüde suchte ich bald meine Kabine auf, die mir die Liebenswürdigkeit des Kommandanten in der Nähe seiner Kajüte angewiesen hat. Es war um fünf Uhr am andern Morgen, als mich das große Wecken mit Trommeln und Pfeifen auf Deck rief. Der Wind hatte über Nacht ein wenig abgeflaut, und es sah fast so aus, als wolle sich noch die Sonne durchringen. Bald nach neun Uhr, nachdem »Klar Deck« geblasen und die große Musterung vorüber war, ließ ich mich dem Kommandanten melden und empfing hierbei seine Einladung, mittags mit ihm zu speisen. Ich benutzte die Zwischenzeit, mich in der schwimmenden Festung, die mir und meinen Leidensgefährten für die nächste Zeit als Wohnung dienen soll, ein wenig umzuschauen.
Unser fliegender Holländer ist ein geschützter Kreuzer von 4000 Tonnen Wasserverdrängung und hat eine Besatzung von 312 Mann an Bord. Sein ganzer Bau läßt deutlich erkennen, daß es hier, entsprechend seiner Kundschafterbestimmung, mehr auf eine seetüchtige, schnelle und doch festgefügte Leichtigkeit der Formen ankam, als etwa auf eine besonders hohe Gefechtsstärke. Immerhin erscheint mir auch diese nicht zu kurz bedacht zu sein. Ein zweizölliges Panzerdeck, das an beiden Seiten bis in die tieferen Räume heruntergezogen ist, schützt das Unterschiff nach oben, während mit Kork gefüllte, undurchlässige Kofferdämme und hinter ihnen Wallgänge die Bordwände in der Wasserlinie sichern. Das Schiff hat eisernen Doppelboden und ist in zwanzig wasserdichte Schotten geteilt, deren sämtliche Türen gleichzeitig durch einen Hebeldruck vom Befehlsturm aus mit Wasserdruck bedient werden.
Man kann sich also auf diesem Schiffe schon einigermaßen sicher fühlen, um so mehr, als wir ungestüme Grüße feindlicher Hochseepanzer in diesen friedlichen Zeitläuften und Gewässern nicht zu fürchten haben.
Am 10. September liefen wir bei herrlichem Wetter Funchal auf Madeira an: dieses fruchtschimmernde Paradies, das in grünenden Terrassen wie die hängenden Gärten der Semiramis durch die Zonen zweier Welten aufsteigt. – Noch vor Abend gingen wir leider wieder Anker auf und sichteten bereits in der Sonne des anderen Morgens bei völlig klarer Luft das meerentsteigende Wahrzeichen dieser Gewässer, den Feuerberg von Teneriffa. Bis wir unterm Fuße des Piks Anker werfen konnten, verging aber noch der ganze Tag, da er noch weit über hundert Schiffsmeilen von uns entfernt war. In einem solchen gewaltigen Umkreise reicht seine Herrschaft über den Ozean dahin.
All diese Herrlichkeiten der Welt sind so oft schon und so vortrefflich geschildert worden, daß ich mir ein längeres Verweilen dabei versagen muß. So sehr wie unser gutes Schiff, für das es von nun an lange Zeit keine Ankerrast mehr gab.
Nachdem wir erst noch die sogenannten Roßbreiten passiert hatten, einen Stillengürtel unterhalb der Kanarischen Inseln, kamen wir bald wieder in frischere Winde, und schon zwei eilende Tage nach unserer Abfahrt von Teneriffa in früher Morgenstunde, übergingen wir den Wendekreis und gelangten in eine Trift, wo wir nun auch den nordöstlichen Passat erreichten. Es wurden Segel gesetzt, dabei aber doch die Kesselfeuer in Brand gehalten. Die beständige Windströmung brachte uns schnell vorwärts, und ihre Stärke nahm noch immer mehr zu, je tiefer wir nach Süden hinabkamen und uns den Inseln des Grünen Vorgebirges näherten. Schon bliesen in unserm Rücken die Sturmboten der Tag- und Nachtgleiche, als wir unterm zwanzigsten Grad nördlicher Breite den Kurs nach Westen richteten, in die Tiefen des Ozeans hinein.
Ich hielt mich in diesen Tagen viel allein auf dem Schiffe. Hing stundenlang meinen Gedanken nach oder gab mich auch wohl, nichts bewegend in mir als das ewige Auf und Ab des rauschenden Widerhalls, ganz dem starken Meergefühle hin, das in mir ist, seitdem ich zum erstenmal das Meer gesehen habe und liebe. Es war wie eine geheimnisvolle Macht über mir, wie ein Zauber von dem Gewaltigen aus, dem Größten, was sichtbar auf Erden ist. Eine Macht der Erhabenheit, daß ihr Anblick selbst in der Stunde der Todesnot die Schauer der Vernichtung überwindet. Dem, der ihren Hauch gefühlt hat.
Eines Abends, als ich wieder einmal, an Backbord gelehnt, mein Auge hinaussandte in die auf- und niederwogende Unendlichkeit, rüttelte mich aus meinen Träumen ein hartes Kommandowort. Die Wache des dritten Decks wars, die die Gefangenen des Schiffes auf ihrem abendlichen Gange an die frische Luft führte. Ich habe von diesen Unglücklichen bisher noch nicht gesprochen, weil mich ihr Schicksal über eine allgemeinere menschliche Teilnahme hinaus nicht weiter beschäftigt hatte. Ich wußte nicht einmal, was ihr Verbrechen war, und kannte nur so viel von ihrem Leben, daß sie zu schwerer Kettenarbeit in den Zuckerpflanzungen des Niederländischen Guayana verurteilt waren. Wenn sie so morgens und allabendlich herauf an die belebende Luft geführt wurden, vermied ich es geflissentlich, dem traurigen Zuge zu begegnen: denn es war mir schmerzlich, mein freies Auge in die Tiefen der Verzweiflung zu tauchen. An jenem Abend wollte es der Zufall, daß ich ihnen nicht mehr ausweichen konnte, und so erging es mir zum erstenmal, daß ich ihnen ins Antlitz sah. Wie erschrak ich, als ich in diesen Gesichtern las! Hilflose Verzweiflung zuckte um die tiefgezogenen Winkel ihres Mundes. Haß ballte ihre Fäuste. Ihre Zähne biß ohnmächtiger Trotz zusammen. Der ganze unaussprechliche Jammer aber eines abgestürzten, verfehlten Lebens, tiefer als die Meerestiefen da unten, brennender als die Feuerwunden der blutenden Berge, er flackerte und glimmerte in der düsteren Glut ihres Blickes, und doch waren es Menschenblicke!
Einer von ihnen erbarmte mich am meisten. Es war ein braungelockter schlanker Jüngling, bartlos, schüchtern, fast ein Knabe noch, der ganz zuletzt kam und für sich gekehrt. Ich wüßte nicht, jemals in meinem Leben ein Gesicht gesehen zu haben wie dieses! Von einem solchen Adel der Linien, von einer solchen, ich möchte sagen, fast mädchenhaften Sanftheit des Ausdrucks, und dann einer Traurigkeit, so unsäglich, unaussprechlich, wie in diesem dunklen, klagend blickenden Auge lag. Und das sollte ein Missetäter sein? Wie kam der arme Junge unter diese Gesichter! Hier, fühlte ich, war ein Geheimnis verborgen, das tiefer lag, als Menschenwitz erraten kann.
Ich war ganz niedergeschlagen, und noch an demselben Abend suchte ich in seiner Kajüte den Kommandanten auf. Hier erfuhr ich denn, daß dieser kaum achtzehnjährige Jüngling, Schweizer von Geburt aus Lausanne, der einem berühmten altfranzösischen Geschlechte entstamme, zu lebenslänglicher schwerer Kettarbeit in den Siedlungen – begnadigt sei! Angeblich wegen eines Totschlags aus Leidenschaft! Sein Name, in dessen Klang eine rätselhafte Melodie sich barg, die meine Phantasie nicht mehr von ihm losließ, war René de Montsabréy. Mehr wußte man nicht von ihm ...
Draußen in den Gängen hallten Schritte und Befehlsrufe: »Pfeifen und Lunten aus, Ruhe im Schiff!« ... Ich konnte noch nicht schlafen gehen, und so suchte ich denn wieder auf Deck meinen ungestörten Platz vorn an der Back auf, dort, wo der scharfe Bug den Ansturm der Gewässer schneidet.
»Pfeifen und Lunten aus, Ruhe im Schiff!« kam es jetzt wiederum von unten herauf aus der Tiefe des dritten Decks, wo die Gefangenen lagen. »Ruhe im Schiff!« ... Ja, Ruhe, diese Ruhe freilich ließ sich gebieten! Die Ruhe des Gewissens aber? ...
Ich kann es gar nicht sagen, wie mich das Erlebnis dieses Tages beschäftigte. Ich hatte in meinem Leben noch niemals einen Missetäter gesehen, und ich hatte mir zuweilen vorgestellt, das Antlitz der Tat müsse wie das Blutmal Kains im Angesichte eines solchen Unglücklichen unauslöschlich eingezeichnet stehen. Und nun fand ich unter jenen Zwölfen Einen, ein verirrtes, armes Menschenkind, dessen göttliche Abkunft sich in dem Adel seiner Züge nicht verleugnete. Dessen Angesicht wie einen Hauch noch von der Lieblichkeit der Mutter trug, die ihn geboren hatte, wie einen Schimmer der Unschuld noch des verlorenen Paradieses seiner Kindheit.
Ich fühlte mich bedrückt in der Erkenntnis, dem Ärmsten nicht helfen zu können.
Am andern Morgen um ihre Stunde sah ich sie wieder an, einen nach dem anderen. Wiederum ging der Jüngste von ihnen zuletzt. Als ich bemerkte, daß er etwas zurückblieb, benutzte ich den Umstand, mich ihm zu nähern. Indem ich ihm einige Zigaretten anbot, redete ich ihn in seiner Muttersprache an, die ich mir in den letzten Jahren etwas angeeignet hatte. Eine leichte Röte überflog sein schmales, blasses Gesicht, während dabei der Schatten eines Lächelns um die wie erstaunt ein wenig sich öffnenden Lippen glitt. Der warme Blick seines Auges, der hierbei dem meinen begegnete, war und blieb die einzige Brücke, die sich zwischen unseren Mitempfindungen herstellte. Einen weiteren Versuch, ihm näherzukommen, unternahm ich nicht wieder, da ich hörte, daß jedwedes Gespräch außer mit ihren Wächtern den Gefangenen auf das strengste untersagt war. Aus diesem Grunde, und weil es mir auch wehe tat, hielt ich mich von nun an wieder zurück, wenn ich sie kommen sah. Gleichwohl konnte ich bemerken, daß mitunter traurige Blicke zu mir herüberschlichen, als wüßten sie, suchten sie ihren letzten Rettungshalt bei mir.
An diesem Tage erfuhr ich von den Lebensumständen Renés zufällig noch eine Einzelheit, die der Kapitän mir anzugeben vergessen hatte und die mir bemerkenswert erschien. René de Montsabréy war Musiker gewesen, und man sagte, daß er sein Instrument, die Violine, mit einer Vollkommenheit beherrsche, die für seine jungen Jahre unvergleichlich sei. Ohne das Ereignis seines Lebens, das ihn zerbrach, wäre er sicher ein großer Meister geworden. – Dies machte ihn mir noch sympathischer. Denn ich liebe die Musik und habe mich immer mit Begier der bewegenden Macht überlassen, die sie so sehr auf unsere Seele übt.
Dem Kommandanten erzählte ich von meiner Betrübnis, dem jungen Montsabréy nicht helfen zu können. Allein der Kapitän zuckte nur mit der Achsel dazu und meinte leichthin, da sei auch nichts mehr zu helfen.
So kam ich, da jede Brücke und Gelegenheit dazu fehlte, dem Geheimnisse unseres jungen Gefangenen nicht näher, und es gewann täglich mehr den Anschein, daß es mir wohl niemals gelingen werde, das Rätsel seines Lebens zu lösen.
Schon verbrausten hinter uns die Stürme der Tag- und Nachtgleiche, und die Winde wurden sanfter wieder, als am 30. September, abends neun Uhr, von der Mars herab der Ruf »Land!« erscholl. Wie die Karten ergaben, war es eine von den kleinen Virginischen Inseln, die wir sahen – Westindien! Lichtumspült und gebadet wie eine hingeruhte zarte Frauengestalt, erhob sich die jungfräuliche Insel hoch und geheimnisvoll aus der phosphorisch leuchtenden Feuerflut des Karaibischen Meeres. Nie bisher auf meinen Fahrten habe ich ein Meerleuchten gesehen wie dieses, es wird mir unvergeßlich bleiben!
Auf den Spuren des großen Kolumbus, den hier einst, in diesen Gewässern seines Ruhmes, das dankbare Spanien in Ketten geschlagen, fuhren wir nunmehr an der kleinen Antillenkette der Inseln über dem Winde südlich herunter. In fliegender Fahrt an St. Christopher und Guadeloupe vorüber, an Marie Galante und St. Vincent vorbei, gelangten wir am 4. Oktober nach Trinidad, wo wir wegen einer Maschinenstörung gezwungen waren, den Hafen anzulaufen. Die Ausbesserung erforderte längere Zeit, als wir erwartet hatten, und so konnten wir noch hier am 23. November das Fest der Thronbesteigung der Königin feiern. Dieser geliebten Königin, der auch wir ergeben waren, deren Herzfarbe Schwarz-Weiß-Rot weht. Der Tag wurde festlich begangen und schon früh von hundert Kanonenschüssen begrüßt, die weit hinaus über das Meer donnerten, der fernen Heimat zu. Über alle Toppen war geflaggt, der Name Wilhelmina leuchtete in den Farben des Signalbuchs, und das ganze Schiff war von Lust und Musik erfüllt, von dem Frühspielwecken bis zum Zapfenstreich.
Mit Sonnenaufgang am anderen Tage wurde frisch gebunkert und Dampf angemacht, so daß wir mittags endlich wieder Anker hoch gingen, unseren Kurs auf das südamerikanische Festland gerichtet. In wenigen Stunden schon erreichten wir die atlantische Küste und hielten uns dieser entlang bis zum anderen Abend, wo wir auf die Höhe von Paramaribo kamen, dem Ziele des Nordbrabant. Da gerade Niedrigwasserzeit war, mußten wir einige Stunden auf der Reede liegen und gelangten erst mit der Mitternachtsflut in den Hafen. Am Morgen, als sich der Kommandant mit dem Lotsen an Land begab, fand er hier bereits eine Kabelorder seiner Regierung vor, wonach sich der Nordbrabant zur unverzüglichen Dämpfung eines auf den Molukken ausgebrochenen Aufstandes auf dem kürzesten Wege in die indischen Gewässer zu verfügen habe, ohne unterwegs die Feuer zu löschen. Der menschenfreundliche Kapitän machte mir hiervon Mitteilung mit dem überraschenden Hinzufügen, daß es ihm unter diesen Umständen möglich geworden sei, uns Schiffbrüchige noch ein gutes Stück weiter mitzunehmen, bis Rio de Janeiro hinunter, wo er noch einmal zu bunkern gedenke. Ich möchte sofort an die Hafenbehörden in Rio und Pernambuco Depeschen aufgeben, daß uns der Sperber anstatt wie ausgemacht, in Pernambuco, nunmehr in der brasilianischen Hauptstadt erwarten solle. Hocherfreut befolgte ich diesen Rat sofort und begab mich noch vor Abend an Bord zurück, da die Weiterreise schon mit Anbruch der Nacht vor sich gehen sollte.
Als ich auf dem Holländer wieder eintraf, empfing mich eine Nachricht, die mich sehr bewegte – René de Montsabréy war spurlos vom Schiff verschwunden! Als man am Nachmittage die Gefangenen an Land bringen wollte, um sie an die Feste Zeelandia zu übergeben, befand sich der junge Schweizer nicht mehr unter ihnen. Niemand wollte ihn gesehen haben, und keiner konnte ihn entdecken, obwohl das ganze Schiff bis in die untersten Decks hinunter von einem Dutzend Runden in alle Räume abgegangen und durchsucht wurde, stundenlang. Man mußte sich schließlich überzeugen, daß er nicht mehr an Bord war. Das Unerklärliche war nur dabei, wie er am hellen, lichten Tage ungesehen von dem Schiffe hatte wegkommen können. Die Posten auf Deck würden ihn unfehlbar unter Wasser gefeuert haben, wenn er etwa den Versuch unternommen hätte, sich durch Schwimmen zu retten. Man stand also vor einem völligen Rätsel.
Da alles Suchen umsonst blieb, ließ der Kommandant gegen zehn Uhr abends Dampf auf die Schraube geben, und so trug uns bald wieder der breite Rücken des Ozeans. Rasch durchglitten wir die Windstillen, deren glühender Gürtel unmittelbar über dem Gleicher den Leib der Erde umspannt. Je tiefer wir hinunterkamen und uns der Linie näherten, um so unerträglicher ward die Hitze. Am 28. November um die Mittagsstunde, als wir uns etwa hundert Meilen östlich von der Mündung des Amazonenstroms befanden, gingen wir mit den üblichen Maskeraden, Spielen und Feierlichkeiten, wie Schiffstaufe und dergleichen, über die Linie hinweg, passierten in der Nacht zum Dreißigsten Pernambuco, ohne anzulegen, und liefen mitternachts am 2. Dezember mit der Vollmondflut in den Hafen von Rio ein.
Als sich am andern Morgen im Osten der Bai die Sonne erhob und mein Auge über die blauen Wasser glitt zu den Farben und Fahnen mancher Städte und Länder, deren Schiffe hier im fremden Hafen sich zusammendrängten, gewahrte ich eine Flagge, die mir wohlvertraut war. Sie zeigte ein weißes lateinisches W im blauen Felde – die Standarte unsres Hauses, das wehende Banner des Sperbers.
Der Abschied war kurz. Der Kommandant gab mir selbst das Geleit und brachte mich in seiner Barkasse an Bord meines Schiffes, nachdem meine Getreuen schon vorher durch die Boote des Sperbers abgeholt worden waren. Manchem von uns wurde das Auge feucht, als wir dem wackeren Manne die letzte Hand boten.
Ein günstiger Umstand ließ uns in Rio eine Bremer Segelbark antreffen, die nur eine kleine Rückladung genommen hatte und in der Hauptsache in Ballast gehen sollte. Ich war bald mit dem Kapitän einig, und so konnten wir die für Hamburg bestimmte Ladung des Sperbers an Bord der Bremer Bark übergeben. Wir selbst nahmen dafür eine neue Ladung ein, die ich billig im Hafen in einer Versteigerung erstand, und die als Ersatz für die verlorene Fracht der Kleopatra fast ausschließlich für unsere eigenen Bedürfnisse bestimmt war. Nur nach Valparaiso, unserem einzigen und letzten Anlaufhafen, nahmen wir ein paar Kisten mit wundärztlichem Werkzeug und Musikinstrumenten mit.
Erst am späten Abend war unser Ladegeschäft beendet, und ich zog mich noch in vorgerückter Stunde auf meinen alten Lieblingsplatz auf der Back zurück, die schöne Vollmondstunde zu genießen. Wir hatten inzwischen das Schiff mehr nach der Mitte der Bai gebracht und lagen jetzt beigedreht hart an Backbord des Holländers. Morgen in der Frühe wollten wir zusammen die Anker lichten und unsern Weg, der sich nun bald nach Ost und West scheiden sollte, ein Stück noch gemeinsam weiterziehen.
Drüben in der Stadt begann es schon stiller zu werden, und alle Lichter versanken, mehr und mehr. Nur die Hafenfeuer blieben beständig und die ewigen Lampen der Kirchen und Kapellen. Auch in den Vorwerken und Inselfesten, welche die Einfahrt hüten, sah man noch einzelne Lichter brennen und vergehen. Das Schweigen der Nacht senkte sich auf die Stadt der Januarbai herab und auf ihren Hafen, während weit draußen, vor den Felsentoren des Ozeans, die Brandung donnerte und die Heulbojen ihre warnende Stimme erhoben.
Ich war der einzige auf dem Sperber, der wachte, außer den beiden Fallreepsposten und dem Wächter unter Deck. Auch drüben auf dem Kriegsschiffe schien alles Lebendige erstorben zu sein. Schon hatte es Mitternacht geglast, und nur die Schritte der »Hundewache« gingen noch auf und nieder – auf und nieder ...
Ich dachte und träumte. Meine Gedanken schwärmten wie nächtige Reiter in alle Winde der Welt hinaus. Bald waren sie in der Heimat bei meinen Lieben, bald in Hamburg bei meinem gütigen Wohltäter, bald in einem unbekannten Meere draußen bei meinem verschollenen Freunde Tim, von dem ich nie wieder gehört hatte, bald auch wieder bei dem geheimnisvollen jungen Fremden, dessen Rätsel noch immer meine Einbildungskraft beschäftigte.
Die Schiffsglocken hatten schon ein Uhr geschlagen, als ein Geräusch auf dem Holländer drüben, ein sachtes, bedachtes Geräusch, das selbst einem feineren Ohre kaum vernehmbar war, mich aufhorchen ließ. Ich bemerkte vorn, an der mir abgekehrten Seite des Kreuzers, etwas Dunkles, das sich langsam zu einer menschlichen Gestalt emporhob, als steige es aus einer Öffnung des Bodens hervor oder käme auf Füßen und Händen. Geschmeidig wie eine große Katze schwang es sich sofort auf eine Stückpforte der Verschanzung hinauf und war schon im nächsten Augenblick verschwunden. Ein kurzer, dumpfer Schlag ins Wasser, und fast unmittelbar darauf – das Krachen zweier Schüsse, deren Hall und Widerhall über den zitternden Busen des Meeres rollte ...
Noch eine Minute lang ein halblautes Stimmengewirr da drüben, dann wieder alles stumm ...
Ich hatte mich hoch aufgereckt und spähte auf die windbewegte Fläche hinaus, auf die der Mond, aus Wolken tretend, jetzt bleiche Strahlen entsandte, wie ein Scheinwerfer der himmlischen Feste – aber ich konnte nichts mehr entdecken. Nichts, als die ewige Fläche, welche die Tiefe deckt. Und die Schmerzen auch und Gedanken der Tiefe. Mein Schmerz und Gedanke aber war – René de Montsabréy! ...