Friedrich Gerstäcker
Der Walfischfänger
Friedrich Gerstäcker

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Bootssteuerer hatte das scharfe Beil krampfhaft festgepackt, und es zuckte ihm im Arm, seine Drohung wahr zu machen – aber er sah die Unmöglichkeit ein, die vier kräftigen Seeleute zu ihrer Pflicht zu zwingen, wenn er sich nicht selber sicherem Verderben aussetzen wollte.

»Meuterei! Bei Gott! Helle, blanke Meuterei«, knirschte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Und wisst ihr denn, was ihr an der fremden Küste findet, und ob ihr da nicht erst recht von wilden Menschenfressern angefallen und totgeschlagen werdet?«

»Hat keine Not, Sir«, lachte aber der alte Bob. »An der Küste fressen sie keinen, und verwünscht wenig Indianer, die wir da antreffen werden. Bill hat aber Recht. Ich bin selber schon auf manchem Whaler mein Lebstag gewesen, so erbärmlich ist's mir aber noch auf keinem gegangen, und wenn wir nichts fangen, wird uns nicht einmal für unsere ganze Arbeit etwas zugute getan, und wir müssen die paar Lumpen etwa zu dem vierfachen Preis von dem, was sie in Edgarton gekostet hätten, aus unserer eigenen Tasche bezahlen.«

»Und habt Ihr das nicht etwa vorher gewusst, Sirrah?«

»Allerdings, Mr. Sikes«, erwiderte Bob ruhig. »Aber was wir vorher nicht wussten, war, dass wir in einem solchen alten nichtsnutzigen Wrack auf eine solche Reise geschickt werden sollten. Angemalt hatten sie das alte Ding wieder hübsch genug, aber die Farbe hielt das Seewasser nur nicht heraus, und jeden Tag ein paar Jahre lang zwei oder drei Stunden an den verdammten Pumpen zu hängen, ist auch eben kein Vergnügen.«

»Und trägt euer Kapitän daran die Schuld?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Bob vorsichtig. »Wir haben es hier aber gar nicht mit dem Kapitän zu tun, wir wissen nicht einmal, wo er mit dem Schiffe steckt, und können ihn nicht suchen, ohne uns der größten Lebensgefahr auszusetzen. Den Nebel hat der liebe Gott geschickt – es ist ein Naturereignis, gegen das wir nicht im Stande sind anzukämpfen, und wenn wir uns jetzt weigern, auf's Geratewohl mitten in den Ozean hinauszufahren, um dort vielleicht elend zu Grunde zu gehen, so ist das keine Meuterei, sondern nur einfache Selbsterhaltung. Wüssten wir gewiss, nach welcher Richtung wir die Martha's Vineyard suchen sollten, und läge der Nebel nicht so dick, es würde keinem von uns einfallen, seiner Pflicht zuwider zu handeln.«

»Dann macht, was ihr wollt«, rief der Bootssteuerer, das Beil, das er noch immer in den Händen hielt, ingrimmig auf den Boden des Bootes schleudernd. »Ich habe dann aber mit der Führung des Fahrzeugs nichts mehr zu tun und betrachte mich als Gefangenen.«

»Das können Sie nun machen, wie Sie wollen«, lachte Bill. Bob aber schüttelte den Kopf und rief: »Nein, Mr. Sikes, Sie sind so wenig ein Gefangener als ich oder einer der anderen, aber dass Sie nicht mehr steuern wollen, kann ich Ihnen nicht verdenken. Als Offizier des Bootes ist es vielleicht Ihre Pflicht, bis zum letzten Moment auszuhalten, und wenn es später einmal nötig werden sollte, wollen wir Ihnen gern bezeugen, dass Sie Ihre Schuldigkeit getan und sich nur gezwungen der Mehrzahl fügten. Wollen Sie mir das Steuer erlauben – wir wechseln nachher ab, Jungens, bringen uns ziemlich ebenso rasch von der Stelle als vier – also vorwärts, meine Burschen. Bis nicht die Sonne so hoch kommt, dass wir sie sehen können, müssen wir uns nach dem Kompass richten, und wo wir jetzt die Küste zuerst treffen, bleibt sich gleich. Wir rudern nachher so lange daran hinauf, bis wir am Ufer irgendwo eine Landung oder einen bewohnten Platz finden können.«

Das Boot hatte sich indessen, und während der Verhandlung, langsam wieder gedreht und lag jetzt mit seinem Bug Südosten an. Bob brachte es mit einer einzigen Bewegung seines langen Ruders in den richtigen Kurs, und die Matrosen legten sich aus Leibeskräften in die Riemen, um die Entfernung zwischen sich und dem Schiff nur so viel als möglich zu vergrößern, ehe der Nebel wich, und jeder Gefahr enthoben zu sein, wieder an Bord zurückkehren zu müssen. – An Land! Es liegt für den Matrosen, wenn er sich lange Monate auf See herumgetrieben hat, ein eigener Zauber in dem Wort, und dass keiner von ihnen auch nur einen Cent Geld bei sich trug, was kümmerte es sie, leichtsinniges Volk, das ja doch nur immer in den Tag hinein lebt und jeden Einzelnen für sich selber sorgen lässt.

Jeder Seemann – überhaupt jeder Mensch, der viel in der freien Natur lebt, wie am Lande der Jäger, der Schäfer, der Hirt, ist abergläubisch. Er verkehrt zu unmittelbar mit den Elementen und ihren gewaltigen Wirkungen und Erscheinungen, und während er die Größe Gottes anstaunt, schleicht sich auch noch ein anderes Gefühl in sein Herz – das Gefühl seiner eigenen Machtlosigkeit und Kleinheit, die ihn verhindert, gegen die ihn überall umgebenden geheimen Kräfte anzukämpfen. Er glaubt dabei an Vorbedeutungen und alle nur erdenkbaren Einflüsse feindlicher Mächte. Und das ist schon so weit gegangen, dass in früheren Zeiten Matrosen ein unglückliches und vollkommen unschuldiges Menschenkind von ihrem Schiffe ausgestoßen und einem offenen Boot übergeben haben, weil sie den wahnsinnigen Gedanken gefasst, dass dessen Anwesenheit an Bord allein verschiedene Unglücksfälle über sie heraufbeschworen habe und dem Schiff zuletzt verderblich werden müsste.

So hatte sich auch, schon vor Wochen, auf der Martha's Vineyard der Glaube unter den Matrosen festgesetzt, dass ihr Schiff dem Unglück verfallen wäre und keinen einzigen Fisch langseit bekommen würde; geschähe das aber wirklich, dann käme auch – wie schon damals – augenblicklich ein Sturm und zwänge sie, die schwer erkämpfte Beute wieder loszuwerfen und preiszugeben. Der gestrige Tag mit seinen Widerwärtigkeiten musste sie denn noch mehr und fester in diesem Aberglauben bestärken, und tausendmal lieber wollten sie sich allen Gefahren aussetzen, die ihnen ein vollständig unbekanntes Land oder eine fremde Küste boten, als dass sie versucht hätten, ihr eigenes Schiff wieder zu finden.

Übrigens rechtfertigte der nicht weichende Nebel wenigstens zum Teil ihre Flucht, denn so lange dieser anhielt, hätte sie in der Tat nur ein Zufall ihr Schiff treffen lassen, während sie, in der Irre umherfahrend, ohne Provisionen und Wasser, einer weit größeren Gefahr ausgesetzt waren, als ihnen das fremde Ufer bieten konnte.

Jetzt ruderten sie dem entgegen, und mürrisch, im Bug des Bootes, die Arme ineinander geschlagen und finster in den Nebel hinausstarrend, saß der Bootssteuerer, ärgerlich mit sich und der ganzen Welt, und doch auch wieder vielleicht halb und halb zufrieden, dass er eben gezwungen wurde wegzulaufen, da er selber gut genug wusste, was sie erwartete, wenn sie ihr Fahrzeug wirklich in dem Nebel verfehlt hätten. Er konnte aber auch nichts an der Sache ändern, denn gegen die vier kräftigen Seeleute vermochte er als Einzelner nichts auszurichten. Er musste sie eben gewähren lassen, und alles kam jetzt darauf an, welchen Punkt der Küste sie gerade erreichten.

Dass sie sich jetzt unter der Linie, oder wohl auch ein paar Grad nördlich davon befanden, wusste Mr. Sikes, weiter aber hatte er sich auch um die Beobachtung, die ihn an Bord des Walfischfängers gar nichts anging, nicht bekümmert, das war Sache des Kapitäns und des für diesen Zweck angestellten Steuermanns gewesen, und wäre die Sonne wirklich herausgekommen, so führten sie nicht einmal einen Sextanten bei sich, um ihre Berechnung danach zu machen. Das kam auch darauf an! Die Küste lag jedenfalls im Osten, weit gestreckt von Süd nach Norden, und irgendwo mussten sie dieselbe treffen, wenn sie die eingeschlagene Richtung beibehielten. Übrigens war auch noch eine Möglichkeit, dass sie unterwegs irgendein anderes Schiff trafen, denn sie kreuzten ja hier eine der belebtesten Fahrstraßen des Ozeans, und das nahm sie entweder auf, oder sie erfuhren doch genau, wo sie sich befanden, und konnten wieder frisches Wasser und Provisionen von ihm bekommen – der Nebel blieb ja auch nicht ewig liegen.

Die Matrosen ruderten indessen ruhig und unverdrossen fort und wechselten nur dann und wann mit Steuern ab. Keiner von ihnen aber sprach ein Wort mit ihrem bisherigen Offizier, und nur, als sie die letzten Provisionen und die letzten Becher Wasser mit ihm teilten, taten sie, als ob er noch bei ihnen an Bord wäre.

Aber der Nebel wich und wankte nicht, und während sie unausgesetzt fort an den Riemen lagen, hatten sie nicht einmal das Gefühl des Fortbewegens, denn es sah genauso aus, als ob sie in einem eng begrenzten Raum ruhig auf ein und derselben Stelle liegen blieben und keinen Fußbreit weiter rückten. Die Sonne stand, Bobs Uhr nach, im Mittag und über Kopf, aber selbst da konnten sie keinen Schimmer derselben erkennen, und ebenso wenig erhob sich ein Luftzug von irgendeiner Seite. Die See sah aus wie geschmolzenes Blei, und schwül und drückend lag die Luft auf ihnen.

Und wie trocken ihnen die Zungen wurden!

»Ist kein Tropfen Wasser mehr im Fass, Bill?«, fragte Tom den Segelmacher, der gerade am Steuer saß. Bill schüttelte mit dem Kopf.

»Kein Tropfen mehr, Mate. Aber das Land kann ja auch nicht mehr so weit sein, und dort gibt's Wasser genug.«

»Ich glaube wahrhaftig, wir sitzen irgendwo fest«, brummte Tom leise vor sich hin. »Unser Boot muss rein verhext sein, denn es regt sich nicht vom Platz.«

Der Bootssteuerer, der sich fest vorgenommen hatte, mit der Führung des Bootes selber nichts mehr zu tun zu haben, stand von seinem Sitz am Bug auf, stieg über die erste Ruderbank hin und ergriff den vierten Riemen, den er in die Dolle brachte und im Takt mit den Übrigen einfiel.

Die Seeleute hatten es alle bemerkt, aber keiner von ihnen sprach ein Wort, nur schärfer legten sie sich in die Ruder, denn jede Bootslänge, die sie hinter sich ließen, musste doch auch die Strecke vermindern, die sie noch vom Ufer trennte.

Und die Sonne sank – zu sehen war sie nicht, aber der Nebel nahm eine immer grauere und dunklere Färbung an, bis der am Steuer sitzende Bob nicht einmal mehr den Kompass erkennen konnte. Was nun? Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihr Boot ruhig treiben zu lassen. Die Strömung setzte sie hier, wie sie recht gut wussten, keinenfalls vom Land ab, sondern viel eher nach Norden zu, und das war weiter kein Schade oder Verlust. Und dabei befand sich kein Tropfen Wasser mehr im Boot – keine Krume Schiffszwieback. Aber die Töpfe mit den Konserven – von den Matrosen hatte noch keiner daran gedacht, ja vielleicht gewusst, dass sie sich dort befanden. Der Bootssteuerer legte sein Ruder ein, ging zurück zum Spintje, holte die zwei ziemlich großen Blechbüchsen heraus, stellte sie neben das Steuerruder und nahm dann, ohne ein Wort zu sprechen, seinen Sitz wieder ein.

»God bless you Mate«, sagte der alte Bob, als er die neue, unerwartete Hilfe sah. »Das kam zur rechten Zeit, um unser Volk bei Kräften zu erhalten. So ein Spintje ist Gold wert – wenn wir nur auch eine Flasche Wasser darin gefunden hätten.«

»Es steht noch eine halbe Flasche Rum drinnen«, sagte der Bootssteuerer.

»Beim Himmel, an den Rum hatte ich gar nicht mehr gedacht«, rief Bob. »Nun kommt, Jungens – morgen früh speisen wir vielleicht Bananen und Kokosnüsse. – Wetter noch einmal, das Wasser läuft mir im Mund zusammen, wenn ich an so eine frisch gepflückte Kokosnuss denke!«

Die eine Blechbüchse war bald geöffnet. Sie enthielt eingekochten frischen Hammelbraten, der sich noch ausgezeichnet erhalten hatte, und wenn er auch für die fünf Männer keine volle Mahlzeit gab, so genügte der Inhalt doch wenigstens, ihren Hunger zu stillen. Ein Schluck Rum, dessen sparsame Verteilung der alte Bob übernehmen musste, half den Durst etwas löschen, und die vom langen Rudern ermatteten Seeleute streckten sich dann wieder, so gut es gehen wollte, im Boot aus, um ihre müden Glieder auszuruhen. Wache wurde indessen nicht gehalten, denn bei toter Windstille konnte auch kein größeres Schiff segeln, und es war deshalb unmöglich, dass sie mit einem solchen zusammentrafen. Sie brauchten keine Störung zu fürchten.

Es mochte etwas nach Mitternacht sein, als der Bootssteuerer erwachte. Der Durst peinigte ihn, und er bog sich über den Rand des Bootes und goss sich Wasser mit der Hand über den Kopf, um sich dadurch zu erfrischen und abzukühlen. Wie er noch so dalag und es wieder abtropfen ließ, kam es ihm vor, als ob er in der Ferne ein dumpfes Brausen höre. Was konnte das sein? Er hob den Kopf und horchte – ein Dampfboot vielleicht, das seine Fahrt die Küste entlang hatte? – Doch blieb das Geräusch an der nämlichen Stelle. Aber er fühlte jetzt auch, dass sich der Wind erhoben hatte – leise zwar noch und kaum bemerkbar, aber es wehte doch ein schwacher Luftzug, dem jetzt auch sicher der Nebel weichen musste.

»Bob! », rief er leise und schüttelte den neben ihm liegenden alten Mann.

»Jawohl, Sir«, sagte dieser, noch voll im Schlaf. »Halben Strich am Leebug.«

»Bob«, flüsterte der Bootssteuerer aber wieder, denn er wollte nicht gleich die ganze Mannschaft stören. »Der Wind erhebt sich – wir kriegen Brise...«

»Das wär recht!«, rief der Seemann, jetzt völlig munter, vergnügt aus. »Bei George, da ist schon eine Mütze voll, aber die Luft kann noch nicht durch den Nebel durch; sie streift nur darüber hin und drückt ihn immer fester auf die See nieder. Sehen Sie da oben, Mr. Sikes? – Da zuckt richtig schon ein Stern heraus.«

»Hört Ihr das Brausen, Bob?«

»Wo, Sir?«

»Gleich dort drüben hinter unserem Boot, aber ich weiß nicht in welcher Richtung, denn wir haben uns, wer kann sagen wie oft, herumgedreht.«

Bob horchte eine Weile, ohne ein Wort zu erwidern, dann griff er in die Tasche und nahm eine alte Blechbüchse heraus, in der er sein Feuerzeug verwahrte. Den Kompass trug er ebenfalls bei sich, und nachdem er diesen auf die Bank gestellt, schlug er mit Stahl und Schwamm Feuer und brannte dann eins der mitgenommenen Schwefelhölzer an. Im nächsten Moment aber auch, wie nur die Flamme so weit aufflackerte, dass er die Stellung der Nadel erkennen konnte, rief er jubelnd aus: »Die Brandung! Hurra, Jungens! Auf mit euch, das Wetter klärt auf und Brandung voraus! Hurra!«

Die Leute taumelten in die Höhe und hörten auch wohl, wie sie nur erst munter geworden, das dumpfe rollende Geräusch, aber es war doch noch zu unbestimmt, um es deutlich unterscheiden zu können. Es klang wie aus weiter Ferne, und doch wussten sie auch recht gut, wie leicht gerade dieser Laut, besonders bei schwerer, nebliger Luft, täuschen kann, und wie manches Schiff schon dadurch verloren gegangen ist, dass es die Warnung nicht früh genug beachtete. Mit einem leichten Walfischboot aber, das ja danach gebaut ist, um ebenso rasch zurück wie vorwärts getrieben zu werden, hatten sie nichts zu befürchten, und es wurde jetzt beschlossen, ohne weiteres jener Richtung zuzufahren, damit man sich, wenn der Nebel endlich wich, doch auch sicher in unmittelbarer Nähe des Landes wusste. Im Nebel durften sie natürlich nicht anlaufen.

Die Leute griffen nach den Rudern, und Bob bat den Bootssteuerer, seinen alten Platz wieder einzunehmen – aber er weigerte sich. Er wollte nicht selber die Richtung von ihrem Schiff ab angeben; wenn es die Matrosen taten, konnte er es nicht ändern. Aber er half rudern.

Und die Brise wuchs – je weiter es gegen Morgen vorrückte, desto lebendiger wurde es auf dem Wasser. Deutlich schon kam ein großes Stück blauen Himmels zum Vorschein, und sie konnten sehen, wie die Nebelmassen anfingen nach links hinaufzurücken. Jetzt endlich tauchte die Sonne aus dem Meer empor – die leichten Wolken, die sich hoch über ihnen erkennen ließen, waren von dem rosigen Licht übergossen, und nun plötzlich fingen die Wellen an sich zu kräuseln, und im Nu warfen die Matrosen mit einem Jubelruf ihre Ruder ins Boot und setzten die Segelstange ein. Wer hätte noch einen Arm rühren mögen, wo ihnen der Wind jetzt selber vorwärts half!

Aber die Brandung? – Deutlicher und deutlicher unterschieden sie den dumpfen Laut – und wie das um sie her wogte und drängte. Manchmal war es, als ob die Bahn vor ihnen frei würde, und offene Gänge und Wölbungen bildeten sich in den dichten weißen Schwaden – dann plötzlich hüllte es sie wieder in die dunkle Nacht, dass der am Steuer Sitzende nicht einmal den vordern Teil des Bootes erkennen konnte. Die erwachende Brise hatte den Nebel zerrissen und schob ihn in aufgerollten Massen vor sich her, und jetzt plötzlich brach die Sonne hindurch – wie ein Schleier riss es voneinander – und vor ihnen, dicht und unmittelbar vor ihnen, dass es aussah, als ob man mit einer Büchsenkugel hinüberschießen könnte, lag das grüne, bewaldete Land, während darunter die Brandung, aber nur über niedere Sandbänke, schäumte und zischte.

Unwillkürlich lenkte der am Steuer sitzende Bob den Bug des Bootes etwas vom Land ab, wobei der Wind das Segel besser fassen konnte, und aller Blicke hafteten in gespannter Erwartung an dem Ufer – aber ein Landungsplatz ließ sich dort nicht erkennen, denn so weit das Auge reichte, schäumten die Brandungswellen über den Sand.

»Ja, Boys«, sagte da Bob, »in Amerika wären wir – oder wenigstens dicht dabei, aber hier lässt sich auch nichts machen, so viel ist sicher, und da bleibt uns denn keine andere Wahl, als nach Norden aufzulaufen, bis wir die Möglichkeit sehen, irgendwo einzufahren. Nach Süden müssten wir dem Wind gerade in die Zähne laufen.«

»Wenn wir nur Wasser hätten!«, stöhnte Bill.

»Da drüben ist genug«, brummte der alte Matrose. »Wir können nur noch nicht dazu. Aber da – teilt euch unter den letzten Schluck Rum, ich brauche nichts – ich halt's schon noch aus, und weit werden wir auch nicht mehr zu fahren haben.«

Die Leute fielen gierig über den Rum her, und das Boot verfolgte indessen, während auch die letzte Blechbüchse zum Frühstück geöffnet wurde, seine Bahn an der Küste hinauf. Aber das Ufer blieb sich gleich – Wald, undurchdringlicher, unnahbarer Wald, so weit sie vorausschauen konnten. Doch sie brauchten wenigstens nicht mehr zu rudern. Der Wind wehte scharf und frisch vom Süden herüber, und mit geblähtem Segel konnten sie rasch und ohne Arbeit ihre Bahn an der Küste hinaufverfolgen.

Ein paar von den Matrosen machten allerdings den Vorschlag, an einer Stelle, wo sich wenigstens keine Brandungswellen erkennen ließen, zu landen und in dem Wald nach Wasser zu suchen – nachher hielten sie es schon wieder eine Weile aus; Bob aber, der das Ufer besser kannte, schüttelte dazu den Kopf, denn er wusste, dass es aus nichts als Manglaren- oder Mangrovesümpfen bestand, in deren Schlammboden sie nie einen Tropfen trinkbaren Wassers gefunden hätten. Es half nichts; sie mussten eben aushalten, aber irgendwo im Laufe des Tages mussten sie ja doch eine Stelle höher gelegenen Landes, oder wenigstens eine kleine Flussmündung entdecken, in die sie dann einlaufen konnten. Solange das nicht geschah, waren sie genötigt, die offene See zu halten.

Und in der Zeit litten sie Tantalusqualen, denn zu verlockend lag das grüne, schattige Ufer an ihrer Seite, und es schien ihnen kaum denkbar, dass dort, wo Bäume wuchsen, nicht auch Quellen sprudeln müssten und der Fuß einen festen, trockenen Boden fände. Die meisten von ihnen kannten freilich noch nicht die trügerischen Ufer tropischer Küsten, und erst als ihnen der Bootssteuerer Bobs Versicherung bestätigte, fügten sie sich seufzend in das Unvermeidliche.

Immer mehr senkte sich die Sonne dabei dem Horizont wieder zu, und noch nicht einmal ein Flussbett hatten sie in der weiten Baumöde entdeckt, das ihnen doch wenigstens verstattet hätte, die offene See zu verlassen, während es stromauf die Gewissheit menschlicher Wohnungen oder doch wenigstens hohen Landes bot. Da fuhr Bob plötzlich von seinem Sitz empor: »Was ist das da vorn?«, rief er aus, mit dem Arm der Richtung zudeutend. »Dort ist höherer Boden und dort läuft auch eine Bucht in das Land hinein.«

Die Blicke aller hafteten an der bezeichneten Stelle, aber es ließ sich noch nichts darüber entscheiden, bis sie näher kamen, und das dauerte noch eine gute Weile. Jetzt endlich öffneten sich die dicht mit Waldung bedeckten Arme der Bucht und ließen eine Einfahrt wie eine Flussmündung erkennen, und lauter Jubel brach von den Lippen der Leute, als sie plötzlich in gelblich gefärbtes Wasser kamen.

Jetzt durften sie nicht mehr daran zweifeln, dass sie sich nahe der Mündung eines Flusses befanden, und mit der günstigen Brise hielten sie rasch rechts hinein.

Über eine Stunde fuhren sie aber noch, und wurden schon wieder zweifelhaft, ob es nicht doch nur ein Seearm sei, der dort hineinführte.

»Was ist das da? Jener helle Punkt?«, rief plötzlich der Bootssteuerer aus, von seinem Sitz emporspringend und mit dem Arm nach vorn deutend.

»Ein Haus – ein Haus!«, jubelten da die Leute, die jetzt ihre Leiden geendet sahen und sich wenig darum kümmerten, wer jenen Platz bewohnte; Wasser musste er ihnen geben. Fast unwillkürlich griffen sie auch nach ihren Rudern, als ob sie mit diesen rascher ihr Ziel erreichen könnten, aber der Wind trieb sie schon schnell genug vorwärts, das Wasser kräuselte unter ihrem Bug. »Da ist noch ein Haus, da noch eins – das ist eine Stadt!«, tönte es von aller Lippen, als sie weiter nach Norden glitten und dadurch den Platz, den die am Ufer südwärts daran stehenden Manglaren bis jetzt verdeckt hatten, mehr in Sicht bekamen.

Jetzt war ihre Not allerdings mit ihrer Seefahrt beendet, und als »schiffbrüchige Matrosen«, als welche sie sich betrachteten, da sie doch ihr Schiff im Nebel verloren, durften sie auch auf eine freundliche Aufnahme bei der Bevölkerung rechnen.


 << zurück