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An einem schönen Septembertage lag Kaspar vor seinem Haus. Er hatte sich hingestreckt wie ein Mensch nach langer Wanderung: die Arme zu beiden Seiten des Kopfes, als wolle er im gegebenen Augenblick sie wie ein Kissen darunterschieben. Eine Sonnenspreite fiel auf seinen Leib, den er von Zeit zu Zeit nachrückte. Ringsherum wob ein stilles Vorholz seine grünen Schatten.
Dies Holz bildete den Eingang zu einer Schlucht. Drachenschlucht hieß sie im Munde der Leute. Felswände fielen steilrecht hinein. Sie war etwa hundert Menschenschritte lang und ward alsbald so eng, daß sie nur noch ein Spalt im Gestein genannt werden konnte. Für Menschen war da kein Weg. Aber vorn, wo Kaspars Burg lag, mochte man sie immerhin als Talkessel ansprechen, wiewohl dazu einige Phantasie gehörte.
Kaspar war hier seit fünf Jahren ansässig. Er hatte eine Vorliebe für solch lauschige Idylle. Hin und wieder empfing er Besuch – den Besuch eines Menschen!
Dieser Mensch hieß Huber und war seines Zeichens Waldheger. Der brachte zwar seinen roten Dachshund Bergmann mit, aber Bergmann war ein sehr anständiger Hund. Er erkundigte sich stets mit großer Freude nach Kaspars Befinden.
Vor einigen Jahren noch hatte sich Kaspar, wenn er sehr guter Laune war, von dem Menschen Huber wohl sogar ein bißchen hinter den Ohren krauen lassen, so oft der kam. Das war ein sehr angenehmes Gefühl und er sagte dann hu gu gu.
Jedoch im Laufe der Zeit war eine gewisse Entfremdung zwischen ihm und Huber eingetreten. Daran trug Kaspar die Schuld. Im allgemeinen haßte er Menschen und Hunde. Mit Bergmann hatte er vor sechs Jahren aber in der gleichen Wiege gelegen. Das ist in diesem Falle wörtlich zu nehmen. Die Wiege stand nämlich in dem kleinen Waldhause des Hegers und war die Puppenwiege seiner Tochter gewesen, die damals nicht mehr mit dergleichen Dingen spielte.
Wie Kaspar zu dem sonderbaren Aufenthalte gekommen war, blieb ihm – trotz eifrigen Nachdenkens – schleierhaft. Vielleicht hätte er sein ganzes Leben in dem kleinen Waldhause verbracht; aber er war ein schrulliger Gesell von Kind an. Und als er ordentlich laufen gelernt hatte, unternahm er des Nachts Wanderungen. Treppauf, treppab ging es da, und was nicht niet- und nagelfest war, warf er über den Haufen. In einem Menschenhaus, in dem die Leute zur Nachtzeit schlafen, war das störend, wenigstens behauptete das Herr Huber. Kaspar wollte es durchaus nicht wahrhaben; denn er liebte es, seinen Schlummer in den Tag zu verlegen. In diesem Punkte war zwischen ihm und seinem Herrn keine Einigung zu erzielen.
Deshalb trug ihn der Waldheger eines Tages zu dem verwaisten Fuchsbau vor der Drachenschlucht. Dort setzte er ihn an die Einfahrt und sprach zu ihm: »Kaspar, mein Freund, so leid es mir tut – wir müssen uns trennen. Ich habe dir hier eine vortreffliche Wohnung gewählt. Möchtest du sie nicht einmal in Augenschein nehmen?«
»Hu gu gu,« antwortete Kaspar und fuhr vergnügt ein.
Bergmann, der damals noch ein Kind war, begleitete ihn. Ihm gefiel es außerordentlich unter Tag; denn es lagen da von den Mahlzeiten der früheren Mieter noch allerhand interessante Sachen herum: ein Gänseschnabel, ein paar Hühnerflügel, sogar der Schädel von einem Gabelbock den der alte Reinecke einmal geschächtet hatte. Und Witterungen standen in dem Bau – fabelhaft! Das Hundenäschen wackelte darin wie ein Windrad. So begeistert war Bergmann. »Großartig!« sagte er.
»Keine Spur von Großartigkeit!« entgegnete Kaspar. »Da kann man sehen, was du für ein Kerl bist! Die Wohnung ist durch deinen Vetter Reinecke total verschandelt. Die Lage ist vortrefflich, aber die Anlage miserabel. Ich muß von Grund aus umbauen. Du darfst also jetzt verschwinden. Ich gehe nämlich augenblicklich ans Werk; denn ich muß bei Eintritt des schlechten Wetters damit fertig sein. Gehab dich wohl!«
Das war unzweideutige und Bergmann war an Gehorsam gewöhnt, schon damals. Er empfahl sich beleidigt und ziemlich formlos.
Eine Weile hörten Heger und Hund, wie Kaspar unter Tag arbeitete. Sie hatten offenbar nicht viel zu tun. Und so beobachteten sie noch, wie der neue Bewohner des Hauses eine Fuhre Bauabfall hinterlings zutage förderte. Das sah sehr komisch aus, war aber sehr praktisch. Er stemmte sich einfach mit seinem geräumigen Hinterteil dagegen und schritt rückwärts durch das Ausgangsrohr. Vor dem Bau breitete er alles sorgsam aus und klopfte es fest.
»Auf Wiederseh'n, Kaspar, mein Freund,« sagte Herr Huber und pätschelte den wunderlichen Genossen von gestern. »Wir zwei helfen dir sorgen. Dir darf nichts geschehen, gelt?« Dann verschwand er mit Bergmann im Holze.
Kaspar hatte alle Hände voll zu tun. Aber wahrhaftig, diese Arbeit machte sein Leben süß. Denn danach hatte er sich gesehnt aus einem dunklen Triebe heraus. Und über seiner Sehnsucht war er zum nächtlichen Poltergeiste in des Waldhegers Hause geworden. Doch: dies alles gehörte ja einer himmelweiten Vergangenheit an!
Inzwischen war er ein Mann in den besten Jahren geworden. Bergmann hatte wohl die Milchbrüderschaft längst vergessen; denn wenn er ihn einmal mit Huber besuchte, wackelte er zwar sehr freundschaftlich mit der Rute, aber er beroch ihn erregt, und eines Tages sagte er sogar: »Ich begreife nichts warum ich dir nicht an den Kragen darf.«
»Dummkopf!« entgegnete Kaspar. »Geh mir ein wenig aus der Sonne!«
Er redete barsch mit ihm, aber nicht feindselig. Huber, der Waldheger, versuchte schon lange nicht mehr, sich seinem Hausfreunde von einst vertraulich zu nähern. Er wollte ihn nicht vergrämen; denn Kaspar hatte es vorgezogen, sich einigemale in seine Behausung zurückzuziehen, sobald sein früherer Gebieter allzuweit aus der Deckung heraustrat auf den Burghof – wie man nicht ganz unzutreffend die kleine Lichtung bezeichnen konnte. Auf eine Unterhaltung mit Huber ließ er sich nicht mehr ein. Er setzte sich auf die Keulen und betrachtete sich den Heger und seinen Hund mit einem essigsauren Gesichte, das er obendrein mit Müdigkeit verhängte.
Solch ein Gebühren hielt er der Außenwelt gegenüber für angezeigt; denn er hatte gefunden: größere Liebenswürdigkeit zog allerlei Störungen feiner Ruhe nach sich ...
An jenem Septembertag also lag er vor der Tür seiner Hütte und sonnte sich.
Plötzlich erhob er den Kopf ein wenig. »Na!« sagte er und äugte gegen das Gebüsch.
Sieh da – Frau Gisela trat heraus! Er kannte sie von nächtlichen Wanderungen durch sein Revier. Aber die Bekanntschaft war oberflächlich. Für alle Fälle setzte er sich zurecht und gähnte sie an.
»Was wollen Sie?«
Frau Gisela war die sacht angejährte Frau eines Fuchses und selbst für eine ihrer Art von berüchtigter Energie und Schlauheit.
»Lieber Herr Vetter,« begann sie und näherte sich ihm vertraulich, »denken Sie mal, das Unglück! heut morgen hat man unsere Burg zerstört! Mein Mann ist tot, meine Kinder, die schon in wenigen Tagen selbständig wurden, sind unter dem Blei der Jäger verendet!«
»Ich kann mir denken, daß so etwas unangenehm ist,« sagte Kaspar, »aber was soll ich dabei tun? wie man's treibt, so geht's.«
»Lieber Herr Vetter, ich habe nicht einmal eine Unterkunft! Sie glauben nicht, wie schwer mir die Witwenschaft aufs Herz fällt, wir hatten eine so gute Che, und mein Mann – Sie wissen doch – der Stolz seiner Sippe! Wolfsblut floß in seinen Adern.«
»Ach lieber Gott,« unterbrach sie Kaspar, »auf derlei Abstammungen gebe ich wenig! Und warum sind Sie heute gekommen?«
»Ich wollte Sie um Herberge bitten,« sagte Gisela gebrochen, »ich brauche Ruhe – Sie können sich das denken! Diese erschütternden Erlebnisse!«
Kaspar setzte ein noch längeres und ein noch verdrießlicheres Gesicht auf. »Das hätte mir gerade gefehlt!«
Gisela schupfte die Schultern. »Dann muß ich es auf das Aeußerste ankommen lassen! Ich hoffe, Sie werden das vermeiden. haben Sie mir nicht einmal erzählt, daß Sie sich des besonderen Schutzes jenes nichtswürdigsten aller Menschen erfreuen?«
»Ganz gewiß.«
»Ferner, daß Ihre Burg Drachenschlucht zwei Kessel besitze, die übereinander liegen?«
»Hm, so ist es.«
»Außerdem: sie ist von einem unserer Vorfahren angelegt worden.«
»Sicherlich. Aber der zweckmäßige Neubau ist mein Werk. – Ich will Ihnen etwas sagen: heiraten Sie wieder!«
»Leichter gesagt, als getan,« entgegnete die Fähe, »man ist in die Jahre gekommen, lieber Vetter. Ich habe den Wunsch, mein Leben in Beschaulichkeit zu beschließen.«
»So sehen Sie aus!«
»Ich dachte, wenn ich Ihre Zurückgezogenheit teilen könnte ... Und zwar als Ihre Wirtschafterin ...«
Kaspar zuckte zusammen. »Sie wissen, ich bin Liebhaber vegetarischer Kost. Wohlschmeckende Regenwürmer oder honigsüße Wespenwaben als Zuspeise steche ich mir aus dem Erdboden. Dazwischen eß' ich wohl einmal aus dem Neste gefallene Jungvögel – wenn sie mir gerade in den Weg laufen. Aber – wir zwei haben auch eine recht verschiedene Meinung von Sauberkeit.«
»Auf diesen Vorwurf bin ich am mindesten gefaßt gewesen!« fauchte Gisela und fuhr zu Baue. Sie wollte es also auf das Aeußerste ankommen lassen.
Kaspar aber hatte keine Lust, sie zu Tätlichkeiten zu reizen. Nicht, weil er sich vor dieser kampflichen Frau fürchtete, sondern weil das seiner Weltanschauung nicht entsprach. »Es lohnt sich nicht!« Das war die Summe seiner Erfahrungen und Weisheiten.
Heute verwirrte ihn das Verlangen Giselas. Sehr nachdenklich saß er vor seiner Burg und äugte in die Einfahrt. Weil er die üblen Folgen einer Erregung fürchtete, hielt er an sich. »Im Grunde genommen,« dachte er, »läßt sich gegen ihre Absicht nicht viel vorbringen. Der Bau ist geräumig. Sie bewohnt ein anderes Stockwerk. Versorgungsansprüche macht sie nicht; denn sie lebt nicht vegetarisch, und wenn sie es versuchte, so würde sie das Zeitliche sehr bald segnen. Aber sie hat miserable Gewohnheiten.«
Er legte sein Gesicht in Falten und rief bärbeißig in die Röhre: »Ich liebe es nicht, mein Haus von Fremden durchstöbert zu sehen!«
Gisela war schon auf dem Wege gewesen. Es hatte aber den Anschein, als gehorche sie ihm. Auch fesselte ihn ihre Art, aus dem Baue zu treten. Traumleise kam sie. Luchste. Aeugte. Fuhr wieder ein. wiederholte das dreimal.
Kaspar hauchte sie unwirsch an.
»Ich, kann Ihnen die Wohnung nicht geben,« sagte er. »Wenn ich in die Lage komme, zu heiraten, dann gerate ich in höchste Verlegenheit. Es wäre eine nichtswürdige Verblendung von mir. Es lohnt sich nicht, Frau!« Dabei äugte er sie an, als könne er aus seinen Sehern Blitze, zwischen seinen Fängen hindurch den Donner schlagen.
Die Füchsin hatte sich vorn in der Röhre niedergetan. Sie sah aus, als lächle sie ihn boshaft an. »Lieber Herr Vetter, das Heiraten wird für Sie nicht leicht sein. Erstens sind Sie ein eingefleischter Junggeselle mit allen Nücken dieses fragwürdigen Standes ...«
»Wa – was?« fragte Kaspar erstaunt.
»Nun ja,« antwortete Gisela und sah ihn mit knitzem Blick an, »Junggeselle – das heißt: es fehlte Ihnen jede Anregung zum Guten!«
»Das ist über das Maß!« brummte der Dachs.
»Ich wette, wenn ich den Wunsch hätte, nach sechs Ehen einzugehen, so würde mir – der alten Frau – das leichter, als Ihnen Ihre erste! Und zweitens: Leute Ihrer Art pflegen bekanntlich ihre Burg niemals mit Weib und Kind zu teilen. Dagegen wehrt sich Ihre verkniffene Natur! Sie müßten also eine neue Behausung schaffen.«
Sehr überzeugend sprach Gisela. Und weil sie wußte, daß sie recht hatte, wurde ihr Gesicht immer malitiöser. Kaspar geriet hart an die Grenze einer Gemütsbewegung, die ihn vielleicht auf die Dauer seines Lebens zum Finsterling gemacht hätte. Und dennoch: Frau Gisela war für ihn ein Ereignis.
Leider hatte er keine Zeit, sich weiter mit ihr zu befassen; denn es brach etwas im Vorholze. Ein Mensch redete mit lauter Stimme. Gisela fuhr in den Bau – wie die Flamme eines Blitzes, der sich in die Erde wühlte, verging sie.
Auch Kaspar war einen Augenblick im Zweifels ob er sich nicht lieber verklüften sollte. Aber die Stimme Hubers kannte er zu genau. Der schlich ihn nie an; denn er wollte ihn bei guter Laune erhalten und rief ihm schon von ferne seinen Gruß: »Guten Tag, Kaspar mein Freund!«
Wie sonst trat Bergmann zuerst in den Burghof. Kaspar warf ihm einen verkniffenen Blick zu. »Einfaltspinsel!«
Das war Bergmann gewöhnt. Das Bild, das er heute stellte, aber war außerordentlich. »Ha!« sagte er, »jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben! hast du noch immer keine Ahnung, Dummkopf?«
Jeder Muskel am Körper des Hundes zitterte in erregtem Spiel. Bergmann war außer sich. Bergmann läutete Sturm, Sturm!
Wütend pfiff ihn Herr Huber ab. Aber Bergmann wartete auf den Befehl, der alten Fähe nachzufahren, wie ein geglühter Eisenstab stach sich ihm ein neuer Pfiff ins Hirn.
Indes saß Kaspar auf seinen Keulen und bewahrte mühsam die Ruhe. Sein Gesicht hatte sich verwandelt. Es sah aus wie ein geknüllter Hader; denn Bergmann – Bergmann war offenbar irrsinnig geworden.
Aber Kaspars Sinne konnten sich nicht mit ihm beschäftigen. Sie richteten sich – soweit das die Peinigung zuließ – hinaus.
Der Heger kam heute mit einem unerklärlichen Aufwand von Geräusch. Er kam auch nicht allein – wie sich gleich herausstellte. Ein Forstlehrling war bei ihm. Die beiden schleppten eine Kiste durch das Dickicht. Dabei brüllte Herr Huber den Hund Bergmann an. Der kroch ihm – unter dem letzten Aufgebot von Gehorsam – zu Füßen und erhielt einen harten Tritt. Dann ward er an die Leine gelegt und unter einer Buschkiefer festgemacht.
O weh! Bergmann wollte sich aufhängen in übertriebenem Pflichtgefühl. Er wagte nicht mehr, Laut zu geben. Aber in winselnder Erregung sagte er zu seinem Herrn: »Mensch, bist du denn ganz verblödet? Die alte Fähe ist doch hier, die uns heute morgen entwischt ist!« Es war unerhört. Die Luft war dick von Giselas Witterung. Ihre Fährte in den Bau rauchte geradezu – und Huber der Mensch stand mit tausendfältig gebundenen Sinnen in dem fuchsheißen Schwelen der Erde und war ahnungslos!
»Halt's Maul!« schrie er dem aufgewühlten Hunde zu. Der setzte ein schmerzvolles Gesicht auf und dachte zerknirschten Herzens nach über die Fragwürdigkeit der menschlichen Begabung.
Das Schweigen wurde ihm dadurch erleichtert, daß jetzt ein Akt begann, von dem sich Herr Huber offenbar einen großen Erfolg versprach. Dieser Akt hub an mit einem Monolog des Waldhegers: »Du zählst nunmehr sechs Jahre, Kasparlein; drum will mir scheinen: es ist Zeit zum Frein ...«
Der Wahrheit die Ehre zu geben: Herr Huber fuhr in schlichter Prosa fort. Dabei wahrte er den respektvollen Abstand, den Kaspar für angemessen hielt. »Ich bringe dir zu diesem Zwecke heute Ursula. Die habe ich von weither schicken lassen, Kaspar mein Freund, und ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen. Das übrige muß ich dir überlassen. Aber es würde mich verstimmen, wenn du nicht für eine standesgemäße Aufnahme Ursulas sorgtest, hörst du, Kaspar?«
Weil er annahm, daß der für die Menschensprache nicht mehr das nötige Verständnis zeigte, so kippte er mit dem Lehrling die Kiste um. Der Deckel wurde abgenommen, und Ursula, eine zweijährige Dachsjungfrau, betrat mit einem Trommelwirbel den Burghof. Der Wirbel war auch bei ihr der Ausdruck äußersten Mißvergnügens.
Natürlich hatte Kaspar schon während Hubers Rede sich durch seine Nase über die Lage der Dinge unterrichtet, und er machte so freundlich als möglich »Hu gu gu.«
Darüber traten die beiden Menschen rückwärts ins Unterholz. Sie wollten sich von dort aus das Schauspiel betrachten. Ob sie auf ihre Kosten kamen?
Ursula war in einer Stimmung, die sich in die Worte fassen läßt: »Ich denke einen langen Schlaf zu tun; denn dieser letzten Tage Qual war groß.« Sie eräugte die Einfahrt und trottete, ohne ein Zeichen besonderen Wohlgefallens an Kaspar, vor die Mündung des Geschleifs. Da war vor fünf Minuten Gisela hindurchgegangen. Und ganz gegen ihre Gewohnheit zuckte Ursula zusammen. Sie tat sich nieder. »Ich habe schon die Nase voll!«
»Benütze den anderen Eingang,« sagte Kaspar und gab ihr einen sanften Stumper. Ihre Witterung war voller Verheißungen – heimlich und noch unausdeutbar, septemberleise. – Hu gu gu!
Die Luft in der neuen Röhre war unverdächtig. Doch eine seltsame Gebundenheit lag über dem Paare, zu dessen Vereinigung das besinnliche Schicksal sich den Menschen Huber erwählt hatte.
Nach Ursula betrat Kaspar die Burg.
»Ich finde mich schon allein!« sagte sie.
»Ueberflüssige Bemerkung!« brummelte Kaspar.
»Ich liebe nicht, mein Lager mit anderen zu teilen.«
»Ganz mein Fall! Aber du hast durch dein Erscheinen einen großen Auflauf verursacht,« belehrte sie Kaspar, »und wenn du den Wunsch hast, in ruhige Verhältnisse zu kommen, so müssen wir uns jetzt für längere Zeit unsichtbar machen.«
Weil Kaspar nicht mehr erschien, verloren die draußen die Geduld. Das klägliche Geheul Bergmanns und das Sausen einer Birkengerte überzeugte den Burgherrn: der Hund bekam eine Tracht Prügel. Das war der Lohn für seine Bemühungen, die beiden Jäger aufzuklären! So mußte die Gelegenheit, Frau Gisela zu fangen, ungenutzt verstreichen. Bergmann war gebrochen an Leib und Seele.
Verdrießlich zogen die drei mit der leeren Kiste hinaus ins Menschenland.
*
Frau Gisela war vom Glücke keineswegs gehätschelt. Ihre Einkehr in Burg Drachenschlucht war die Folge spitzfindiger Ueberlegung gewesen. Sie vermutete in Kaspar einen weltfeindlichen und weltfremden Einsiedler – wenn auch nicht einen Asketen. Den wünschte sie sich gar nicht. Aber sie fand einen Sonderling.
Sie hielt ihre Reize nicht für abgeblüht, und mit dem Gedanken, eine neue Ehe einzugehen, liebäugelte sie sehr. Laut werden ließ sie das natürlich nicht. Doch: durch die Wahl der Drachenburg wollte sie sich nur begehrenswerter machen. Es gab im ganzen Bergrevier nichts Aehnliches. Sie hoffte sogar, dem Kaspar mit der Zeit den Bau zu verleiden. Dann sollte er weiter rückwärts eine Neuanlage schaffen. Die wollte sie mit ihrem neuen Gatten erobern. Denn über die Grenzen hinaus, die der Waldheger Huber betrat, wenn er Kaspar besuchte, war kaum je ein Mensch in die Schlucht geschritten. So konnte sie dann unter dem Schutz ihres gefährlichsten Feindes ihrer Familie ein herrlich gesichertes Dasein verbürgen; denn die stumpfen Sinne jenes Grünrocks würden ihm ihre Anwesenheit in der Schlucht niemals verraten.
Die Rechnung war ausgezeichnet, und doch: sie stimmte nicht; denn Kaspar war durch seinen Jugendaufenthalt unter den Menschen eine garnicht leicht ausdeutbare Natur geworden.
Während sie das alles bedachte, trat er wieder heraus in den Hof. Flugs war sie bei ihm.
»Sehen Sie, Herr Vetter.« sagte sie, »das gefällt mir von Ihnen, daß Sie sich jenen Menschen zum Freunde machen ...« Sie redete damit das Gegenteil von dem, was ihre Meinung war. Aber sie wollte ihn nicht vergrämen. Denn er war sozusagen der Grundstein ihrer Zukunftspläne. »Sehen Sie, Herr Vetter, auch der Mensch hat trotz seiner minderwertigen Begabung eine gewisse Daseinsberechtigung.«
»Meinen Sie?« fragte Kaspar. Das war ein Zeichen, daß ihn Frau Gisela aufregte; denn er pflegte sonst Auseinandersetzungen solcher Art nicht mit Zwischenfragen zu unterbrechen.
»Ueber Daseinsberechtigungen will ich nicht reden,« sagte Gisela, »man kann darüber geteilter Meinung sein. Aber Sie werden mir ohne weiteres zugeben: wenn ihm meine Sippe nicht weitaus überlegen wäre, nun, dann hätte er mit seinem Blasrohr, durch das er Blei und Feuer pustet, uns längst ausgerottet. Vergebliches Bemühen, lieber Herr Vetter! Wir sind dem Menschen über! Doch – reden wir von etwas anderem; man bekommt einen üblen Geschmack in den Mund, wenn man von Menschen spricht. Ein widerliches Geschlecht! Eine Verirrung der Natur! ... Sie gedenken sich also in der Tat zu verheiraten, lieber Herr Vetter?«
Frau Gisela konnte dem Blick, mit dem Kaspar sie betrachtete, nicht standhalten. Vor zwei Stunden, da sie ihm ihre Dienste als Wirtschafterin angeboten, hatte er nicht halb so komisch ausgesehen. Er neigte den Kopf zur Seite und guckte sie an wie ein Mensch über die Brillengläser.
»Heiraten? Natürlich will ich heiraten! Sie ist ein ausgezeichnetes Stück von einem Dachsmädchen!«
»Herr Vetter! Herr Vetter! Bei Ihren ausgesprochenen gesellschaftlichen Neigungen! Sie ist ja die reine Dorfkathl! Hat sie Ihnen etwa den Gruß geboten, wie sie das einem Burgherrn schuldig ist?«
Gisela hatte von der ersten Begegnung gar nichts gesehen. Aber mit verblüffender Sicherheit stellte sie alle Einzelheiten fest. Und dabei zeigte sich: sie blieb ihrer Gewohnheit getreu, Streich gegen Streich zu setzen und allem in überbietender Weise entgegenzutreten. Von den Menschen nahm sie ihre Maße für Kaspar den Sonderling und – sie vermaß sich.
»Wissen Sie, liebe Gisela,« (Kaspars Herz war durchsonnt bis auf den Grund, sonst hätte er in weniger verbindlichen Ausdrücken geredet), »wenn Sie nicht von so prachtvoller Klugheit wären, so müßte ich annehmen, Sie selbst hätten Absichten auf mich.«
»Oh!« machte Gisela und markierte jungfräuliche Beschämtheit, »das wäre ja wider die Natur, lieber Herr Vetter! Aber – eine alte Frau darf Ihnen das sagen: lehnten sich nicht die Naturgesetze dagegen auf, so wäre mir keiner lieber als Sie, und Sie müßten mein werden!«
»Lieber Herr Vetter,« fuhr sie fort, »Sie sehen, Sie entwaffnen mich! Aber für meine Jahre heißt die Losung: entsage! Also: heiraten Sie Fräulein Ursula! Es wäre unverantwortlich von mir, Ihnen einen Liebestraum zu zerstören.«
Ursula kam. Vielleicht wäre es klüger von ihr gewesen, eine Minute früher aus dem Bau zu treten. »Ich hatte mir vorgenommen, drei Tage zu schlafen,« sagte sie, »aber wenn das hier so geräuschvoll ist, dann kann ich ja meiner Wege gehen.«
»Wenn du dich nach einem Leder voll Bauernprügel sehnst, steht dir das frei,« entgegnete Kaspar.
Es war merkwürdig: dies Wort, das die gesellschaftlich veranlagte Frau Gisela bis in die Tiefen ihres Herzens verletzt hätte, machte auf Ursula eine gewaltige Wirkung.
»Prügel bekommen ist deine Sache,« antwortete sie, »das wollen auch wir so halten in unserer Che.« Dabei zerknüllte sie ihr Gesicht, daß es aussah, wie Landregen zur Erntezeit. Kaspar konnte sich ihr nicht entziehen. Sie war zu reizvoll!
»Weißt du,« begann Ursula, »während du hier die Zeit verschwätzt hast, hättest du schon einen Bauplan entwerfen können.«
Bauplan? Also dachte sie nicht daran, ihn zu verlassen! Sie hatte es eilig damit. Er sollte seinen Mann stehen. Ein köstliches Verlangen!
»Sag mal, du,« wandte sie sich an Kaspar, dabei betrachtete sie sich die Gegend, »die Lage hier ist nicht übel. Aber deine Gepflogenheiten sind es um so mehr. Ich glaube, du bist zu lange Junggeselle gewesen.«
»Hab ich ihm auch schon gesagt,« warf Gisela ein.
»Sie geht das gar nichts an!« sagte Ursula, »Was Ihnen recht ist, ist uns nicht billig.« Und zu Kaspar sprach sie: »Paß auf, wir ziehen uns durch diese Person eine Menge Feinde ins Haus. Gisela, bilden Sie sich nicht etwa ein, ich sei eifersüchtig. Pah! Ich halte meinen zukünftigen Gatten für zu geschmackvoll ...«
»Ursula,« besänftigte Kaspar, »sie ist Witwe, und Fälle wie der ihre sind nicht selten. Ich glaube, sie wird uns nicht im Wege sein.«
»Ich liebe derartige Einquartierung nicht. Es kommt dabei immer nichts rechtes heraus.«
Frau Gisela schwieg. Vielleicht wäre es zu einer ernstlichen Auseinandersetzung gekommen – da geschah etwas Sonderbares. Es trabte im Gezausicht unter den Jungföhren! Ein Wildkater trat auf die Lichtung. Das war eine seltene Erscheinung.
Kuder hieß er. Er war ein kampflicher Held. Narbenbedeckt. Mit zerrissenen Lauschern. Die Standarte trug er, als ging's in die Schlacht. Die rechte Brante gehoben – so sicherte er. Seine Seher leuchteten vor der Dämmerung des Unterholzes auf wie zwei Sterne.
Gisela trabte ihm entgegen. Der wievielte Stein war das, den ihr das Schicksal an diesem Tag in die Suppe warf? Aber sie verstand, ihm zu begegnen.
»Ah, Gevatter Kuder!« sagte sie erstaunt und wußte diese Worte freudvoll zu beschwingen. Gesehen hatte sie den Wildkater ihr Lebtag nicht. Doch sie besann sich, daß der Stärkste in jeder Familie den Namen Kuder erhielt. Das war Ehrensache.
»Kennen Sie mich?«
»Oh, wir haben einst eine schöne Sommernacht in Gemeinschaft mit meinem Manne verlebt, als der noch König war im Wald und auf der Heide!« log sie ihm vor., »Sie sollten auch Pate bei uns stehen. Aber leider waren Sie unauffindbar.«
Das stimmte. Kuder war seit einem halben Jahr auf der Wildfährte gewesen. Es gehörte nicht einmal der Scharfsinn Giselas dazu, dies ins Blaue hinein festzustellen. Nun flog draußen hauchleise die Septemberseide, und Kuder suchte einen Standort voll Sonne, Heimlichkeit, Einsamkeit.
»Ich kann mich nicht entsinnen,« sagte er. »In Kleinigkeiten bin ich großzügig. Nehmen wir also an, Sie sprechen die Wahrheit. Ihre Familie?«
»Seit heute Morgen bin ich kinderlos und Witwe.«
»Derzeitiger Aufenthalt?«
Gisela gab ihm gerührt Antwort; denn ihre Wahrscheinlichkeitsrechnung (Kasparn die Burg zu verleiden), sollte durch Kuder, den Helden, eine Stütze erhalten.
»Und diese da?« forschte der Wildkater und deutete auf die Dachse.
»Dummköpfe!« flüsterte sie ihm ins Ohr; aber sie sagte weithin vernehmbar: »Die umsichtigsten und liebenswürdigsten Quartiergeber, die Sie sich denken können.«
Kaspar und Ursula saßen auf ihren Keulen. Die Empfehlung, mit der sie Gisela einführte, ließ sich hören. Aber sie wurden davon nicht sichtbar berührt.
Der Kater trat in den Burghof. »Gefällt mir!« knurrte er. »Ist eine hohle Eiche in der Nähe?« wandte er sich an Kaspar.
»Was gehen uns hohle Eichen an?«
»Mich dünkt, ein verdumpfter Baumstamm ist keine würdige Wohnung für Leute von Stand!« warf Gisela ein. Damit verfolgte sie ihr Ziel: Kasparn zu vertreiben. Der sollte in der Schlucht durchaus zwei neue Bauten anlegen. Die eine wollte sie, die andere sollte Kuder beziehen; und die Drachenburg stand Kasparn und seinem Weibe dann wieder zur Verfügung – eine Schutzfeste gegen den Einbruch des Menschen, der die Dachse hegte. So rechnete sie.
Aber dieser Wildkater hatte eine unausdenkbare Daseinsauffassung. Knorrig und hart war er, wie ein Eichstock auf dem Waldarbeiter das Holz für ihr Lagerfeuer spällen. Just so ingrimmig und zerhackt sah der alte Kämpe auch aus.
Auf Gisela und Ursula machte diese narbenvolle Gestalt den tiefsten Eindruck. Aber jede schätzte ihn nach ihrer Weise. Gisela erkannte in ihm, wie gesagt, das geeignete Werkzeug, Ursula dagegen das Vorbild eines reckenhaften Einsiedels. Ein Kerl ohne Furcht. Mit wachen Sinnen, voller Kraft, List, Geschmeidigkeit und mit einer Wehr, wie sie in den Bergwäldern kein anderer aufwies.
Eine Zeitlang äugten sie einander an. Kuder steckte dabei ein Gesicht heraus, als zerlege er ein Stück Wild. Kaspar und Ursula kniffen eine Verachtung in ihre Züge, als wollten sie ihn und die Welt vergiften.
Wortlos schnürte der Kater an ihnen vorüber in die Schlucht. »Die rote Fähe ist der dunkle Punkt in diesem Paradies!« überlegte er. Er hatte von einer hohen Kiefer aus, tief in das Astwerk gedrückt, den Vorgang mit dem Heger beobachtet.
Zuerst traute er seinen Sinnen nicht. Aber die Lage der Dinge ward ihm klar. Kein Jäger hatte eine Ahnung von seinem Dasein im Revier. Und nun war diese Füchsin hiesig! »Füchse ziehen den Menschen an. Darunter leidet die Romantik.«
Je tiefer Kuder in die Drachenschlucht hineinschränkte, desto berückender wurden Landschaft und Einsamkeit. Auf einer Fichte, die mit ihren Wurzeln das Gestein umkrallte und aus dem Steilhang der Schlucht emporstrebte, wohnte ein Bussardpaar. Bäume hatten sich in den Hängen festgebissen. Eine mannsdicke Eiche lehnte sich da heraus und stemmte sich mit knorrigen Aesten wider den Berg an der anderen Seite der Schlucht. Gerade unter ihr stieg eine Fichte empor, als wollte sie den kühnen Eichstamm tragen helfen, der sich über den schauerlichen Abgrund schwang.
Den Stamm dieser Fichte erstieg Kuder. Er bäumte auf die Eichenbrücke. In steiler Schräge führte die über die Schlucht. Und seitlich in der Eiche fand er eine Höhlung, nur für die Sinne einer Wildkatze erkennbar. Denn als Kuder über den Stamm schritt, klang es dunkel und verräterisch unter seinen Branten und Waffen. Er äugte hin am Stamm. Ein Eichhorn hatte darin seine Burg. Aber das geräumige Tor war gegen Einfälle gefährlichen Nachtgevögels, gegen den Marder und gegen Regenstürme vermauert mit Moos und Laubwerk.
Kuder zerstörte die Sicherung und trat in den Bau. Sein scharfes Gewaffen erweiterte die Höhle. Morsch und Moder flogen heraus. Er arbeitete, arbeitete – der alte Stamm erbebte davon. In der Krone der Fichte lief ein Regen von taubem Holzwerk hinab zur Erde. Aber Kuder wußte, das konnte er sich in dieser Einöde erlauben; denn Urwald atmete um ihn. Der Häher krätschte – er lockte hier keinen Feind. Hoch droben aus dem herbstblauen Himmel schnitten die Bussarde ihre Kreise mit kreischendem Hiä. Und dann trippelte der Eichkater, von einer Waldfahrt heimkehrend, herüber auf den Stamm. »Na!« rief er und hielt die Nase in den Wind. Er klopfte ein paarmal hart auf.
Da gingen die Seher Kuders in dem dunklen Toreingang an. Es fehlte nicht viel und der Eichkater wäre versteinert vor der Macht dieses Heldengesichts. Er schnellte vom Stamm, als seien seine Zehen Sprungfedern aus Stahl. Aber er verfehlte sein Ziel zum Rande des Abgrunds und sauste jählings in die Tiefe. In einem Birkenwipfel unterwegs landete er und knurrte, als poltere eine Nuß in eine Runse herab. Es half ihm nichts. Gegen solch einen Eroberer schrumpfte sein eingebildetes Königtum erbärmlich zusammen.
Bald belehrte ihn wieder das rinnende Gespän: der neue Herr richtete sich seinen Verhältnissen entsprechend ein.
Die Wohnung war – selbst für eines Kuders Ansprüche – von ganz einmaliger Herrlichkeit. Die Waldstille zu beiden Seiten der Schlucht war traumhaft grün und tief; denn wie turmhohes Gemäuer umstand das Gestein diesen Taleinschnitt. Das Moos wob sich auf seinen Zinnen fußhoch über Wurzeln und Trümmer. Gestürzte Stämme hatten sich darin begraben.
Nun stieg Kuder aus seiner Klause und tat sich nieder auf den Stamm. Eine Decke aus sammetgrünem Moos bildete sein Lager, himmelblau und Sonne umspielten ihn. Nach einer Weile schnürte er hinüber ins Gestein. In einer geräumigen Spalte zog er sich hoch. Ein paar armselige Vögel schrien ihr Entsetzen vor ihm durch den Wald. Ein Zaunkönigpaar flatterte heran, seine Hoheitsrechte zu wahren.
Und die Nacht kam. Sterne blitzten von oben herein. Sterne hingen hüben und drüben in den Schründen. Die Eulen zogen ihre Rufe durch die Schlucht, und aus den Spalten klang der Widerhall recht schön und schauerlich. Von seiner Wohnung aus sah Kuder über die Wipfel des Waldes hin, der ein Vorholz in die Schlucht schickte. Der Mond stieg aus dem Brodem der Täler. Da und dort lag ein Nebelstreif zwischen den Fichtenspitzen. Eine Schleiereule schwang sich mitten hinein in den silbernen Schild des Himmels.
Um diese Zeit stieg Kuder hernieder. Kaspar hatte sein Traben erlust und trat aus der Burg. »Es ist für mich noch ein wenig früh,« sagte er zu sich selber, »aber ich möchte diesen sparrigen Gesellen kennen lernen.«
Da schnürte der Kater heran. Vom Wetter sprachen sie nicht. Dazu waren sie nicht gedankenlos genug.
»Weshalb schon hiesig?« fragte Kuder. »Sie pflegen vor zehn Uhr sonst nicht auszugehen.«
»Ihretwegen.« Kaspar war Herr Her Lage; denn Kuder witterte nach morschem Eichenholz. Er hatte also eine Wohnung gefunden und sich bereits eingerichtet. Es war für Kaspar auch selbstverständlich, daß der neue Nachbar den Besuch des Hegers samt seinem Zwecke kannte; denn ein Wildkater und Held zog nicht auf der frischen Fährte eines Menschen, wenn er nicht gehörig gesichert hatte.
»Ich fand da rückwärts im Gezausicht gerade die Losung der Fähe Gisela,« begann Kuder mit grimmigem Gesicht; »es ist eine Schweinerei! Sind Sie denn menschenblöde, daß Sie dieser Frau Einstand gewähren? Und haben Sie nichts weiter zu tun ...?«
»Zu tun?« brummelte Kaspar.
»Tja! Bilden Sie sich etwa ein, das ließe sich auf die Dauer durchhalten? Wir beide decken sorgsam mit Erde zu, was uns verraten könnte. Die aber setzt ihre Wegzeichen vor aller Augen hin. Das macht zum mindesten das Menschenvolk scharf auf uns.«
»Keine Sorge!« begütigte Kaspar.
»Ich weiß, was Sie sagen wollen,« entgegnete Kuder. »Aber glauben Sie denn, es gibt nur den Menschen, den Sie im Auge haben? Passen Sie auf, wenn Sie Familie haben, kommen ein paar solch grobschlächtige Bauernlümmel und graben Ihre Kleinen aus! Das danken Sie dann dieser Frau. Sie sind ein absonderliches Stück von einem Dachs.«
Kaspar reckte sich auf. »Woraus schließen Sie das?«
»Sie haben Gewohnheiten, die Sie offenbar den Menschen entlehnt haben. Sie haben mich hier erwartet – wie ein Mensch auf einen anderen wartet. Ferner: halten Sie es nicht für unter Ihrer Würde, solch einer unsauberen Füchsin nachzuräumen? Und schließlich: Sie sind von unerhörter Vertrauensseligkeit! Steht Ihnen der Sinn nach einer Tracht Prügel oder wollen Sie sich von den Menschen abstechen lassen wie ein Schwein?« Kuders Rede ließ an grober Deutlichkeit nichts zu wünschen.
»Ach wo!« sagte Kaspar, und ein Grinsen spielte durch sein Gesicht – ordentlich vergnügt sah er aus.
Ursula hatte natürlich jedes Wort erlauscht. »Durchaus meine Ansicht Herr Nachbar!« rief sie vom Burgtor her. »Ich habe Dinge hören müssen in der kurzen Zeit meines Hierseins, Dinge – die Haare könnten einem zu Berge stehen.«
»Hahaha!« lachte Kaspar. »Seit fünf Jahren wohne ich hier und habe mich stets ausgezeichnet befunden. Nun kommen an einem Tage drei Zuzügler und behaupten, ich sei ein Narr.«
»Ich muß mir die Sache doch sehr überlegen!« versicherte Ursula. »Ich bin schon todunglücklich, wäre ich nicht so landfremd, so würde ich mir ein anderes Unterkommen suchen, noch in dieser Nachts jawohl!«
»Rede keinen Unsinn!« mahnte Kaspar, »wenn du auch nur ein Mädchen bist, so klug bist du doch, daß du einsiehst: etwas besseres gibt es nicht!«
»Wenn du nicht hier wärst!« warf Ursula ein. »Aber dein Vertrauen in die Umwelt ist ausgekochte Dummheit.«
»Tja,« sagte der Kater zu ihr, »er hat unter den Menschen einen schweren Sparren aufgelesen, was Sie da alles treiben, lieber Kaspar, sehen Sie, das geht wider die Natur. Herrschte bei Ihnen hier oben rechte Ordnung (er deutete gegen seine Stirn), so pfiffen Sie auf jeglichen Verkehr.«
»Siehste!« rief Ursula.
»Wie ich weiß, bewohnen Sie sogar mit Ihrer Zukünftigen ein Zimmer! Das ist ja geradezu menschlich!« Kuder spuckte aus und schnürte von hinnen.
»Wär' es nicht traurig, man könnt' drüber lachen;« zitierte Ursula. »Ich habe eine Woche in menschlicher Gesellschaft verbracht – fürchterlich! Wenn ich denke, mein Mann ...«
»Halt's Maul!« knurrte sie Kaspar an.
»Dachs,« sagte Ursula zu Kaspar – wie die Hegerin ihren Mann Huber nannte; denn »Kaspar« war eine unausstehliche menschliche Eingebung – »Dachs, du weißt jetzt, wie ich zu dir stehe!« Dabei zerknüllte sie ihr Gesicht und auch ihr Herz. Sie fuhr zu Baue. Wortlos ließ er sie laufen.
Brummend verlor sich Kaspar hinaus in die Nacht. Er hatte vor, den Anger zu besuchen, der um den kleinen Forellenteich lag. Im feuchten Niederholze davor wurzelte er eine Zeitlang; denn nach den Erlebnissen dieses Tages hatte er ganz besonderen Appetit nach süßen Birkenwurzeln und nach den würzigen der jungen Kiefer.
Es war ein köstliche Nacht. Eine Kreuzotter, die sich auf seinem Wechsel entlangschlängelte, nahm er scharf an. Sie spannte den Nacken wie einen Bogen, von dem sie in der nächsten Sekunde den Giftpfeil schießen wollte – da preßten sie Kaspars scharfe Klauen gegen den Grund, und der Bogen zerbrach zwischen den Fängen seines Mundes. Das knackte wie dürres Reisholz.
Dann trat Kaspar hinaus auf den Rasen. »Unerhört fahrlässig,« hätte Ursula gesagt; denn die prallte stets dreimal zurück vor der Lichtung. Aber als könne ihm nichts geschehen, trieb er sich hinaus. Lächerlich – seit fünf Jahren spürte er dies Land ab!
Daß er diese nächtlichen Pirschgänge mit großem Erfolge betrieb, war ihm anzusehen. Er war von einer sehr behäbigen Fülle. Und wenn Ursula glaubte, der Tag mit seinen Zufällen habe ihn erregt, so war das eine durchaus falsche Meinung.
Nachdenklich äugte er gegen den Mond. Manchmal strich ein Kauz an dem hohen klaren Bilde vorüber. Manchmal knappte eine Fledermaus vor dem Weidengebüsch einen träge brummelnden Nachtkäfer. Auf einmal –
Kaspar lauschte. Das war keine Forelle, die da den Spiegel des kleinen Teiches zerschlug; denn in solch einer Nacht springen die Forellen nicht. Lächerlich – man soll doch einem landkundigen Dachs nicht einreden, er lebe sein Dasein unzweckmäßig oder er verstehe die Welt nicht!
Kaspar machte sich ein bischen hoch und – siehe da! Frau Gisela stieg hinter dem Röhricht hervor in den Wald. Sie kam also aus dem Wasser. Nicht zu glauben! Natürlich hatte sie ihren Freund Kaspar beim Weiden längst erspäht. Sie schüttelte sich wie ein Hund und kam herüber. »Es wohnen da ein paar feiste Bläßhühner im Rohre,« sagte sie, »aber ich habe sie nicht zu Hause getroffen. Uebrigens, was ich Ihnen sagen wollte: haben Sie das Fuhrwerk auf der Straße gegen den Waldbauernhof hin stehen sehen?«
»Landstraßen passiere ich nicht!« antwortete Kaspar so von oben herab.
»Verlassen Sie sich darauf: da ist etwas im Anzuge!« fuhr die Füchsin fort, »wenn wir blos keine Menschen zu Nachbarn bekommen! Ich habe die Ladung festgestellt: eine Köhlerhütte. Setzen sie die in die Nähe der Drachenschlucht, dann verduft ich.«
»Das wäre eine Wohltat,« antwortete Kaspar, »Sie ruinieren die ganze Gegend. Bleiben Sie in der Nähe der Felder und fangen Sie Mäuse!«
»Pah,« machte die Fähe verächtlich, »dann müßte Giselher nicht mein Mann gewesen sein, wenn ich noch Lust haben sollte an dieser Niederjagd! Mäuse eß ich bloß int Notfall. Forellen dagegen gehören zu meinen Lieblingsspeisen. Sehen Sie, das ist ein feiner Sport! So etwas sollten Sie auch betreiben.« Offenbar wollte sie ihn in den Teich locken ...
Aber: »Sollte mir einfallen!« brummte der Dachs. »Ich werde mir wohl die Gicht holen!«
Gisela setzte ein höhnisches Gesicht auf. Sie wollte wohl ein gehässiges Wort sagen – aber sie senkte die Lunte auf ihre Fährte und trabte ins Holz. Ein Menschenschatten zog am Rande des fernen Holzes daher.
Es konnte kaum zwei Uhr sein. Das war für den Grünrock Huber die rechte Zeit; denn auf der Wildkatze (so hieß ein hochgelegener dünner Lärchen- und Fichtenbestand) hatte in diesen Tagen ein alter Auerhahn nach unbehaglicher Mauser die Lust zum Singen bekommen. Diesen Hahn wollte Huber verhören. Tuhtewohl nannte er ihn mit einem herzhaften Korn Spott; Hagen hatte er zuvor geheißen. Aber diesen stolzen Namen trug nun ein junger Hahn, der stärkste im Waldrevier.
Tuhtewohls Standort kannte Gisela längst. Schade – just in dieser Spätnacht hatte sie auf ihn anstehen wollen! Drei Jahre lang hatte ihn Herr Huber geschont; denn Tuhtewohl, als er noch Hagen hieß, war zur Blutauffrischung eingesetzt. Nun aber war er ein Raufbold geworden und bekämpfte im ersten Lichte der Sonne die jungen Hähne auf Tod und Verderben.
Frau Gisela trabte durchs Niederholz. Sie schlug einen geräumigen Bogen, wiewohl sie auf der Höhe der Wildkatze (dem Balzplatz) reichlich früher eintreffen mußte, um die Hähne zu verhören, als Huber.
Gisela hatte schon während des Gespräches mit Kaspar festgestellt, daß Huber ohne den Hund Bergmann kam – natürlich. Das gemeinsame Ziel barg für sie bei ihrer Wachheit also nicht die leiseste Gefahr. Ein Wachtelhahn, der mitten im Schlaf vor ihr aufstand, fesselte sie nicht. Sie hielt den gespenstischen Schatten des Menschen scharf im Auge. – Keine Fuchslänge schnürte sie außer Deckung. Als sie auf die Blöße vor den Stangen gelangte, kroch sie diesen Hang im Heidekraut empor wie eine Schlange. Und dennoch: von jener Kraft der gesammelten Sinne war sie heute nicht, die sie unfehlbar machte! Kuder, Ursula, der beladene Wagen auf der Waldstraße, das überlegene Phlegma Kaspars, der streichende Schatten des Hegers – das waren Ereignisse, die sie allzu stark erfüllten. Ganz abgesehen von dem Mord an ihrer Familie. Keine vierundzwanzig Stunden waren seitdem verflogen!
Hinter Huber wechselte sie hinein in das hohe Holz. Sie kreuzte dessen Fährte. Ein paar Rehsprünge weiter stieß sie auf den Birschpfad Kuders. Die Seher wurden ihr weit. Nein, diese Fährte war nicht welk! Weniger als eine Viertelstunde konnte verstrichen sein, seit der Waldkater hier des Weges gezogen.
Sie wußte: auch er hatte sich auf den Anstand vor dem Turnierplatz eingefunden, aus dem der alte Tuhtewohl ein Morgenständchen wagte. Eine Deckung zwischen rostroten Heidebüscheln wählte sie. Die waren von der Sonne verbrannt, und eine Krüppelföhre schirmte ihr Astwerk darüber.
Den Heger Huber hatte wohl die Erde eingeschluckt? Weder der streifende Spätwind der Nacht verriet ihn, noch ein brechendes Reisholz, das unter seinen plumpen Füßen knackte.
Gisela bohrte all ihre Sinne hinein in die Nacht. Kuder war an Ort und Stelle und dennoch: sie eräugte ihn nicht; denn wildkatzengrau war die Stunde.
Dann brach es fernhin zwischen den Stämmen. Ein Zweig im gemischten Unterholz schnellte zurück – nicht der Wind hatte den geworfen. Huber hatte seinen Stand eingenommen. Verachtung erfüllte Giselas Blick. Nur die ausgelöschten Sinne eines Vogels während der Nacht konnte die Grobschlächtigkeit dieses Menschen übertölpeln!
Langweilig war das für die weidgerechte Fähe – so langweilig, daß sie an einer ganzen Kette von Gedanken unterhaltsam zu stricken begann.
Tausend gegen eins hätte sie gewettet: Kuder war in diesem Morgengrauen hier auf den Anstand gezogen, um einen Auerhahn zu erlegen. Zwar nicht den zähen Tuhtewohl, den alten Pechhahn, dem harzige Aesung das Wildbret verdorben hatte – wohl aber ein Jungtier wollte er überlisten, das seine ersten Liebeslieder sang.
Rosenrote Streifen legten sich auf den Ostsaum der Erde. Da brauste es durch den erblühenden Tag. Tuhtewohl! Auf dem Turnierplatz schwang er sich ein. Ueber den Lärchenschlag segelte eine verspätete Schleiereule gegen die ferne Drachenschlucht.
Tuhtewohl knappte einigemale, melodisch, doppeltönig, rasch. Er hatte also gut geschlafen, und befand sich in ausgezeichneter Stimmung. Unternehmungsfroh stellte sich dabei sein Kehlbart. Und dann – wie in seinen besten Jahren – trat er in die Balz. Trillernd begann er – leise, wie die Aeolsharfe zu tönen anhebt, wenn der Wind sie anschlägt. Ein köstliches Schwellen lag in dem Tone. Endlich ließ er die große Balzarie steigen: »Blüblüblüblüblü – dödlrr – klack – tschittschittschittschitschiuit.«
Es war außerordentlich. Er fächerte den Stoß auf. Wie Flammen leuchteten die Rosen um seine Lichter. Nun vernahm er. Noch immer schwieg der Wald. Also knappte er einen herausfordernden Daktylus in Unmut und Zorn. Oder war es Hohn, weil noch keiner der Jungmannen sich ihm zum Kampfe stellte? Wut, weil noch keine Henne neugierig herangekommen war, den Sänger und Helden zu bewundern?
Da! Es regte sich auf den Standbäumen! Tuhtewohl blies einen zischenden Kampfruf. Recht als Platzhahn gebärdete er sich, recht als Alleinherr – und so, als wäre der Frühling im Anzug.
Doch: nur er allein kam nicht auf den Einfall, daß er anfing, komisch zu werden. Als könne er ein halbes Dutzend starke Hennen bestreiten, spielte er sich auf. Aber die Frauen von einst gockten seit einiger Zeit doch recht wunderlich um ihn her. Und was ihn von dem Weibervolke noch bewunderte wegen seiner feurigen Balz, das stammte aus einem diesjährigen Gesperr und war unerfahren. Zwei, drei, vier Junghähne schwangen sich ein. Zwei davon balzten noch gar nicht, und der starke Hagen hatte sich bei seinem kurzen Morgengesange ebensowenig aufgehalten wie der wackere Steppke. Hagen der Spielmann, der es am besten konnte bei Sang und Kampf! Und Steppke mit dem herrlichen weißen Spiegel! Dem zitterte der Kehlbart vor Kampflust, und er konnte zischen wie Tuhtewohl, wenn er gegen ihn anritt. Die beiden andern waren namenlos. Sie waren von jener Art, die ihren Platz kaum behaupten konnten gegen Hagen und Steppke. Diese gedachte Tuhtewohl zu allererst als Schneider abzukämpfen. Los!
Seelenblind fochten sie sich. Denn es standen ihrer drei gegen den Alten. Der kleine Vierte lauerte in starrem Staunen abseits.
Allgemach zogen sich die Hennen auf die Norderseite des Platzes. Die klügste hatte den Heger im Sprunge zwischen den Stangen eräugt. »Gock gock gock giock!« warnte sie und strich – man denke! – nicht ihren ehemaligen Gatten Tuhtewohl, sondern Hagen, den künftigen Platzherrn, in deutlichem Anflug an. Ablocken wollte sie ihn –
Da geschah das!
Ein graubraunes Pelzbündel warf sich aus dem Föhrengestrüpp. Ueber dem jungen Hahn fiel es nieder. Der war ganz in Staunen versunken gewesen vor Tuhtewohls Reckengestalt ...
Die Kämpfer hatten das graubraune Pelzbündel gar nicht bemerkt; denn es flog auf wie ein Büschel Heide, das im Ringen emporgewirbelt wird. Und was sich da ereignete, das drängte sich alles zusammen in die Frist, in der ein Uhu in der Hochnacht am Bilde des Mondes vorüberstreicht: die Hennen stoben polternd auf. Ein Feuerstrahl strich durch den Wald. Ein Donner folgte und zerwühlte die Stille. Das graue Bündel wälzte sich mit qualvoller Klage im Sande. Drei Hähne ritten ab – ein Drama im Wald in fünf Akten, und doch nur so lang wie ein Strich, den der Kauz durch den Mond zieht! Dem Kuder saß die Büchsenkugel des Hegers auf dem Blatt. Und der namenlose Junghahn schlug sich schreiend in sein Sterben; Kuder hatte ihm die Drossel zermalmt.
*
Es ging schon tief in den Tag hinein, als Frau Gisela mit dreifach steilen Sinnen in die Drachenschlucht wechselte. Kaspar lag vor dem Burgtor – sorglos, wie sie ihn gestern angetroffen hatte. Er wollte gerade die Arme gemächlich unter den Kopf schieben. Die Auseinandersetzung, die er im Morgengrauen mit Ursula gehabt, hatte ihn nicht im mindesten aufgewühlt. Da schnürte Gisela herein.
»Ewige Störung!« brummte Kaspar.
»Ich habe mich allerdings um zwei Stunden verspätet,« sagte die Fähe mit spitzbübischem Gesicht. »Sie werden Ihren Freund Kuder nicht wiedersehen! Der Teufel hat ihn geholt.«
»Teufel geholt? So. Hm.« Kaspar hatte den Schuß fallen hören. »Und Sie haben sich die Sache mit angesehen?«
»Fabelhaft!« berichtete Gisela. »Ganz fabelhaft! Aber Kuders Mordlust war stärker als seine Klugheit. Und die Auerhähne waren dumm wie die Schnecken, die sich nachts von Ihnen aus dem Grase pflücken lassen, Herr Vetter. Mir ist das Wasser nur so im Munde zusammengelaufen. Aber sehen Sie – ich habe mich beherrscht! Als ich auf die frische Fährte Kuders trat, wurde mir der Gang der Dinge unheimlich klar. Der Held Kuder ist nicht mehr! Und mit der schönen Bodenbalz, die Tuhtewohl ins Werk setzte, um seinen welken Ruhm aufzubessern, ist es vorbei! Vergrämt, alle Hähne vergrämt, sag' ich Ihnen ...«
Gisela hatte schon wiederholt zusammengezuckt; jetzt abermals; denn von dem beladenen Wagen wurden auf der Au vor dem Vorholz Bretter und Pfosten mit Krachen herabgeworfen.
Ihr Gemüt verdüsterte sich. »Meine Ahnung!« sagte sie. Der Gleichmut Kaspars war unbegreiflich.
»Sie sind eine überspannte Person,« sagte er.
Die Seher Giselas kniffen sich strichhaft zusammen – wie ein Menschenmund, der Gift aus seinen Winkeln spritzen will. Aber all ihre Sinne stellten sich in den Wind. Kaspar gähnte einmal gerade in tiefster Behaglichkeit. Und weil er dabei hingebungsvoll die Nase gegen den Himmel reckte und die Augen schloß sah er kaum noch den roten Schein, der an ihm vorüberhuschte und in der Erde verlöschte. Weg war sie!
Huber kam.
Der Heger hatte den Wildkater im Rucksack; den Namenlosen trug er an den Läufen in der Hand. Wenn Bergmann bei ihm gewesen wäre, hätte er diesmal sicher eine Gelegenheit erspäht, das Weidmannsglück seines Herrn zu krönen; denn aller guten Dinge sind bekanntlich drei. So kam es nur zu einer harmlosen Unterhaltung zwischen beiden, die sich ausnahm wie ein Monolog des Herrn Huber.
Huber erzählte ihm: »Denk nur, Kaspar, heut hab ich einen Wildkater geschossen, den ersten in meinem Leben! Und das da ist ein Auerhahn.«
Verächtlich guckte ihn Kaspar an. Er hatte nicht das Bedürfnis, die Zeit zurückzuwünschen, in der er ihm ein Stück gebratenes Schweinefleisch von der Gabel genommen und dabei den Kopf zutraulich auf Hubers Knie gelegt hatte. Weil dieser Ursula nicht zu Gesicht bekam, wollte er durchaus wissen, ob sie noch da sei. Aber: statt seinen Windfang ordentlich in Dienst zu stellen, tat er viele höchst überflüssige Fragen und – auch von Frau Gisela hatte er keine Ahnung. Unerhört! Und das hielt sich nun für die Krone der Schöpfung! Mit so hundertfältig verschlossenen Sinnen!
Nun, für Kaspar war das nichts Neues.
Endlich empfahl sich Herr Huber. Er schied kaum klüger, als er gekommen war. Ursula trat aus der Burg.
Sie hatte – selbst für ein Dachsenfräulein – ein sehr unfreundliches Gesicht aufgesetzt. »Du hast dich nahezu zwei Stunden störend unterhalten,« sagte sie – »erst mit dieser da (sie deutete gegen die Einfahrt zu Giselas Quartier) und nun mit dem Menschen. Ha!«
Sie schien es darauf anzulegen, ihn zu peinigen. Damit hatte sie wenig Glück; denn Kaspar hatte sich – beim Betreten der Szene durch sie – nicht im geringsten berührt gezeigt. Das gefiel ihr nun wieder an ihm! Er hatte offenbar Talents hatte alles einzusetzen, was man von einer Zierde des männlichen Geschlechts als Frau fordern konnte. Nur machte er der Umwelt gegenüber Zugeständnisse, über deren Grund sie nicht zur Klarheit kam.
»Dachs,« sagte sie, »das geht mir gegen den Strich! Deine Gewohnheiten sind aus der Art! Ich werde dabei nervös. Das sind unhaltbare Zustände!«
»So, so!« sagte Kaspar und betrachtete sich die verwaiste Brücke Kuders, die sich hoch droben von Fels zu Fels schwang. Er hatte nie zuvor ein weibliches Stück seiner Sippe gesehen – wenigstens konnte er sich darauf nicht mehr besinnen. Aber er hatte sich das genau so vorgestellt. Es war unterhaltsam.
Jeweilig im Herbste, wenn die Blätter golden wurden und die silbernen Fäden sich um seine Nase woben beim Gang durch die Nacht, da hatte Sehnsucht sein Herz bedrängt. Aber die Liebe, die sein Herz träumte, fand er nicht. Das dauerte bis in den Novembernebel. Und mit der letzten Blume auf den Fluren (es war in der Regel eine kleine blaue Glocke, die in irgendeinem Graben die linde Sonnenzeit aus dem Lande läutete) verwelkte seine Sehnsucht.
Nun, auch dies war ein Gewinn. Die liebe Seele hatte Ruhe, und erfreuliche Gelassenheit umfing sie. Sein Antlitz durfte sich wieder ingrimmig verfallen wie einst. Und sein Herz hing voll von dem herrlichsten Gleichmute; kein Ereignis konnte es zu einem jäheren Schlage drängen. – Ein würdiger und köstlicher, ein ganz ungemeiner Zustand!
Pränumerando genoß er alle Wunder des Herbstes und sonnte sich im Vollgefühle seines Sieges; denn der konnte nicht ausbleiben. Je trotziger, verbissener, zerwühlter sich Ursula gebärdete, desto herrlicher mußte dereinst ihre Wandlung sein, wenn die Tage der Wunder kamen. Vor ihnen gab es für sie keine Rettung. Dann verfiel sie ihm mit Leib und Seele. Hahaha!
Als das Krachen der herniedergeschleuderten Wagenlast in ein paar hundert Metern Entfernung schwieg und das Echo nicht mehr in der Drachenschlucht rumorte, da setzte ein beleidigender Spektakel kaum zwanzig Schritte von der Burg Kaspars ein. Man höre!
Es wurden Zinseln vom Wagen geworfen. Dicke Fichtenstangen als Riegel folgten. Nämlich: Herr Huber hatte zum Schutze der Dachsenfamilie angeordnet, daß ein Stängelzaun vor der Schlucht von dem Felsen links nach dem Felsen rechts gezogen werde!
Aber natürlich: ihrer Neugier konnten die beiden Zimmerleute nicht so straffe Zügel anlegen – ein bischen gucken mußten sie! Denn sie hatten einen Dachs nur in Bilderbüchern gesehen.
Ursula hatte sich in rauchendem Zorne verklüftet. So verbittert war sie, daß sie sich unter dem Kessel der Burg eingrub und mit Laub und Erde bedeckte.
Kaspar bezog seinen Posten vor dem Tore. Er blinzelte seine Verachtung gegen die zwei Gesichter, die sich behutsam zwischen dem Grün des Vorholzes hindurchschoben. Er konnte sich zwar nicht erklären, was da draußen vorgehen sollte, aber Herr Huber war ein vertrauenswürdiger Mann, und Kaspars fünfjähriger Aufenthalt in der Klause hatte ihn in gewissem Grade sorglos gemacht.
Er ließ sich also gemütsruhig betrachten. Das eigentümliche Geräusch, das die beiden Leute machten, indem sie ihre Zungen gegen die oberen Zähne legten, um sie rasch und häufig zurückzuschnellen, verursachte an ihm keine Rückwirkung. Es war das gleiche Locken, das anfänglich auch Huber angewendet hatte. Kaspar betrachtete sich dabei die Wipfel der Bäume.
Endlich scharrten die beiden draußen den Grund mit Schaufeln. Dann sägten sie. Dann rammten sie Pfosten in den Boden. (Ursula war zumute, als sollte sie sich bis ins Herz der Erdkugel verlieren.) Dann schlugen sie mittels der Axt und spannenlanger Nägel die Querriegel des Zaunes an. Zuletzt die Zinseln. Das dauerte zwei Tage. Fürchterlich für Ursula! Kein Auge schloß sie. Aber sie kurzweilte sich, indem sie sich die Standrede ausdachte, mit der sie Kaspar begegnen wollte.
Der hatte sich mit den Tatsachen hinreichend abgefunden. Es war hart, o ja. Aber seine philosophische Ruhe half ihm darüber hinweg; denn in der Nacht überzeugte er sich von dem Stande der Dinge. Der Zaun ward mannshoch und bekam unten einen bequemen Einschlupf.
Gleich nach Mitternacht kehrte Kaspar von der Weide zurück. Ursula hatte auf einen Ausgang verzichtet. Trotzig, wie sie war, hatte sie noch jede ordentliche Mahlzeit verschmäht. Sie mußte also vom Fleische fallen. Töricht genug; denn diese mollige Rundlichkeit war ihr Stolz; sie wußte: damit wuchs sie in ihrem Werte. Doch, dachte Kaspar, das läßt sich in ein paar Nächten wieder einholen.
Auch ihm fehlte der Schlaf. Jedennoch: im klingenden Mondschein begab er sich tiefer hinein in die Schlucht. Er hatte sich unterwegs einen Platz ausgedacht für die Burg Ursulas, und unverzüglich begann er zu arbeiten.
Ha, da hätte sie sehen können, was für ein Kerl er war! Mit seinen Klauen grub er den Grund – keine zwei Minuten dauerte es, und er war in der Erde verschwunden! Mit seiner breiten Wölbung fuhrwerkte er den Bauschutt heraus. Der Zaunkönig droben auf seiner Mauerzinne dachte noch lange nicht ans Aufstehen. Da war Kaspar schon mit dem Bau des Kessels fertig. Drei lange Einfahrten wühlte er außerdem. Dann kam der Tag.
Kaspar schleppte noch weiches vorjähriges Laub, trockene Farne und langes Gras vor die neue Burg. Dabei ging er wieder sehr eigenartig zu Werke; denn nicht im Munde trug er herzu, was er brauchte – er klemmte jeweils eine tüchtige Ladung von diesem Polsterwerk zwischen seine Hinterschenkel. Als er einen geräumigen Haufen aufgestapelt hatte, stemmte er Kopf und Vorderfüße dagegen und schob alles durch das Rohr in den Kessel. Dann rollte er sich zusammen, legte sich auf den Bauch, steckte die Nase zwischen die Vorderbranten und tat, als käme nun der Winterschlaf. Ah, es war köstlich.
Mit dem Gedanken an die fröhlich-nahe Zukunft war er im Begriff, zu entschlummern, da schliefte etwas durch die Röhre herein. Ein paar grüne Lichter gingen vor ihm an.
»Na, Kaspars mein Freund!« sagte Frau Gisela.
Er schlug im Bauch einen Trommelwirbel.
Diese Art, zu reden, kannte sie. »Sie scheinen nicht sehr erfreut zu sein von meinem Besuch,« fuhr sie fort. »Wenn eine Frau Sie zuerst begrüßt, haben Sie Glück!«
»Aber nicht solch eine alte!« brummte Kaspar, »Was wollen Sie?«
»Da vorn auf dem alten Kohlplatz wird ein neues Köhlerhaus gebaut. So schmerzlich es für mich ist, ich muß Sie also verlassen!«
»Angenehm zu hören!«
»Reden Sie doch nicht immer gegen Ihre Ueberzeugung!« sagte Gisela. »Ich habe mir nämlich überlegt: auf die Dauer ohne Mann, das ist doch nur ein halbes Leben. Tja. Aber hier – keine tausend Meter von den Meilern mit ihrem Qualm, der jede andere Witterung erdrückt – hier läßt sich mir zu Liebe kein ordentlicher Fuchs nieder – trotz der Schönheit meiner Burg und trotz der zahlreichen Reize, mit denen ich einem Manne noch zu begegnen habe.«
»Geschmacksache!« Aber die Frechheit, mit der sie von ihrer Burg redete, erregte ihn nun doch. Er nahm die Nase zwischen den Vorderfüßen hervor.
»Sie wissen wohl gar nicht, daß dieses Besitztum mir gehört?«
»Reden Sie keinen Unsinn, lieber Vetter! Wenn ich einen Mann wie Giselher bekomme, dann würde Ihnen die Freude an Ihrer Einsiedelei rasch vergehen. Aber jetzt weiche ich; denn hier ist Menschenblödsinn Trumpf und – ich wünsche, mich wieder zu verheiraten. Empfehle mich, Herr Vetter! Und grüßen Sie Ursula, die liebliche Blume der Wälder!«
Aus der Viole, die sie immer mit sich führte, sprengte sie ein Parfüm in das neue Rohr – als sei Beelzebub leibhaftig hindurchgefahren.
Es ging Kasparn wider die Natur, ihr das Wort nachzurufen, das sich ihm bei dieser nichtswürdigen Tat aufdrängte. Er kniff Mund und Nase zu und machte sich sofort wieder an die Arbeit.
*
Schon am Nachmittage hatten die Zimmerleute ihr Werk beendet. Die Schlüpfe im Zaune war geblieben. Den Schlüssel zur Menschenpforte aber hatten sie Herrn Huber übergeben.
Gegen Sonnenuntergang vernahm Ursula ein merkwürdiges Rauschen auf dem Burghof. Mit größter Vorsicht eräugte sie, was das wieder für eine neue Aufregung sei. Für besonders gefahrvoll hielt sie es wohl nicht; sonst wäre sie aus ihrer sicheren Verklüftung kaum emporgestiegen.
Und in der Tat. Veranlassung zu einer häuslichen Szene konnte das Neue nicht sein. Zwei junge Auerhennen staubten in dem feinen Sande, der den festeren Grund des Hofes umsäumte. Sie hatten sich geräumige Pfannen in den Grund gedrückt. Verdrießlich, innerlich und äußerlich, guckte ihnen Ursula zu.
Da ratterte ein Gefährt durch die Luft heran – angstvoll zuckte sie zurück.
»Sie brauchen nicht zu erschrecken, Frau Nachbarin,« sagte Stella, die eine Henne, »es ist Steppke.«
»Steppke? Was ist Steppke?«
»Unser Freund und Beschützer, und wir hoffen, unser künftiger Gatte,« berichtete Stella, »wir sind nämlich aus mancherlei Gründen gezwungen, uns neue Wohnplätze zu suchen. Man hat seine Sorgen, nicht wahr? Aber wir finden diese Schlucht ausgezeichnet.«
»Was mich betrifft, so war ich gestern noch ganz und gar unzufrieden, heute hat sich meine Erregung schon ein wenig gelegt. Wahrscheinlich sind Sie in zuverlässiger Herrenbegleitung. Das kann ich von mir nämlich nicht sagen. Der Dachs Kaspar ist ein wunderlich Stück von einem Manne. Ich bin nicht etwa mit ihm verheiratet.«
»Gock, gock,« sagte Perle, die andere Henne, »kommt Zeit, kommt Liebe, Nachbarin! Sie nehmen das Leben wohl etwas zu schwer.«
Steppke hatte sich während dieses Gespräches schon einmal überstellt, das heißt, er war von einem Baum auf den andern geflogen. So trieb er es noch eine Weile; denn mit seiner Pflicht, für sich und die Frauen gründlich zu sichern, nahm er es sehr genau.
Stella und Perle bemerkten das mit Wohlgefallen. »Ich habe ihn von allem Anfang an richtig eingeschätzt,« sagte Perle, »wenn er hier Platzhahn ist, wird er seine großen Fähigkeiten noch ganz anders entwickeln.«
Darüber schwang sich Steppke ein und stellte sofort den Schlitten: er schleifte mit den Spitzen der Schwingen durch den feinen Sand und machte den Damen seine Komplimente. Dabei schwellten die Rosen um seine Lichter wie Preißelbeertrauben im Hochsommer.
Für die Hennen hatte er bereits eine besonders dichte Fichte ausersehen. Die empfahl er ihnen zum Schlafe. Dann ritt er geschäftig ab; denn er wollte ihnen zeigen, was er gelernt hatte.
Er stieß den Kehlbart beim Knappen hervor, daß es eine Art hatte. Es war zwar nur die fadenscheinige Herbstbalz eines Junghahns – und doch: es steckte Rasse darin! Vater Tuhtewohl durfte sich stolz bescheiden bei der Gewißheit: in Hagen, dem Spielmann, und in Steppke hatte er zwei herrliche Söhne dem Waldreviere geschenkt.
Als die Sonne dunkelrot auf dem Sande lag, hatte sich Steppke droben in den Bäumen schon wieder einige Male überstellt. Dazwischen übte er sich im Singen. Beglückt flogen Stella und Perle in die Fichte, die wie eine rote Fackel aus der Schlucht emporloderte.
Im Burgtor hatte sich Ursula niedergetan. Ha, sie wollte doch wissen, ob sich Kaspar zeigte! Ueberhaupt, es war ihr in diesem warmen Abendlichte so seltsam zu Mute geworden. Ein bischen bange war ihr nun doch. Wenn sie ihn vergrämt hätte! Oder wenn er sich ihretwegen im Wald umhertrieb und das schwere Herz hatte! Oder wenn er sich eine Freundin suchte! Denn davon, daß sie die einzige sei, soweit ihn seine Läufe trugen, davon hatte er aus einem gesunden Instinkt heraus geschwiegen.
Ja, Ursula war verändert. Ihre Verdrießlichkeit verflüchtigte sich wie Nebel vor der Sonne. Aber sie wußte sich diese Erscheinung noch nicht recht zu deuten.
Erst hatte sie gedacht: sie wolle auf Kaspar passen, und wenn sie die halbe Nacht warten mußte! Und nun?
War das etwa Sehnsucht nach ihm? Die Seher wurden ihr weit, und ganz verträumt starrte sie in die große rote Sonne. Wie hübsch dieser Steppke singen kann! dachte sie. Noch mehr aber gefiel ihr der Beweggrund zu seinem Liede.
Der Mond kam. Sie sah ihn noch nicht. Aber ihre Gedanken fingen sich in den silbernen Netzen, die er über die Welt warf.
Sehr milde war Ursula gesinnt. Endlich – der Mond hing schon ziemlich hoch – pilgerte Kaspar, der Einsiedler, aus der Schlucht heraus. Er hatte traumlos geschlafen und tief. Darum fühlte er sich sehr behaglich. Aber das ließ er nicht merken.
Ohne aufzublicken wollte er an der Drachenburg vorüberziehen.
»Guten Tags Kaspar!« rief ihn Ursula an. »Ich vermutete dich längst auf Abenteuern!«
Er war nicht sehr rasch in seinen Gedanken. Und weil ihm angesichts der merkwürdigen Wandlung Ursulas nichts Besonderes entfiel, wiegte er sich auf den Branten wie ein Eisbär hinter seinem Gitter vor dem Sonntagspublikum.
»So wohlig ist dir zumute?« fragte Ursula mit Wärme.
»Abenteuer! Tja,« sagte er dann. »Ganz richtig. Ich werde heute Nacht etwas erleben! Es ist zwar ein bißchen weit ...«
»Kasparlein!« mahnte Ursula.
Da wandte er ihr den Blick zu und sie trat heraus. Der Silberschein des Herbstmondes wob sie ein. »Ich habe lange auf dich gewartet,« sagte sie. »Es ist mir recht seltsam zu Mute, Kasparlein.«
»Man kennt das,« antwortete Kaspar kühl. »Es geht vorüber,« setzte er scheinbar teilnahmlos hinzu.
»Du schaust wohl jetzt der Einsamkeit ein bischen zu!« sagte Kaspar. Das war nicht eine Frage, sondern ein verschleierter Befehl.
»Aber Dickerchen!« staunte Ursula, »und du?«
»Ich? Hm. Ich zieh' auf Abenteuer!« sagte er und begann wieder das stimmungsvolle Wiegen seiner vorderen Hälfte. Eilig hatte er es nicht.
Das alles erlebte Ursula zum erstenmal. Deshalb war sie nicht ganz Herrin der Lage. Aber ihre Sinne erschlossen sich wunderlich in dieser Mondnacht und ihren berückenden Schauern. Es war ihr, als blühe sie auf. Das merkte Kaspar natürlich nicht allein an den Kosenamen, mit denen sie ihn bedachte; sondern vor allem an dem Dufte, der sich in seine Sinne schmeichelte.
»Du bist wie eine Blume,« zitierte er.
Das gefiel ihr über die Maßen. Und weil sie die Wirkung des Zaubers wahrnahm, der von ihr auszugehen begann, trat sie näher an ihn heran.
Seine Lust zu Abenteuern hätte sie gestern noch gleichgültig gelassen. Heute war sie nahe daran, melancholisch darüber zu werden. Aber nicht durch Bitten mochte sie ihn abhalten, sondern durch ungesprochene Verheißungen, die artig und ahnungsreich von ihr ausgingen. Ganz leise noch, aber sie waren da.
»Urselchen,« sagte Kaspar, »wir werden jetzt erst mal gut zur Nacht essen – das übrige findet sich dann schon.«
Das klang ein bißchen nüchtern und praktisch. Aber, nun ja, er war ein Mann auf der Höhe des Lebens, und die Aufforderung, mit ihm zu gehen, übertraf eigentlich ihre Erwartungen.
So traten sie zum ersten Male durch die Schlüpfe im Zaun. Kaspar ging voran; denn Ursula fürchtete ihre Schreckhaftigkeit. Aber sie trottete kurz hinter ihm und wich nicht von seiner Fährte. Auf dem Heimweg wollte sie das anders halten.
Mitten durchs Herz der Nacht wanderten sie. Er besuchte die besten Weideplätze. Und seine bedachte Art, zu traben, gefiel ihr außerordentlich. Seine schnellste Gangart förderte nicht stärker als der mäßige Wanderschritt eines Menschen. Sehr nach ihrem Sinne!
»Ich glaube, nach deiner Regel lebt sich's nicht übel,« sagte sie gedankenvoll. »Aber ist das auch so leicht getan, wie geredet?«
»Selbstverständlich!« entgegnete Kaspar mit mannhaftem Nachdruck. »Man braucht nur von den Tagen nicht mehr zu verlangen, als sie geben können. Der eine bringt feiste Schnecken, jener speckfette Engerlinge, dieser gemästete Mäuse und der andere den Blumenstrauß der Liebe. Wenn jener Strauß dahinwelkt, legt man sich schlafen; aber Herr Huber ist sehr im Irrtum, wenn er dichtet:
Dreiviertel seines Lebens
Verschläft der Dachs vergebens.
Nein, nein! Vergebens ist das gar nicht! Zum Beispiel: man ruht sich von der Liebe aus, und wenn man aufwacht, kriegt man Kinder. Das hat auch wieder seine netten Seiten, siehst du.«
Weil sie aus seiner Wohlbeleibtheit auf seinen Geschmack schloß, kam sie auf den Gedanken, er möchte sie vielleicht ein bischen rundlicher wünschen. »Mir ist das Kleid über dem ungewöhnlichen Leben der letzten Zeit ein wenig weit geworden,« sagte sie entschuldigend, »aber bei der nötigen Ruhe und Aesung ändert sich das wohl rasch. Ich war nämlich sonst immer sehr hübsch.«
Er guckte sie unter der Stirn hervor an. Daß sie ihm nun gefallen wollte, war erfreulich. »Du darfst dir nicht einbilden, daß wir in Zukunft stets zusammen ausgehen, liebe Ursula! Es ist eine Erfahrungstatsache, daß eine Mahlzeit viel besser bekommt und mundet, wenn man sich dem Genusse ohne Ablenkung hingeben kann.«
Eine rätselhafte Natur war er nun doch! Oder: standen ihm seine Sinne nach Abenteuern? Wer konnte wissen, was er in den langen Junggesellenjahren für Beziehungen angeknüpft hatte? Sicherlich war er durch die Ungewöhnlichkeit seiner ersten Lebenszeit zur Umwelt in ein Verhältnis getreten, das ihn in vielen Dingen zu einer Ausnahmeerscheinung machte. Er war ein wortkarger Einsiedler, wie sich das für einen ordentlichen Dachs schickt – o ja; aber er versuchte, das Dasein ohne Ingrimm zu begreifen. Und das eben war das unerhört Seltsame an ihm. Am wunderlichsten erschien ihr, daß er in der Zeit ihrer Widerborstigkeit liebenswürdiger zu ihr gewesen war als jetzt. Aber – wer kann die Männer durchschauen! Sie hatte seit Sonnenuntergang den Wunsch, ihm zu gefallen. Darum peinigte sie ihn nicht mehr.
Vor einer Fichtensaat, die dem Heger besonders am Herzen lag, gingen sie ein Stück an dem Lattenzaun entlang und kamen durch eine Röhre in das umhegte Gebiet. Die hatte Kaspar von einer dichten Föhrenkussel aus gegraben. Dieser Zugang war Herrn Huber natürlich nicht unbekannt. Aber aus der Fährte hatte er gesehen, daß kein anderer als Kaspar da hereinwechselte. Und dieser hatte freien Eintritt.
»Wiederum sehr sonderbar,« sagte Ursula, »dir ist in dem ganzen Reviere wohl überhaupt nichts untersagt?«
»Nichts, was ich mir nicht selbst verbiete! Ich mache mich nützlich, wo ich kann.«
In den gepflegten Furchen zwischen den jungen Fichtenbäumen war eine vortreffliche Pirsch. Der dunkle Humus war in den Heidesand hineingewachsen und was nun auf den silbernen Bahnen zwischen den spannenlangen Bäumchen im Mondlicht sein Wesen trieb, bot eine ausgezeichnete Aesung. An einer Stelle, die Kaspar nicht ohne Vorbedacht aufsuchte, fanden sie sogar Trüffeln. Ursula stach mit großem Behagen. Trüffeln hatte sie noch gar nicht gegessen. Sie pries diese Mahlzeit als die beste, die sich denken lasse.
»Nun,« sagte plötzlich eine rauhe, aber keineswegs schreckhafte Stimme, »Sie delektieren sich da wieder an einem Gericht für Feinschmecker, lieber Herr Vetter, hahaha.«
Sehr erschrocken war Ursula.
»Das ist ja bloß Lutz, der Igel Lutz,« erklärte ihr Kaspar. »Er ist nicht gerade von vornehmer Herkunft, aber ein gemütvoller und ehrlicher Gesell.«
»Wen haben Sie denn da bei sich?« fragte Lutz.
»Meine Braut Ursula.«
»Nicht zu sagen!« staunte der Igel. »Da sieht man wieder: Sie haben auch mehr Glück als Verstand! Das soll nicht heißen, daß ich Sie unterschätze, Herr Vetter! Aber sehen Sie, wir kennen uns nun vier Jahre. In jedem Herbste haben wir nach einem hübschen Dachsenmädchen im ganzen Waldrevier gesucht. Ich habe bei meiner Sippe herumgefragt – alles vergeblich! Und nun haben Sie doch noch eine gefunden – sicherlich im Schlafe, wie mich das freut!« Er beschnupperte Ursula. »Sie haben ja auch jetzt gerade Ihre schönste Zeit, Fräulein Ursula, welch ein Glück für beide Teile! Denn wissen Sie: ich kenne ja meinen Freund Kaspar! wenn er keine Laune hat, guckt er nicht heraus, und wenn ihm das Schicksal das schönste Mädchen vor die Türe setzte. Ja, ja, so ist er nu' mal.«
Ubald der Große, der Vierzehnender, orgelte gerade seinen ersten Brunftruf vom Berghang herüber durch den Wald, wahrhaft königlich stürmte dies hohe Lied der Liebe in die Nacht. Der Forst hielt seinen Atem an. Der ferne Rauchenfall stürzte darunter wie sonst über die Klippen, aber zu hören war er erst wieder, als sich das Echo des Brunftschreies in der Drachenschlucht verlor.
Lutz, der Igel, schupfte die Schultern. »Merkwürdige Bräuche herrschen unter den Großen,« sagte er. »Reden wir also von etwas anderem! Ich war nämlich gerade dabei, eine Ringelnatter zu verspeisen, haben Sie in dieser Nacht schon eine gegessen? Die Hälfte steht Ihnen gern zur Verfügung.«
Ursula sagte zwar: »Ich danke, ich esse nur Selbsterlegtes!«, aber Lutz zwinkerte sie so freundlich an: »Zieren Sie sich nicht, liebe Nachbarin! Bei uns im Walde gibt's das nicht!«
Sie verzehrte die Schlange mit großem Appetit. »Ich bin ein bißchen vom Fleische gefallen,« sagte sie nach der Mahlzeit, »ich habe nämlich in den letzten Tagen viel gelitten.« Und nach Frauenart berichtete sie ihre Erlebnisse.
»Nun ist mir auch alles klar,« behauptete Lutz; »denn wären Sie eine Landsmännin, dann hätte man sich in schönen Sommernächten wohl einmal gesehen. Ich wohne zwar in dieser Fichtensaat – tja, ich habe hier die Oberaufsicht ...«
Als Kaspar das hörte, fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht; denn er wollte durchaus nicht merken lassen, daß ihn der Igel zum Lachen brachte. Wie doch die kleinsten Leute das Bedürfnis haben, sich wichtig zu machen! Und als er das Lächeln fortgewischt hatte, sagte er: »Wenn Sie nicht ein so biederer Kerl und verläßlicher Charakter wären, so müßte man Ihnen einmal den Standpunkt klarmachen, lieber Lutz! Oberaufsicht! Vielleicht hat Huber gar keine Ahnung, daß Sie hier wohnen.«
»Lächerlich!« entgegnete der Igel. »Er nimmt den roten Kläffer Bergmann stets an die Leine, sobald er meinen Garten betritt. Mir und meiner Familie darf hier nichts geschehen. Wiedersehen, meine Herrschaften! Ich muß nämlich in diesen Nächten auf meine Vorratskammer bedacht sein. Die Kraniche ziehen, da heißt es: für die Winteräpfel sorgen. Ich habe nach dem Fruchtgarten des Waldbauern eine gute halbe Stunde zu wandern. Wiedersehen!«
Damit trollte er sich von dannen.
Kaspar führte die Ursula noch auf die Weide am Forellenteich. Er selbst aß verhältnismäßig wenig. Er durfte sich einer vortrefflichen Verdauung rühmen, und alles schlug ihm an.
Nach Mitternacht pilgerten sie heim. Die neue Burg war für Ursula eine große Ueberraschung. Diese Fürsorge fand sie rührend. An einem Sonnenhange lag die Wohnung und der große Kessel tiefer in der Erde als eine Mannslänge. »Nur sind die Röhren ein wenig kurz,« sagte sie. »Dafür aber ist der Kessel über die Maßen geräumig und warm.«
»Die Sache ist ja noch gar nicht fertig. Du kannst vielleicht ein wenig für die Auspolsterung sorgen. Ich werde indes ein paar Einfahrten graben – noch einmal so lang müssen die neuen mindestens werden. Ich führe sie von den Seiten her. Die kürzeren können wir ja – für alle Fälle – wieder zuschütten.«
Ohne weiteres ging er an die Arbeit. Vergnügt blinzelnd sah ihm Ursula eine Weile zu. Und als er sich so weit in die Erde gewühlt hatte, daß sie nicht mehr sein mondbeschienenes Hinterteil betrachten konnte, ging sie von hinnen.
Sehr behaglich war ihr zumute. Die Freundschaft mit dem Igel hatte sie zwar zunächst in Erstaunen gesetzt – wie alle Freundschaften Kaspars. Nun erkannte sie aber: es ging auch so; es ging sogar recht gut. Darüber stimmte sich ihr Herz noch versöhnlicher und das Vertrauen zu Kaspar wuchs.
Ursula war aus ihrer Art heraus ein wenig träge, grantig, mißtrauisch, und sie neigte zu phlegmatischem Wohlleben. Dieser Hang war in ihr am stärksten ausgeprägt. Aber sie kam aus belebtem Waldrevier, das war von Pilzsuchern und Sommerfrischlern über den größten Teil des Jahres beunruhigt worden. Da hatte sie notgedrungen von einer Wachsinnigkeit sein müssen, die ihr auf die Nerven fiel. Einmal am Tage ausgehen, oder eine Stunde in der Sonne vor dem Bau sitzen, und was der Annehmlichkeiten mehr waren – dies alles hatte es dort gar nicht gegeben ...
Mit derlei Erinnerungen wechselte sie tiefer hinein in die Drachenschlucht. Der Mondschein rann an der einen Steilwand hernieder. Fernher rauschte der Rauchenfall sein wunderlich eintöniges Nachtlied, und hin und wieder donnerte der stolze Schrei Ubalds des Großen herein in die Klamm. Aber nichts war da, nichts, das die Sinne schreckhaft aufwiegelte. Denn als Ursula wirklich einmal die Lauscher steil stellte, da war es die Tätigkeit Kaspars, der eine Fuhre Bauschutt aus den Tiefen der Erde heraufbeförderte. Er brauchte keine Rücksicht zu nehmen auf Verrat oder Feinde in der sicheren Hege, die ihm Herr Huber angedeihen ließ.
Sie fühlte: die Blüte ihrer Leidenschaft schloß sich mehr und mehr auf. Zum erstenmal in ihrem Leben fing sie an, daran zu leiden, daß sie allein war. Nicht zu denken! Zehnmal, zwanzigmal kam sie zurück in den Bau; und stets trug sie eine reichliche Ladung Waldmoos zwischen den Hinterschenkeln; denn sie verfuhr dabei gerade wie Kaspar. Und immer gab ihm ihre Teilnahme ein Zeichen – nicht in landläufigen Vokabeln, sondern tierhaft lieblich. Zusehends bereicherten sich ihre Bewegungen. Seine Phantasie mußte vor ihren spielenden Gliedern lebendig werden.
Aber einmal in ihrer Abwesenheit ging er nach Hause. »Es muß nicht alle Arbeit in einer Nacht getan sein.«
»Hm,« sagte sie, als sie ihn nicht mehr fand. Aber noch einmal trat sie aus dem Bau und lauschte. Da trug der Wind, der vor dem Tag herlief, Kaspars Witterung schon aus der Richtung der Drachenburg zu ihr herüber.
Sie hatte sich das ein bischen anders gedacht, o ja. Aber schließlich: es war ja die erste Nacht! Und die war lehrreich gewesen. Ursula wollte sich nie mehr daran gelegen sein lassen, auf Kaspar einen schlechten Eindruck zu machen.
Kaspar hatte kaum zwei Stunden geschlafen. Bleischwer lag die Müdigkeit in seinen Gliedern. Dennoch schritt er heraus in die aufgehende Sonne. Das geschah an diesem Morgen mit einem doppelten Aufgebot von Kraft und Geräuschen. Er schüttelte sich im Kessel den Staub aus dem Rock – ein Mensch, wenn er das gehört hätte, konnte denken: drei Meter unter seinen Füßen ereigne sich ein Erdbeben.
Vor dem Burgtor setzte sich Kaspar auf die Keulen und gähnte mit Hingebung in die Sonne. Die Welt war voll von dem jauchzenden Hochglanz des Herbstmorgens. Die Täler rauchten. Die Höhen funkelten. Und Aeolus löste das goldene Band.
Aber es gab heute für Kaspar viel zu tun. Deshalb gewannen Erwägungen in ihm auch gar keine Oberhand, Erwägungen, die ihn zu einem Stündchen köstlicher Faulheit verführen konnten. Er ging an die Arbeit mit der heiteren Ruhe, die ihn für einen Dachs zu einem Sonderling machte.
Selbstverständlich saß Ursula schon vor ihrem Bau. Ebenso selbstverständlich war: sie hatte ausgezeichnet geschlafen – wenn auch nur zwei Stunden. Aber sie fand sich ungeheuer ausgeruht. Kaspar sah sie eindringlich an. »Es ist nicht gut, daß Ursula allein sei!« dachte sie.
Kaspar war in viel stärkerem Grade Herr der Stunde als sie; denn sie befand sich in dieser Lage zum erstenmal. Ihre blitzenden Augen und ihre blühenden Sinne bemerkte er wohlgefällig. Aber er hatte nicht nötig, zu sagen: ich kann mich beherrschen; denn der Frühling ihres Herzens war dem seinen um zwei Nächte voraus. Sie war ganz ohne Sorgen deswegen – nur ein bischen ungeduldig.
Er ließ es sich nicht angelegen sein, vor ihr schön zu erscheinen. Deshalb schritt er weder daher mit besonders elastischem Gange noch mit sieghafter Unternehmungslust. Er kam höchstens wie einer, der sich dem Genusse hingibt, sich das breite Hinterteil von der Sonne küssen zu lassen.
Man soll aber nicht denken, daß ihr Kaspar nicht bewegt einen guten Morgen wünschte. Als er sich ihr auf drei Rehfluchten genähert hatte, unterbrach er seine Wanderung und wiegte sich auf den Branten. Dabei hielt er die Nase in das rauchende Gold der Frühe – ha, war das eine Seligkeit! Als mache der funkelnde Tag alle Verheißungen ihres jungfräulichen Leibes frei! Wie aus einem sommerlichen Feldrain, wenn Thymian und reifes Korn duften, quoll es aus ihr empor. Kein Wunder, daß der Tag darob jubelte und alles, was atmete, sich in Gold und Purpur warf, um diese hohe Zeit des Jahres mit ihrem ganzen Zauber zu erleben.
So hingebungsvoll hatte Kaspar ihr seine Aufwartung noch nie gemacht.
»Gruno, gruno!« sagte er und sein Herz klang in diese starken Worte; denn gruno war für ihn der Ausdruck tiefsten Entzückens.
Eigentlich hatte Ursula das Bedürfnis, ihm das sanfte Wiegen seiner Vorderpartie nachzutun; denn auch ihre Stimmung ließ nichts zu wünschen übrig. Aber sie wollte sich nichts vergeben.
Zudem hatte es einen berückenden Reiz für sie, die Kraft ihres Geschlechts zu prüfen, ohne etwas zu unterstreichen. Mit deutsamem Blick schwieg sie zu ihm hinüber.
Da trat er hinzu und leckte ihr zärtlich den Mund. Sie wich ihm aus. Aber süß war es doch. Und als er es von neuem versuchte, trabte sie in das Kleinholz. Er hinterdrein. Es ward ein neckisches Spiel daraus. Und siehe da: am Ende war Kaspar so ausgelassen, daß er sich über den Hang eines kleinen Erdhügels hinabkugelte wie ein Bübchen im Heumond. Und dann –
Als gäbe es auf der ganzen Welt keine Ursula, die Verheißungen und Düfte spendete – dann wühlte er mit seinen mächtigen Klauen die Erde und grub ein Rohr.
Das war um die Mitte des Vormittags fix und fertig und so lang, daß er sich zehnmal der Länge nach hineinlegen konnte.
Vergnügt wie nie hatte er unter Tag gearbeitet. Er schützte auch keine Müdigkeit vor, als er mit beschwingten Schritten herauskam. Keine Minute Ruhe gönnte er sich. Er stöhnte nicht über die Mühen und er schien nicht hungrig zu werden. Und wenn er Ursula sich recht behaglich in der Sonne dehnen sah, schalt er nicht: »Zum Donnerwetter, soll ich denn alles alleine machen?«
Nicht früher gönnte er sich Rast, als bis er den letzten Schaufelwurf getan hatte und jede Unebenheit in den Fahrten verputzt war. Zuletzt glättete er den Bauschutt vor der neuen Burg zu tennenhaftem Gleichmaß. Bei allem wuchs er über sich selbst hinaus; denn immer belebter wurde sein Gang, beschwingter sein Herz und immer jubelnder wurden seine Sinne.
Als der Mond in der Hochnacht stand, wurden die Mühen des Tages durch eine Polonäse zu zweien belohnt. Die führte sie in alle Gänge des Neubaues. Es wurde ein niedliches Versteckenspiel daraus. Und wenn Ursula ihm einmal entwischt war, rief sie aus einem traulichen Winkel verführerisch: gruno. Nun auch sie! Das war das Höchstmaß von Liebenswürdigkeit und Verliebtheit; denn verbergen konnte sie sich vor ihm ebensowenig wie ein reifer Apfel vor einer spürenden Wespe.
»Urselchen,« sagte er dann, »jetzt werden wir einmal gut zur Nacht essen – das übrige wird sich finden.«
»Dickerchen,« mahnte die Kleine, »das hast du gestern abend auch schon gesagt!«
»Hm. Damit lad' ich dich vier Wochen lang ein zu gemeinsamer Waldfahrt.«
»Na, na,« machte Ursula zweifelnd.
»Ha, du kennst mich nicht! Weißt du eigentlich, was das zu bedeuten hat?«
Sehr überlegen tat er und so, als habe die Geheimnisse der Liebe niemand tiefer ergründet als er.
Das gefiel ihr nun wieder außerordentlich an ihm. Sie traute sich zwar aus ihrer gesunden Veranlagung heraus auch schon einige Sachkenntnis zu. Aber den Glauben an seine Ueberlegenheit erschütterte sie nicht. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß du so nett sein könntest!« staunte sie. (Sie spielte wohl ein bischen Komödie.)
»Ich werde dir davon noch ganz andere Beweise geben,« sagte er. »heute nacht, will ich dir einmal etwas ganz besonders Gutes vorsetzen. Steinhummelhonig! Denn mit heute beginnen unsere Honigwochen. Dazu essen wir den Pilz Halimasch oder Honigschwamm und schöpfen aus dem Honigbrunnen ...«
»Ist das nicht ein bischen viel Honig, Kasparlein?« fragte Ursula mit kluger Verstellung.
»Ach wo,« rief er; »denn ganz zuletzt schlecke ich dir auch noch deinen Honigmund ab.«
»Huguh!« machte Ursula.
Sie brauchten gar nicht weit zu gehen. Kaspar hatte für alle Fälle schon ein paar Hummelnester in der Nähe festgestellt. Die dufteten berauschend nach herbsüßem Heidehonig. Auch Honigschwämme, mit einem Reif weißen Zuckers überzogen, wußte er.
Dort machten sie die persönliche Bekanntschaft mit Ubald dem Platzhirsch; denn auch dieser aß den leckeren Halimasch zur Zeit, in der er von Liebe sang, über die Maßen gern. Kopf an Kopf standen die Pilze.
Ubald der Große war schon da und schleckte die zarten Zuckerschirme. Er war verwundert, diese beiden Hochzeitsreisenden anzutreffen. So revierkundig er war – er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, sie zu sehen.
Kaspar legte keinen Wert auf gesellschaftliche Formen. »Ich bin erstaunt, Sie nicht in Damenbegleitung zu sehen,« begann er. »Sie haben doch in der vorigen Nacht Ihre Liebe so gewaltig durch den Wald geblasen!«
Mit herrlich großen Sehern schwieg ihn Ubald an.
»Wissen Sie,« begann Kaspar von neuem, »wir machen hier nämlich gar keine Umstände, mein Lieber! Zu anderer Zeit wäre ich vielleicht an Ihnen vorübergegangen. Aber Sie und ich – wir sind jetzt in dem gleichen Boote. Nur: ich setze nicht den ganzen Bergwald in schauernde Erregung, wenn ich ... Nein, zu solch einem Schallgesang versteige ich mich nicht. Und zwar aus praktischen Gründen. Sie sind in diesen Wochen überhaupt nicht von der nötigen Vorsicht, wie mir scheint ...«
Ubald sah ihn mit verächtlicher Gleichgültigkeit an. Manchmal rümpfte er die Oberlippe und knirschte mit den Zähnen. Seine Lichter bekamen darüber einen wunderlich ingrimmigen Glanz. Er schritt einigemale im Kreis und senkte den Kopf, als fordere er einen Nebenbuhler zum Kampfe heraus. Dann begab er sich zum Honigbrunnen. Klar wie ein Spiegel lag dies Waldwasser. Der volle Mond stand darin, und die Sterne sprühten ihre goldenen Funken hinein.
Die Dachse sahen Ubald nach. »Stolz wie ein König und doch ein Dummkopf!« sagte Kaspar, als er bemerkte, daß Ursula ganz unterging in dem wandelnden Bilde des Hirsches.
Ursula wich nicht von ihrem Platze vor dem Felstrumm, der wie ein Block aus Silber im Moose lag. Sie war nicht erstaunt darüber, daß Ubald Kasparn keines Wortes würdigte. Und wenn er diesen Großen einen Dummkopf nannte, so entstammte seine Behauptung wohl dem Neide der besitzlosen Klassen.
Kaspar erriet ihre Gedanken. Seiner philosophischen Art und seinen Lebenserfahrungen entsprach sein Urteil über Ubald durchaus. »Vergrämte Vorsicht ist seine Weisheit,« sagte er. »Freilich, eine Nase hat er – er wittert Huber, wenn der jetzt auf der Wildkatze sich anstellt, um Tuhtewohl zu überlisten, wittert ihn bis herab zum Honigbrunnen.«
»Na, also!« entgegnete Ursula, nicht ohne einen fatalen Beigeschmack für ihn.
»Pah,« sagte Kaspar. Aber er beschied sich dabei; denn gerade schritt Ubald vertraut in das Brunnenbecken. Aber schon senkte er kampflich das Geweih; denn aus der Tiefe des Brunnens heraus trat ein anderer. Der war stolz und gewaltig wie er selber. Vier Lichter leuchteten sich an in ingrimmigem Zorn. Auf dem weißen Grunde der Suhle wirbelte es in sanften Schwingungen hoch: das Spiel des Quells mit dem silbernen Sande.
Schärfer richteten sich die Lichter Ubalds auf dies bewegliche Spiel. Kaspar kannte das schon seit fünf Jahren. Durch manche silberblaue Stunde im Herzen der Nacht hatte er ihm zugeschaut. Nun war es aber auch unterhaltsam, den königlich Geweihten zu betrachten, wie sein Zorn aufbegehrte vor seinem Bild und die Gebundenheit seiner Sinne das gefahrlose Spiel der Tiefe nicht erraten konnte.
Doch – rasch vorüber ging alles. Als hätte das Spiegelbild Ubalds den Kampf begonnen, lief ein Zittern durch seinen Leib. Hochauf richtete er sich. Seine Oberlippe schnellte verzerrt zurück – durch Jungholz und Heide zog ein Rudel Tiere und Schmaltiere heran! Ein altes Stück führte. Und ein starker Hirsch, ein Zehnender, bildete den Beschluß des Trupps. Der war aus einem andern Revier zugewechselt. Aber Ubald der Stärkere, Ubald der Große war am Platze.
Ein dumpf drohendes »ooooo o a h!« schmetterte er ihm entgegen. Die Gehöre der Tiere taten sich hoch.
Im Geklüft der Steilwände und in den Wipfeln verlor der Mondschein seinen Glanz. Auf der hohen Fichte rückte sich Steppke der Urhahn ganz heimlich aus dem Schlaf und äugte hernieder. Noch halb im Traum schlug er einen Triller.
Ubalds Schalen stampften den Waldgrund. Wieder orgelte er einen wilden Schrei in den heimlich ergrauenden Morgen. Und der drüben antwortete in Wut und Schreck seinem Gegner.
Mit gesenktem Geweih schritt der Zehner auf den Kampfplatz. Und mit wehenden Flanken trat Ubald der Starke aus dem hohen Holz. Noch einmal blieb er stehen, als trieben seine Läufe Wurzeln. Dann aber brach er in voller Fahrt gegen den Fremdling. Aufstob der Heidegrund. Hoch standen die Lichter und die Gehöre der Tiere zwischen den Kusselföhren. Und wie wenn zwei Wildzäune im Wettersturme zusammenprasseln, so schlugen sich die Gehörne der Kämpfer ineinander. Zuerst noch Schatten, die von irgendwo aus dem Gehölz trieben; dann schwarz wie Wolken, die die Flammengeißel des Himmels peitscht; dann von Wut und Eifersucht gestraffte Leiber – so rangen die Körper um den Sold der Minne in den erwachenden Tag. Der schlug die Augen auf über dem knatternden Zusammenprall der Geweihten, über dem dumpfen Schlagen der Schalen gegen den Grund. Stangen und Enden ihrer Gehörne hatten sich verwirrt. Rauchend strömte der Odem aus ihren Nüstern. Da und dort standen noch die Lichter eines Schmaltiers im Holz, vom Schlachtlärm gefesselt. Und draußen brach der Gegner Ubalds in den Vorderläufen zusammen. Noch einmal versteinte sein Hals; Feuer schlug aus seinen Lichtern. Aber Ubald hob ihn mit dem Geweih vorn auf. Dabei lösten sich die verfangenen Enden. Und in keuchenden Fluchten zuerst, dann mit gestrecktem Hals und rauchend, aber im Schritt, stieß er in das Dickicht. Abgeschlagen!
Eine donnernde Siegfanfare schmetterte Ubald hinter ihm her.
Und kaum war der Widerhall in der Drachenschlucht verstummt, traten die Tiere heraus. Sie folgten dem Sieger. Zwei oder drei kamen mit flackernden Lichtern; die suchten nach dem Freunde der Nacht. Aber sie mußten gehorchen. Schweigend rotteten sie sich um Ubald zusammen. Der zog mit ihnen gegen die Suhle; denn noch war die Sonne nicht da. Nur Steppke auf der hohen Fichte sang ihr den Gruß. Und auf den fernen Stoppeln und in der Heide huben die Morgenglocken der Felder an zu schlagen: die Wachteln.
*
»Es war sehr unterhaltsam,« sagte Ursula.
»Man kann darüber geteilter Meinung sein,« antwortete Kaspar. »Es wird sich nicht wiederholen.«
Und damit hatte er recht. Denn nicht lange nach Sonnenaufgang wurde der Anger in der Nähe des Brunnens lebendig. Der Bau der Köhlerhütte begann.
Es ward ein köstlicher Tag. Ursula empfand den Lärm der Menschen nun gar nicht mehr aufregend. Die Einhegung der Drachenschlucht beruhigte sie. Und die Umsicht und Erfahrungen Kaspars machten ihn durchaus vertrauenswürdig.
»Kaspar,« sagte sie nun »du bist sehr weise.«
»Na,« sagte er, »wenigstens in den meisten Fällen.« Gemütlich verzog er das Gesicht, »Wir werden in den nächsten Wochen die vordere Burg und die hintere Burg abwechselnd bewohnen – und stets gemeinsam.«
Das hörte sie gern. Ein heimlicher Wunsch ward damit Erfüllung. Zunächst sorgte sie noch für ein wenig Bequemlichkeit in der Wohnung Kaspars. Dann legte sie sich dort schlafen, und der vergnügte Gatte dehnte sich draußen im warmen Sande. Er genoß die Behaglichkeit der Stunde und war wach an allen Sinnen.
Steppke, Stella und Perle leisteten ihm dabei Gesellschaft; denn sie hatten die Vorzüge ihres neuen Aufenthaltsortes sehr rasch und gründlich eingeschätzt. Der Zaun gefiel auch ihnen. Nur hatte Steppke einige Bedenken gegen den Neubau der Köhlerhütte. Es war von hier bis dort kaum eine Rufweite.
»Ich versichere Sie,« sagte Kaspar, »das hat für uns nicht den geringsten Nachteil. Ich kenne doch meinen Freund Huber! Und es gibt in der Tat etliche Menschen, die sind weder Dummköpfe noch niederträchtig. Stauben Sie hier getrost, so oft Sie wollen.«
Da setzte sich ihm eine dicke Fliege auf die Nase. Er äugte sie erstaunt an und sah wieder einmal recht komisch aus. Wohl auch ingrimmig wie ein zerknüllter Hader, aber es spielte die Heiterkeit seines Gemüts und seines derzeitigen Zustandes durch alle Falten seines Gesichts. Nicht übel Lust hatte er, die Dicke mit der Zunge zu schlecken. Andererseits fesselte ihn die Hingabe, mit der sich die Brummfliege da vorn zu schaffen machte.
»Sie halten wohl meine Nase für einen Tanzboden?« fragte er.
»Ach wo!« entgegnete die Fliege.
»Warum schlenkern Sie dann so mit den Hinterbeinen?«
»Ich putze mir doch die Flügel! Ich habe diese Nacht nämlich in der Blüte eines Frauenflachses zugebracht. Es war ja eine ganz behagliche Unterkunft. Aber nun sitz ich so schön in der Sonne und sehe, ich bin ganz voll gelbem Staub.«
»Soso,« sagte Kaspar. »Und diese Reinigung vollbringen Sie auf meiner Nase?«
»Das hat noch einen anderen Grund,« antwortete die Fliege. »Sie schmecken nämlich sehr süß. Haben Sie Honig geleckt?«
»Ich habe mich gestern verheiratet,« sagte Kaspar.
»Dann ist es freilich kein Wunder!« entgegnete die Fliege. »Bei mir ist die Hochzeit schon längst vorbei. Ich bin Witwe. Einem ganzen Volke von Kindern habe ich das Leben geschenkt. Sarah ist mein Name, ja, Sarah, Mutter der Menge. Jawohl. Ich gedenke, mich hier anzusiedeln.«
»Das heißt: Sie wollen diese freundliche Waldstille durch Ihre Gegenwart verhunzen?«
»Ganz im Gegenteil! Wir Fliegen sind ein wichtiger Bestandteil im Haushalt der Natur. Wir gehören nämlich zu den Aufsehern.«
Kaspar lächelte belustigt, »Was Sie nicht sagen! Schätzen Sie sich damit nicht sehr falsch ein?«
»Keineswegs!« entrüstete sich die Fliege. »Sie zum Beispiel haben eine Nase, die von Rechts wegen nicht süß zu sein hat – es kann Ihnen daraus leicht ein Schaden entstehen. Ich sorge nun dafür ...«
»Machen Sie keine Redensarten! Wenn ich nicht am Beginne der Honigwochen stünde, würde ich Sie sofort von Ihrer Entbehrlichkeit überzeugen. Warum tippen Sie denn mit diesem Kolben da immer auf meine Nase? Und sitzen Sie gefälligst still! Das kribbelt ja entsetzlich, wenn Sie so umherlaufen!«
»Kolben?« fragte die Fliege ärgerlich. »Sie meinen wohl meinen Saugrüssel? Das ist nämlich eine vorzügliche Einrichtung.«
»Hatzi!« machte Kaspar. So laut nieste er, daß Stella und Perle sich platt in die Sandpfannen duckten und Steppke erregt sicherte. Die Fliege aber surrte Kasparn ein paarmal schimpfend um den Kopf. Dabei verfolgte er sie mit seinen strahlenden Augen und wunderte sich, daß er sie nicht erschossen hatte.
»Nehmen Sie sich in acht,« warnte er, »ich garantiere für nichts, wenn Sie mich immerzu an der Nase krabbeln! Wo kommen Sie denn eigentlich her? Ich wohne schon fünf Jahre hier und habe – soviel ich mich erinnere – nie eine Ihrer Art gesehen.«
»Ich komme aus dem Lande der Menschen und bin eine Schmeißfliege. Ich bitte mich also nicht mit einer ganz gemeinen Stubenfliege oder mit einer häßlichen Stechfliege zu verwechseln.«
»Freut mich sehr!« antwortete Kaspar nicht ohne Spott.
»Es sind heute morgen Menschen mit Sack und Pack Ihre Nachbarn geworden,« berichtete Sarah. »Ich habe während der Reise auf einem sehr guten Landschinken gesessen, der sich in einer mangelhaft geschlossenen Papierhülle befand. Denn wo Menschen sind, da müssen wir uns augenblicklich ansässig machen. Es gibt für uns dort stets eine Menge Arbeit. Sie glauben nicht, was diese Leute in ihren Küchen und Zimmern für eine Unsauberkeit walten lassen! Es herrschen da ähnliche Zustände wie auf Ihrer Nase. Sie sehen: ich habe nur einen kleinen Morgenflug getan, weil Simmchen ihre Küche noch nicht fertig hat, und schon wartet an Ihnen selbst eine Pflicht auf mich.«
»Simmchen?« fragte Kaspar, »wer ist Simmchen?«
»Na, Simmchen ist doch die junge Köhlerfrau! Sie hat erst dieser Tage Hochzeit gehalten.«
Auf einmal – Sarah duckte sich und machte Miene, in einem Nasenloche Kaspars zu verschwinden.
»Das geht mir doch über die Hutschnur!« wollte er sagen. Er kam aber nur bis Hut, dann wurde seine Rede durch heftiges Niesen unterbrochen. Zweimal. Dreimal. Noch einmal. Und als er die Augen, wohlig durchschüttert, wieder auftat, wippte die gelbe Bachstelze Elvira vor ihm auf den Sand.
»Tag, lieber Herr Kaspar! Sie haben sich da eine recht sonderbare Freundin angeschafft.«
»Kennen Sie die?«
»Persönlich nicht,« antwortete Elvira und wackelte artig mit dem Schwänzchen, »aber ich verfolge ihre Sippe; denn als Aufseherin im Haushalte der Natur ...«
»Na, hören Sie mal!« unterbrach sie Kaspar. »Das gleiche hat mir ja Sarah die Brummfliege von sich auch erzählt!«
»Hihi,« lachte Elvira, »und nicht mit Unrecht! Sie sorgt für Beseitigung mancherlei Unrats – wiewohl sie selber ein Unrat ist; und deshalb ist sie wiederum mir verfallen. Sie ist von plumper Vertraulichkeit, lieber Herr Nachbar, nimmt leicht überhand und ist imstande, Ihre Lauscher für sich als Kinderstuben einzurichten.«
Kaspar guckte nicht besonders klug in die Welt bei dieser Eröffnung. »Das wäre ein niederträchtiger Einfall,« sagte er und kraute sich in heiterer Vorahnung mit der Klaue die Ohrmuschel. »Ich glaube, dabei könnte selbst ich nervös werden.«
Kaspar dehnte sich so lang er war auf dem durchsonnten Sande. Elvira schwang sich auf seinen Rücken und begann trippelnd seinen Pelz nach Gästen zu durchstöbern.
»Schauen Sie da noch einmal genau hin – ja, da hinter dem rechten Ohre!« sagte Kaspar.
»Aha!« machte Elvira. »Sehen Sie, wenn man nicht immer hinterher sein kann! Es hat sich da eine Zecke eingemietet und sich schon gehörig gemästet.«
»Ja, diese Gesellschaft! Fassen Sie nur fest zu! Immer bohren Sie ordentlich nach – Soooo!«
Er verzog bei der Operation das Gesicht zwar gewaltig, aber sein Herz erfüllte sich mit Dankbarkeit. Natürlich konnte er eine Zecke mit der scharfen Wehr seiner Füße auch selbst beseitigen. Aber er zerriß mit seinem gröberen Werkzeug den Schmarotzer, und der Kopf samt den Zangen blieb stets im Fleische sitzen und mußte herausschwären. Darum schätzte er Elvira außerordentlich.
»Leider kann ich nun nicht mehr oft kommen, Herr Nachbar,« sagte sie, »mein Mann trägt sich mit Reiseplänen. Wenn es nach ihm ginge, wären wir schon außer Landes. Die Männer haben eben nicht die Geduld, die unserem einsichtigeren Geschlecht eigen ist.«
»Das könnte ich von mir nicht sagen,« behauptete Kaspar. »Daß Sie schon reisen wollen, ist mir doch sehr leid,« sagte er. »Können Sie nicht in der Mittagsstunde mal kommen? Ich möchte Sie meiner Frau vorstellen. Sie werden da – was Körperpflege anlangt – auch allerhand zu tun haben.«
»Ich will sehen, was sich machen läßt,« sagte Elvira. »Der Köhler hat nämlich etliche Heidschnucken mitgebracht – Sie können sich denken, wie sehr ich da in Anspruch genommen bin. Empfehle mich!«
Eigentlich hätte nun die schwarze Sarah wiederkommen können! Kaspar hatte sich mit ihr ganz gut unterhalten. Er hätte – bei seinem freundlichen Verhältnis zur Umwelt – gern noch etwas über die neue Nachbarschaft von ihr erfahren. Das machte ihn vor Ursula wissender, und er konnte sich dadurch bei ihr in ein günstiges Licht setzen.
Aber Sarah hatte schon eine neue Bekanntschaft gefunden – zwei Mäuse; und zwar ein Ehepaar. Der Mann hieß Moritz und die Frau Liddy.
»Freut mich ungewöhnlich,« beteuerte sie. »Ich denke, wir werden gute Nachbarschaft halten. Sie ziehen doch auch mit in das Köhlerhaus?«
»Selbstverständlich,« sagte Moritz, »wir haben uns über Sommer mit einer idyllischen Waldwohnung und äußerst bescheidenen Verhältnissen abgefunden. Aber für den Winter ziehe ich mir geheizte Räume vor. Haben diese Leute eigentlich eine Katze?«
»Allerdings,« antwortete Sarah, »eine schneeweiße Katze. Aber weil sie weiß ist, hat das noch weniger auf sich. Auch ich muß ihr gegenüber auf der Hut sein. Viel mehr als Sie; denn wenn solch ein unnützes Geschöpf einmal Vogelblut getrunken hat, dann macht es sich aus ihrem Fleische nicht mehr viel. Darauf können Sie sich verlassen.«
Moritz wiegte zweifelnd den Kopf.
»Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte Liddy, »die Eulen und unsere Nachbarn, die Dachse, sind hier draußen noch gefährlicher, und wir haben uns unter ihnen doch ganz wohl befunden.«
Dieses Gespräch wurde gar nicht fern von der Drachenburg geführt. Kaspar hatte schon Witterung bekommen und hielt die Nase angelegentlich in den Wind. »Ich muß doch einmal nachsehen ...«
Da trat Flöckchen unter den Kusseln auf den Burghof.
»Wer sind Sie? Und was haben Sie hier verloren?« forschte Kaspar.
»Mau,« sagte das weiße Kätzchen. »Sie sind nicht sehr höflich. Ich bin nämlich Ihre neue Nachbarin. Und Sie sind sicherlich der Herr Kaspar.«
Flöckchen wahrte also den nötigen Abstand; denn sie hatte noch gar keinen Dachs gesehen. »Ich habe sehr viel Gutes von Ihnen gehört,« begann sie nach einer Weile.
Kaspar hatte Ursache, sie für eine Schmeichlerin zu halten, »Wieso?« fragte er kurz und hart.
»Wir haben einige Tage im Hause des Hegers gelebt, und Bergmann der Hund hat sich – so schwer es ihm wurde – mit mir befreundet. Er läßt sich Ihnen empfehlen.«
Das klang wahrhaftig. Aber Kaspar hatte gegen jede neue Erscheinung ein Mißtrauen zu besiegen. Seine Natur war, trotz des Jahres bei den Menschen, ja keineswegs umgebracht. Nur zugängiger war er geworden.
»Ich werde hier sehr einsam sein. Wenn ich Sie hin und wieder besuchen dürfte ...« sagte Flöckchen.
»Das halten Sie wie Sie wollen!« Er äugte sie durchdringend an; denn Flöckchen widmete dem behaglich staubenden Auerwild eine Aufmerksamkeit, die ihm zu weit ging. Aber sie war ohne schlimme Absichten; sie hatte so etwas einfach noch nicht gesehen.
»Ich muß sagen,« begann Kaspar wieder, »Sie tragen für Ihren zukünftigen Aufenthalt ein lächerlich unpraktisches Kleid, Katze Flöckchen. Ich fürchte, damit werden Sie wenig Freude erleben. Möchten Sie sich nicht auch noch eine Klingel anhängen?«
»Ach,« entgegnete Flöckchen ihrem ungalanten Nachbar, »ich will ja nur Simmchen gefallen, meiner Herrin.«
Kaspar strich sich über die Nase. Das sah aus, als rücke er sich die Brille zurecht. Dann guckte er sie wie über Gläser hinweg an.
Dem Zwiegespräche hatte Gisela gelauscht. Sie war so keck, daß sie am hellichten Tage hier hereinwechselte. Aber sie war auch so neugierig; denn Simmchens gelber Orpingtonhahn schmetterte sein Wohlgefallen an dem neuen Wohnplatze durch den Wald, daß es eine Art hatte. Und drittens: Frau Gisela war zerrissenen Gemüts. Es war keine glückliche Zeit zum Freien. Das hatte sie natürlich gestern auch schon gewußt. Aber sie rechnete mit ihrer Erfahrenheit und Grazie und traute sich einen Sieg über den reichlich angegrauten Fuchsrüden Brand auch unter ungünstigen Verhältnissen wohl zu.
Dieser Brand wohnte auf dem Galgenberg in einer wildzerklüfteten Steinburg. Außer der umhegten Drachenschlucht gab es keinen besseren Platz innerhalb einer Bannmeile. – Gisela war völlig im klaren darüber, daß der Hund Bergmann nie mehr die Dachsenschlösser befahren durfte. Also wäre dort auch hinreichend für ihre Sicherheit gesorgt gewesen; denn – wie gesagt – sie hatte die Rechnung ohne den alten Herrn Brand gemacht.
Der hatte in anderer Zeit einmal schön mit ihr getan. Darum brachte sie die Unterhaltung mit ihm gleich auf jene alten Tage. Aber bei Brand verfocht das nichts. Er war ein grimmiger Einsiedler geworden und pflegte gesellschaftliche Beziehungen wohl gar nicht mehr. Auch war er seit drei Tagen auf einem Auge blind. (Ein Sperber hatte ihm den Fang im Kampf hineingeschlagen. Der andere Seher schwärte. Einen recht wenig heldenhaften Eindruck machte Brand, wiewohl sein Balg voller Narben war und seine Lauscher sich zerfetzt emporrichteten, als Gisela auf dem Burghof erschien.
Sie machte ihm zu einer recht unglücklichen Stunde ihre Aufwartung. Der Alte hatte Zahnweh. Das sagte er ihr natürlich nicht. Aber es fiel ihm so nicht schwer, doppelt unliebenswürdig zu sein.
Gisela hatte sich den alten Recken anders vorgestellt. Betroffen stand sie vor diesem Verfall. Sie war sonst um einige verbindliche Redensarten nie verlegen. Aber sie hielt sich noch lange nicht für reizlos genug, ihn mit guten Wörtlein zu besiegen. Es schien ihr verlockender, den Winter in der Drachenschlucht zu verbringen.
Nun hatte sie das Zwiegespräch gehört und trat erregt aus der Dickung. Ihre Enttäuschung wuchs, als sie Flöckchen und die Familie Steppke bei Dachsens zu Besuche fand. – Steppkes verabschiedeten sich zwar augenblicklich, Flöckchen aber duckte sich zum Sprunge, ihre Rückenhaare sträubten sich. Sie hatte auch noch keinen Fuchs gesehen; doch das Verhalten der Familie Steppke sagte genug.
Trotz allem setzte Gisela ein Gesicht auf, als lebe sie von Heuschrecken und wildem Honig. Natürlich war sie sofort Herrin der Lage. Sie erkannte die Veränderungen, die während ihrer Abwesenheit mit Kaspar vor sich gegangen waren; hier blühte die Luft ja von brennender Liebe! Und das Einsiedlertum, bei dem sie Kasparn vor ein paar Tagen gefunden, war hinweggeweht.
»Ich kann nicht genug staunen, teurer Vetter!« sagte sie. »Ihre Besonderheit treibt die wunderlichsten Blasen. Haben Sie auch schon mit der jungen Köhlerfrau Freundschaft geschlossen?«
»Nein. Aber ich habe die Absicht. Soeben erkundige ich mich nach den Verhältnissen da drüben.«
»Nun – und Ihre Braut? Sie ist doch ein vernünftiges Geschöpf von unverfälschter Naturhaftigkeit. wird die sich mit Ihren Nücken abfinden?«
»Das geht Sie wiederum nichts an!« sagte Kaspar. »Uebrigens: sie ist seit gestern meine Frau. Ja.«
Gisela tat sehr überrascht. Aber ihre belebten Sinne hatten sie längst unterrichtet. Ursula trat heraus, und Gisela begrüßte sie mit guten Wünschen.
Ursula verzog das Gesicht. Ganz oben auf den Bau setzte sie sich und sagte: »Sie verwenden ein niederträchtiges Parfüm. Man muß sich da in gesicherter Entfernung halten.«
»Was verschafft uns überhaupt die zweifelhafte Ehre Ihres Besuches?« wollte Kaspar wissen.
»Siehst du,« rief Ursula, »so mußt du mit dieser Nachbarin reden!«
»Aber ich bitt' Sie!« staunte Gisela, »welch eine unfreundliche Aufnahme gewähren Sie einer alten Freundin!«
»Diese Freundschaft kennen wir,« höhnte Ursula.
»Wir sind jung verheiratet und wünschen nicht weiter gestört zu werden – heute nicht, morgen nicht und in aller Zukunft nicht!« Kaspar rührte sich zwar bei seinem angeborenen Phlegma nicht von den Keulen; denn auf einen Kampf wollte er es auf keinen Fall ankommen lassen. Aber –
»So dumm ist er schließlich doch nicht,« dachte Gisela, »wenn ich mich hier ansiedele, so ist er im Stande, mir seinen Freund Huber samt dem Hund auf den Hals zu hetzen.« Sie gelobte Kasparn also ihre Freundschaft und schnürte in guter Deckung von hinnen. Das Herz war ihr nicht leicht.
Dermaßen in Gedanken trabte sie ihres Wegs, daß sie nicht ein einziges Mal sicherte. Sie begab sich stracks auf den Galgenberg. Wie leer war ihr Dasein geworden an Liebe und Pflicht! Unwürdig empfand sie die Einsamkeit.
»Brand, mein Freund,« sagte sie, »ich wollte es dir heute früh nicht verraten: du bist in einer schlechteren Verfassung als du glaubst. Ich kann dich hier nicht elend verkommen lassen – dich, die Zierde unserer Sippe!«
Und in der Tat: es war ihm niederträchtig zu Mute. Er hatte den Kopf auf die Vorderläufe gepreßt. Den einen Seher konnte er nur mit Mühe zu einem Spalt öffnen. Der andere war ausgelaufen.
Gisela setzte sich neben den kranken Helden und leckte ihm das wunde verschworene Lid. Er hatte sich, seit sie ihn verlassen, nicht von der Stelle gerührt. Ihr Mitleid wuchs. Zu ihrer Ehre muß gesagt sein: sie dachte nicht daran, Brand gesund zu pflegen, damit er sich ihr dankbar zeige.
Ungemein wohltätig empfand er ihre Zunge. Das Licht des Tages schien wieder beinahe voll und klar in sein Auge. Schrecklich war es in den vorigen Stunden gewesen. Er fühlte die Sonne, die ihm den Rücken streichelte, aber er sah ihren fröhlichen Glanz nicht! Und nun war wieder das belebte Leuchten um ihn! Ueber gelben Blumendolden schaukelten die Falter. Das hatte er den ganzen Sommer, das hatte er jahrelang gesehen. Da war es selbstverständlich gewesen. Aber nun war es eine Gnade!
»Ich bin froh, daß du wiedergekommen bist, Gisela,« sagte er. –
»Du wirst heute nicht ausgehen; die ganze Nacht nicht, Brand!« entgegnete sie. »Ich werde dir einen Fraß bringen. Rühre dich indes nicht vom Fleck. Sollte Gefahr drohen ...«
»Gefahr!« sagte er verächtlich. Sein Haus war seine Burg. Aber er dachte nicht daran, daß er am hellen Tage vielleicht ohne Licht die Einfahrt suchen müsse und in den Schrecken der Finsternis täppisch werden könne.
Gisela schnürte durch Jungholz und Heide. Sie fing eine Haubenlerche und überlistete ein Feldhuhn. Aber sie aß keins von beiden. Mäuse verzehrte sie. Und da in dieser Jahreszeit viele weiße Dämmerungsfalter mit zackigen Binden auf den Flügeln an den Stämmen saßen – die Nonnen! – nahm sie auch diese auf. »Sie sind nicht einmal schlecht,« sagte sie prüfend, »zur Not könnte man dabei wohl bestehen.« Aber Brand mußte das Huhn und die Lerche haben.
Als er gefressen hatte, leckte sie ihm wieder den kranken Seher. Dann trug sie ihm welkes Laub und Halmwerk aufs Lager in den Bau. Sie trabte hinaus, als die Finsternis so tief war, daß nur die schwarzen Kusselföhren noch schwärzer darin standen und das schwarze Bild des Hochwalds. Sie erbeutete eins der Bläßhühner. nach denen es sie seit langem gelüstet hatte, und trug es Brand auf sein Wundbett. Dann leckte sie ihm das kranke Auge.
So trieb sie es drei Tage. Und am dritten Abend war das Licht unter der Heldenstirn dennoch ausgegangen. Aber er merkte es nicht. Er trat mit ihr hinaus auf den Galgenberg. Sie hatten beschlossen, weil ihm wieder ganz wohl war, zu dem Teich im Anger zu schnüren.
»Warum sind wir nicht früher gegangen?« fragte er, als ihn Hügelwind und Dämmerung umspielte; denn er dachte, er stünde in einer mondlosen Vormitternacht. Aber der Abend schummerte erst sachte herab in die graue Kühle.
Wunderlich waren die Bewegungen seines Kopfes; er mühte sich, einen Schein zu fangen mit seinen toten Sehern.
Wortlos beobachtete ihn Gisela. Tine fürchterliche Ahnung fiel in sie. Da bat er sie, den Stein von seinem Lide zu nehmen. Sie aber sah ihm ins Auge. Es war rein wie vordem; doch die geschlitzte Pupille in dem grünen Ringe war grau und tot. Brand war blind!
Sie standen zwischen Büscheln verblühender Heide. Und Gisela sagte zu ihm: »Es ist eine Kusselföhre vor uns, siehst du sie?« –
»Nein!«
»Es ist ein weißer Stamm rechts, kannst du ihn erkennen?«
»Ich sehe nichts als gleichmäßige Finsternis.«
»Nun, so wird es vielleicht morgen anders,« sagte sie.
»Warum wollen wir in dieser schwarzen Finsternis gehen?«
»Komm nur,« sagte sie, »ich bin ja bei dir!«
Wie damals, als er ein Auge auf sie geworfen hatte, trabten sie gegen den Anger: sie voran mit wehender Lunte. Er mit spielendem Windfang dicht hinter ihr drein.
»Wie wunderlich ist das nun mit mir geworden,« sagte er, »aber es geht auch so.«
Auf dem Anger trafen sie Kasparn und seine Frau – Kaspar merkte das veränderte Behaben Brands; wie er Gisela nicht von der Lunte wich und wie seine Nase erregt im Nebel wühlte.
Lange betrachteten sie sich dies Schauspiel. Sie sahen, daß Gisela ihre Zunge kühlte und ihm dabei über den rechten Seher strich, unablässig und in banger Ungeduld.
»Siehst du nun den Vetter?«
Da richtete Brand die erloschenen Lichter gegen den Spiegel des Teiches. – Blind!
»Es ist ein sonderbarer Zustand,« sagte Kaspar. Dann stachen sie wieder den weichen Rasen, wandten hin und wieder einen Geviertfuß der dichten Grasnarbe um wie ein Stück Filz und zogen feiste Regenwürmer daraus hervor. Brand und Gisela schnürten zwischen ihnen hindurch. Es fiel kein Wort.
»Er muß nun mit ihren Augen sehen,« erklärte Kaspar der Ursula besinnlich. Aber ohne Mitleid sahen sie den beiden nach.
Es kam der Herbst. Auch dem Himmel war das Auge ausgegangen. In grauen Schnüren stand der Regen in der Luft.
In solch einer Vormitternacht trafen Kaspar und Ursula auf dem Galgenberg ein. Vergnügt wie junge Hochzeiter waren sie. Brand und Gisela auch. Ueber der Haupteinfahrt zu ihrem Bau hing ein Felsblock als Schutzdach. Ein Föhrenstumpf, der von einem stolzen Stamm übriggeblieben war, lag gespenstisch leuchtend im Gestein. Unter dem Schutzdach saß Brand mit seiner Frau beim Nachtmahl.
Kühl bis ans Herz hinan empfing Gisela die Gäste.
»Wir hatten Sie in diesen Tagen einmal bei uns erwartet,« sagte Ursula.
»Ich sehe für zwei, ich arbeite für zwei!« antwortete Gisela. »Sie aber faulenzen für viele! Mit uns brauchen Sie nicht mehr zu rechnen.«
»Warum denn nicht?« fragte Brand in heiterer Gelassenheit. –
»Ich habe dir ja gesagt, was für sonderbare Leute Kaspar Dachs und seine Frau sind!« sagte Gisela energisch.
»Nun, es gibt so'ne und so'ne!« entgegnete Brand und schupfte die Schultern.
Brand schmunzelte dabei vergnügt hinab auf das Mahl. Sein Gesicht war so belebt, als könne er sich noch an dem Anblicke weiden; denn Gisela hatte in der Abenddämmerung den Auerhahn Tuhtewohl geschlagen.
»Ausgezeichnet!« beteuerte Brand. »Für manchen Geschmack vielleicht ein bißchen harzig, dies Wildbret – aber ich mag das gerade gern.«
»Und wie fühlen Sie sich sonst?« forschte Kaspar.
»Danke der Nachfrage. Ganz prächtig! Was meinen Sie wohl ... Ich habe gestern Nacht unten am Teich eine Ente gefangen! Ich ganz allein! Man zieht sich an der Witterung heran bis zum Wild wie an einer Leine, sag ich Ihnen – auch ohne Seher ...«
»Wenn man etwas gelernt hat!« warf Gisela spöttisch ein. –
»Sie wissen ja, wir zwei machen uns aus derlei nichts,« entgegnete Ursula, »möchten wir nicht gehen, Kaspar?«
Von Stund ab machten Gisela ihre Pflichten zu einem Schrecken des Waldreviers. Mit unerhörter Keckheit brach sie in die fernen nächtlichen Höfe. Mit unstillbarem Blutdurst erstieg sie sogar geeignete Stämme, auf denen sie Federwild witterte. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit zog sie sich im Geklüft um die Rauchenfälle empor und überfiel den Steinkauz in seiner Höhle. Ursula und Kaspar fanden sie immer nach einigen Tagen belebter an allen Sinnen, grausamer in ihrer Denkart und verwilderter in ihrer Gier.
*
Das Köhlerhaus war fertig. Ein Holzbau mit doppelten Wänden, zwischen denen eine Fütterung aus Torfmull lag. Aber die Meiler rauchten noch nicht, und der Anger war leer.
Kaspar hatte sich die Entwicklung der Dinge in jeder Nacht betrachtet. Ursula konnte sein Interesse für diese Menschensiedlung nicht teilen.
Eines Tages rollte ein Wagen mit geflickter grauer Plache die Waldstraße entlang. Abgetriebene Rösser waren davorgespannt. Neben dem Köhlerhause machte das Gefährt halt. Eine Anzahl brauner, verwilderter Leute entstieg dem Wagen. Zigeuner!
Sie schlugen zwei Zelte auf dem zukünftigen Kohlplatz. Lagerfeuer wurden angezündet. Ueber dem einen hing ein Kessel, in dem alsbald Wasser aus dem Honigbrunnen brodelte. Ueber dem anderen schmorte am Spieß ein gewaltiges Stück Pferdefleisch.
Nicht uneben war dies Völklein, o nein! Simmchen graute sich zwar zuerst ein bischen ab beim Anblicke der Frauen und Kinder mit den strähnigen blauschwarzen Haaren. Aber geheimnisvoll und naturhaft waren diese Fremden in ihrer Art, das Leben zu betreiben. Man konnte sich gut mit ihnen unterhalten. Und weil sie die Ziegenmilch und die Kartoffeln, die sie von Simmchen erbaten, reichlich bezahlten, war schon nach einer Stunde ein freundliches Vertrauen zwischen den Landfahrern und dem Köhlerpaar gewachsen.
Da stellte sich Herr Huber mit dem Hund Bergmann und der scharfen Hirschhündin Ilma von der Drachenschlucht ein. Auch der Lehrling war mitgekommen. Beide trugen Gewehre. Der junge Mann sogar zwei. Das eine händigte er dem Köhler ein.
Ursula war durch die vielen lauten Stimmen schon längst verdrießlich geworden. »Ich gehe hier keinen Schritt mehr aus dem Hause,« sagte sie. »Ich bin da ja in eine nette Gegend verschlagen worden. Es wird immer schöner! Bildest du dir etwa ein, ich könnte das auf die Dauer aushalten?«
Daraus ist zu ersehen: die Honigwochen gingen zu Ende, vielleicht wäre Ursula nicht so aufgeregt gewesen, wenn nicht ein paar Zigeunerkinder gleich nach der Ankunft des Trupps den Weg zum Zaune gefunden hätten. Die sahen Kasparn vor seiner Burg sitzen und machten ein großes Geschrei. Keine Frage: die Zigeuner waren sich darüber einig geworden, demnächst einen fetten Dachsschinken über ihrem Lagerfeuer zu rösten.
Wären sie nicht in der Mitte des Nachmittags am Hegerhause vorübergezogen, so hätte ihnen Huber wahrscheinlich bedeutet, daß es ihnen verwehrt sei, in diesem Forste zu lagern. Aber die Stunde ihrer Einkehr verriet ihm: weiter als bis zum Kohlplatz würden sie heute nicht gelangen. Und damit war das Schicksal Kaspars und Ursulas besiegelt. Deshalb war Herr Huber so rasch zur Stelle, und deshalb war er auch für den Ernstfall mit drei Gewehren gerüstet.
Die Frauen und Kinder der Zigeuner gaben die besten Worte. Sie waren der Landessprache mächtig. Den beiden Männern aber leuchteten die Augen in stolzem Zorn. Es kam zu langen Verhandlungen.
Kaspar war von dem Lagerbild im vergehenden Tage mit all seinen Sinnen in Anspruch genommen. Weil Ursula schalt, hatte er sich in das Kleinholz geschlichen und saß in der Deckung ganz am Rande des Kohlplatzes; denn die vertraute Stimme seines Freundes Huber machte ihn sicher.
»Nein, solch ein Mann!« rief ihm Ursula hinterdrein. Damit meinte sie Kasparn, »wohin soll denn das führen?«
»Geh schlafen, Ursula« sagte er. Schmählend kroch sie in die hintere Burg, die sie für sicher hielt. Daß Kaspar sie in so verzweifelter Lage allein ließ mit ihrer Bangigkeit, das wollte sie ihm gehörig heimzahlen!
Aber Kasparn kümmerte das nicht. Aus der herrlichen Dickung konnte er sich in seinem nachtgrauen Pelzrock das eigenartige Schauspiel ungestört betrachten. Nur Flöckchen hatte ihn erspäht. Natürlich hatten auch die Hunde von seiner Anwesenheit Wind bekommen. Aber die wurden an der Leine geführt, und Flöckchen pirschte sich klugerweise nicht über den offenen Anger gegen ihn an.
»Ich finde diese neuen Leute sehr anziehend,« sagte sie.
»Wir nehmen den Menschen gegenüber einen anderen Standpunkt ein,« erwiderte er karg, »und soviel ich verstehe, ist auch mein Freund Huber der gleichen Ansicht.«
Nun, Huber hatte kein Herz aus Stein. Er tat zwar bärbeißig und polterte zwischen dem fahrenden Volke herum wie ein alter Landgendarm. Aber schließlich gönnte er ihnen für eine Nacht Rast; doch er gelobte, er würde jeden über den Haufen schießen, der es sich einfallen lasse, in die Drachenschlucht zu gehen. Das klang schrecklich. Und sicherlich hätte er dies Gelöbnis auch nie zur Tat werden lassen. Aber er schmetterte es mit so unerbittlicher Festigkeit unter die Fremden, daß sie an seinem blutigen Ernste nicht zweifelten. Kaspars und Ursulas Namen wurden dabei mehrfach genannt.
Die Heger und der Köhler beschlossen, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen. Jeder hatte eine Stunde mit scharfgeladenem Gewehr Posten beim Lager zu stehen, bis der Morgen kam. Das geschah alles der Dachse wegen. Aber auch Simmchen und ihr Mann empfanden diese Maßnahmen als Erleichterung.
Kaspar war denn auch sehr bald Herr der Lage. Er erklärte Flöckchen den Hergang. »Sehr interessant,« sagte er und meinte damit die roten Lichter der Feuer, die sich zuckend in die Fichtenwipfel emporspielten. Er meinte damit auch die braunen fremdartigen Menschen, die sich vor der Kühle der Nacht bunte Fetzen um die Schultern warfen. Und er konnte sich nicht satt sehen an dem romantischen Lagerbilde – wie die wunderlichen schönen Gestalten auf Bärenfellen um die Brände saßen und ihre weißen Zähne in das rauchende Roßfleisch gruben.
Huber und der junge Mann, der Köhler und Simmchen standen neugierig dabei. Auch ihnen gefiel das. Es wurde geredet, gelacht und getrunken, und eine gertenschlanke Zigeunerin, die jung und sehr schön war, kredenzte Herrn Huber das erste Glas Grog aus dem dampfenden Kessel. Da hing schon die Waldnacht schwer und dunkel über dem Anger. Und noch war an ein Schlafengehen nicht zu denken. Immer freundlicher schmunzelten Herr Huber und seine Genossen auf dies eigenartige Erlebnis. Und keiner von ihnen ward ungeduldig, weil der Tag bei Sang und Saitenspiel, bei heißem Feuertrunk und den Berichten von Abenteuern also verlängert wurde. Simmchen hatte sogar vier Sitze herausgetragen in das rote Scheinen, das die Herbstnacht mild und gütig machte.
Spät, sehr spät krochen die Fremdlinge in ihre Zelte.
Da hatte sich die Katze Flöckchen längst wieder mitten ins Lager gestohlen und schnurrte behaglich zu dem Lobe, das man ihrer jungfräulichen Schönheit spendete. Dann ging das eine Feuer nieder. Das andere hatte zu leuchten die ganze Nacht.
Der Hegerlehrling war der erste, der seinen Posten bezog. Eintönig klangen seine Schritte über den Rasen. Manchmal warf er ein Scheit in die Glut. Kaspar wich nicht von seinem Platze. Aber kurz nach Mitternacht tat auch er sich nieder, preßte den Kopf auf die Vorderläufe und gedachte, sich in dieser Lage die Dinge noch ein wenig zu betrachten. Er war anspruchslos; er konnte sich mit einem zuckenden Lichte schon sattsam unterhalten. Denn auch das war für ihn eine ungewöhnliche Erscheinung. Und er interessierte sich nun einmal für alles, was von den Menschen kam – er ward seine Kinderstube nicht los.
Plötzlich spazierte etwas kleines Schwarzes von seiner rechten Wimper hinab nach seiner Nase. Er konnte das im Schein des Feuers sehr klar beobachten. Es war ein Floh.
Kaspar war – wie man weiß – in derlei Kleinigkeiten großzügig. Aber die Keckheit, mit der sich dieser Fremdling sein Gesicht aussuchte, überraschte ihn. »Sie,« warnte er, »gehen Sie nicht zu weit!« Dabei fiel ihm die Zierlichkeit und Geschmeidigkeit des neuen Mieters auf.
»Entschuldigen Sie, bitte,« sagte der Kleine, »ich merke, ich habe mich verirrt. Vorhin war ich auf einer weißen Katze. Ich liebe so etwas gar nicht. Deshalb ergriff ich sofort die Gelegenheit, das Weite zu suchen. Es ist nur ein Uebergang für mich. Ich heiße Lopo Pick und bin ein Menschenfloh.«
»Lopo Pick,« wiederholte Kaspar, »merkwürdiger Name! Sie sind wohl Ausländer?«
»Ganz recht. Ein Spanier.«
»Aha,« sagte Kaspar, »sehr interessant! Da haben Sie sich also auf die Katze verirrt, während das Zigeunermädchen Flöckchen streichelte?«
»Sehr richtig,« entgegnete Lopo Pick. »Carmen heißt sie. Ich habe mich bei ihr sehr wohl befunden, können Sie mir vielleicht sagen, wie ich zu ihr zurückkomme?«
»Ich habe dahin gar keine Beziehungen,« brummte Kaspar. »Ich werde mich auch sehr hüten! Aber Sie haben ja gar nicht weit. Hupfen Sie doch einfach über den Rasen.«
»Unmöglich!« rief Lopo Pick, »was denken Sie wohl – Rasen! Ich würde zwischen den nachtfeuchten Borsten ja elend zugrunde gehen.«
»Dann kann ich Ihnen nicht helfen. Oder ... warten Sie mal! Flöckchen ist in meinem Haus immer einmal zu Gast. Die könnte Sie also wieder hinübertragen. Wenn Sie die nötige Aufmerksamkeit einsetzen ...«
»Danke sehr,« sagte Lopo Pick, »was das anbelangt ...«
»Schwätzen Sie nicht soviel und machen Sie sich da vorn gefällig ein wenig dünn! Sie müssen sich nicht gerade meinen edelsten Teil aussuchen für Ihre Spaziergänge!«
Lopo Pick verstand. Und Kasparn fielen die Augen nach den ungewohnten Erlebnissen zu.
Lopo Pick nahm indes die Gegend in Augenschein, in die er verschlagen worden war, und dachte nach über die Vielgestaltigkeit seines Schicksals. Auf einmal –
Da wusselte die Maus Liddy heran. Die Körperwärme Kaspars lockte sie. Aber sie kannte auch seine freventlichen Gelüste nach springlebendigen Mäusen. Deshalb flüchtete sie, verhoffte, ruckte sich wieder heran und stellte dabei fest: Kaspar schlief. In diesem Fall ließ er sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Und überdies: rückwärts war er nicht sehr gefährlich. Da durfte man sich gern ein bischen an ihm wärmen.
Lopo Pick hatte für derartige Annäherungen ein ausgeprägtes Empfinden. »Gestatten Sie,« sagte er und hupfte ihr in den Pelz.
»Sie haben hier nichts verloren,« sagte Liddy, »bleiben Sie gefälligst, wo Sie hingehören!«
»Ich gehöre auf das Zigeunermädchen Carmen,« entgegnete Lopo Pick.
Liddy war sehr erstaunt; denn sie konnte den Zusammenhang der Dinge nicht finden. Lopo Pick aber verhielt sich noch stiller als ein Mäuschen. Das wurde ihm nicht schwer.
»Wo sind Sie denn?« fragte Liddy. Er schwieg. Wie diese Sache ausgehen sollte, wußte er zwar nicht; aber es gefiel ihm in dem seidenweichen Röckchen der Maus hundertmal besser als in dem groben Kittel Kaspars. Schon den Geruch des Dachses haßte er.
Ueber allem hatte Liddy wohl die nötige Vorsicht außer acht gelassen; denn Kaspar schlug ein paarmal mit dem Stummelschwanz, dann erhob er sich grunzend. »Ewige Störung!« brummte er und guckte sich verärgert um. Doch da war das Mäuslein samt seinem Mieter schon verschwunden.
Simmchen, die sich schlafen gelegt hatte, lauschte noch auf die Schritte Hubers draußen vor dem Hause und dachte an die hübsche Geschichte, die er ihr erzählt hatte, oder an den Morgenkaffee, den sie ihm kochen wollte. Dann nahm sie der Schlaf in den Arm und trug sie in das andere Land.
Aber sie war noch nicht ganz drüben, da hörte sie draußen reden. Deshalb tat sie den Vorhang ein wenig zurück. Die Nacht war stockfinster. Schade. Simmchen hätte so gerne gewußt, mit wem sich Herr Huber so angelegentlich und doch so gedämpft unterhielt.
Und in der Tat, das war eine fesselnde Begegnung. Seit fünf Jahren hatte er nicht Gelegenheit gehabt zu einem so ausgiebigen Beisammensein. Kaspar war es, der ganz ohne Scheu über den Anger herüberwechselte, als er seinen früheren Pflegevater gewahrte. Er rieb sein Gesicht in der Freude des Wiederfindens an Hubers Stiefelschaft, als wollte er sagen: »Siehst du, mein Freund, so laß ich mir die Sache gefallen! Ein Stelldichein um Mitternacht find ich durchaus am Platze. Ich bin nun einmal ein Nachtwandler, und du kannst doch nicht verlangen, daß ich deinetwegen meiner Natur zuwiderhandele.«
Es ist nicht anzunehmen, daß sich Huber den Gefühlsausdruck Kaspars also deutete. Aber im tiefsten fröhlich war er doch. Und in seiner Freude pochte er an Simmchens Fenster. »Du mußt gleich einmal herauskommen, Gevatterin!« sagte er. Er erklärte diesen Wunsche und die Begründung war so verlockend, daß sich Simmchen wieder ankleidete.
Natürlich kannte sie Kasparn schon. Aber auf eine Gelegenheit, in engere Beziehungen zu ihm zu treten, hatte sie vergeblich gewartet. Und dennoch: es lag ihr sehr daran. Denn in den Einsamkeiten des Waldes treibt das Menschenherz wunderliche Blüten der Sehnsucht. »Mit diesem Gesellen möcht ich mich gern ein bischen befreunden!« hatte Simmchen zuvor zum Jäger gesagt. Aber Huber hielt das für ausgeschlossen. Nun gewährte ihr Kaspar die Möglichkeit aus freien Stücken.
Und da Frauen ihre praktische Denkart bei jeder Gelegenheit betätigen, nahm Simmchen einen Apfel für Kaspar mit; denn es ging in diesem seltsamen Lande die Rede, die Liebe des Mannes führe durch den Magen.
Nun kam Simmchen heraus in die Mitternacht. Da war Huber schon gegen das Lagerfeuer geschritten und Kaspar neben ihm wie ein wohlerzogener Dachshund.
»Sieh einer an!« sagte Huber. »Kaspar, mein Freund, ich kenne dich nicht mehr!«
Kaspar setzte sich auf seine Keulen und guckte zu ihm empor. Das sah nicht sehr vergnügt aus. Simmchen dagegen war beglückt davon. Und sehr taktvoll benahm sie sich – vielleicht weil sie ihm nicht recht traute, sicherlich aber, weil sie ihn nicht vergrämen wollte. »Du bist ein ganz famoser Kerl,« sagte sie. »Möchtest du einen Apfel essen?«
Ihre Stimme klang vertrauenerweckend und ihre Bewegungen waren ruhig und ehrlich – Kaspar wußte das zu beurteilen. Er nahm den Apfel aber nicht aus ihrer Hand. Da legte sie ihn vor ihm auf den Rasen. Und Kaspar widerstand nicht länger. Er verzehrte ihn mit tiefem Behagen und sagte: hu gu gu. Das übersetzte sich Simmchen ganz richtig: »Ach bitte, gib mir noch einen! Ich habe so etwas seit meiner Kindheit nicht mehr genossen. Ausgezeichnet!«
Deshalb ging sie hin und holte noch zwei andere. Weil sie gemerkt hatte, daß Liddy, die Maus, sich daran gütlich getan, war sie um so freigebiger. Als er den dritten sich schmunzelnd einverleibt hatte, gestattete er ihr, ihm die Ohren zu krauen.
Damit hatte Frau Simmchen gewonnen. Zum Ueberfluß holte sie noch ein Stück Brot und ein paar lauwarme Pellkartoffeln. Auch das war gut zu essen. Dabei wärmelte das Lagerfeuer so traulich über ihn hin. Es war herrlich!
Und Simmchen wurde nicht aufdringlich, wiewohl er ihr sehr gewogen war. Aus gemessener Entfernung sagte sie zu ihm: »Siehst du, lieber Kaspar, dieses Vergnügen könntest du öfter haben. Möchtest du nicht ein wenig zugänglicher sein? Wir sind sehr nette Leute. Und wenn es dir gefällig ist, kannst du uns bald einmal besuchen.« Dann tupfte sie den Heger auf die Schulter, »Huber, ich hab's!« sagte sie. »Du bist immer nur am Tage zu ihm gekommen und hast ihn gestört, wenn er ein bischen geklöhnt hat. Ich will es einmal anders mit ihm machen; denn nicht wahr, Kaspar, du bist ein Nachttier, und wenn es finster ist, bist du bei Laune, gelt?«
Das war eine sehr gescheite Bemerkung. Huber faßte sich an die Stirn. »Natürlich!« sagte er. Kaspar freilich wußte sich die Reden Simmchens nicht mit Sicherheit zu deuten. Aber ihr Benehmen war sehr vertrauenerweckend. Andererseits: für heute hatte er genug, sagte hu gu gu und trollte sich langsam in die Büsche.
*
Ursula hatte den Vorgang um die nachmitternächtige Stunde mit heimlichem Groll beobachtet.
Am anderen Tage ließ sie sich nicht sehen. Sehr verwandelt war sie fortan – nicht etwa aus eifersüchtigen Regungen, sondern aus ihrer Natur heraus. Das Bedürfnis, allein zu sein, beherrschte sie wieder vollkommen. Sie begriff nicht, daß sie in den vergangenen Wochen an der nächtlichen Begleitung Kaspars hatte froh werden können. Sie begriff auch nicht, daß sie mit ihm über Tag um die Burgen oder im Mondschein auf dem Anger am Teich so verliebte Spiele gespielt hatte. Und als Kaspar sie einmal in ihrer Kemenate besuchte, war sie sehr karg. Daraus zog er seine Schlüsse.
»Ich sehe, du befindest dich wohl,« sagte er, »du weißt, im Frühjahr wirst du Kinder bekommen. Deshalb ist es am besten, du legst dich nun schlafen.«
»Hä,« entgegnete Ursula, »ich liebe derartige Bevormundungen nicht. Es gelüstet mich auch nicht nach deinen Besuchen. Es ist dir bekannt: ich schätze deine Eigenart nicht sehr. Du kannst dir ja mit Simmchen die Zeit vertreiben ...«
So war Ursula zu ihrem Regelmaß zurückgekehrt und ein Muster ihrer Gattung geworden. Davon, daß sie für Kaspars Neigungen zu den Menschen einmal freundliches Verständnis gezeigt hatte, wußte sie nichts mehr. Sie hielt diese Neigungen wieder für eine Verirrung seines Geistes, zum mindesten seines Geschmacks. Und auf die Unverfälschtheit ihrer Natur tat sie' sich soviel zugute, daß sie sich in ihrer Wertschätzung weit über ihn hinaushob.
Kaspar hatte für ihre Art respektvolles Verständnis. Sie bot äußerlich das Bild der Verkniffenheit, Eigensucht und Uebellaunigkeit – wie es sich für eine ordentliche Dachsenfrau gehört. Innerlich war sie von herrlichem Gleichmaß. Getrennt von ihr konnte Kaspar beruhigt das Leben nach seinem Wohlgefallen betreiben.
Weil die Nächte verhältnismäßig mild waren, so trottete er durch den finsteren verstürmten Novemberwald mit unergründlichem Behagen. Ein bischen Schlackerschnee machte ihm nicht das geringste. Freilich: knusperige Käfer und feiste Engerlinge fand er nicht mehr. Da aß er nur Wurzeln. Und weil sein Verhältnis zu den Bewohnern des Waldes freundlicher war, als es für einen Dachs die Regel ist, so verbrachte er auch diese verwilderten Wochen in annehmbarer Kurzweil. Ubald dem Starken begegnete er nicht selten. Der ließ sich aber nie in eine Unterhaltung mit ihm ein. Die jammervolle Gebundenheit seiner Sinne stand in wunderlichem Gegensatz zu seiner königlichen Erscheinung. »Er ist und bleibt ein Schwachkopf,« dachte Kaspar, und von Stund an würdigte er ihn keines Blickes mehr. Dagegen war er im Saatgarten gern mit Lutz, dem Igel, zusammen. »Sie,« sagte er in einer nebligen Novembernacht zu ihm, »ich habe Beziehungen zu Simmchen, der Köhlerfrau. Sie sind doch auch kein Bärbeiß – möchten Sie nicht von meiner Nachbarin Nutzen ziehen für die schlechte Jahreszeit? Wenn ich Ihnen gefällig sein kann ...«
»Hm,« antwortete der Igel, »ich bin neulich dort vorbeigegangen, doch – das ist zu weit für mich, lieber Herr Vetter! Ich habe keine Lust, umzuziehen. Mein Speicher ist gut versehen, und ich pflege über Winter nicht zu erwachen. Wenn ich nicht Ihre Gesellschaft schätzte, so läge ich schon fest auf dem Ohre. Aber ein Plauderstündchen mit Ihnen verlohnt sich auch jetzt noch.«
Auf dem Galgenberge war Kaspar fast unentbehrlich geworden. Brand ging in dieser Jahreszeit nicht mehr aus. Und weil Gisela mit nie ermüdender Kraft und dem Aufgebot all ihres Scharfsinns für ihn sorgte, so war sie oft nächtelang draußen im Revier. Sie dehnte ihre Pürschgänge bis in die entfernten Gehöfte aus.
»Merkwürdig,« sagte Brand zu Kaspar, »ich hab' in meinen alten Tagen eine starke Wandlung durchgemacht: ich bin wieder gesellig geworden! Mit meinesgleichen hab' ich freilich keinen Verkehr. Aber wie wäre es, wenn Sie auf den Galgenberg übersiedelten? Mein Haus ist sehr geräumig.«
Kaspar verfiel in tiefes Nachdenken. »Unmöglich!« sagte er dann. Gewiß ich kann mich infolge einer ungewöhnlichen Lebensführung von Kind an auch leichter in ungewöhnliche Lebensverhältnisse schicken. Aber so weit geht die Gemütlichkeit denn doch nicht!«
Von seinen Beziehungen zu Huber und Simmchen und von der Hege, die ihm die Menschen angedeihen ließen, schwieg er wohlweislich; denn das hätte ihm die Verachtung Brands zugezogen.
»Erzählen Sie ein Heldenstück aus Ihrem Leben!« forderte er den Fuchs in jähem Sprunge der Gedanken auf; denn was dieser Wildschütz an Gefahren überstanden, was er an Verschlagenheit geleistet und an Kämpfen ausgefochten hatte, das war fesselnd und rühmlich. Dazu war Brand ein gewandter Erzähler und seit seiner Erblindung von einer sonnigen Heiterkeit des Gemüts, wäre das nicht gewesen, so hätte er Kasparn schwerlich aufgefordert, die Burg mit ihm zu teilen.
»Ich werde Sie in diesem Winter öfter besuchen,« sagte Kaspar. Aber er begründete seine Absicht nicht. Er versprach das, weil er in der kalten Jahreszeit sich bei Simmchen zu atzen gedachte; und mit einem guten Mahl im Leibe konnte er dann wohl einmal herüberwechseln auf den Galgenberg.
Brand war sehr erfreut. Er sang das Lob Frau Giselas und hoffte, im Frühling – auch der Kurzweil wegen – eine reichliche Nachkommenschaft zu erzielen.
Kaspar trollte sich lächelnd des Wegs. Die Nacht war ungeheuer finster. Der Sturm pfiff über die Heide und schlug dumpf donnernd drüben in den Forst. In der Nähe des Saatgartens traf er Gisela. Sie trug einen jungen Haushahn, legte ihn ab und sagte: »Ich bin ärgerlich! Diese Köhlerfrau hat ihr Hühnerhaus ungeheuer klug und fest verwahrt. Wäre das nicht, so hätt' ich die Sache viel bequemer. Könnten Sie mir nicht mal einen Wink geben, lieber Herr Vetter, wenn ...«
»Ich kann gar nichts!« antwortete Kaspar. »Sie wissen, ich kümmere mich um derlei Dinge nicht. Uebrigens schlaf ich in dieser Zeit bis tief in die Nacht.«
»Menschendiener!« knirschte Gisela verächtlich, packte den Hahn und trabte mit erhobenem Fange weiter in die Nacht.
Es verstrichen Wochen, ehe Kaspar Simmchen wiedersah. Zwar: er hatte das Haus mitten in der Nacht oft umschritten; er hatte Simmchens Witterung auf der Stufe zur äußeren Tür mit Behagen entdeckt; er hatte am Türspalt geschnuppert und den warmen Duft der Küche eingesogen, der sich da hindurchdrängte und mancherlei Verheißungen trug – aber in so später Stunde schlief Simmchen. Kaspar mußte erst gründliche Erfahrungen sammeln über ihre Gewohnheiten. Das war nicht so leicht; durch die Zigeunernacht war er irre geworden.
Und dann kam knochenharter Frost. Den verschlief Kaspar. Dann wieder einmal das hohle Brausen föhnhaften Sturms. Davon erwachte er und steckte die Nase aus dem Bau. »Nicht uneben!« dachte er. Er trat heraus und schüttelte sich den Staub aus dem Rock. Aber er sah verdrießlich aus wie ein Waldwinkel im Nebel.
Ein Stück in die Schlucht hinein patschte er im schlackerigen Schnee. Es war keine Fährte getreten zum Baue Ursulas. Doch seine Nase verriet ihm: die Genossin freundlicher Tage war daheim.
Oben auf der Burg setzte er sich hin wie ein Wächter und ließ sich den Pelz vom Sturm ausblasen. Dabei merkte er: der Rock war ihm schon ein wenig weit geworden. Das machte ihn noch verdrießlicher. Durch ein sanftes »Gock giock« wurde er aufmerksam und bemerkte Stella und Perle, die Auerhennen. Es hatten sich noch zwei Genossinnen zu ihnen gesellt. So hockten sie in warmer Dickung und ästen Blattknospen, die ihnen eine junge Buche umsichtig von oben herabreichte.
Kaspar begab sich in ihre Nähe. Da trat Steppke weiter rückwärts in der Schlucht auf einen Hügel aus Schwemmsand. Er hatte Kasparn schon längst beobachtet. Nun kröchte er – wie es seine Pflicht war. Aber die Hennen wandten ihm erstaunt die Köpfe zu. »Na,« sagte Stella, »Kaspar von der Dachsburg tut uns doch nichts zu Leide!« Freilich, ein frischgelegtes Ei aß er sehr gern. Davon hatten sie gehört. Aber so weit waren sie einstweilen noch nicht. Und dann: man brauchte ihm die Eier ja nicht vor die Nase zu legen!
Auch Steppke war nicht allein. Mit etlichen diesjährigen Hähnen pflegte er um diese Zeit noch freundliche Geselligkeit. Daß er jetzt aus der Dickung trat und Alarm blies, geschah im Bewußtsein seines künftigen Wertes und der Stellung, die er sich im Vorfrühling hier zu erringen gedachte. Kaspar kümmerte sich nicht um ihn.
»Sie sehen gut aus!« sagte er zu den Hennen.
»Tja,« entgegnete Stella, »dafür stehen wir auch in vortrefflicher Hege. Nach allem, was wir gehört haben, hätten wir nicht gedacht, daß es sich im Winter so leicht leben läßt. Simmchen hält auf einen wohlbestellten Schütteplatz für uns. Wir finden da Bücheln und Hafer und Kartoffeln. Sogar Polenta, lieber Herr Nachbar – warme Polenta! Haben Sie eine Ahnung, wie gut das ist? Die paar Buchenknospen äsen wir nur als Nachtisch.«
Es läßt sich nicht behaupten, daß Kaspar sehr klug dreinschaute, als er das erfuhr. Simmchen – Schütteplatz – warme Polenta – Pellkartoffeln! Dabei konnte man freilich gut aussehen, trotz Hartfrost und Winterschnee!
Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Und er – er wohnte dicht dabei und all die Herrlichkeiten spielten sich ihm sozusagen an der Nase vorüber!
Zweifellos, er hatte an Simmchen ein stärkeres Anrecht! Verdrießlich wandte er das Gesicht, schüttelte sich noch einmal, daß ihm der Rock rauchte, und ging seiner Wege.
Aber diesmal fuhr er nicht zu Bau. Er wechselte durch den Zaun und setzte sich mitten auf den Anger. Dort hatte im Herbste das Lagerfeuer der Zigeuner gebrannt. Unverrückten Auges blickte er gegen Simmchens Küchenfenster. Unglaublich dumm und verholzt kam er sich vor! Ihm wurde der Kittel weit, und im Herbste hatte er doch so aussichtsreiche Beziehungen zu Simmchen angeknüpft. Nicht zu sagen!
Sehr ungemütlich war es hier draußen! In der Drachenschlucht lebte sich's dagegen wie in einem wohlumhegten Gehöft. Und seine Wohnung in dieser Schlucht – war das nicht eine Erfindung Hubers?
Kaspar ärgerte sich über sich selber. Die Menschen machten ihm alles so mundgerecht. Sie verfolgten ihn geradezu mit ihrer Liebe – und dennoch: er konnte seine Natur nicht völlig besiegen!
»Wenn ich nicht so einfältig wäre, könnte ich jetzt einmal zu Simmchen hineingehen,« dachte er. Aber – er überwand sich nicht! Es wurde ihm naß und kühl unter dem Sitz; und wie ein Stockholz blieb er an seinem Platz!
Endlich entdeckte ihn Simmchen. Sie öffnete das Fenster und rief beglückt seinen Namen. Dabei strahlte ihr junges frisches Gesicht – es war, als finde der Himmel die verlorene Sonne wieder!
Drei Wochen hatte Kaspar nichts gegessen. Das wurde zuletzt ausschlaggebend. Nachdenklich erhob er sich auf alle Viere und begann seine Vorderpartie zu wiegen. Das hatte Simmchen noch gar nicht gesehen. Sie trat in die Haustür und fragte ihn, ob er nicht hineinkommen wolle.
Das war eine Zumutung! Und dennoch – er setzte sich in Gang – wie eine Lokomotive, die hundert Achsen zu Berge zu schleppen hat. Genau so schwer wogen seine Bedenken. Aber stumpfsinnig oder gar niederträchtig (wie Ursula und Gisela die Menschen fanden) konnte Kaspar diese Frau mit den lachenden Augen unmöglich nennen. Er betrachtete sie noch eine Weile. Dann sagte er: »Es ist mir ganz egal – mag kommen, was will!« und schritt ihr entgegen.
Sehr langsam ging das. In gemessener Entfernung von ihr blieb er stehen und faßte sie scharf ins Auge.
»Du siehst verknittert aus, mein Freund!« sagte sie. »Warum hast du mich nicht schon längst einmal besucht?«
Viel Mühe gab sie sich mit ihm. Aber es dauerte eine halbe Stunde, ehe er die schwere Fracht seiner Bedenken hinwarf und über die Stufe ins Haus und in die Küche trat.
Da war zunächst Flöckchen. Die hauchte ihn ungebührlich an. Wäre er nicht ein wenig ängstlich gewesen, so hätte er die Kleine einfach übersehen. So aber sagte er zu ihr: »Wir kennen uns. Sie haben mir einmal den Ausländer Lopo Pick in den Pelz gesetzt. Haben Sie wieder etwas von ihm gehört?«
Es war eine gute Gelegenheit zur Anknüpfung eines gehaltvollen Gesprächs.
»Lopo Pick,« sagte die Katze, »jawohl, Lopo Pick ist noch hier. Manchmal hab ich ihn, manchmal wohnt er in der Polsterbank, manchmal in des Köhlers Filzschuhen, am meisten aber liebt er Simmchen ...«
Kaspar konnte nicht weiter hinhören, denn Simmchen setzte ihm eine Blechschüssel voll der schönsten Dinge vor: eine Suppe, in der Polentastücke schwammen, gekochte Erbsen mit Fleischresten, Apfelschnitzen ... es schmeckte nach hundert Dingen, und Kaspar prüfte jede Schattierung sorglich mit der Zunge. Sehr wohltätig war das. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr warm gegessen. Er schleckte die Schüssel aus und wandte sich zum Gehen. Simmchen hielt ihn nicht; denn es lag ihr an seinem Wiederkommen.
Unangenehm empfand nur Liddy den Gast. Trotz der Katze, die ja noch sehr jung war, hatte sie all die Zeit her sich ein gutes Leben gemacht. Wenn Flöckchen auf der Polsterbank schnurrte und Simmchen nicht in der Küche war, konnte sie sogar auf dem Tische spazieren gehen und im Speiseschrank. Aber die Witterung Kaspars brachte sie von Sinnen.
Während seiner Anwesenheit hatte sie sich hinter den dicken Holzfuß des Spindes gedrückt. Warum sie da hervorsprang, das läßt sich nur begründen mit ihrer kopflosen Furcht. Vielleicht schätzte sie auch Kaspars Trägheit und Schwerbeweglichkeit falsch ein. Kurz: der Sprung ward ihr zum Verhängnis. Auf dem Gange zur Tür fing er sie und – solch ein Glück hatte Kaspar –: Lopo Pick, der wieder einmal eine Reise unternahm und sie dazu als Fahrzeug benützte, wollte gerade die Gelegenheit wahrnehmen und auf Simmchen hinüberwechseln, da schlug sich die purpurne Finsternis über ihn zusammen! Hätte er Simmchen noch erreicht, so wäre Kaspar sicherlich in den Verdacht gekommen, den Fremdling hier eingeschmuggelt zu haben. So aber kraute Simmchen ihm liebevoll die Ohren und fragte ihn nach dem Befinden seiner Frau.
Kaspar sagte hu gu gu. Das hieß in diesem Fall: »Und morgen auf Wiedersehen!«
Sehr befriedigt ging er von hinnen. Er war ein anständiger Charakter. Und in diesem Augenblick befand er sich in einer Art Begeisterung.
Beides erklärte vollkommen, daß er sich nach dem Einverleibungsfeste nicht selbstsüchtig aufs Ohr legte. Er trabte zur hinteren Burg.
»Ursula,« sagte er, »Ursula!« und steckte ihr seine Nase sanft unter das Kinn. Sie war nicht leicht zu wecken. Aber als sie ihn schlaftrunken erkannt hatte, versuchte sie, ihm schnarchend den tiefsten Schlummer vorzutäuschen.
Das machte sie recht geschickt. Jedennoch: sie war Kasparn zuletzt nach keiner Seite hin gewachsen. Und daß sie die Lider krampfhaft zusammenkniff, war nicht einmal besonders listig.
»Ursula!«
»Es ist unerhört!« rief sie plötzlich, »welch eine Rücksichtslosigkeit! Oh, wie hart bin ich mit meinem Manne gestraft!«
»Hör mal zu, Ursula!« sagte Kaspar. »Ich habe nämlich etwas Wichtiges mit dir zu reden ...« Na, und nun gab er ihr eine blendende Darstellung der Kochkunst und Liebenswürdigkeit, die ihn im Köhlerhause beglückt hatte. Er wünschte im Hinblick auf kommende Ereignisses daß auch Ursula an den Mahlzeiten teilnehmen sollte. »Simmchen hat sich sehr angelegentlich nach dir erkundigt.«
»Simmchen hin – Simmchen her!« schalt Ursula. »Du bist und bleibst ein Narr! Bildest du dir ein, daß ich deine Verrücktheiten mitmache?«
Das war deutlich. Kaspar schupfte die Schultern und verließ ihre Wohnung.
Sehr nachdenklich wechselte er hinüber zur vorderen Burg. Die Entrüstung Ursulas war tief und ehrlich gewesen. Und leichtsinnig war Kaspar ganz und gar nicht. Er ging also ernstlich mit sich zu Rate. Aber so gründlich er alles bedachte – er hatte keine Veranlassung, sich einen Narren zu nennen und sich gram zu werden. Warum sollte er den einmal betretenen Weg verlassen?
Nun fiel ein Schlummer über ihn – köstlicher hatte er noch nie geschlafen, als nach dieser warmen Mahlzeit. Und Simmchen bildete fortan den Mittelpunkt in seinem Dasein.
Zu allem kam: die Wärmeverhältnisse im Köhlerhause waren auch in den kältesten Tagen geradezu belebend. In einer sehr harten Frostnacht (sie war so kalt, daß Kaspar das Gefühl hatte, die Nase friere ihm zu) in einer so harten Nacht breitete ihm Simmchen fürsorglich eine gegerbte Hirschhaut neben den Herd. Kaspar nahm das Anerbieten mit schweigender Dankbarkeit an. In keinem Winkel seines Herzens hockte fortan ein Mißtrauen gegen Simmchen. Zwei Tage verschlief er in der Küche.
So fand er das Leben, das er in diesem Winter führte, kurzweilig und bekömmlich. Nie war er so gesund, nie so zufrieden, so weltfreudig und vernünftig gewesen. Und das mußte man Simmchen lassen: sie wußte diesen Gast aus dem anderen Lande mit großem Takte zu behandeln. Das verhalf ihr bei ihm immer zum Erfolge.
Es war ihr natürlich nicht entgangen, daß sich allerlei kleine und kleinste Geschöpfe seinen Pelzrock als Wohnstatt erwählt hatten. Und siehe, eines Tages staubte sie ihn mit Insektenpulver ein! Aus einem Gummibällchen, in dem ein Holzrohr war, pustete sie ihm das gelbe Zeug an. Da hättet ihr Kasparn sehen sollen! So über die Brillengläser hatte er nicht Gisela und nicht Ursula angeschaut, als sie für ihn noch das Mädchen aus der Fremde war.
Er nieste! »Abscheuliches Zeug!« dachte er und machte einige sehr komische Drehungen um seine Querachse.
Das war für Simmchen belustigend. Aber sein Vertrauen zu ihr war unbegrenzt. Und erst als sie selbst diese Ueberzeugung hatte, rückte sie dem Gesindel in seinem Rocke zu Leibe. Sie legte ihm, damit er stillhielt, ein paar Möhren vor. Die aß er besonders gern.
Hätte sich ihr Kaspar so weitgehend verständlich machen können, so hätte er gesagt: »Simmchen, Simmchen, du machst dir viel Sorge und Mühe! Sich mal, die kleinen Kerle sind wirklich nicht so lästig, wie du dir das vorstellst. Ach so, an Lopo Pick denkst du, der dich manchmal sehr gepeinigt hat!«
Simmchen verstand ihn, auch ohne daß er Worte machte.
»Ja, mein Lieber,« sagte sie, »in diesem Falle kommt die Rücksicht auf dich und dein Wohlbefinden erst in zweiter Linie. Wenn du bei mir zu Gaste sein willst, so mußt du ein bischen auf dich halten, verstehst du. Und weil du es damit nicht allzu genau nimmst, muß ich dir unter die Arme greifen. Du hast nämlich auch Zecken, alter Freund!«
»Das macht fast gar nichts!« antwortete Kaspar mit einem beredten Blick.
Am liebsten hätte Simmchen den brummigen Liebling in ein Waschfaß gesteckt und ihn mit Teerseife, Salmiak und einem Wurzelschrupper gehörig bearbeitet. Das erzählte sie ihm auch lachend. Allein, sein menschlicher Wortschatz reichte bis zu so verdächtigen Dingen nicht. Und – wie gesagt – Simmchen eroberte sich sein Herz stückweis. Solch einen Sturmangriff hätte er wahrscheinlich mißverstanden.
Aber – wunderlich spielt das Schicksal, auch draußen in den grünen Wäldern! Im März knüpfte Simmchen Beziehungen an, die von beiden Seiten mit keineswegs alltäglicher Leidenschaft gepflegt wurden. Und Kaspar sah sich plötzlich kaltgestellt. Ueberhaupt: dies Frühjahr war eine ereignisreiche Zeit in seinem Leben.
Die Natur erwachte schon im Februar nach Wochen kalter Ungebärdigkeit. Und gleich klingelte es an allen Ecken und Enden recht lenzhaft. Im alten Laube gingen die blauen Sterne der Leberblümchen auf. Buschwindröschen tasteten sich im durchsonnten Vorwald empor. Die Schwänzchen an den Haselbüschen wackelten. Und nicht lange, so rauchten die Wachholdersäulen gelbe Staubwolken, wenn sich der goldene Märzwind hineinwarf.
Nun, derlei Erscheinungen fesselten Kasparn nicht so sehr. Aber die Ursache, nämlich das lauschige Wärmeln des jungen Jahres, machte sein Herz froh.
Er hielt es für natürlich, daß Frau Simmchen in dieser Zeit der erwachenden Wunder für ihn mehr und mehr in den Hintergrund trat. Seine Neigung zu ihr hatte selbstsüchtige Gründe gehabt. Sie hatte ihre Schuldigkeit während des Winters getan. Und wenn das Jahr wieder verwelkte, das nun aufblühte, wollte er sich ihrer von neuem freundlich erinnern.
Frauenliebe hat starke Anpassungskraft. Sie ist in erster Linie Gegenliebe. Darum: wenn die Sonne, die das Herz der Frau belebt, nicht mehr mit schöpferischer Macht hineinscheint, so welken seine Blüten sachte dahin, und es wird Herbst oder gar Winter.
Man darf aber weder gegen Kaspar noch gegen Simmchen ungerecht sein. Er hatte sie überhaupt nicht so sehr angeschienen. Und wenn sie sich seine Liebe gleichwohl verdienen wollte – nun, so war ihr das über gewisse Grenzen hinaus einfach nicht gelungen. Aber in bestem Gedenken stand sie doch bei ihm. Das wurde durch die neue Bekanntschaft auch nicht getrübt.
Diese Bekanntschaft hieß – Steppke.
Das war eine ganz andere Sache; denn die ganze Angelegenheit hatte einen stark erotischen Einschlag, wenigstens auf Steppkes Seite. Jawohl.
Sehr merkwürdig war es, wie sich das entspann. Steppke hatte sich in der kalten Zeit scheu und mißtrauisch gegen Simmchen gezeigt, recht als ein Fremdling im Menschenlande. Auf dem Schütteplatz in der Nähe ihres Hauses durfte sie ihn nur durch den Vorhang hinter dem Küchenfenster belauschen. Die Hennen hatten viel mehr Zutrauen. Kunststück! Steppke wußte aus der Zeit, da er noch mit Tuhtewohl in leidlichem Einverständnis lebte: alle Auerhähne haben in dem Menschen ihren niederträchtigsten Feind; die Hennen nur läßt er geruhig ihre Wege ziehen. Das war ihm auch von seiner Mutter ins Herz gehämmert worden.
Aber nun kam die Hahnenbalz. Steppke war ein Mann geworden. Steppke hatte schon in den milden Februartagen alle seines Geschlechts abgekämpft, mit denen er den Winter über in gemütlicher Geselligkeit unter dem schirmenden Kleinholz zusammengewesen war. Jetzt dichtete er auf der breiten Kiefer am Anger vor dem Köhlerhause sein Buch der Lieder. Das bestand aus kurzen, leidenschaftlichen Gesängen. Sehr schön. »Der erste Schlag« hieß das einleitende Gedicht. Es lautete: Töd töd töd töd töd klack! Das wurde in etlichen Wiederholungen und verschiedenen Klangstärken vorgetragen. Dann folgte ein fabelhaftes Wetzen, Schleifen, Einspielen: Heide heide heide heide heiterei. Manchmal erweiterte er das und sang: Pülopp, pülopp, pülopp, klikop. Das war dann besonders schön und aufregend. So schön, daß seine vier Damen sich ganz in seiner Nähe einschwangen; denn jede hoffte, daß sie die erste sei, der er in Liebe huldigen würde.
Steppkes Hochgesang trillerte sich bis hinein in Simmchens Schlafgemach. Sie erwachte, lauschte und gab ihrem Bettgenossen einen herzhaften Stoß. Allzu seltsam klang dieser Ruf in die scheue Dämmerung des Märzmorgens.
»Das ist kein anderer als Steppke!« stellte der Köhler fest. Für Simmchen war das ganz neu. Dann taten sie – für Fernerstehende nicht eben vorschriftsmäßig bekleidet – das Küchenfenster ein wenig auf. Steppke spielte gerade wieder ein schönes Stück.
Herrlich war das anzuhören für die Ohren dieser Menschen, denen der Wald Heimat war und Leben und der Frühlingswald ein Buch der tausend Offenbarungen.
Und siehe! Auf der großen Kiefer, die ihre Arme so trutzig breitete, als wollte sie den Kohlplatz ans Herz schließen – auf der großen Kiefer erkannten sie Steppke, den Sänger! Wie er auf dem Föhrenaste schleifte. Wie er den Stoß fächerte. Wie er den Kopf gegen die Stelle des Himmels richtete, an der die Sonne heraufziehen mußte zu dem weiten Ritt um die Welt. Wie er sich tänzelnd drehte. Wie er die Federn sträubte und die Schwingen senkte.
Es war atemberaubend schön. Simmchens Herz schlug dabei wie eine Morgenglocke!
Freilich, der da aufspielte, war nicht Beethoven und nicht Mozart, sondern es war eben Steppke, der Urhahn. Einem ungesprochenen, einem seligen Geheimnis des Bergwalds lieh er den ersten Laut! Dem Märchen des Frühlings, das Wahrheit werden wollte, gab er die Ueberschrift! Für einen Traum der Natur, der vor dem Erwachen herlief, ersann er das klingende Bild!
Simmchen warf ihrem Manne die Arme um den Hals und küßte ihn.
Steppke hatte keine Ahnung von dieser Wirkung seines Liedes. Aber Kaspar, der gerade vom Galgenberge kam, lauschte ...
Bei Brands auf dem Galgenberge hatte es eine Gasterei gegeben; denn Brand verlebte mit Gisela die Flitterwochen und hatte sich an seine Heldenbrust geschlagen, als stünde er im ersten Liebeslenz.
Um diese Stunde wechselte ein Stück weiter rückwärts Frau Ursula gegen ihren Bau. Sie kehrte von einem Reviergang heim und war sehr geschäftig.
Das fiel Kasparn auf. Ursula hatte sich um ein Viertelstündchen verspätet. Sie kannte die Gepflogenheiten Kaspars ganz genau. Um die Zeit der allerletzten Sterne war er stets daheim. Draußen im Revier hatte sie Kaspar nicht angetroffen. Er hatte auch nicht bemerkt, daß sie in Gegenden, die er zu besuchen pflegte, gestochen oder gewurzelt hatte. Also war sie ihm aus dem Wege gegangen. Sehr auffällig war das.
Er folgte ihr; denn wenn der Auerhahn seine Harfe schlug, dann war auch das nicht unmöglich: vielleicht war Kaspar Vater geworden.
Diese Aussicht fesselte seine Gedanken. Und siehe da – als er vor das Burgtor kam, vertrat sie ihm den Eingang und wetzte mit den Zähnen, als wollte sie ihn in Stücke schneiden. Daraus erkannte er: seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht.
»Einfältiges Frauenzimmer!« brummelte er. »Ich hätte erwartet, daß du mich von dem freudigen Ereignis unterrichtest.«
»Sollte mir einfallen!« antwortete Ursula mit grimmigem Gesicht. Damit hielt sie sich streng an die Ueberlieferung ihrer Sippe: dem Vater wird so etwas nach Kräften verheimlicht! »Es ist gar keine Seltenheit, daß er seine Kinder mit Stumpf und Stiel auffrißt, wenn er in den ersten Tagen freien Zutritt hat.« Also hatte die Mutter Ursulas sie gelehrt.
Kaspar war zu gesittet, sich den Eintritt zu erzwingen. Zu allem war er ein Feind von Aufregungen. Er trollte sich seines Wegs.
Aber in der nächsten Nacht überlistete er sie doch. Sie äste und weidete in dieser Zeit sehr ausgiebig. Und als sie fort war, schlich er sich in ihre Burg.
Er hatte alle Veranlassung, mit Ursula zufrieden zu sein. Fünf Kinder hatte sie ihm geschenkt, drei Mädel und zwei Buben. Groß und dick waren sie und lagen mit sattem Behagen in ihrem wohlbereiteten Bette. Mit sanftem Quieken begrüßten sie ihn; denn sie dachten, es sei Mama.
Das belustigte ihn sehr. Er wünschte, es wäre schon Mitte April; denn von da an wollte auch er sich ihrer Erziehung widmen und sie durch Spiel und Kurzweil unterhalten.
Als er wieder gegen den Zaun schritt, sah er Herrn Huber draußen stehen.
»Nun, Kaspar?« fragte der, »wie ist das mit euch – habt ihr etwas Kleines bekommen?«
Kaspar ward unangenehm. Er trommelte in seinem Bauche so ungebärdig – Huber konnte nicht im Zweifel sein über die Ursache dieses Ingrimms. Es war die Sorge um die Nachkommenschaft. Am schärfsten nahm Kaspar den Hund Bergmann an.
»Laß dir nicht einfallen, noch einen Schritt vorwärts zu tun,« sagte er, »oder ich schärfe dir die Schwarte ab!«
Bergmann kniff die Rute ein und drückte sich zur Seite. Er hatte festgestellt: Kaspar roch nach Kleinkinderstube. Deshalb reizte er ihn nicht weiter. Aber wegen der Drohung, ihm die Schwarte abzuschärfen, sah er ihn kühl lächelnd an. Derartige Ausdrücke konnte man nur finden bei solch einem Halbwilden, der den Maßstab für die kultivierte Umwelt von sich selber nahm.
»Schwarte abschärfen!« knurrte Bergmann. »Schafskopf!«
Ursula hatte diesem freundlichen Zwiegespräch gelauscht. Das war wieder einmal einer jener erfreulichen Züge, die ihr Verhältnis zu Kasparn zuletzt doch angenehm gestalteten.
Sie lobte ihn nicht, aber sie sagte: »In ein paar Wochen kannst du dir die Kleinen mal ansehen, Dachs. Es ist eine allerliebste Gesellschaft.«
»Ja, sehr nett sind sie,« sagte Kaspar, »ich habe sie mir nämlich schon betrachtet.«
Da rauchte der Zorn aus Ursula. »Kümmre dich um sonst etwas!« schrie sie. »kein Wunder, daß sie noch nicht sehen können – du hast sie mit deinem giftigen Odem angehaucht.«
»Einfältiges Frauenzimmer!« sagte Kaspar und ging seiner Wege.
Anfangs trieb Steppke seine Liebesspiele in dem durchsonnten Vorholz am Gehege. Oder er war mit den Hennen auf dem Sandplatz an der Burg. Da war die Freundschaft mit Simmchen schon so weit gediehen, daß sie nur seinen Namen zu rufen brauchte – sofort ritt er aus der Schlucht ab und ratterte ihr entgegen.
Steppke wußte genau, wenn der Köhler nicht daheim war. Wie ein Hausfreund, der gegen den Ehemann einige Bedenken hat, kannte er die Stunden der Abwesenheit dieses Menschen. Wenn er Simmchen aber allein wußte, dann schwang er sich unbekümmert auf der Stufe zu ihrer Tür ein. Er betrat sogar das Haus. Die besten Bissen nahm er aus ihrer Hand.
Kaspar beobachtete das mit großem Erstaunen. Einmal kam es ihm vor, als locke den Auerhahn nicht die warme Polenta, die Simmchen immer für ihn bereit hatte, sondern ...
Nun, Kaspar war versucht, diesen Gedanken herzlich dumm zu nennen. Aber er war verwünscht gescheit. Kaum glaublich!
Eines Tages nämlich hatte sich Simmchen einen Stuhl vor die Tür ihrer Hütte gestellt. Die ersten Schmetterlinge blühten in der Luft. Aus dem Grase stieg der Duft von Veilchen. Es war schön. Die Buchen falteten ihre Knospen auf. Die Birken legten ihre bräutlichen Schleier um. Und der goldene Wind blies im Spiel den jungen Kieferköpfen die Zipfelmützen aus brauner Seide herab, die sie sich im Winter über die Ohren gezogen hatten. Es roch nach Harz. Und fernhin jubelte der Rauchen über das Steingeröll »Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?«
Um diese Mittagsstunde erklang wieder einmal der Ruf Simmchens: »Steppke, wo bist du?«
Er staubte sich mit tiefem Behagen. Aber der Lockung Simmchens konnte er nicht widerstehen. Purr purr! schwang er sich aus der Schlucht. Und als Kaspar neugierig hinaustrabte in seine Deckung am Anger, siehe, da tanzte Freund Steppke auf dem grünen Grunde zu Simmchens Füßen einen Liebesreigen! Der galt ganz allein dieser Menschenfrau. Sieh doch, sieh! Er knappte, schleifte, trippelte ... Mit allem, was er gelernt hatte, huldigte er ihr und umspielte sie mit einer Hingabe – Kaspar konnte füglich bezweifeln, ob dieser jugendliche Liebhaber je einer seiner gefiederten Frauen so schön getan hatte!
Simmchen strahlte ihn mit ihren Frühlingsaugen an. »Ei!« lobte sie ihn, »was bist du für ein prächtiger Kerl!«
Und dann – man denke! – dann schwang er sich ihr aufs Knie. Selbst Simmchen erschrak ein bischen über diese Kühnheit. Er duckte sich. Stieß wunderliche Liebeslaute hervor. Ließ die Rosen um seine Lichter blühen. Den grünen Schild in der Sonne funkeln. Und fächerte den schimmernden Stoß breit über Simmchens Knie. Litt ihre warme Hand unter seinen Flügeln. Und alles schaffte ihm solch ein Glück, daß er sich ganz vergessen hineindrückte in ihren Schoß.
Dieses Verhalten Steppkes fand Kaspar sehr sonderbar. Aber es war Ursula gegenüber Wasser auf seine Mühle. So schnell er konnte, lief er zu seiner Frau.
»Urselchen!« rief er, »das mußt du dir ansehen! Man kann nie genug lernen!«
Ursula folgte ihm und betrachtete sich das Spiel in der Sonne. Frauen sehen so etwas immer gern. Auch Ursula ward davon gefesselt, wie zutraulich dieser wilde und vorsichtige Vogel sich von Simmchen Kopf und Rücken streicheln ließ.
»Nun, was sagst du dazu?« fragte Kaspar.
Sie verzog das Gesicht verächtlich. »Du willst deine eigene Narrheit entschuldigen,« begann sie nach einer Weile. »Aber damit hast du bei mir kein Glück! Erstens: ich finde das wider die Natur. Und zweitens: dieser Steppke ist ein Galan und Abenteurer! Laß dir so etwas ja nicht einfallen! Ich würde dir den Standpunkt gehörig klarmachen.«
»Er ist ein Sänger!« sagte Kaspar beschwingten Gemüts. »Du mußt bedenken: Auerhahns leben nicht in der Einehe wie wir, und dennoch: seine vier Frauen lassen nichts auf ihn kommen. Er verteidigt sie tapfer gegen jeden Eindringling und ist auf diesem Platze jedenfalls Alleinherrscher.«
»Dachs,« antwortete Ursula, »du weißt, ich liebe nicht, wenn du dich um die Angelegenheiten anderer kümmerst! Dieser Minnesänger hat dir in keiner Beziehung vorbildlich zu sein. Ich erkläre mir sein Verhalten so: die Liebe hat ihm den Verstand verwirrt. Natürlich hat Simmchen davon keine Ahnung. Sie hält sein Gebaren wohl für Dankbarkeit. Wir sehen darin natürlich weiter: denn wir sind im Besitz schärferer Sinne und eines gesünderen Instinkts. Ich jedenfalls bin für derartige Entgleisungen nicht zu haben. Und wenn du dich deiner Familie nicht verleiden willst, so achte den Menschen gegenüber auf ein würdiges Benehmen.«
Damit schlug sie sich in die Büsche. Kaspar hatte Zeit, über ihre Worte und über Steppkes Minnefahrt ins Menschenland nachzudenken.
Ursula war eine ausgezeichnete Mutter. Weil die Kleinen nun schon sehen konnten und in kindlicher Weise zu spielen begannen, hatte sie neben der Kemenate einen Raum geschaffen, in dem die Speiseabfälle und alles untergebracht wurde, was die Wohnung unsauber macht. Eine vortreffliche Einrichtung – vor allem in gesundheitlicher Hinsicht, und von großem erziehlichem Werte.
Die Kinder kannten nun auch ihren Vater von seinen nächtlichen Besuchen her. Sie wußten, daß die Nacht der unterhaltsamere Teil des Tages sei. Denn wenn es draußen hell war, mußten sie schlafen.
Um diese Zeit machten die Auerhennen ihre Nester und Gelege. Herr Huber fand sich deshalb fast täglich ein. Es dauerte nicht lange, so wußte er alle Brutstellen. Der Hund Bergmann durfte ihm beim Suchen aber nicht behilflich sein. Und um Stellas Brutplatz baute Huber fürsorglich einen Zaun aus Drahtgeflecht und Dörnicht. Stella betrachtete sich dies Bauwerk nach seinem Fortgange sehr aufmerksam und fand es umsichtig von Huber.
Natürlich behauptete Ursula wieder, das sei gegen die Natur. Sie war ärgerlich, daß sich dieser Mensch in Angelegenheiten mischte, die gar nicht die seinen waren. Und als Huber die beiden Bussarde mit der Kugel herunterholte, weil die den Gesperren des Auerwildes gefährlich waren, beschwerte sie sich Kasparn gegenüber wegen der Störung. »Jawohl,« schloß sie ihre Rede, »deshalb trage ich mich mit dem Gedanken, auszuziehen! Ich sehe nicht ein, warum ich ewig unter derartigen Belästigungen leiden soll.«
»Meinetwegen zieh aus!« antwortete Kaspar. »Bildest du dir etwa ein, ich gebe dir gute Worte? Du bist von einer geradezu verbotenen Kurzsichtigkeit. An allem ist deine verkniffene Natur schuld.«
»Die Kinder nehme ich natürlich mit« stellte ihm Ursula höhnisch in Aussicht.
»Das werden wir ja sehen!« sagte er gleichmütig. Denn er verließ sich auf sein Ansehen und seine Beliebtheit bei seiner Nachkommenschaft. Die Freundlichkeit, mit der er den Kleinen begegnete, hatte ihm ihre Herzen gar sehr gewonnen. Mama war ungeheuer streng. Papa dagegen verzog sie in jeder Weise. Es war schon vorgekommen, daß sie in seiner Burg Hilfe suchten vor der unerbittlichen Härte Ursulas.
Ursulas Entrüstung über Kaspars Erziehungsmethoden ist begreiflich. Andererseits: »Wir leben hier unter ungewöhnlichen Verhältnissen,« behauptete Kaspar, »und dieser Tatsache mußt du Rechnung tragen.«
»Muß! Muß!« höhnte Ursula, »Warum muß ich? Weil du ein Narr bist? Ein Narr macht mehrere, Freund!« zeterte sie. »Und ich will mich und meine Kinder vor den Verirrungen ihres Vaters durchaus bewahren.«
Der Mai kam mit Sang und Spiel ins Revier. Es war, als hätte jedes Blatt eine Stimme. Die Auerhennen führten ihre Gesperre zur Kette in der Drachenschlucht herum. Die Dachsbuben und -mädel versuchten schon Kopfstürze vor ihrem Bau. Lutz der Igel kam mit seiner Familie zu Besuch. Es war ein herrliches Leben.
Namentlich die kleinen Igel erregten Wohlgefallen bei Kasparn. Natürlich auch bei Frau Simmchen. Einen kleinen Jungen, den Ludwig, handelte sie dem Elternpaare gegen eine Schale frischer Ziegenmilch ab.
Und am nächsten Abend – es schummerte so heimlich in die Schlucht – o weh! Am nächsten Abend raubte Herr Huber Kasparn von seinen Kindern zwei Buben und zwei Mädel. Jawohl.
Erst sah er mit Simmchen ihren Spielen zu. Wer hätte da so schlimme Absichten erraten können? Die Kleinen waren auf die Verantwortung Kaspars hin, sehr zutraulich zu den Menschen geworden. Namentlich wenn Mama nicht zu Hause war – wie jetzt.
Auf einmal warf Huber ein Schlagnetz über sie, als sie sich vergnügt auf einem Haufen balgten! Nur Undinen gab er die Freiheit wieder. Die anderen vier aber steckte er in eine Kiste und erzählte Simmchen: zwei kämen in eine Oberförsterei und zwei in den Zoologischen Garten nach Frankfurt.
Was diese Sache anbelangte, so verstand Kaspar keinen Spaß. Undine war nach ihrer Freilassung entsetzt zu Baue gefahren. Und Kaspar zeigte Huber eklig die Zähne.
»Kaspar, mein Freund,« sagte der, »du mußt auch in diesem Punkte Vernunft annehmen! Endlich würdet ihr euch ja doch trennen; denn du als Vater und Ursula als Mutter, ihr würdet niemals leiden, daß eure Kinder mit euch die Wohnung teilen. Aber nu paß mal auf! Ich habe nämlich noch eine kleine Ueberraschung für dich!«
Dabei öffnete Herr Huber eine Kiste, der Lehrling kippte sie um und – ein junger Dachs spazierte heraus! Ein Fremdling im Lande. Er hieß Ulrich. Zuerst gähnte er ganz verwundert. Dann schob ihn Huber in das Einfahrtsrohr zur Frauenburg, in dem vor ein paar Minuten Undine verschwunden war. Ulrich sollte durchaus Gesellschaft haben. Die Menschen aber machten sich alsbald aus dem Staube.
Kaspar überdachte das schreckliche Ereignis. Peinlich, höchst peinlich fand er es; denn, wenn sich Huber einbildete, er könne mit dem jungen Fremdling die Wunde zukleben, die er Ursula geschlagen hatte, so irrte er sich sehr. Kaspar kannte seine Frau besser. Deshalb trommelte er gefährlich und folgte Hubern und dem Lehrlinge. Die fuhren die Kiste mit den vier gefangenen Kindern auf einem Schiebewäglein von hinnen.
Lange, lange trottete er ihnen knurrend zur Seite. Einmal hakte er sich sogar mit den Fangzähnen in Hubers Hosenbein fest und wollte ihn am Weitergehen verhindern.
Aber Huber wies ihn scharf zurecht und drohte ihm mit der Hundepeitsche. Arg verbittert kehrte Kaspar um. Und im Innersten zerschmettert traf er daheim ein.
Jedes Wort, das ihm Ursula mit Bezug auf die Menschen gesagt hatte, brannte ihn nun wie Feuer. Es war ihm, als sollte er den Glauben an Welt und Menschheit verlieren. Und auch den Glauben an sich. So zerknirscht war er. Sollte er denn seine ganze Weisheit als einen schrecklichen Irrtum erklären?
In tiefer Erregung wandelte Kaspar innerhalb des Faunes hin und her. Häusliche Szenen suchte er nach Möglichkeit zu vermeiden – das lag an seiner Besonderheit. »Es ist am besten, ich rufe Undinen und den fremden Buben,« dachte er, »und verklüfte mich für ein paar Tage anderswo.« Der Galgenberg fiel ihm ein. Oder die Wildkatze, wo er einen verlassenen Fuchsbau wußte.
Er kam aber nicht zur Ausführung dieses Planes; denn gerade wechselte Ursula durch die Schlüpfe. Sie sah an ihm vorüber. Und er hatte nicht das Bedürfnis, sie in ein Gespräch zu ziehen.
Zwischen Dickung und Felswand schlich er in die Nähe ihrer Burg, um sie zu beobachten. Es war fast Nacht geworden. Die bleiche Mondsichel hoch am Himmel ward silbern. Aber die Ruhe der Stunde, die dem Walde die Träume webt, hatte diesmal all ihren Zauber für Kaspar verloren.
Und dennoch: Ursula war bei der Entdeckung des Raubes gefaßter als er erwartet hatte. Sie rief die Kinder beim Namen; denn auf dem Wechsel zur Burg hatte sie die Witterung von Menschen gehabt. Das war ihr widerwärtig. Sie ahnte nichts Gutes.
Nur Undine, die kleine Undine kam verängstigt herauf. Zaghaft folgte ihr Ulrich der Fremdling. Das Mädel versuchte eine Darstellung der Begebnisse. Das war kindhaft und verworren. Aber die Mutter erriet, was geschehen war.
Sie leckte Undinen das verkümmerte Gesicht und betrachtete sich das fremde Bübchen. Dann tat sie sich bewegt nieder.
Kaspar, wie er sie so ergebungsvoll sah, trat zu ihr. Wortlos. Zerbrochenen Gemüts.
Sie wandte sich ab. Schweigend setzte er sich neben sie.
»Es ist traurig,« begann sie nach einer Weile beredter Stille, »aber es ist vielleicht das erste Uebel in unserer Ehe, an dem du nicht schuld bist.«
Kaspar traute seinen Ohren nicht, »Wie meintest du, Ursula?«
Er war auf härteste Vorwürfe gefaßt gewesen. Und nun – nicht ohne Größe trug Ursula die Schickungen des Schicksals. »Ich entsinne mich meiner eigenen Kindheit,« sagte sie. »Wir waren ihrer drei. Mich allein ließ man im Hause meiner Mutter. Und hernach bin ich auch noch in die Falle gegangen. Es ist die Macht und Gemeinheit des Menschen. Wir müssen froh sein, wenn man uns nicht mit Knüppeln erschlägt. Dein Vater ist ein Narr, Undine. Aber für dieses Elend ist er nicht verantwortlich zu machen. Dachs, siehst du nun ein, daß unsereiner einsam und bitterlich in des Waldes tiefsten Gründen hausen und der Welt seine Verachtung ins Angesicht speien soll?«
Sehr gallig klang das. Kaspar schwieg.
»Laß mich allein,« sagte sie nach einer Weile.
Das war Kasparn nicht unwillkommen. Er schlug sich ins Unterholz und trabte erleichtert hinaus in die Nacht. An Brand dachte er. Auch in der Burg auf dem Galgenberge hatte es Anfang Mai Kindtaufe gegeben. Drei Sprößlinge bildeten hier den Familienzuwachs, nur drei; aber sie waren von ganz besonderer Schönheit und Kraft.
Kaspar trabte in tiefen Gedanken zum Galgenberg. Seltsam war, was er seit dem Erwachen der Natur erlebt hatte. Da – fiel ein Schuß.
Kaspar versteinte.
Dumpf rollte der Hall über die Heide. Es war genau zu hören, wie er sich in der Drachenschlucht verirrte. Als einer, der mit dem Kopfe durch die Wand will, stieß er zehnmal wider das zerklüftete Gestein. Dann starb er.
Und Kaspar erwachte wieder zum Leben. Während er über den Schuß nachdachte, gelangte er auf den Galgenberg. Brand stand vor seiner Tür. Alle Sinne hatte er steil hinausgerichtet in die Nacht. Es war, als wollte er durch die toten Augen wieder sehen. Karg gestaltete sich die Begrüßung.
»Ich stehe gleich zur Verfügung!« sagte der Blinde. »Oder – helfen Sie mir mit, Herr Vetter! Was hören Sie?«
»Nichts, als den Fall des Rauchen,« antwortete der Dachs.
»Ich vernahm den schadenfrohen Ruf eines Menschen. Es war ein Siegesgeheul,« sagte Brand. »Meine Frau wollte heute Nacht den weißen Hahn vom Bachbauernhofe holen.«
»Sie meinen, es sei ihr ein Unglück geschehen?« fragte Kaspar.
Brand schupfte die Schultern.
»Ich glaube, da können Sie ganz ohne Sorge sein,« tröstete Kaspar. »Mit der Schlauheit eines Bauern nimmt es Gisela auf alle Fälle auf.«
»Das wohl,« entgegnete Brand, »aber wissen Sie: diese zweibeinige Rasse ist heimtückisch! Wir kennen ihre Schliche natürlich genau. Und dennoch: was solch ein Kerl mitunter an Verschlagenheit leistet, das übersteigt alle Begriffe. Darüber dürfen wir uns nicht täuschen.«
»In der Abwesenheit Giselas,« fuhr er fort, »empfind' ich meine Hilflosigkeit doppelt. Im Augenblicke sogar vielfach! Bedenken Sie bloß, was sollte aus den Kindern werden, wenn meine Frau durch irgendeine menschliche Gemeinheit zu Schaden käme? Gisela ist unersetzlich. Die Kinder würden verhungern. Sie können erst seit drei Tagen sehen. Und ich? Ich glaube, ich würde mich in ein elendes und unwürdiges Sterben kümmern.«
Brand hatte recht. Er drückte den Kopf auf die Vorderläufe und dachte an die grausamste aller Möglichkeiten.
»Ich halte mich an die Tatsachen,« sagte Kaspar.
»Dummkopf!« dachte Brand und strich sich hart mit den Branten über die toten Augen – als könne er die Nacht zerreißen, die mitleidlos und ewig darüberlag.
»Kaspar!« rief er dann, »wenn es einmal käme, was ich mich fürchte, auszusprechen – verlassen Sie mich nicht!«
Kasparn fiel nichts ein, was er dabei tun könnte. Aber gegen seine Art wurde er gesprächig. Steppkes Minnefahrten zu Simmchen mußten für den alten Helden Brand hochinteressant sein. Kaspar erzählte ihm davon, »Haben Sie schon einmal so etwas gehört?«
»O gewiß,« entgegnete der Fuchs, »ich könnte Ihnen viele ähnliche Dinge berichten. Es sind immer nur mindere Begabungen, die über ihren Liebesspielen Kopf und Kragen riskieren.«
Kaspar war der gegenteiligen Meinung. Seine Bewunderung für den Auerhahn verbarg er nicht.
»Ach was!« knurrte der Fuchs. »Bei unserer Sippe werden Sie so etwas nie finden.«
»Kunststück!« sagte Kaspar. »Dafür haben Sie viel zu viel auf dem Kerbholz! Ich kann Sie versichern: mir sind sehr viele Annehmlichkeiten aus meinen Beziehungen zu den Menschen erwachsen.«
»Na ja,« erwiderte Brand, »Sie sind auch ein Sonderling.« Er zog die Lefzen verächtlich herab.
Kaspar wollte sich verabschieden. Brand wurde immer unruhiger. Er war schon einigemale aus der Veranda unter dem Felsvorsprunge hinausgetreten und hatte die Nase in den Wind gehalten. »Ich wittere den Tag,« sagte er. »Aber wo bleibt meine Frau?« Bewegt schritt er hin und her.
Im Baue machte sich die Nachkommenschaft bemerkbar. Der Hunger meldete sich.
»Diese kleine Gesellschaft hat sehr genau gehende Uhren,« sagte der Fuchs.
Da sang Hagen von der Wildkatze seinen Morgengesang! Es war reichlich spät im Jahr für dieses Liebeslied.
Brand wußte sehr genau, warum Hagen der Spielmann so feurig balzte. Gisela hatte alle Hennen, die zu seiner Hofhaltung gehörten, vom Neste geholt. Sie hatte auch alle Gelege verwüstet und die Eier entweder selber getrunken oder ihren Kindern gebracht. Man lebte bei Brands ausgezeichnet in der Frühlingszeit.
War es ein Wunder, daß Hagen der Frauenlose in jeder Abenddämmerung durchs Revier strich und in jedem Morgengrauen seine schönsten Gesänge lockend durch den Hochwald schmetterte? Aber keine Jungfrau seiner Sippe und keine Witwe war mehr in der Gegend. So furchtbar hatte Gisela gehaust.
Der Tag kam. Sie aber kehrte nicht heim.
»Vetter,« sagte er, »es ist geschehen! Meine Frau kehrt nicht heim aus dieser Nacht. Und aus keiner!«
Kaspar schwieg. Ein Zittern schlug den Leib des alten Räubers. Er senkte die Nase gegen die Erde; und seine Lauscher, die so ängstlich in die silberne Frühe hineingespielt hatten, sanken müde herab.
»Gehen Sie jetzt nicht fort!« bat er. Sein Hirn schmerzte ihn, als schlügen sich alle Dornen der Wildnis hinein. Wahnsinnige Gedanken brannten darin. Es fiel ihm ein: wenn Gisela vor ein paar Tagen erschossen worden wäre, ehe die Kinder sehen konnten, dann hätte er alle drei mit Haut und Haar aufgefressen. Jetzt aber –
Jawohl, in diesem Augenblick fuhren sie zum erstenmal aus dem Bau! Fuhren sie? Sie krochen heraus wie die Schlangen. Auf dem Bauche mußten sie noch gehen. Aber der Hunger trieb sie.
Eier hatten sie schon essen gelernt. Auch an einer armseligen Heidemaus konnten sie wohl herumnagen. Früh begann für sie der Kampf ums Dasein.
»Vetter,« sagte Brand und nannte Kasparn zum erstenmale du, »verlaß mich nicht! Ein wilder Drang zum Leben ist jetzt in mir. Führe mich in die Heide. Ich will den Kindern ein paar Nachtschmetterlinge fangen. Oder ich will ihnen ein Mausnest aufspüren und ihnen die Jungen bringen. Geh mit mir, Vetter, und hilf mir sehen!«
Nie zuvor hatte Kaspar das leidvolle Schicksal dieses Helden erkannt wie in dieser Stunde! Aber die Gebundenheit seiner Natur verwehrte ihm phantasievolle Gedankengänge. Darum hielt er sich an seine Sinne.
Sehr schwer war es für Kaspar, den Wunsch des Fuchses zu erfüllen.
»Wir wollen sehen, was sich tun läßt,« sagte er, »probieren wir das Ding einmal.«
Sie trabten ein Stück hinaus in die Heide. Auf einmal witterte Brand. Ein herrliches Bild! Alle seine Sinne stellten sich und alle seine Muskeln in dem sehnigen Körper. Er dachte nicht mehr an seinen Begleiter. Als ob er wieder sehen könne, schnürte er in den Wind. Er kam vor ein Wachtelnest mit fünf Jungen. Er ganz allein. Denn Kaspar schritt nun ein Stück hinter ihm. Auf seine Fähigkeiten wollte er ihn prüfen. »Siehst du,« sagte er zu ihm, »welch ein trefflicher Jäger du bist! Ich wette, solange du deine Nase hast, kann dir nichts geschehen.«
Diese Versicherung machte den Fuchs sehr froh. Er ergriff zwei der jungen Vögel – die andern holte er später, wiewohl er sie dann draußen an dem sonnigen Hange suchen mußte. Aber er fand sie. Mit den beiden Jungvögeln trabte er auf der blühenden Fährte gegen den Galgenberg.
Kaspar sah ihm eine Zeitlang nach. Dann schlug er sich ins Gebüsch.
Brands Kinder hatten sich dicht aneinandergedrängt und lagen auf dem morgenwarmen Sande. Der Frost schüttelte sie nun nicht mehr.
Brand zermalmte die noch wackelnden Wachteln und legte sie ihnen vor. Sie tranken wohl nicht zum erstenmale warmes Blut, aber sie tranken es zum erstenmale mit Bewußtsein. Deshalb schmeckte es ganz besonders gut. Sie wollten mehr; denn beide – Durst und Hunger – quälten sie.
So hatte für Brand ein Lebensabschnitt begonnen von unerhörtem Aufgebot an Kraft, Scharfsinn und Tragik.
Er durfte sich nur so weit von seinem Baue wagen und so lange, als seine Fährte noch warm blieb. Dann freilich konnte er den Weg nach Hause nicht verfehlen. Bis zur Unfaßbarkeit steigerte sich die Schärfe seiner Sinne in diesen Tagen. Bis zur Unfaßbarkeit seine Erfindungsgabe. Immer sicherer arbeitete er in Unterholz und Heide. Aber wenn er den Fang voll lebendiger Beute trug, so war er nicht selten gezwungen, diese abzulegen, um die eigene Fährte wiederzufinden. Mühselig war das.
Und mühselig war zuletzt jeder Pirschgang. Wenn Rehe im Dickicht brachen, tat er sich erschreckt nieder – ein Mensch konnte ihm ja aufgelauert haben!
An Regentagen, an denen die warme Fährte in wenigen Minuten ertrank, war seine Aufgabe noch schwerer, schier unbezwinglich. Und karger und karger ward die Beute, je eifriger er revierte. Alle Vogelnester hatte er nun ausgenommen. Was Federn hatte, warnte angstvoll, wenn seine Lunte verräterisch hinter einem Heidebüschel hervorlohte, warnte schon, wenn seine Nelke (die äußerste Spitze der Standarte ) irgendwo aufblühte. Und doch, harmlos wie eine Heideblume sah das aus.
Einmal gelang es ihm, ein Rehkalb zu reißen. Das brach er vor seinen Kindern auf. Sie sahen noch das Herz zucken in der klaffenden Brust und tranken sich einen wilden Rausch am warmen Blute.
Solch ein glücklicher Tag, solch ein Heldentag richtete seine Kräfte und sein Selbstbewußtsein auf.
Aber das dauerte nicht lange. Dann strich wieder der Wind übers Land und klapperte mit tausend Dingen. Oder es flog gar ein Regen her. Ungeheuer tot war dann die Welt; und ohne das Wunder der brennenden Lichter unter seiner Stirn konnte Brand nicht ausgehen in solchen Zeiten. Ganz verwüstet lag er unter dem Felsvorsprung. Haar und Wolle waren ihm verwahrlost wie der Rock eines Landstreichers. Und er verfluchte – nicht sein Geschick, sondern die Menschen.
Zu früh noch für ihre wochenalte Jugend führte er die Kinder auf die Wildfährte; denn über seine Kraft ging, was ihre Gier und ihr Hunger von ihm forderten. Aber er wollte sie auch zu Helden erziehen, die ihre Mutter erreichen sollten an List. Und zu Räubern, die die Schrecken alles Lebendigen würden auf einer Geviertmeile.
Seine Güte ward in diesen Tagen zu unerbittlicher Strenge. Mit einem Male waren die Rollen vertauscht. Brand ließ sich von ihnen führen und leitete sie dennoch. Er belohnte den Scharfsinn, die Raschheit, die Kühnheit, die Lautlosigkeit des Anschlichs. Er belohnte alle Tugenden mit dem Löwenanteil an der Beute. In solchen Fällen verzichtete er selbst auf das Mahl, wenn er gleich Hunger hatte, daß ihm der Magen knurrte. Solch eine Entsagung verschaffte ihm Respekt und Ehrfurcht.
Anfangs hatten sich die Jungen auf den Jagdfahrten wohl gar einmal lustig über ihn gemacht; denn oft wich er einem Hindernis nicht früh genug aus. Oft sicherte er wegen eines ganz ungefährlichen Dinges, kurz: die ihm verbliebenen Sinne waren zwar nadelspitz gefeilt und zu Werkzeugen von unerhörter Zuverlässigkeit geworden, aber die ausgegangenen Lichter konnten sie ihm nicht ersetzen.
Mehr und mehr erkannten die Kinder, wie seltsam es mit diesem Vater war. Dann ließ er jeden mit festgeschlossenen Augen ein Stück hinausrevieren, daß sie ermessen lernten, was ihm genommen war. Allgemach lernten sie schätzen, was er – der Blinde – für die Verwaisten getan hatte. Dabei blickten sie ihm in die toten Augen. Das eine sah aus wie die überwallte Narbe an einem Baumstamm. Das andere hatte ein glanzloses Sehloch. Und dennoch, es war schwer zu begreifen, daß sich die Welt in ihrer Buntheit und ihren Wundern nicht mehr darin spiegelte.
Er impfte ihnen unwandelbaren Abscheu ein vor jedem verluderten Stück, das sie im Reviere fanden, und sagte: »Das ist von Menschen hingelegt, von unseren Todfeinden! Sie wollen euch damit überlisten. Vergiftet haben sie es, und das Leben muß in euch verlöschen, wenn ihr solch ein Luder aufnehmt!«
Da entsetzten sie sich und lernten den Menschen hassen.
Er hatte zwar einem Gabelbock, er hatte manchem Spießer die Drossel zerschnitten, manch stolzen Auerhahn hatte er gefällt und zahllos waren die Beutestücke seiner Waldfahrten – aber einem Menschen hatte er das Herz noch nicht herausgerissen, trotz seines Hasses! Und dennoch: manchen hatte er im Walde schlafend gefunden.
»Schade!« sagte Flammbrand, der älteste seiner Buben. Diesen Namen hatte Gisela für ihn gefunden. Die Erinnerung an ihre Mutter und an ihren Gatten sollte darin weiterleben – die Erinnerung an die Listigste und an den Stärksten ihrer Sippe. »Schade!« sagte Flammbrand. »Ich möchte mal solch einen Menschen sehen! Vielleicht könnte man ihm mit vereinten Kräften zu Leibe. Ihr müßt bedenken, wir sind unserer vier.«
»Ha!« rief Florian, der zweite. »Nach allem, was ich von diesem zweibeinigen Schleicher weiß, nehme ich es allein mit ihm auf! Natürlich erst, wenn ich ein Mann geworden bin,« setzte er vorsichtig hinzu ...
Aber das Herz wollte ihm stillstehen, bevor er noch das letzte Wort gesprochen hatte.
»Was siehst du, Flammbrand?« fragte der Alte.
Sechs Lichter schienen zwischen Halm und Heide, zwischen Schmetterlingen und Blumendolden hindurch nach dem Rücken des Hügels. Drei Herzen läuteten Sturm.
»Ich sehe ein moosgrünes Ding mit einem Spielhahnstoß jenseits des Hügelsaumes wackeln,« meldete Flammbrand. »Jetzt taucht darunter ein schnurrbärtiges Gesicht auf. Langsam erhebt es sich über den Hügel, wird länger. Kommt näher ...«
»Entfernung?« fragte Brand.
»Hundert Fluchten, schätz' ich.«
Da stand Hubers Bild schon scharf gegen den lenzblauen Himmel auf der Höhe des Hügels und spähte nach allen Seiten über die Heide.
Dicht bei Fuß blieb ihm Bergmann. Doch: das Herz brannte ihm. Seine Nerven zitterten. Die Muskeln prallten in Bündeln an seinem Leibe hervor. Das Behänge stellte sich. Seine Nase – ach, in seiner Nase trug der Frühlingswind eine Witterung zusammen, es war nicht zu sagen! Wie ein Bau kam ihm diese Nase vor, in den eine ganze Fuchsfamilie leibhaftig einfuhr! Einfach überwältigend!
Huber schwieg. Er nahm das Gewehr von der Schulter und spähte mit gesammelten Sinnen in die Richtung, die ihm Bergmann wies.
Hundert Fluchten am Hang hinab lag Brand mit seinen Jungen. Er ließ sich über den Stand der Dinge fortgesetzt Meldung erstatten. Flammbrand kannte zwar eine Doppelflinte nicht. Auch einen Hund hatte er noch nicht gesehen. Aber sein Rapport war so treffend – Brand hatte ein vollendetes Bild. Danach gab er seine Anweisungen. Sobald Bergmann vom Bogen des Hügels losschnellte, hatte sich zu retten, wer konnte. Strahlenförmig sollte sich das rote Bündel der Füchse über den Heidehang verteilen. Windeilig. Mit schleppenden Standarten. Immer in Deckung. Nicht gegen den Galgenberg hin, sondern hinüber ins Kleinholz, hinab ins Gezausicht, und jenseits hinter die Weiden!
Entsetzlich lang waren diese zwei Minuten! Brand hatte im Kessel der Treibjagd sechzig Gewehrläufe auf sich zuwechseln sehen und war dennoch Herr der Lage geblieben. Heut aber drückte er sich in den Heidesand, und sein Herz läutete Sturm; denn Flammbrand hatte den Heger und Menschen nicht früh genug erkannt; seine erste Meldung von dem moosgrünen Dinge mit dem Spielhahnstoß war unzulänglich gewesen. Deshalb hatten sie sich überrumpeln lassen. Und nun lagen sie dem Todfeinde vor dem Feuerrohr. Ihrer zwei mußten nach Brands Berechnung an diesem Hügelhange verlöschen.
Da schoß der Hund durch den Borst, eine dunkelgelbe Flamme! Beim ersten Laute, den er gab, fuhren sie im Gekräute auseinander. Sturmeilig. Jäh. Der Tod fuhr hinter ihnen her. Jeder von ihnen vernahm ihn so dicht auf seiner Fährte, als träte ihm das Sterben die Lunte in den Sand. Bumm! und noch einmal Bumm! Zwei Donnerschläge dröhnten aus den Gewehrläufen. Das heiße Flimmern der Luft zerstob davor. Flammbrand überschlug sich in seinen wilden Fluchten. Tot!
Dem Alten sang das heiße Blei um die Lauscher. Ein glühendes Schrotkorn schnitt ihm quer über die Stirn. Rote Wolle stob auf und gelber Sand rauchte um ihn ...
Mitten im Feuer war er gewesen. Dann verschwand er in einer vierjährigen Kiefernkultur. Licht! Licht! stöhnte es in ihm. Aber nachtfinster blieb es. Auf dem Bauche kroch er. Manchmal stieß er gegen Holz; denn in seltsamen Windungen verschlang er die Fährte. Aber immer fühlte er das dichte Astwerk seinen Balg streifen. Er wußte: er war geborgen. Irgendwo tat er sich nieder. Rauchender Schweiß troff ihm aus der Stirn in die Nase.
Inzwischen ward Florian von Bergmann ungestüm gestellt. Dann fuhr ihm der Hund ins Genick. Arg mitgenommen, aber lebend fiel dieser Sohn Brands in die Hände des Hegers. Er vertauschte das goldene Waldrevier mit der Finsternis eines Rucksacks. Und hechelnd stieß der Hund gleich danach auf die Fährte des Jüngsten. Brenner hieß der. Er stob in federnden Fluchten hinaus in den Tag. Merkte nicht, wohin er geriet. Konnte keinen Gedanken fassen; denn der Tod läutete hinter ihm drein. Dann – einen Augenblick lang erkannte er die Gegend, erreichte den Galgenberg und fuhr in den Bau. Entsetzlich! Die Zunge hing ihm aus dem Halse bis auf den Sand. Wohlig umflog ihn die Kühle der Burg und schützend die Finsternis.
Da vernahm er eine bekannte Stimme. Dicht neben sich. Es war Kaspar. Der war in unbezwinglicher Frühlingsfreude einmal herübergekommen. Ein Stündchen hatte er sich in der Morgensonne gedehnt. Dann hatte der Doppelschuß seinen Frieden zerdonnert. Für alle Fälle war er da unsichtbar geworden.
»Was ist euch geschehen?« fragte er.
Brenner war nicht imstande, Auskunft zu geben. Er rauchte wie eine Dampfmaschine.
Indessen überdachte Kaspar die Lage. Teufel, war das ein gehetztes Dasein! »Mein Sohn,« sagte er, »solch ein Leben wäre nicht nach meinem Geschmack. Ich betreibe meine Tage freundlicher ...«
Doch – in seinen Betrachtungen wurde er durch Bergmann unterbrochen. Der fuhr wild in den Bau. Aber nur bis in die Rohre. Sieh da – das war ja die Witterung seines Freundes Kaspar.
Und Bergmann war an Gehorsam gewöhnt. Es war ihm ein für allemal verboten, Kasparn aus der Burg zu stöbern. Natürlich vergewisserte er sich sofort über die Gegenwart Brenners. »Du bringst mich in eine schlimme Klemme, mein freund,« sagte er zu Kasparn.
»Mäßige dich!« warnte der ihn. »Du weißt, für jede Dummheit bekommst du ein ordentliches Leder voll!«
Aber auch dieses freundliche Zwiegespräch konnte nicht fortgesetzt werden; denn auf dem Galgenberge erschien Herr Huber und forderte Bergmann mit lautem Ruf auf, den Bau zu säubern. Also los!
Brenner setzte sich zur Wehr. Ha, dieser Kleine!
»Apport!« schrie Huber. Das klang aufpeitschend. Das forderte unbedingten Gehorsam! Bergmann bekam im Ringkampf den Knaben Brenner an der Standarte zu fassen und zerrte ihn so unter Tag hervor. Der Kleine war mehr tot als lebendig. Huber ergriff ihn und ließ ihn in seinem Rucksack verschwinden. Dort empfing ihn sein Bruder Florian mit schweigender Genugtuung. Aber es dauerte geraume Weile, ehe er die Lage erfaßte. »Ach, du bist es!« sagte er.
Inzwischen hatte sich Bergmann wieder vor der Einfahrt aufgestellt. Bald zuckte er zurück und fragte Herrn Huber mit beredtem Blick: »Na, wie ist das – soll ich den auch noch holen? Nämlich: unser gemeinsamer Freund Kaspar ist darin!«
So dumm war Huber natürlich nicht: er merkte an dem Gebühren seines Hundes, daß er sich noch auf etwas ganz Besonderes gefaßt machen mußte. Nur auf Brand den Alten nicht; denn in diesem Falle hätte Bergmann von dem Rechte der selbstherrlichen Einfahrt schon längst Gebrauch gemacht.
»Jetzt paß auf!« gebot Huber.
Bergmann verzog das Gesicht. »Paß du lieber auf!« wollte er sagen; denn Huber spannte beide Hähne seines Gewehrs. Auf einmal –
Ein dumpfes Gerumpel drang aus der Tiefe des Kessels hervor! Kaspar schüttelte sich drunten den Staub aus dem Rock. Und vorsichtig, wie das in seiner Art lag, rückte er in die Röhre.
Sehr nachdenklich sah Huber aus. Er kannte die Gewohnheiten seines Freundes Kaspar zu genau. Die Stunde war ungewöhnlich. Aber zuletzt: was hatte Kaspar am Galgenberge zu suchen? Immerhin: er war ein Sonderling.
»Kaspar!« rief Herr Huber. Langsam rückte der Dachs in der Röhre vor.
Ehe ihn Huber sehen konnte, hatte ihn Bergmann eräugt. Er gab seinem Herrn alle Zeichen, die er für nötig hielt, ihn zur Klarheit zu bringen.
»Kaspar!« lockte Huber abermals. Das klang sehr milde.
Na, und dann stieg Kaspar heraus! Sehr unangenehm berührt war er und verkniff das Gesicht gewaltig. Er setzt sich in die Sonne und guckte abwechselnd den Hund und den Menschen an.
Gewehr in Ruh!
Bergmann erzählte ihm in lebhafter Bewegung die ganze aufregende Geschichte. Und Huber beteiligte sich daran. Er hatte bis dahin den Fuß auf den Knüpf seines Rucksackes gestellt gehabt. Nun hing er sich den Sack mit den lebenden Füchslein an den Arm, nahm den toten Flammbrand an den Hinterläufen auf und machte vor Kasparn ein großes Aufheben von seinem Jagdglück.
»Hä, ich weiß alles!« Aber Kaspar konnte sich nicht zu der alten Vertraulichkeit zwingen. Der Kinderraub in der Drachenschlucht lag noch zu nahe. Deshalb wies er ihm die Kehrseite und trabte quer über die Heide, seiner Burg entgegen.
Doch heim kam er an diesem Tage nicht; denn dort, wo Borst und Jungholz aneinanderstießen, traf er auf die warme Schweißfährte des alten Brand. Er ging ihm nach. Aber erst nach geraumer Zeit fand er ihn.
»Du siehst aus, als hättest du eine Schlacht geschlagen,« sagte er. Brands Stirnwunde schweißte. Sein Gesicht war durch braune Gerinnsel noch entstellter. Und arg zerpflückt war sein Sommerrock vom heißen Blei.
»Teufel auch!« sagte Brand. »Das ist eine verdrießliche Geschichte. Früher hatt' ich solcherlei Erlebnis nicht ungern. Man erfuhr dabei, was man taugte. Man war ein Held. Aber jetzt? Es ist schwer, sich als Krüppel durch's Leben zu schlagen. Gestern hatt' ich sechs Augen, heute bin ich wieder blind. Vetter, verlaß mich nicht!«
»Ich will dich heimgeleiten,« erbot sich Kaspar.
»Bist du verrückt?«
»Die Luft ist rein. Verlaß dich auf mich!«
Da gingen sie miteinander; denn in der Nacht wären alle Fährten verwelkt gewesen. Unmöglich hätte dann Brand den Weg gefunden. Heimatlos wäre er durch's Revier gezogen, um dem Tod irgendwo in die Arme zu laufen.
Karg war ihre Unterhaltung. Aber karger war Brands Schicksal. Nun hatte es ihm die Führer, die es ihm in seinen Kindern geschenkt hatte, wieder genommen!
Kaspar versprach es nicht, aber er hielt es so: häufiger wechselte er hinüber zum Galgenberg und überzeugte sich von Brands Befinden.
Ursula ließ sich nicht bewegen, ihn zu begleiten. Nach dem Kinderraube hielt sie erst recht keine Freundschaften.
Aber der Fuchsenfang auf dem Heidehügel war lehrreich. Deshalb nahm Kaspar Undinen und den Pflegesohn mit. Jedes durfte für Brand eine Maus bringen.
Ein geruhsames Leben führte Kaspar mit beiden Kindern in den folgenden Jahren. Seine Gewohnheiten wurden die ihren.
Aber ungeheuer einsam war Ursula. Nur in den Wochen, in denen die weiße Septemberseide durch die Luft schwamm, durchsonnte sich ihr Gemüt, wandelte sich ihr Verhältnis zu Kaspar. Um Undinen und Ulrich, die später die Ehe miteinander eingingen und rückwärts in der Schlucht wohnten, kümmerte sie sich auch dann nicht. Sie verschlief den Winter. Und wenn sie im Februar auf die Oberwelt kam, fältelte sich ihr Pelzrock um ihren dürren Leib. Die anderen dagegen waren in Form, als ginge es nun ans Hochzeiten.
In der Weihnachts-Mitternacht schneite es. Es schneite, daß die hohen Fichten ihre Wipfel bogen. Die Auerhennen kuschelten sich unter die weißen Dächer, die sich über das Jungholz woben. Es schneite, daß für Brand, den Alten, draußen in den Heidegründen alle Fährten verblühten.
In jener Nacht, um die Zeit, da die Sterne angingen und die Wolken sich verflogen, sank Brand auf der Höhe des Hügels in sein Sterben. Es war ein jammervoller Tod. Er verhungerte.
So endete dies Heldenleben.
Kaspar in seiner philosophischen Art aber fand sich vergnügt noch einige Jahre weiter. Sehr alt ist er geworden und Urahn eines zahlreichen Geschlechts.
Ursula wurde das Opfer Ubalds des Gewaltigen. Das war nicht jener Große, den Kaspar einst im Liebeskampfe gesehen hatte. Nein. Dieser Ubald brach auf einer Minnefahrt aus fremdem Reviere in den Bergwald. Er traf Ursula auf einer schmalen Waldschneise. Da nahm er sie aufs Geweih und forkelte sie ein paarmal in die Luft. Sie entkam zwar, aber zerschlagen an allen Gliedern kehrte sie heim. Und das Licht des Tages erblickte sie nicht wieder.
Kaspar verheiratete sich nicht mehr.
*