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Zehntes Kapitel.

Der Spuk.

Nachdem Waldemar seinen kranken Freund nach der von uns mitgeteilten Unterredung am Vormittag verlassen hatte, blieb Magnus anfangs in einem Zustande stumpfer Gefühllosigkeit sitzen und ließ die von jenem heraufbeschworenen Gedanken einen nach dem andern an seinem Geiste vorüberziehen. Nur allmählich gelangte er so zur klaren Einsicht des Vorliegenden, erkannte aber leider dabei zur Genüge, daß er kaum die Fähigkeit und Kraft besaß, mit einem Schlage den Knoten zu lösen, der seine Seele gefesselt hielt. Während sein Verstand auf Waldemars Seite trat, dessen Ratschläge gut hieß und sie zu befolgen riet, bäumte sein Herz sich mit seiner ganzen natürlichen Leidenschaftlichkeit dagegen auf, und er konnte es nicht über sich gewinnen, die Einwürfe des ehrlichen Jugendfreundes auch in dieser Beziehung für gerechtfertigt zu erkennen. Lange schwankte er so zwischen den Eingebungen des Verstandes und den Neigungen des Herzens hin und her, sich vergeblich bemühend, einen Ausgang aus diesen Verwicklungen zu finden und den ganzen martervollen Zwiespalt durchlebend, den jedermann kennt, der zwischen diesen beiden Potenzen einmal zu wählen verurteilt gewesen ist.

Wie aber selten jemand, und sei er auch noch so sehr von seinen Gefühlen bestrickt oder von der notwendigen Befolgung der Eingebungen des Verstandes überzeugt, sich entschieden gleich auf die eine oder andere Seite dieser beiden Großmächte wirft, so suchte und fand auch Magnus endlich einen ihm genügenden Ausweg, der ihn mitten zwischen beiden Klippen hindurch zu einem erwünschten Ziele zu führen verhieß, und diesen zu betreten, war er zuletzt völlig entschlossen. Er wollte wirklich Waldemars Rat befolgen und Spyker verlassen, um sich aus den Schlingen dieses verführerischen Ortes zu ziehen, aber nicht eher, als bis er die vollste Überzeugung gewonnen, daß ihm keine Hoffnung mehr auf Wiedergewinnung Gylfe Torstensons übrig bliebe, – ein Ausgang, den er noch keineswegs als unausbleiblich annahm, da er sich viel von einer mündlichen Besprechung mit dem wankelmütigen Mädchen versprach. Die Besprechung mußte also notwendig erfolgen, und zwar sobald wie möglich, denn die Zeit drängte, und Waldemar drängte in seiner Ungeduld nicht minder. Aber wie zu ihr gelangen, ohne daß die Bewohner des Hauses davon Kunde erhielten? Sollte er sie um eine Unterredung angehen, nachdem ihr seine Anwesenheit gemeldet war? Nein, das wagte er nicht, das konnte schlimme Folgen haben, sie konnte sich durch Überlegung gegen seine Angriffe waffnen oder gar die Hilfe seines bittersten Feindes, ihres, jetzigen Liebhabers, in Anspruch nehmen. Um dies zu vermeiden, mußte die Unterredung also ohne jede Vorbereitung von Gylfes Seite erfolgen, sie muhte mit einem Worte überrascht werden und, – auf diese Überraschung, als das letzte aller erwogenen Hilfsmittel, bereitete sich Magnus regelrecht wie auf eine Belagerung und Überrumpelung einer Festung vor. Er wog alles ab, was er ihr vorhalten, womit er ihr Herz bestürmen, ihr Rechtlichkeitsgefühl erwecken und somit den Sieg erringen wollte, und als er erst so weit gekommen, beschloß er die Gelegenheit zu ergreifen, sobald sie sich darbieten würde. Diese Gelegenheit aber sollte sich ihm sehr bald darbieten, viel früher wenigstens, als er es in seinen kühnsten Erwartungen für möglich gehalten hatte.

Um vier Uhr nachmittags, als sich im Schlosse die Vorfälle zutrugen, die wir berichtet haben und die Magnus in seinem abgelegenen Zimmer sich nicht recht erklären konnte, obwohl er die Schüsse vom Meer her vernahm und den Kapitän mit Waldemar abreiten sah, denen bald alle Reiter folgten, erschien der alte Ahlström bei ihm und setzte ihn von dem Vorgehenden in Kenntnis.

Als Magnus diese unerwartete Nachricht empfing, schoß ihm das Blut ins Gesicht, und die plötzliche Aufregung lähmte beinahe seine Überlegung. Der alte Freund seiner Familie wußte erst gar nicht, was dieses Erschrecken, wofür er es hielt, bedeute, bis Magnus mit zitternder Stimme die Frage laut werden ließ, ob Gylfe im Schlosse sei.

»Wo soll sie sonst bei diesem Unwetter sein, Herr Graf? Sie hat sich in ihr Zimmer eingeschlossen, was sie immer tut, wenn sie ungestört sein will, und da liest oder stickt sie, oder tut sonst etwas, was ihr gerade beliebt.«

»Befindet sie sich in dem Zimmer, welches an die Treppe dieses Turmes stößt und durch den geheimen Knopf an der bewußten Stelle geöffnet werden kann?«

»Ja, Herr. Wollen Sie etwa zu ihr?«

»Das ist meine Sache, Ahlström. Würdest du etwas dagegen haben, wenn ich es täte?«

»Ich habe nichts gegen Euer Gestrengen Tun, gar nichts – aber – aber ist der Herr Granzow von diesem Schritt unterrichtet?«

Magnus fühlte sich getroffen, da er hier auf einen Mann stieß, der im geheimen Bunde mit seinem redlichen Freund zu stehen schien. »Wie meinst du das, Alter?« sagte er verwirrt. »Darf ich in diesem Schlosse nur das unternehmen, womit Granzow einverstanden ist?«

Der Kastellan senkte den grauen Kopf. »Herr Granzow meint es gut mit Ihnen, Herr Graf, besser kann es kein Mensch auf der Welt meinen.«

»Ich weiß es und schätze und liebe ihn deshalb sehr; aber mit Gylfe zu reden ist Sache meines Herzens – und das hat seinen eigenen Pulsschlag.«

Der Alte wußte nichts mehr zu erwidern oder wollte seinem jungen Herrn nicht länger entgegentreten, da er ihm von ganzem Herzen die Erfüllung seiner Wünsche gönnte. »Wissen Sie noch den Knopf zu finden, Herr Graf,« fragte er, »der die getäfelte Tür in der jungen Dame Zimmer öffnet? Sie haben ihn lange nicht benutzt und möchten die richtige Handhabung vergessen haben.«

»Ich habe nichts vergessen, was sich aus meiner Jugendzeit herschreibt und auf die Geheimnisse meiner Familie Bezug hat. Ist die Stelle der Wand frei, wo sich die schmale Tür nach innen öffnet?«

»Sie ist ganz frei, denn die Tür öffnet sich in der Ecke, wo kein Möbel Platz findet, und über der einzigen vom Zimmer aus sichtbaren Spalte hängt ein altes Bild, das fest an die geheime Tür selbst genietet ist, so daß es nicht leicht abgenommen werden kann. Wie Sie wissen, rührt diese Einrichtung noch aus alten Zeiten her.«

»Ich weiß es. So laß mich allein und sorge, daß mich' niemand bei Gylfe stört. Sollte unterdeß der Kapitän von seinem Ausfluge zurückkehren, so gib mir mit der Glocke, die von deinem Zimmer in alle Gemächer des Turmes führt, ein Zeichen, und ich werde die Warnung verstehen.«

Ahlström versprach, genau nach diesen Befehlen zu handeln, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und verließ das Zimmer, nicht ganz ohne neue Sorge seine eigene Wohnung aufsuchend.

*

Der Sturm tobte um das alte Schloß und drang pfeifend durch die Spalten der Türen und Fenster, die schon so lange ihre Schuldigkeit getan, daß es ihnen nicht zu verdenken war, wenn sie endlich dem Andringen der Zeit und Witterung nachgegeben hatten und hier und da etwas lockerer geworden waren. Von dem wolkenbedeckten Himmel strahlte wenig Licht, aber dafür eine um so düstere melancholische Färbung aus und ließ trotz der frühen Stunde Schatten in die hochgewölbten Zimmer fallen, die schon durch die dicken Mauern einen Teil des Himmelslichtes einbüßten. Gylfe Torstensons befand sich allerdings in ihrem Zimmer, das auf der östlichen Seite des Schlosses, dem sogenannten Spukturm zunächst und zwar mit dem mittleren Stockwerk desselben, in gleicher Linie lag; sie befand sich darin, sagen wir, aber sie arbeitete weder, noch las sie, sondern von einem innern dunklen Triebe aufgescheucht, ging sie unruhig und ängstlich auf und nieder und schaute von Zeit zu Zeit durch die Fenster nach Jasmund hinüber, um die Wirkungen des Sturmes zu beobachten, der um diese Stunde gerade seine größte Heftigkeit erreicht hatte.

Wer so die hohe gebieterische Gestalt in den kostbaren Kleidern von schwerem Seidenstoff, die lang hinter ihr herschleppten und bei jeder Bewegung ein wogendes Rauschen hören ließen, wer sie so sah, das bleicher gewordene Gesicht ängstlich nach den Fenstern gewendet, mit der feinen weißen Hand oft über die umwölkte Stirn fahrend oder nach dem widerspenstigen Herzen greifend, der hätte sie leicht für ein von Liebe und Leidenschaft verzehrtes Ritterfräulein aus dem Mittelalter halten können, zumal wenn er das geräumige Zimmer, in dem sie verweilte, und alle Geräte und Möbel von alter Arbeit und veralteten Formen an dem mit Holzgetäfel bekleideten Wänden mit in Betrachtung zog. Und in der Tat, Gylfe glich in mehr als einer Beziehung einem Ritterfräulein des Mittelalters, das, sich verzehrend in leidenschaftlicher Glut, zwischen Neigung und Pflicht schwankend, in der Mitte einer alten und neuen Zeit stand, ratlos, an welche sie sich anlehnen, zu welcher sie sich wenden solle, da ihre Gefühle ihren Pflichten schnurstracks zuwider liefen.

Woran dachte sie wohl in diesem Augenblick, als sie, selbst nicht wissend, womit sie sich beschäftigte, unruhig aus einem Winkel in den, anderen schritt, hierhin und dorthin blickte, dies und jenes anfaßte und doch durch nichts befriedigt wurde, was sich ihren Blicken, ihren Aussichten, ihren Hoffnungen bot? O, sie dachte nur an eins, und gerade dieses Eine war nicht dazu angetan, ihr wünschevolles Herz zur begehrten Ruhe und Zufriedenheit kommen zu lassen. Dieses Eine war ihre seltsame, abenteuerliche, fast unerklärliche Liebe zu jenem Manne, den wir schon so oft in diesen Blättern genannt haben und leider noch öfter nennen werden, dem bösen Dämon, den das Verhängnis Magnus Brahes in das Schloß seiner Väter geführt und dazu ausersehen hatte, ihm die größten Schmerzen seines Lebens zu bereiten. Denn mochte Gylfe sich sagen und vorspiegeln, was sie wollte, mit goldenen Träumen in ein künftiges Paradies sich einnisten, so tief es ging, sie war der Neigung dieses doppelgestaltigen Mannes keineswegs so sicher, wie sie vor Waldemar Granzow sich das Ansehen gegeben hatte. Heute freilich glaubte sie überzeugt zu sein, er liebe sie und sei vollständig geneigt, sein Schicksal auf ewig mit dem ihrigen zu verbinden, sie nach dem schönen Frankreich zu führen und ihr dort ein Eden auf Erden zu bereiten – morgen aber schon kam sie von diesem holden Gedanken sehr weit zurück. Kapitän Caillards Benehmen gegen sie war bisweilen etwas unbegreiflich, das heißt in ihren Augen, da wir ja Wohl wissen, daß der kalte und egoistische Franzose scheinbar sich um Gylfe bewarb, nicht um sein ganzes Leben, sondern nur ein paar vergnügte Stunden in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Bisweilen zwar behandelte er sie so zart, so echt ritterlich, so milde, war so liebenswürdig, ja, wohl zärtlich gegen sie in Worten und Werken, daß kein Zweifel an seiner Neigung in Gylfes Herzen aufkommen konnte, aber immer wieder gab es Momente, wo er sie absichtlich zu vermeiden oder sogar ganz aus den Gedanken zu verlieren schien. Und das waren die Momente bei ihm, in denen er einzusehen glaubte, daß die Festung, die er belagerte, nur bis zu dem Punkte zu gewinnen sei, bis wohin er sie wirklich bereits in Besitz hatte, daß aber alle weitere Mühe vergeblich, also eine unnütze Anstrengung für einen Mann sein würde, dem die Pflicht obliege, Zerstreuung, Abwechslung und Vergnügen jederlei Art zu suchen, wo er sie eben finden könne. Daß Gylfe ihre Neigung so weit treiben wolle, ihm mit Aufopferung aller ihrer. bisherigen Verbindungen bis an das Ende der Welt zu folgen, war ein Akt weiblicher Hingebung, der weit über seine Absichten hinaus ging. Ja, wenn sie die Tochter des Grafen Brahe gewesen wäre und ihm eine Mitgift von zwanzig Gütern und eine Million Francs zugebracht hätte, dann freilich wäre die Sache einer Überlegung wert gewesen, und es hätte sich vielleicht verlohnt, sein hochgebildetes Vaterland mit der barbarischen Insel zu vertauschen, auf welcher diese Erbin als kleine Königin waltete. So aber war sie nur des Grafen Pflegetochter, das Kind eines anrüchigen Vaters, güter- und besitzlos, und was sie etwa zubrachte, wäre nur als ein Almosen zu betrachten gewesen, welches anzunehmen er in seiner Stellung als kaiserlicher Offizier mit seiner Ehre für unverträglich halten mußte.

Nun aber war Gylfes Neigung zu ihm etwas zu offenbar ans Licht getreten, seine ritterlichen Huldigungen, bei denen er sich nichts dachte und die ihm, wie manche andere alltägliche Redensarten gegen alle Damen zu entschlüpfen pflegten, waren diesmal mit zu großem Enthusiasmus aufgenommen worden, und das verträgt ein stolzer, herrschsüchtiger Mann, wie er einer war, selten, ohne dadurch einigermaßen belästigt oder abgekühlt zu werden. So waren denn die Momente einer rauheren Galanterie seinerseits sehr leicht zu erklären, und nur Gylfe verstand sie nicht, da sie längst darüber hinaus war, an seiner wahrhaftigen Liebe zu zweifeln und nur die Art der Darlegung derselben ihr noch zuweilen trübe Stunden verursachte.

Eine solche trübe Stunde nun durchlebte sie heute, und der Himmel wollte auch gar nichts tun, um sie zu erheitern, zu beglücken; er war so kalt, so finster, so grollend, kein einziger freundlicher Blick von oben, von außen fiel in ihr Inneres, und das vermehrte die herbe Stimmung, in der sie sich gerade befand, als wir zu ihr getreten sind.

»Was hat das zu bedeuten,« sagte sie in ihrem kummervollen Selbstgespräch, »daß François – so nannte sie den Kapitän, wenn sie mit sich selbst von ihm sprach – mit diesem, diesem Waldemar Granzow so eilig fortgeritten ist? Doch, das werde ich schon erfahren, wenn sie wieder zurückkommen, er hat ja versprochen, heute abend mit mir zu musizieren, zu lesen, und da wird er mir das Neueste seiner Erlebnisse mitteilen. Aber dieser finstere Waldemar – wie quält mich doch dieser Mensch, so lange er in diesen Mauern ist! Welcher Dämon hat ihn auf den Schwingen der Nacht herbeigeführt und was brütet er im Geheimen gegen alle aus? Denn daß er etwas Unheimliches im Schilde führt, sagt mir sein Auge, wenn es mir zufällig begegnet. Es blitzt rachsüchtig gegen mich auf, als wollte er mich einem verhängnisvollem Gerichte überliefern – warum? Weil ich diesen Franzosen liebe, diesen wirklichen Mann, gegen den alle, die ich bisher kennen gelernt, nur Kinder oder Puppen sind. Und mit diesem Schwächlinge, diesem Magnus will er mir drohen? O, Magnus ist mir schon als Knabe widerwärtig gewesen! In seinem Auge lag für mich eine dunkle, düstere Warnung, welche mich stets erbeben machte, als locke er ein schweres Verhängnis herbei, an das er selber glaubte, das er mit Gewalt heraufbeschwor, wenn es ihm nicht aus freien Stücken zu erscheinen geneigt war. Welche traurige Vereinigung so weit von einander stehender Gefühle und Personen! Die Erinnerung an diesen Grafen Brahe besucht mich wie ein Schatten aus schmerzenreicher Nacht, und dieser Caillard tritt als herrliches Lichtbild vor meine wonneschauernde Seele! Wie konnten sich diese beiden Extreme in meinem Herzen zusammenfinden, das eine mit Abneigung und Widerwillen, das andere mit Freude, mit. Wünschen, mit Hoffnungen mich erfüllend! Hu, wenn ich an diesen Magnus denke, wie er als bleicher trauriger Knabe immer an meiner Seite stand, dann wird es mir zu eng in diesem weiten Räume, und der alte Spuk, der in jenen finstern Turm gebannt ist, tritt aus meiner Kinderzeit mit entsetzlicher Lebendigkeit vor meine Seele. – Horch, Gylfe, horch, wie der Wind um die Giebel dieses Schlosses heult, wie es in den Kaminen klagt und stöhnt mit Geisterstimmen, wie die Windfahne auf der alten Kuppel des Spukturmes ächzend sich in ihren Angeln dreht – o mein Gott, wie schrecklich, wie öde, wie traurig ist das!

Ich wohne recht einsam hier in dieser Höhe – recht verlassen von aller Hilfe! Gott sei Dank, daß der Kapitän den Flügel da drüben lebendig macht mit seinem Sang und Klang, sonst würde ich mich ängstigen Tag und Nacht. – Ob es wohl wahr sein mag, daß in diesem Turm einst Verbrechen begangen sind, daß Blut seine Wände bespritzt hat? Etwas ist gewiß darin geschehen, was das Licht des Tages zu scheuen hat, denn sonst würde man seine Türen nicht vermauert und seine Fenster nicht verriegelt haben. Doch was geht das mich an – es ist nicht meine Familie, an der diese Gräuel haften – und doch, doch bin ich durch den Zufall sehr eng damit verknüpft. Bin ich nicht diejenige im Schlosse, die diesem gottverlassenen Turme in nächster Nähe wohnt? Sind meine Wände hier nicht auch seine Wände? Wenn nun einmal mitten in der Nacht sich die verborgenen Türen öffneten, die von ihm aus in alle Gemächer des Schlosses münden sollen, und das Gespenst von Spyker, wie man es nennt, an mich heranträte – hu! – mich mit seinen kalten Armen erfaßte – mir den Kuß seiner Vermählung auf die Lippe drückte – mein Gott, wie wird mir? Meine Stirn ist kalt wie Eis – meine Hände zittern – meine Füße beben –.«

So weit konnte sie nur zusammenhängend denken und sprechen. Sie sank auf einen seidenen Sessel, der mitten in dem großen Gemache stand, und starrte kalt und bleich nach der Turmseite des Zimmers hin, als könnten seine Wände sich spalten und der kalte Bewohner desselben, das viel beredete Gespenst von Spyker, mitten in ihr warmes Leben treten. Wie sie so dasaß, zitternd und bebend, und einen Frostschauer nach dem andern über den zarten Körper rieseln fühlte, der sich mit kaltem Angstschweiß bedeckte – wer hätte nicht an den Besuch der Erinnyen denken sollen, jener Rachegöttinnen des Altertums, die das verletzte Gastrecht, die Undankbarkeit, jeden Frevel am häuslichen Herd bestrafen und in das Gewissen des Menschen einziehen, der sich irgend einer Schuld bewußt ist, wer, sagen wir, hätte nicht an den unaufgeklärten Zusammenhang von Herzen und Herzen, Seelen und Seelen denken sollen, wenn er wußte, was wir wissen, daß das nur in der Einbildung der Bewohner von Spyker existierende Gespenst des Spukturms sich in ein lebendiges verwandelt hatte, daß es umging an diesem Tage, in dieser Stunde, daß es schon nahte – langsam, aber sicher, selbst mit zagendem Tritt, aber noch größeres Zagen vor sich hertreibend?

Die langen, blaß goldenen Locken vom bleichen Gesicht zurückgeworfen, das furchtblickende Auge starr auf die dicken Mauern gerichtet, mit den Weißen bebenden Händen bald hier, bald dahin fahrend, als könnten sie nirgends eine Stütze gewinnen, oder als bemühten sie sich, eine unbestimmte heranschreitende Gefahr abzuwehren – so saß Gylfe Torstenson, das schöne Fräulein von Spyker, wie auf einem Folterstuhle, den ihr das vergeltende Schicksal angewiesen, allein in der Mitte des abgelegenen, öden, mit seinem weiten, leeren Räume sie bedrückenden Gemaches.

Angstvoll, keiner Worte, keines Rufes mächtig, lauschte sie so auf das Brüllen des Sturmes, der sich in dem hohen Kamin zu einem leiseren Ächzen und Stöhnen abstumpfte, als wollte sie den Geistertritt der Vergangenheit vernehmen, Her doch mehr der Warnungsruf der Zukunft war da, da schrak sie zusammen, denn draußen, dicht an ihrem Zimmer, in der Ecke, die dem Turm zunächst lag, krachte es leise, wie wenn jemand vorsichtig die Treppe herunterstiege und doch dabei das schlafende Echo der Wände weckte. Dann aber rauschte es um sie her wie mit unsichtbaren Fittigen, und nie gehörte Geräusche schienen in allen Winkeln und Ecken, laut zu werden.

Gylfe stiegen die Haare zu Berge, ihr Busen hob sich ungestüm, sie keuchte beklommenen Atems einer unbekannten Gefahr entgegen. Da kam, es ihr vor, als taste eine suchende Hand an den Wänden draußen herum, ein rasselnder Ton ließ sich hören – und wie – tun sich wirklich die geschlossenen Wände auf? – Naht das Gespenst? – Denn in der Ecke am Fenster – Gylfe kam es erst wie eine Täuschung ihrer Sinne vor – entstand plötzlich eine Spalte – immer weiter und größer gähnte sie auf – und mit vorgestrecktem Kopfe, bleich wie er immer gewesen, aber höher, viel höher gewachsen und stärker geworden – trat Magnus Brahe selber herein.

Gylfe stieß einen Angstschrei aus, wollte aufstehen, fliehen, wenigstens die hinterste Ecke des Zimmers erreichen, aber sie vermochte es nicht, ebensowenig, wie sie ein verständliches Wort hervorbringen konnte, denn ihre Lippen waren sprachlos vor Erstaunen, wie ihre Füße von Furcht gefesselt.

Als Magnus, von der verborgenen Tür aus einen Blick durch das ganze Zimmer werfend, dann langsam gegen die Mitte desselben vorschritt und die selbst in ihrer Todesangst ihm so schön erscheinende Gestalt Gylfes vor sich sah, stockte auch ihm die Sprache, aber schnell sich fassend, brachte er mit heiserem Tone die Worte hervor: »Gylfe Torstenson – warum erschrickst du? Kennst du deinen alten Freund Magnus Brahe nicht mehr?«

Als Gylfe diese ihr so wohlbekannte Stimme vernahm und vor ihren weit aufgerissenen Augen das gefürchtete leblose Gespenst des Turmes in einen lebenden und noch dazu ihr bekannten Menschen sich verwandelte, belebten sich auch ihre erstorbenen Geister allmählich wieder. Sie schöpfte tief Luft, drückte die Hand auf ihr Herz und, nicht wissend, was sie sagen sollte, hatte sie nur Augen, um sie wieder zu öffnen und damit wie in ihre unschuldsvolle Kindheit zurück in das mattblaue, schüchterne Auge Magnus Brahes zu blicken.

»Gylfe!« wiederholte dieser seine Anrede, noch näher an sie herantretend und sein Herz an ihrem sich belebenden und erwärmenden Antlitz weidend, »ich frage dich, sprich, wenn du reden kannst, kennst du mich nicht mehr?«

»Magnus Brahe,« lautete ihre Antwort, die wie aus der tiefsten Tiefe ihrer Brust tonlos hervordrang – »bist du es wirklich? O, was willst du von mir und warum erschreckst du mich so, daß du wie ein Gespenst aus dem geisterhaften Turme deiner Vorfahren zu mir trittst – sprich, warst du der Bewohner desselben und flößest du den Menschen den Abergläubischen Schrecken ein?«

»Nein, Gylfe, ich flößte niemanden Schrecken ein, wenigstens hatte ich nicht die Absicht dazu, obgleich ich seit einigen Wochen den Turm bewohne, da mir ein anderer Raum im Hause meines Vaters versagt ist. Du selbst aber beruhige dich; ich komme nur, um mit dir ein Zwiegespräch zu halten, das mir so lange nicht vergönnt war und nach dem ich doch so lebhaft getrachtet habe.«

Bei diesen Worten, die Magnus mit seiner gewöhnlichen ruhigen Milde vorbrachte, schwanden die Schrecken aus des geängstigten Mädchens Herzen völlig, alle übernatürlichen Vorstellungen, die sie soeben heimgesucht, sanken in ihr Nichts zurück, und so streifte ihr Geist alle Furcht ab, und Bewegung und Leben traten wieder in ihre ruhig pulsierenden Adern ein. Mit diesem neuen Leben aber kehrten leider auch die alten Neigungen und Abneigungen wieder, und da Gylfe zugleich fühlte, daß sie an die Schwelle einer wichtigen Stunde getreten sei, waffnete sie sich mit dem ganzen leichtblütigen Mute, den Frauen ihres Charakters besitzen, und faßte auf der Stelle den Entschluß, diese Unterredung sollte die letzte sein, die sie mit dem Grafensohne hätte, daher müsse sie siegreich aus derselben hervorgehen, und Magnus müßten alle Wege abgeschnitten werden, sie noch einmal zu erschrecken und mit seiner leidenschaftlichen Verehrung zu verfolgen.

So nahm sie denn ihre Rolle wie eine geschickte Schauspielerin auf, und indem sie sich in ihrem Sessel zurechtsetzte und ihre Haare schnell in Ordnung brachte, nahm sie die Miene an, als sei sie zu dieser Unterredung aufgelegt oder habe sie vielleicht gar erwartet.

Magnus dagegen schaute sie wieder mit neuer Verwirrung an; die langen Vorbereitungen zu dem Gespräche, während derer sie sich auf ihre Rolle besann, flößten ihm eine unbestimmte Besorgnis ein, und so richtete er seine erstaunten Blicke fragend auf das immer noch schweigende Mädchen, das ihm noch viel schöner und reizender erschien, als es in seiner Einbildung bisher ihm vor Augen gestanden hatte.

»Gylfe,« bat er endlich mit flehender Stimme, »sprich, du hast mich erkannt?«

»Warum sollte ich dich nicht erkennen? Du bist Magnus Brahe, mein ehemaliger Gespiele, der seine knabenhaften Scherze noch immer nicht vergessen kann und erwachsene Mädchen erschreckt, wie er einst Kinder mit seinen Spukgeschichten erschreckt hat.«

»Dein Gespiele!« sagte Magnus vorwurfsvoll. »Und weiter bin ich dir nichts?«

»Ah, du willst es also hören! nun, so will ich es dir denn sagen: ja, du bist auch der Sohn Graf Brahes, Erbe dieses Hauses, einst vielleicht ein reicher und gewaltiger Mann, aber was will das sagen? Die Dankbarkeit, die ich deinem Vater schulde, verpflichtet mich nicht, dir die Wohltaten zu vergelten, die er mir erwiesen – ich danke sie ihm, und das muß dir genügen.«

»Was sprichst du von Dankbarkeit, von erwiesenen Wohltaten – wer denkt daran? Ich nicht. Ich denke vielmehr an etwas anderes. Erinnerst du dich nicht, mir einst noch etwas anderes gewesen zu sein, wenigstens mir die Hoffnung gelassen zu haben, es werden zu können?«

»Was wäre ich dir anderes gewesen und wozu hätte ich dir Hoffnung gemacht?«

»Du warst schon in meiner Jugend meine Geliebte und ließest mir Hoffnung, es auch in meinem Mannesalter zu sein.«

»Ach, Magnus, laß uns ein ernstes Wort reden – die Zeit dazu ist gekommen. Laß die kindischen Possen fahren, denn wir sind keine Kinder mehr, die Zeiten sind ernst geworden, und du wirst als Mann nicht von mir fordern wollen, was du als Knabe zu besitzen – dir eingebildet hast.«

»Was habe ich von dir zu besitzen mir eingebildet?«

»Muß ich dir auch das sagen: Ja, ich will es; vielleicht verstehst du mich besser, als du dich selbst verstehst. Du wähntest, mein Herz zu besitzen, aber dies Herz, Magnus, hast du nie besessen, und ich – höre es an und begnüge dich damit – ich besitze es selbst nicht mehr.«

»Dein Herz? Wie, du besitzest es nicht mehr?«

»Nein. Jetzt weißt du es. Aber ich gestehe dir kein Recht zu, danach zu forschen, wo es geblieben ist.«

Magnus schauerte unwillkürlich zusammen. Der kalte Ernst, mit dem Gylfe sprach, die ruhige Überlegung, die sich in ihrer frostigen Miene, in ihrem gleichgültig blickenden Auge zu erkennen gab, brachte ihn zur Besinnung, und zum ersten Male in seinem Leben, so bitter es ihm war, fühlte, begriff er, daß die vor ihm sitzende Tochter des gerichteten Schweden vielleicht nicht das Wesen war, dem er sich liebend und anbetend hätte nahen sollen. Wider Willen mußte er an den ehrlichen, geraden Waldemar Granzow denken und sich dessen Warnung und Vorhersagung ins Gedächtnis zurückrufen. Er hatte Gylfe besser erkannt, als er, sie nach ihrem wirklichen Wesen richtiger gewürdigt, und was dem anwesenden Freunde nie gelungen, es gelang dem abwesenden – die Erinnerung an seine Warnung erweckten den angeborenen Stolz des Grafensohnes und ließ ihn erkennen, daß er außer dem Liebhaber auch ein Mann sei und als solcher handeln müsse. Aber nicht mit einem Male gab er sich gefangen, er wollte noch schärfere Einsicht in Gylfes Stimmung und Gefühle gewinnen, denn er glaubte ihr immer noch nicht ganz.

»Ist dies das Ergebnis deiner vollen Überlegung?« fragte er etwas herber und richtete sich stolz empor, wobei seine blasse Wange eine ungewöhnliche Röte überstrahlte. »Wirst du auf dieser Meinung beharren und mir keine Hoffnung auf eine Wandlung derselben lassen?«

»Nie und nimmermehr, Magnus, es ist eine Meinung, die du schon früher hättest erfahren können, wenn du mich ernstlich danach hättest fragen wollen.«

Magnus zitterte vor Aufregung; er las den kalten Hohn aus den Blicken ab, die ihn ohne alle wohltätige Milderung des Gesagten anstarrten, einen Hohn und eine Kälte, wie er sie nie einem sterblichen Herzen zugetraut hatte, und diese Erkenntnis gab ihm vollends seine verlorene männliche Haltung und Würde wieder.

»Da du so ernst und gebieterisch mit mir sprichst,« sagte er fest, »so zwingst du mir die Notwendigkeit, ja die Pflicht auf, ein Gleiches mit dir zu, tun. So laß mich denn vor allen Dingen fragen: Was tust du hier an diesem Orte und zu dieser Zeit?«

»Ich lebe hier, wie auch du hier lebst, mit dem Unterschiede jedoch, daß ich mich öffentlich zeige, wo du dich heimlich verbirgst.«

»Das ist freilich ein Unterschied, der aber gegen dich spricht. Wer hat dir die Erlaubnis dazu gegeben, öffentlich – wie du es nennst – in dieser Zeit hier zu leben?«

»Dein Vater. Denn als er mich nach Schweden rief und ich mich dahin zu gehen weigerte, hat er mir keinen Ort bezeichnet, wohin ich mich begeben sollte, er gab also schweigend zu, daß ich hier bliebe.«

»Ach so! Er gab also nach deiner Meinung wahrscheinlich auch zu, daß du hier als Gebieterin und liebenswürdige Wirtin unter seinen – Gästen schaltest, ich aber, der Sohn des Hauses, als Gefangener unter denselben lebte? Das ist auch ein Unterschied, Gylfe Torstenson, den ich dich mir zu erklären bitte.«

» Der Unterschied erklärt sich von selbst. Du bist der Feind der Franzosen, die dieses Land in Besitz genommen, und wirst von ihnen verfolgt. Ich bin ein Weib, das mit niemanden kämpft, also auch nur diejenigen zu Feinden hat, die sich ihm als solche offenbaren.«

»Ach so! Und die Franzosen haben sich nicht als deine Feinde offenbart?«

»Niemals, im Gegenteil!«

»Und die Neigung ist gegenseitig, wie?«

»Ich gestehe dir kein Recht zu, danach zu fragen. Meine Neigungen gehören mir, und ich bekümmere mich um die deinigen nicht.«

»Das mag von deiner Seite richtig sein, von der meinigen aber ist es nicht ganz richtig. Denn ich erkenne mir selbst die Pflicht zu, mich um deine Neigungen zu kümmern.«

»Du gibst dir eine vergebliche Mühe, sage ich dir. Ich bin ich, und du bist du.«

»Kein Mensch könnte verständlicher sprechen, Gylfe, aber kein Mensch auch könnte über sich selbst den Stab schneller brechen, als du ihn brichst. So höre denn an, was ich davon denke. Es ist deiner nicht würdig, deiner Mädchenehre nicht zuträglich, deiner Vergangenheit nicht angemessen und deiner Zukunft nicht förderlich, in deinen verirrten Neigungen gegen diese Franzosen zu verharren. Denke vor allen Dingen an die Zukunft, Mädchen, wenn du mit deiner Gegenwart so zufrieden bist, und erinnere dich, daß, wie es ein Verhängnis gibt, so auch eine Vergeltung existiert, die uns für unsere Handlungen früher oder später, einmal aber ganz gewiss, zur Rechenschaft zieht.«

Gylfe lächelte spöttisch. »Ich höre eine heisere Stimme aus alter Zeit zu mir herübertönen, aber diese Stimme hat keine Gewalt über mich. Dein Glaube an ein Schicksal oder ein Verhängnis, wie du es so oft genannt hast und noch nennst, ist ein Schreckgespenst deiner kranken Phantasie, welches mich weder blendet noch furchtsam macht; deine Meinung von der größten Nation der Gegenwart aber ist ebenso irrtümlich, wie deine Phantasie, und darin könntest du viel von mir lernen, trotzdem ich weniger Erfahrung habe und an Jahren jünger bin als Du.«

»Wolltest du mich vielleicht in meinem Irrtum belehren und mir deine richtigere Erkenntnis enthüllen?«

»Gern. Wie du so töricht sein kannst, die Waffen gegen ein Volk zu ergreifen, welches das größte, mächtigste und ruhmreichste der Welt ist, begreife ich nicht. Wo du gegen sie auftrittst, wirst du immer der Besiegte, und sie werden immer deine Besieger sein. Das liegt in deiner Schwäche, und das liegt in ihrer Stärke. So beherrschen die Franzosen jetzt schon einen großen Teil Europas, und in wenigen Jahren werden sie es ganz unter ihre Füße getreten haben, wenn es sich nicht gutwillig fügt. Warum aber besiegt Frankreich das übrige Europa? Weil es das einzige Volk der Erde ist, welches einen wahrhaft großen Geist besitzt und darum verdient, an der Spitze der Nationen zu stehen. Dies, Herr Graf, ist eine Lehre, welche mir die Geschichte der Gegenwart aufgeschlossen hat.«

»Du versprichst dich,« unterbrach sie Magnus, spöttisch lächelnd. »Du wolltest sagen: der herrliche Kapitän Caillard.«

»Du hast recht, auch dieser hochherzige Mann hat sein Teil dazu beigetragen, mich über mich selbst und die Welt außer mir aufzuklären. Und darum achte und liebe ich ihn und sein Volk, das von der Vorsehung – auch von der deinigen, Magnus – die Mission empfangen hat, das Licht der Weisheit über die ärmliche Welt auszustreuen und die erhabenen Gedanken seines Herrschers zur Anerkennung zu bringen, soweit die schülerhaften Menschen die Gedanken eines solchen Meisters begreifen können.«

Magnus stand wie versteinert vor der mit hochgeröteten Wangen und blitzenden Augen sprechenden Prophetin, denn einen solchen Verfall ihres früher so gesunden Menschenverstandes hatte er ihr doch nicht zugemutet. Zuerst erschrak er, dann aber wurde er unwillig, und zugleich fühlte er, wie der Altar seines Herzens, auf dem bisher eine so warme und helle Flamme gebrannt, plötzlich kalt und dunkel wurde. Aber dieses Gefühl des Unwillens löste sich in Spott auf, als er an den meisterhaften Franzosen dachte, der sich Kapitän Caillard nannte, und von dem die Begeisterung ausgegangen war, die er hier in dieser stillen Inselgegend ungehört und ungesehen verpuffen sah. »Gott ist groß und Napoleon ist sein Prophet!« sprach er lächelnd, »und dieser Prophet hat einen gottbeseligten Priester in diesen Tempel gesandt, und dieser Priester nennt sich François de Caillard

»Lästere einen Mann nicht, dessen Würdigkeit du nicht kennst. Herr von Caillard ist nicht allein ein bedeutender, sondern auch ein liebenswürdiger Mann, eine Eigenschaft, die weder du noch alle deinesgleichen besitzen, denn auch darin sind eure siegenden Feinde eure Meister.«

Magnus zuckte verächtlich die Achseln und wollte sich umwenden, um das verblendete Mädchen, dessen Verirrung ihm unheilbar schien, augenblicklich zu verlassen. Als er sich aber der nur angelehnten Tür zukehrte, erwachte noch einmal ein, wie er dachte, schon fast erstorbenes Gefühl in seiner Brust: die Erinnerung an seine glückliche Jugend in Spyker tauchte mit unendlicher Lieblichkeit vor seinen geistigen Augen auf, und er drehte sich noch einmal herum und trat einen Schritt auf Gylfe zu, die stolz und trotzig wie eine Königin sich auf ihren Sessel zurückgelehnt hatte.

»Gylfe,« sagte er mit mitleidigem Tone, »du dauerst mich, denn dein kindliches Herz ist durch die verführerischen Künste eines gewissenlosen Menschen aus seinen natürlichen Grenzen gerissen, und ein trauriger Wahn, der sich einst schwer bestrafen dürfte, hat dein sonst so gesundes Urteil in Fesseln gelegt. Gylfe, armes, verlassenes Mädchen, wenn ich mich deiner nicht erbarmte, wer auf der Welt sollte es sonst tun? Besinne dich also, ehe es zu spät ist, erkenne deinen Irrtum und wende dich von dem falschen Götzen ab, den du in seiner krankhaften Gloire anbetest. Komm, laß den albernen Gecken, den Franzosen, der dein Herzblut vergiftet hat, fahren und werde wieder ein natürliches, gesundes Mädchen, wie du es früher warst; komm und folge mir nach Schweden, zu meinem braven Vater, und dort werden dir bald die Augen über deine Verblendung aufgehen, die ich von diesem Augenblick an vergessen will.«

»Magnus! Scherzest du oder sprichst du in Wahnsinn? Denn eins von beiden kann ich nur annehmen.«

»Du irrst doppelt, wenn du das tust, denn ich bin so geistesgesund, wie ich ernsthaft bin, und rate dir nur, was zu deinem Besten ist.«

»So befolge deinen Rat für dich allein und segle nach Schweden, denn hier möchte die Luft bald zu erstickend für dich sein.«

»Wie,« fuhr Magnus empört auf – »willst du mir damit drohen?«

»Nein,« entgegnete Gylfe kalt und schneidend, »du bist mir in keiner Weise fürchterlich oder gefährlich, also will ich dir auch nicht drohen – nimm aber meinen Rat an, er ist gut und möchte nicht lange mehr auszuführen sein.«

»Welche Verblendung!« rief Magnus schmerzlich ergriffen aus. »Kaum traue ich meinen Ohren; dergleichen hören zu müssen, waren sie am wenigsten vorbereitet. Gylfe, ich beschwöre dich, gehe in dich! O, denkst du daran, was mein alter Vater zu diesen deinen Entschlüssen sagen wird, wenn ich sie ihm überbringe?«

»Ich werde nicht hören, was er sagt, denn ich werde ihn in diesem Leben wohl nicht wiedersehen. Ja, Magnus, staune nicht, es ist wahr, was ich sage, und nun höre an, was dir den Schlüssel zu meinen Worten und Taten geben wird. Meines Bleibens an diesem Orte, unter diesem Dache wird nicht lange mehr sein, denn ich verlasse es, wenn Herr von Caillard es verläßt.«

»Ah, willst du ihm etwa folgen, um den Duft seiner Herrlichkeit am Throne seines Herrschers einzusaugen, der von Menschenblut dampft?«

»Ich werde ihm folgen, ja, du hast es gesagt.«

»Unglückliche! Und du vergissest dein Vaterland, die Pfleger deiner unberatenen Jugend, die Gastfreundschaft, das Wohlwollen, die Liebe, die dir die Rechte einer Tochter einräumten, die du so wenig verdienst?«

»Ich vergesse sie, ja, wie ich alles vergessen will, was mir Schmerzen und Unheil bereitet hat, also auch dich!«

»Gut, ich ergebe mich darein, denn ich sehe, du bist nicht zu retten. Aber gedenke dieser Stunde, arme Gylfe, wenn du verlassen und einsam auf der Welt bist, wenn dein jetziger herrlicher Freund und Beschützer dich im Stiche gelassen und deine Liebe mit Füßen getreten hat, wie du eben die meinige niedertratest. Dann wird niemand da sein, auf dem ganzen Erdenrund, Gylfe, der dir, wie ich jetzt zum letzten Male tue, die Hand entgegenstreckt, dann wirst du einsam und hilflos Deine Not den Winden klagen und am öden Strande deines Daseins stehen und vergebens nach dem Schiffe blicken, das dich einst in den Hafen der Ruhe und des Glücks führen wollte. Der Tag des Lebens wird dann vor deinen Augen verschwunden und alles, was du siehst, nur Nacht und Nebel sein. Gedenke dessen, ich präge es in deine Seele ein. Mich hast du vergessen, aber die Worte, die ich in dieser meiner qualvollsten Stunde zu dir gesprochen, wirst du nie vergessen.«

»Auch darin irrst du, denn ich habe sie gar nicht gehört. Wenn du mir aber nun noch eine Gunst erweisen willst, so entferne dich rasch, ehe der Mann zurückkehrt, den du so schmachvoll verläumdet hast. Er könnte sich rächen, also dich bestrafen wollen!«

»Unselige! Auch das noch? Fürwahr, der Becher deiner Schuld und Verirrung häuft sich übervoll! Willst du deinem schnöden Handeln vielleicht damit die Krone aufsetzen, daß du deinem ritterlichen Freunde die Anwesenheit Magnus Brahes verrätst?«

»Wenn ich es nicht tue, so wird es allein aus dem Grunde unterbleiben, weil ich deinem Vater dankbar sein will und mich erinnere, daß wir zusammen Kinder gewesen sind. Was du als Mann verbrochen hast, mag ein anderer strafen, ich fühle keine Lust, über dich die Peitsche zu schwingen.«

Sie machte eine stolze abweisende Geberde mit der Hand und deutete auf die angelehnte Tür. Magnus stand wie erstarrt, unbeweglich immer noch auf demselben Flecke und suchte ihrem Auge zu begegnen, mit dem sie ihm stets ausgewichen war. »Ich werde gehen, sogleich,« sagte er mit keuchendem Atem, »und die Luft um dich her wird bald rein sein von denen, die es allein gut mit dir meinten. Ich gehe, ja, ich gehe und kehre nimmer wieder. Es ist das letzte Mal, daß ich dein Auge sehe, dein blondes Haar und deine glatte Wange, über die Gott der Herr Blumen und Duft ausgestreut, die mich irre geführt haben, da ich noch blind und taub war. Jetzt aber bin ich sehend und hörend geworden, und mich verlockt nichts mehr an dir. Lebe wohl und vergiß diese Stunde nicht. Ach! schon sehe ich den Schatten sich zwischen uns breiten, der unsere Wege fortan trennen wird. Du hast ein treues Herz von dir gestoßen, und du wirst es allein zu büßen haben. Lebe wohl, lebe wohl, aber wehe dir, wehe!«

Er wollte sich von ihr abwenden, aber es gelang ihm nur schwer. Immer wieder kehrten seine Augen nach der geliebten Gestalt zurück, die er nur noch mit Wehmut betrachten konnte.

In diesem Augenblick vernahm man die Hufschläge der beiden zurückkehrenden Reiter. Fast zu gleicher Zeit ertönte ein starkes Glockengeläute, das in dem verschlossenen Turm an mehreren Stellen wiederhallte. Magnus hörte und verstand den warnenden Ruf, den ihm der wachsame Ahlström sandte. Wie er gekommen, gespensterartig, leise und langsam glitt er mehr zur verborgenen Tür als er schritt – und einen Moment darauf hatte sich die Wand hinter ihm geschlossen, und er schlüpfte eilig die verborgene Treppe in sein Turmzimmer hinauf.

Hinter ihm aber sank Gylfe auf ihrem Stuhle zusammen. Von seinen letzten prophetisch klingenden Worten wie von einer Unheilsahnung getroffen, die kalt über ihre Glieder rieselte, schlug sie die Hände vors Gesicht, als wollte sie so rasch wie möglich den Eindruck des schrecklichen Bildes loswerden, das ihr ein verzweifelter Mensch wie eine Vision der Zukunft gezeigt. »Wehe dir, wehe!« klang es in ihrer Brust wieder, und im ganzen Bereiche ihres Leichtsinns gab es keine Kraft, kein Vermögen, die diesen Ton aus ihren Ohren, aus ihrer Seele hätten verwischen und verbannen können.


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