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Zwanzigstes Kapitel

Ein Jahr verging. Ein Jahr mit Geburten und Todesfällen, Hochzeiten und Begräbnissen, Freud und Leid, Arbeit, Kirchgang und Einladungen ging still über Stadt und Stift Gammelby hin. Und wie alle Jahre veränderte es in seinem Lauf Menschen und Verhältnisse, trug zu der steten Umbildung der Charaktere und Gemüter bei, die nie aufhört, eh der Tod dem Spiel der Leidenschaften seine Grenze setzt, formte Sitten, Gebräuche und Verhältnisse um, in seiner unmerklichen Weise, die wir Menschen immer erst sehen, wenn es geschehen ist.

Professor Hallin und seine Frau haben keinerlei merkliche Wandlung durchgemacht. Aber in ihrem Haus hat es eine ziemlich große Veränderung gegeben. Gabrielle hat sich wieder verlobt, und es heißt, der Professor sei mit dem zweiten Bräutigam noch weniger zufrieden als mit dem ersten, ja er wünsche sich manchmal den Leutnant geradezu zurück.

Der neue Bräutigam ist Pastor Simonson.

Pastor Simonson hatte nämlich gemerkt, daß er für seine Karriere in Gammelby einer kräftigeren Stütze bedurfte, als eine einfache Hilfslehrerstelle an der Schule, und ab und zu die Erlaubnis, gratis in der Domkirche zu predigen. Die Stelle eines Domkirchenverwalters war zu besetzen, und er wußte, er würde seine älteren Mitbewerber leichter aus dem Feld schlagen, wenn er zu der persönlichen Gewogenheit des Bischofs noch das Gewicht persönlicher zarter Bande in die Wagschale legen konnte, die ihn unwiderruflich mit der Stadt und ihren Interessen verknüpften.

Gewiß war Gabrielle keineswegs die Gattin, die er sich als Hüterin des häuslichen Herdes in einem ernsten priesterlichen Heim geträumt hatte. Aber da sie in anderer Hinsicht den Forderungen, die er an eine Frau stellte, entsprach, und da sie vor allem – dank der zurückgegangenen Verlobung – aller Wahrscheinlichkeit nach zu haben war, so hielt er um sie an, und war nicht im geringsten überrascht, daß er das Jawort erhielt.

Fräulein Gabrielle ihrerseits betrachtete im Anfang den neuen Bräutigam mit ein bißchen sonderbaren Blicken, als wolle sie Vergleiche ziehen. Aber nach und nach gewöhnte sie sich an ihn; und außerdem waren sie und ihre Mutter aufrichtig froh, daß sie wieder verlobt war. Denn was gibt es Schlimmeres für ein junges Mädchen, als wenn die ganze Welt weiß, daß sie einmal verlobt gewesen ist, ohne daß die Verlobung zu etwas geführt hat?

Frau Hallin verlor nach diesem Ereignis ihr Interesse für Pastor Simonson. Sie schrieb ihrem Sohn, der Pastor habe sich sehr verändert, sei verweltlicht, und es sei unbegreiflich, daß der Bischof eine solche Persönlichkeit begünstige.

Bei Adjunkts waren die Veränderungen größer und einschneidender.

Der Adjunkt selbst unterrichtete nach wie vor in seinen Klassen, arbeitete und sparte, quälte sich mit unaufhörlichen Sorgen ums Geld, das nie reichen wollte, und hatte seine Anfälle von schlechter Laune, die regelmäßig zusammen mit der Geldnot auftraten.

Frau Hallin war gealtert in diesem Jahr. Ihr Gesicht zeigte mehr Runzeln und der Mund noch ausgeprägter als zuvor den eingegrabenen Ausdruck von Wachsamkeit, den Frauen leicht haben, wenn sie fast immer mit dem Gedanken beschäftigt sind, an den Ausgaben zu sparen, damit des Mannes kleines Einkommen für den Haushalt ausreicht.

Trotzdem hatte das sie nicht alt gemacht. Alt war sie geworden, weil sie immer mehr fühlte, wie ihre Kinder sich von ihr loslösten.

Nach der Ordination hatte sie einen Auftritt mit ihrer Tochter gehabt.

Selma kam eines Abends bleich und erregt herein. Ihre große, kräftige Gestalt zitterte, und sie drehte krampfhaft das Taschentuch zwischen den Fingern, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Ich habe mir eine Stellung in Stockholm gesucht und sie bekommen«, sagte sie.

Frau Hallin war so niedergeschmettert und so böse, daß sie erst gar nichts zu sagen wagte. Sie fühlte, sie konnte nicht sprechen, ohne sich zu vergessen. Sie beugte sich nur tiefer über ihren Nähtisch, als beuge sie ihren Rücken unter einem Schlag.

»So«, sagte sie einsilbig.

»Ich konnte nicht anders!« sagte die Tochter.

»Du konntest nicht anders?«

Frau Hallin sah wieder auf.

»Du hättest wenigstens so viel Vertrauen zu deinen Eltern haben können, daß du nicht hinter ihrem Rücken gehandelt hättest.«

»Ihr hättet es nicht zugelassen.«

Hastig und hart kam das heraus. Beide schwiegen eine Weile. Die Mutter konnte nichts antworten. Sie wußte, daß die Tochter recht hatte. Aber der Zorn gärte in ihr und in den Zorn mischte sich das Bewußtsein, besiegt zu sein.

»Ich konnte nicht anders!« wiederholte Selma.

Und sie richtete ihre kräftige Gestalt auf, während brennendes Rot ihr Gesicht bis zu den Haarwurzeln färbte.

»Ich fange an, alt zu werden«, fuhr sie mit einem nervösen Zittern in der Stimme fort. »Vielleicht sterb' ich als alte Jungfer, ohne je geliebt zu haben, ohne auf meinen Armen ein Kind gehalten zu haben, das ich mein nennen kann. Aber wenn ich das muß, so will ich wenigstens arbeiten lernen, lernen, mein eigenes Leben zu leben, so gut und so tüchtig werden, als mir möglich ist. Armselig genug wird es ja auch so. Aber wenn ich hier bleibe, werd' ich ein schlechter Mensch!«

Die Mutter sah sie erstaunt an. Sie schämte sich geradezu, daß ihre Tochter solche Wünsche aussprechen konnte; und Selma verließ hastig das Zimmer, noch eh Frau Hallin ein Wort der Erwiderung hatte finden können.

Im Herbst zog Selma nach Stockholm und hinterließ im Vaterhaus das bittere Gefühl, daß sie sich dort nicht hatte wohl fühlen können.

Gustaf war jetzt noch allein daheim. Aber im Frühling machte er sein Abiturientenexamen, und dann ging auch er. Er hatte die Seinen mit der Erklärung überrascht, daß er auf eine Ackerbauschule wolle, und mit einem Seufzer gab der Adjunkt seine Einwilligung. Er war in einer Art froh darüber. Denn das war billiger, als wenn der Sohn auf der Universität gewesen wäre. Aber es kränkte ihn doch, daß sein Sohn nur ein einfacher Landwirt werden sollte.

»Wird nur ein tüchtiger Mann aus ihm, so ist das übrige ja gleichgültig!« pflegte er zu sagen, wenn von der Sache die Rede war.

Aber Frau Hallin wußte, daß sie auch diesen Sohn verloren hatte, wie die Tochter. Und sie fühlte immer mehr, wie die Jahre auf ihr lasteten, die Jahre und die Einsamkeit.

Aber ihren ältesten Sohn wenigstens hatte sie noch; und der Gedanke an ihn genügte, ein Gefühl der Freude in ihr zu wecken, selbst wenn sie sich noch so niedergeschlagen fühlte. Er hatte seine Reizbarkeit und seine Grübeleien überwunden. Das letzte Jahr in Sollösa hatte einen ganz anderen Menschen aus ihm gemacht, und man prophezeite ihm allgemein eine Zukunft im Dienst der Kirche.

Und dennoch hatte Frau Hallin jetzt für ihn ein anderes Gefühl als früher. Sie hätte es ja nie zugegeben; aber so, wie er früher war, hatte sie ihn lieber gehabt. Es war, als habe das »Geistlichsein« ihm grade etwas von dem genommen, was sie am allermeisten an ihm geliebt hatte. Als er noch schwächlich, reizbar, selbstquälerisch und unvernünftig war, als er sie gekränkt hatte, indem er ihr sein Vertrauen entzog oder sie traurig gemacht, indem er seine Heftigkeit an ihr ausließ, da hatte sie ihn am allerliebsten gehabt, seine ganze warme, ursprüngliche Natur. Jetzt, da er ein gesetzter, seiner selbst sicherer und fertiger junger Geistlicher war, der ihr stets mit Sohnesehrfurcht und Sohnesliebe begegnete, ihr nie Grund zur Unzufriedenheit gab, stets freundlich, heiter und mitteilsam war, schien es ihr manchmal, als fühle sie sich diesem Sohn gegenüber ein bißchen fremd. Denn sie verstand die Wandlung nicht, die mit ihm vorgegangen war.

Es war im Frühling, gleich nachdem Gustaf sein Examen gemacht hatte. Selma war für den Sommer nach Hause gekommen. Ernst war von Sollösa hereingefahren. Und wie nun alle Kinder wieder einmal zu Hause waren, gaben sie eine kleine Gesellschaft – lauter junges Volk. Frau Hallin hatte es bei ihrem Mann durchgesetzt.

Pastor Simonson und Gabrielle kamen, ein paar von Gustafs Freunden und sonst noch ein paar. Eva Baumann war auch da – auf Selmas ganz besonderen Wunsch.

Es hatte sich ein kleiner Disput entspannen zwischen den angehenden Studenten und Pastor Simonson. Es handelte sich um die Frage, ob es für einen jungen Mann in unseren Tagen möglich wäre, Theologe zu werden, ohne mit Bewußtsein zu heucheln oder auch einem unbewußten Selbstbetrug zu verfallen. Und Gustaf hatte sich in einer Weise geäußert, die die anwesenden Pastoren geärgert, Frau Hallin betrübt, und über die ganze Gesellschaft eine gewisse Unruhe gebracht hatte.

Ernst Hallin hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Das Thema hatte ihn nicht interessiert.

Nach dem Ausspruch des Bruders aber sah ihn die Mutter so bittend an, daß er nicht ausweichen konnte. Er fühlte auch selbst, daß er nicht länger schweigen durfte.

»Viele Schwierigkeiten,« sagte er, »stellen sich dem Mann in den Weg, der in einer schlimmen Zeit, wie der unsern, sein Leben dem Dienst des Herrn weiht.«

Seine Stimme war klar und beherrscht, und er blickte dem Bruder ruhig ins Gesicht. Man sah es ihm an, daß ihm das Landleben gut getan hatte. Er war dicker geworden, das Gesicht hatte Farbe und ein leiser Bartansatz zeichnete sich von den Wangen ab.

»Aber,« fuhr er fort, »die Schwierigkeiten sind nicht unüberwindlich; und wer mit reinem Willen in den priesterlichen Stand tritt, dem wird der Herr auch zu einem rechten Glauben verhelfen, mag er auch anfänglich schwach und schwankend sein. Ist die Zeit so böse, ist der Unglaube so stark, daß sie, wenn möglich, sogar die Auserwählten zu verführen drohen, so steht um so fester die Verheißung unseres Herrn, daß dem, der am eifrigsten in seinem Dienst gearbeitet hat, im Himmel seine Stätte bereitet ist, die ihn für seine Arbeit auf Erden belohnen wird.«

Frau Hallin nickte dem Sohn zu. Wieder einmal freute sie sich, daß der Herr doch eins ihrer Kinder bewahrt hatte …

Im selben Augenblick aber begegnet Ernst Hallins Auge einem Blick, der einen ganz anderen Ausdruck hatte. Eva Baumann war es, die ihn ansah. Ihr Blick war kalt, fragend, neugierig. Sie hatte ihn im letzten Jahre da und dort getroffen und sich selber immer wieder gefragt, wie es möglich sei, daß sie so gleichgültig sein konnte. So ganz, als wäre zwischen ihnen gar nichts vorgefallen.

Und jetzt fühlte Ernst diesen forschenden Blick auf sich ruhen. Er drückte keinerlei Interesse für seine Person aus, nichts als unbezwingliche Wißbegierde. Es sah aus, als mochte sie bloß um jeden Preis ergründen, wie er eigentlich innerlich zusammengesetzt war. Und zugleich bemerkte er ein fast unsichtbares ironisches Lächeln auf ihren Lippen.

Pastor Hallin war sehr unbehaglich zumut. Er sagte sich selber, er habe ja doch nicht gelogen. Es war wirklich seine Überzeugung, die er da ausgesprochen hatte; und er freute sich darüber, daß er sie ausgesprochen hatte.

Dennoch stand er auf und wechselte den Platz; und dabei konnte er es nicht hindern, daß er tief errötete.

 

Ende

 


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