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Siebentes Kapitel.
Ein männlicher und ein weiblicher Diplomat.

Obgleich Bodo von Sellhausen schon am zweiten Tage nach seiner Abreise von Hause ein paar Zeilen von der Hand der guten Treuhold erhalten hatte, worin diese ihm mitteilte, daß die Baronin von Grotenburg nebst Tochter das Gut wieder verlassen habe, so blieb er doch noch einige Tage länger aus, als er beabsichtigt, und dazu wurde er durch zufällige Umstände veranlaßt, die der Leser sehr bald erfahren wird.

Es ging am dritten Junitage gegen abend, als Bodo seinen alten Braunen wieder durch das Hoftor von Sellhausen lenkte, jedoch nicht von der Seite der Chaussee her, wo der Hof des Meiers zu Allerdissen lag, sondern fast von der entgegengesetzten Seite. Sein letzter Ritt war nicht von günstigem Wetter begleitet gewesen, es hatte stark geregnet, und da der Reisende mit keinem Mantel versehen war, kam er durchnäßt auf dem im Augenblick menschenleeren Hofe an. Er ritt sogleich vor den Stall, gab dem alten Kutscher sein Pferd und ging dann schnell in das Haus hinauf, wo er sein Zimmer erreichte, ohne von jemandem bemerkt zu werden.

Erst nachdem er sich umgekleidet, schellte er, und da war denn die schnell herbeieilende Stubenmagd Rieke überaus erstaunt, ihren Herrn in seinem Zimmer anzutreffen.

Er fragte zuerst nach Fräulein Treuhold und erhielt die Nachricht, daß dieselbe in der Küche sei, um über das Abendbrot ihre Bestimmungen zu treffen.

Kaum hatte die Magd das Zimmer verlassen, und Bodo wollte eben hinuntergehen, um die oberste Hausverweserin aufzusuchen, als diese atemlos die Treppe heraufgekeucht kam und ihrer Verwunderung alle Zügel schießen ließ, daß ihr junger Herr ohne ihr Wissen im Hause sei.

»Mein Gott, Herr Legationsrat,« rief sie, die ihr dargebotene Hand herzlich ergreifend, »Sie sind also da? Und wir wissen das nicht? Aber warum sind Sie denn so still hereingekommen? Ihnen ist doch nichts Unheilvolles begegnet?«

Bodo lächelte heiter und sagte: »Beruhigen Sie sich, Liebe, ich pflege ja auch sonst, denke ich, nicht viel Lärm mit meiner Person zu machen. Auch ist mir fast nur Gutes begegnet, und ich kam unbemerkt herein, weil ich das Pferd selbst in den Stall brachte und weil Sie alle bei der Arbeit waren und mich nicht bemerkten, was ich sogar loben muß, bestes Fräulein.«

»Ich nicht, o, ich durchaus nicht! Ich hatte mich so darauf gefreut, Sie kommen zu sehen. Aber Gott sei Dank, nun sind Sie da, und nun erzählen Sie mir, was Sie erlebt haben. Ich brenne vor Ungeduld, es ganz umständlich zu erfahren.«

»Das tut mir leid, dann werden Sie wohl noch eine Weile Ihre Ungeduld bezwingen müssen. Erst möchte ich wissen, was hier im Hause geschehen, nachdem ich es verlassen hatte. Und nun, liebe Freundin, setzen Sie sich und erzählen Sie mir alles recht genau – auch bin ich etwas neugierig auf Ihren Bericht.«

Die Alte setzte sich sogleich auf einen Stuhl am Fenster, Bodo nahm ihr gegenüber Platz, und nachdem sie sich wiederholt geräuspert, mit den Händen verlegen an ihrer Schürze gezupft und ihre gutmütigen Augen bald auf ihren Herrn, bald auf irgend etwas da draußen in der leeren Luft gerichtet hatte, begann sie ihre Erzählung.

»Ach ja,« sagte sie, »ich will es wohl erzählen, aber viel ist es nicht, das sage ich Ihnen im Voraus. Bald nachdem sie abgeritten waren, kam die Frau Baronin zu mir herunter – sie schien noch über irgend etwas sehr aufgebracht zu sein – und bat mich, einen Boten an ihren Mann zu senden, um ihn von dem Unglücksfall zu benachrichtigen. Das geschah. Abends ganz spät kam der Herr Baron geritten – und so hatte ich denn drei seltene Gäste im Hause.«

»Vortrefflich!« bemerkte Bodo dazwischen, »da werden Sie sich gefreut haben, endlich einmal Augen und Hände in der Küche rühren zu können. Aber was sagte der Herr Baron?«

»Anfangs, ja, als er kam, tat er sehr erschrocken; aber nachdem er in das Krankenzimmer gegangen und seine Tochter gesehen, wurde er wieder heiter und zuletzt sogar sehr vergnügt, als ich ihm eine gute Flasche Wein aus dem Keller des seligen Herrn auf den Tisch gestellt.«

»Ah, das ist ein gutes Zeichen. Die Herrschaften speisten also?«

»Gewiß, neben dem Zimmer, wo Fräulein Klotilde lag. Aber kein Mensch von uns ist dabei gewesen, denn der Herr Baron hatte seinen Bedienten mitgebracht, dem bald eine Art Jungfer folgte, und diese beiden warteten den Herrschaften auf.«

»Weiter!« rief Bodo in seltener guter Laune, als die Alte eine etwas lange Pause machte.

»Ja, weiter, gewiß. Das war nun der erste Abend. In der Nacht ging alles ganz ruhig her – ich hatte natürlich oben mehrere Zimmer öffnen lassen und auch der Zofe und dem Bedienten Quartier angewiesen. Am andern Morgen in aller Frühe kam Doktor Rüter und hielt, nachdem er die Kranke besucht, eine sehr lange Besprechung mit dem Herrn Baron. Mir selbst wollte er jedoch kein Wort darüber sagen, nur als er zu Pferde stieg, lachte er auf seine Art und rief mir zu: »Na, Fräulein Treuhold, nehmen Sie sich in Acht – keinen zweiten solchen Fall – das ist langweilig!« Ich fand das nun weniger als der Herr Doktor und ging in die Küche, um die fremde Jungfer zu fragen, was die Patientin essen dürfe.

Das alberne Mädchen aber machte mir ein schnippisches Gesicht und sagte: »Das Beste und Kräftigste, was Sie haben. Meine Baroneß bedarf dessen, da sie seit gestern morgen nichts Ordentliches genossen.« Ich wollte sie eben befragen, ob sie denn wieder Appetit habe, da kam Herr Hinz in die Küche, was gar nicht seine Gewohnheit ist, und gab mir einen Wink mit den Augen. Die Jungfer ging fort und ich fragte den Verwalter, was es gebe. »Kommen Sie nur,« sagte er, »es ist ein Wunder geschehen. Der Doktor kann hexen!« Und er zog mich fast mit Gewalt in den Garten und er deutete in die Ferne. Ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen, Herr Legationsrat, als ich sah, was er meinte. Denken Sie sich: nicht allein der Herr Baron und seine Gemahlin, sondern auch Fräulein Klotilde ging ganz gemütlich spazieren, und hinter ihnen trug ihr Bedienter einen Stuhl, damit sich das arme Kind jeden Augenblick setzen könne, wenn es ihr beliebte.«

»Ah,« sagte der aufmerksam zuhörende und noch mehr die seltsamen Geberden der Erzählenden beobachtende Legationsrat. »Das ist eigenartig. Ja, der Doktor kann hexen. Aber welches Glück! Also der schwere Fall hatte keine üblen Folgen gehabt?«

»Gott bewahre, im Gegenteil, möchte ich fast sagen. Als die junge Dame gegen Mittag zurückkam, war sie ganz munter und lustig, trillerte ein Liedchen, als sie die Treppe hinaufstieg, und aß mittags mit großem Appetit. Als sie aber abgespeist, kamen alle drei wieder herunter, durchliefen den ganzen Hof, besahen alle Scheunen und Ställe, dann wurde Park und Garten noch einmal in Augenschein genommen, dann kam das Haus, vom Keller bis zum Boden an die Reihe, wo ich selbst Führer machen mußte, weil ich nicht gern die Schlüssel aus der Hand gebe. Auf diesem ganzen Wege war Fräulein Klotilde sehr heiter, hatte für alles eine Bemerkung, lobte dies, und tadelte jenes und die Frau Baronin und der Herr Baron machten ein ganz erstauntes Gesicht, was kein Mißfallen verriet, vielleicht weil sie alles in bester Ordnung fanden. – Da trat die Frau Baronin plötzlich an mich heran, sah mich sehr vornehm an, reckte den Kopf straff in die Höhe und sagte: »Wann wird Herr von Sellhausen wiederkommen, wissen Sie das nicht?« – Ich ärgerte mich – Sie entschuldigen das wohl – über ihr Gesicht dabei und antwortete etwas hastig: Herr von Sellhausen wollte der so schwer verletzten Dame – dabei wies ich auf das hin und her tänzelnde Fräulein – die absoluteste Ruhe gönnen und so hat er mich beauftragt, ihm zu schreiben, wenn Sie abgereist sind, damit er auf keine Weise störend in die Verordnungen des Arztes eingreife. – Aber als diese Worte gesprochen, da hätten Sie den Blick sehen sollen, den die Baronin auf ihren Mann warf und wie dieser ihn nickend erwiderte. Na, es war zum Lachen, aber ich lachte natürlich nicht, denn ich ärgerte mich furchtbar. »Nun, meine Liebe,« sagte der Baron plötzlich mit einer honigsüßen Miene, die etwas Galle im Hintergrunde zeigte, »dann schreiben Sie Herrn von Sellhausen noch heute, daß wir sein Haus verlassen haben und für seine Gastfreundschaft unsern Dank versparen. Er wird uns hoffentlich bald selbst die Ehre und Gelegenheit geben, ihm unsere Gefühle ausdrücken zu können.« – Ich werde es schreiben und alles bestellen, sagte ich, wie Sie es aufgetragen. Und hiermit habe ich das wirklich getan, Herr Legationsrat!« setzte die Alte mit flammenden Wangen hinzu und strich sich die in der Aufregung zwanzigfach zusammengelegte Schürze wieder glatt.

»Nun, und was weiter?« fragte Bodo, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

»Was weiter? Nun, sie setzten sich alle drei gegen abend in den Wagen, den der Herr Baron selber fuhr, und kutschierten ab, nachdem der Bediente schon mit dem Pferde vorangeritten und die Jungfer zu Fuße abmarschiert war, obwohl sie recht gut noch auf der Kalesche oder wie das Ding heißt, Platz gehabt hätte. Und so war das Haus wieder leer, und ich schrieb Ihnen am andern Tage.«

Bodo schwieg und trommelte sinnend mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. Plötzlich drehte er den Kopf herum und sagte sehr ernst: »Der Doktor Rüter ist wirklich ein sehr geschickter Mann; wir können froh sein, einen so tüchtigen Arzt in der Nähe zu haben. Also die Patientin war genesen?«

»Vollständig, Herr Legationsrat. Oder vielmehr – doch das geht mich nichts an.«

»Was wollen Sie sagen?« fragte Bodo gleichgültig. »Etwa wie Ihnen das Fräulein gefallen hat?«

Fräulein Treuhold sah ihren Herrn groß an, als wolle sie erspähen, ob er das im Ernst sage, was aus seinen Mienen nicht im geringsten zu erkennen war. Er verstand ihren Zweifel auf der Stelle und sagte: »Nun, sprechen Sie doch – wie hat sie Ihnen gefallen?«

Fräulein Treuhold zupfte ihre Schürze nach allen Richtungen, seufzte tief auf und versetzte dann: »O, sie ist ein ganz hübsches Mädchen, sehr wohl erzogen, wie es scheint, und außerordentlich gesprächig. Mit ihrer Mutter sprach sie nur Französisch und das verstand ich nicht. Doch ob Sie Ihnen gefallen wird, weiß ich nicht, da ich ja Ihren Geschmack nicht kenne.«

»Das werden wir bald erfahren, liebe Freundin, denn morgen fange ich meine Besuche bei den Baronen an und am Sonntag, dem dritten Tage, gehe ich nach der Grotenburg. Dann werde ich das Glück haben, Fräulein Klotilde von Angesicht zu Angesicht zu sehen. – Doch nun, liebe Treuhold,« sagte er mit völlig verändertem Gesicht, »lassen wir die Grotenburgs – Grotenburgs sein und reden wir von etwas anderem!«

»Ja!« fuhr die alte Dame mit einem wahren Freudensprunge auf und ihr Gesicht leuchtete sogleich von der alten Herzlichkeit wieder, die während ihrer vorigen Erzählung aus ihrem Wesen ganz verschwunden war. »Ja, nun erzählen Sie mir, wo Sie gewesen sind und was Sie erlebt haben. Darauf bin ich noch neugieriger, als sie auf Fräulein Klotilde waren.«

Der Legationsrat lächelte und erwiderte: »Meine Neugier ließ sich halten, liebe Treuhold, aber da Sie mir so gute Nachricht über den traurigen Vorfall geben, so bin ich zufrieden und erzähle Ihnen noch einmal so gern, was mir begegnet ist. Zuerst also bin ich zum Meier zu Allerdissen, Ihrem Vetter, geritten.«

»Na!« rief die Alte, »nun bin ich erst recht neugierig, wie hat Ihnen der gefallen!«

»Ganz vortrefflich,« erwiderte er rasch und mit einem Ausdruck so warmer Empfindung in Miene und Stimme, daß der alten Dame kein Zweifel bleiben konnte, sie komme aus seinem Herzen hervor. »Ja, er ist ein Mann,« fuhr er lebhafter fort, »wie man sie gegenwärtig nur selten findet: bei dem Verstand und Gemüt, Geist und Herz in vollkommenem Einklang stehen, ein Mann, der ebenso viel tatkräftigen Willen, Energie im Handeln, wie Wohlwollen und Maß im Urteil über andere besitzt. Mit einem Wort, ein Mann, liebe Treuhold, auf den Sie als Verwandten stolz sein können, zu dem ich mich hingezogen fühle und mit dem ich hoffentlich recht häufig zusammenkommen werde.«

Das Gesicht des alten Fräuleins glühte vor innerer Befriedigung. So fest sie auch von dem wirklichen Wert des Meiers überzeugt war, so hatte sie doch kaum erwartet, daß der einfache schlichte Mann einen so günstigen Eindruck auf ihren jungen Herrn machen würde, den sie bis jetzt noch bei weitem mehr nach seiner früheren Stellung im Leben, als nach seinen menschlichen Empfindungen zu beurteilen gewohnt war. »O, wie sehr freut mich das,« rief sie wiederholt, »nun kommt die alte Freundschaft wieder in Gang, die ich durch den Tod ihres seligen Herrn Vaters schon abgebrochen glaubte.«

»An mir soll es nicht liegen,« erwiderte Bodo, »wenn die neue Freundschaft der alten an Wärme und Dauer nicht gleich kommt.«

»Nun, an dem wackern Meier gewiß auch nicht. O Gott, jetzt kann ich ihn loben, da Sie ihn selbst gelobt haben. Das war ein Stein, der auf meiner Seele lag, und Sie haben ihn nun für immer fortgenommen.«

Bodo lächelte heiter. Nach einigem Schweigen jedoch ging dieser Ausdruck in den eines tiefen Ernstes über und er sagte in seiner alten ruhigen Weise: »Vom Meier ritt ich nach B...«

»Ah,« unterbrach ihn die Alte, deren Neugierde fast einen heftigen Charakter annahm, »trafen Sie den Herrn Justizrat zu Hause?«

»Ja, ich traf ihn zu Hause.«

»Aber, mein Gott, Sie sprechen das so ernst und bedeutungsvoll – hat er Sie etwa nicht freundlich aufgenommen?«

»Gewiß, liebe Treuhold, gewiß. Er war voll Höflichkeit und Artigkeit, wie man es nur wünschen kann, und ich mußte am nächsten Tage bei ihm zu Mittag speisen, mochte ich wollen oder nicht. Aber –«

»Aber – nun, was kommt denn jetzt noch? Ich ängstige mich. Haben Sie etwa über das Testament mit ihm gesprochen?«

Bodo schwieg eine Weile, wiederum leise mit den Fingern gegen die Scheiben trommelnd, dann aber sagte er entschlossen: »Ja, ich habe mit ihm darüber gesprochen.«

»Es hat aber Ihrer Erwartung nicht entsprochen, was er gesagt, nicht wahr?«

»Sie haben es erraten. Ei, wie Sie schlau sind! Ja, in allem übrigen so redselig, so freundlich, so entgegenkommend, war er in diesem Punkt zugeknöpft bis an die Augen, und selbst seine Blicke taten mir nicht kund, was ich von ihm zu erfahren wünschte. Genug, er vertröstete mich auf den ersten August, auf meine Erklärung über die Annahme oder Ablehnung der väterlichen Bedingung und berief sich in bezug auf sein Schweigen auf das Wort, welches er dem Erblasser darüber gegeben.«

»Und weiter sagte er Ihnen nichts?«

Bodo antwortete nicht gleich, und doch war für das ihn so gespannt und scharf beobachtende Auge des Fräuleins auf seinen Mienen zu lesen, daß der Justizrat allerdings noch etwas anderes gesagt. »Nein,« versetzte er endlich, »ich glaube nicht, daß er mir noch etwas anderes sagte.«

»Das wundert mich!« lautete die gedehnte Antwort von den Lippen der alten Dame.

Der Legationsrat schien diesen Ausruf nicht zu hören und verschwieg hartnäckig dem Fräulein, was ihm der Sachwalter seines Vaters weiter mitgeteilt. Für uns indessen braucht dies kein Geheimnis zu sein, und so teilen wir denn mit, daß Herr Möller seinem jungen Klienten die bei ihm vorrätig liegenden Gelder angeboten, da keine Klausel, kein Befehl, kein Wunsch des Verstorbenen vorhanden, der seinem Sohn den vollen Nießbrauch seines Vermögens bis zum ersten August vorenthielt. Bodo aber hatte die Nutzung der ihm überwiesenen Summen bestimmt abgelehnt, indem kein Bedürfnis dazu bei ihm vorliege, und den Sachwalter gebeten, sie in den Büchern als Überschuß weiterzuführen und das nach Abzug der nötigen Zinsen Übrigbleibende zum baren Kapital zu schlagen. Als er dann aber nach den Gläubigern seines Vaters gefragt, hatte der Justizrat erklärt: darüber zur Zeit zu sprechen, besitze er durchaus keine Vollmacht. Am ersten August werde sich alles erklären, wenn Bodo der einzige Erbe sei, uns er, der Justizrat, wünsche dann in der Lage zu sein, dem Herrn Legationsrat ein recht günstiges Resultat seiner Verwaltung vorlegen zu können.

Daß Fräulein Treuhold dergleichen Mitteilungen ahnte, ist sehr wahrscheinlich, aber in ihrer bescheidenen Zurückhaltung, die sie in betreff der Verhältnisse anderer stets an den Tag legte, deutete sie nicht im entferntesten darauf hin; vielmehr begnügte sie sich mit dem in Erfahrung Gebrachten und sagte nur: »Aber wo sind Sie denn in den übrigen drei Tagen gewesen?«

Bodo fuhr wie aus einem Traum auf, der nicht gerade überaus angenehm gewesen, das Erwachen daraus aber schien ihm um so erfreulicher zu sein, und er sagte sogleich mit erheiterter Miene: »Ja, das will ich Ihnen nun erzählen. Bei Tische in des Justizrats Hause traf ich unerwartet einen Bekannten, des alten Pfarrers, der mich erzogen, einzigen Sohn, mit dem ich gespielt und gelernt und der nun selbst da drüben im Gebirge jetzt Seelsorger einer stattlichen Gemeinde ist. Da ward denn eine große Freude laut, wie sie sich wohl denken können, und ich konnte nicht umhin, ihn in seine schöne Heimat zu begleiten und einige Tage bei ihm zu bleiben.«

»Das war recht,« sagte die Treuhold, »und ich kann mir denken, wie glücklich Sie waren, einen so alten Jugendbekannten wiederzufinden.«

»Gewiß. Und da tauchten alle alten Erinnerungen wieder in uns auf, wir riefen uns seinen braven Vater ins Gedächtnis, dem ich so viel verdanke, da er ja meinen Vater zumeist veranlaßt hat, mich wissenschaftliche Studien treiben zu lassen, und so war es natürlich,« – hier stockte der Erzähler einen Augenblick – »daß ich plötzlich Sehnsucht empfand, die alte Stätte wiederzusehen, wo ich mehrere Jahre meiner Jugend verlebt habe, und so ritt ich von meinem Freunde endlich fort, und nahm den Weg über – über Breitingen.«

»Über Breitingen?« rief Fräulein Treuhold ganz erstaunt. »Und Sie haben den jetzigen Pfarrer daselbst kennen gelernt?«

»Ja, ich habe ihn besucht und einen sehr verständigen Mann in ihm gefunden, der uns nächstens auch seine Gegenwart schenken wird.«

Fräulein Treuhold schwieg und senkte die Stirn nieder, da sie wohl selbst fühlte, daß ihr das Blut lebhafter in die Wangen stieg.

»Was macht Sie darüber so nachdenklich?« fragte Bodo ruhig lächelnd.

»Nachdenklich? O, nicht gerade das, aber – aber – haben Sie auch die junge Frau des Pfarrers gesehen?«

»Gewiß, und es ist das eine sehr hübsche und gebildete junge Frau, die sich in jeder Gesellschaft mit Vorteil zeigen kann – sie wird auch ihren Mann begleiten, liebe Treuhold, wenn er uns besucht.«

»Warum lächeln Sie denn dabei?«

»Wenn ich es tue, so geschieht es unwillkürlich über – Ihr erwartungsvolles Gesicht. Sie scheinen noch etwas mehr hören zu wollen?«

Dies war in der Tat der Fall. Da der Legationsrat aber durchaus nicht mehr zu sagen für gut befand und Fräulein Treuhold zu vorsichtig bezüglich einer weiteren Frage war, so sagte sie bloß: »Daß ich nicht wüßte, gnädiger Herr, und ich danke Ihnen sogar für Ihre Freundlichkeit, mich so genau von Ihren Erlebnissen unterrichtet zu haben. Auch freue ich mich, daß Sie auf Ihrer kleinen Reise Vergnügen und Freude gehabt – ich aber habe auch eine gehabt und die verdanke ich sogar Ihnen.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Bodo, der wirklich nicht erriet, worauf die alte Dame zielte.

Diese rückte etwas näher an ihn heran, legte ihre Hand leise auf seinen Arm, wobei sie ihn liebevoll ansah und sagte: »Sie haben sich meiner einsamen Lage erinnert und mir eine Gesellschafterin gegeben, wie ich mir keine bessere wünschen konnte. Vor drei Tagen kam der Meier zu Allerdissen herübergefahren und teilte mir mit, was er mit Ihnen über seine Tochter verabredet. Das war eine ganz unerwartete Freude für mich, und wir besprachen sogleich, was zu besprechen war. Tags darauf brachte er mir Gertrud her, mit ihren Büchern und Stickereien, und da war die Freude erst vollkommen. So haben wir denn eine neue Hausgenossin, gnädiger Herr, die uns hoffentlich keinen Kummer verursachen wird. Ich dachte nun, es würde Ihnen recht sein, wenn ich ihr eins meiner Zimmer abträte, und nun habe ich sie ganz in meiner Nähe, bei Tag und Nacht, als ob sie meine Tochter wäre. Ach, du lieber Gott, ja, Kinder, wenn sie wie diese sind, können einem Menschenherzen doch große Wonne bereiten.«

Bodo hörte diese lebhaft gesprochenen Worte aufmerksam an, aber er verzog keine Miene dabei. Nur sein Auge leuchtete heller auf, als er die Freude der Alten sah, und ihre Dankbarkeit, die sich in ihrem ganzen Wesen aussprach, tat ihm sichtbar wohl. Endlich, als das Fräulein schwieg, nickte er mit dem Kopfe und sagte einfach:

»Es ist mir lieb, daß Ihnen dieses Übereinkommen mit Ihrem Vetter recht ist. Hätte ich eine Ahnung von den Verhältnissen gehabt, so wäre Ihr Wunsch schon früher zu erfüllen gewesen, und Sie hätten den langen Winter nicht so still zu verleben brauchen. Jetzt erst sehe ich ein, wie einsam Sie gewesen sind. Doch das Angenehme kommt immer zur rechten Zeit.«

»Jawohl, jawohl, und noch heute abend werde ich Ihnen mit Ihrer Erlaubnis meine Nichte vorstellen, die sich schon fleißig in der Wirtschaft bewegt und gleich am ersten Tage alles in allem in Augenschein genommen hat. Nun, von mir wird sie freilich nur wenig lernen können, denn in vielen Dingen weiß sie besser Bescheid als ich. Nur in der Küche, der Anrichtung soll sie von mir eine Kleinigkeit annehmen, und da, gnädiger Herr, werden Sie bald ihre Einwirkung bei Tische verspüren.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Bodo, da die alte Dame ein zweifelhaftes Lächeln blicken ließ.

»Nun, ich will dem guten Mädchen doch nützlich sein, wo ich kann und werde von jetzt an mit Ihrer Erlaubnis etwas mehr Sorgfalt auf Ihre Tafel verwenden. Sie haben vielleicht die Güte, die Gerichte verspeisen zu helfen, an denen unsere kleine Hausfrau sich versuchen muß?«

»Immer zu!« sagte Bodo und stand auf, um ein paar Schritte im Zimmer hin und her zu tun. »Ich esse, wie jedes Menschenkind, gern, was gut schmeckt, und etwas anderes werden Sie Ihrem Zögling nicht beizubringen versuchen. Nun – Sie machen ja mit einem Male ein bedenkliches Gesicht. Was gibt es denn noch?«

»Ach, gnädiger Herr, allerdings möchte ich noch mit Ihnen über einen Punkt reden. Es betrifft eben unsern Tisch. Bisher gestatteten Sie mir und Herrn Hinz, daran teilzunehmen. Da wir jetzt aber noch einen dritten Teilnehmer gefunden, möchte Ihnen die Gesellschaft zu groß werden, und Sie ziehen es vielleicht vor, allein zu speisen, während wir drei zusammen bleiben.«

»Fräulein Treuhold!« sagte der Legationsrat mit sehr ernster Miene: »Was sprechen Sie da! Was würde der Meier, unser aller Freund, und auch seine Tochter von dieser Trennung denken? Sie würden sich mit Recht darüber wundern. Nein, nein, halten Sie mich nicht für so – wie soll ich sagen, denn stolz ist nicht das rechte Wort – für so albern und eingebildet auf gewisse Rangverhältnisse des Lebens, daß ich Ihrer Nichte, einer überdies gebildeten Person, die Teilnahme an meinem Tisch versagen sollte.«

»O nein doch, das weiß ich sehr wohl, daß Sie das nicht sind – aber das liebe Kind hat – wie soll ich sagen – einen kleinen Starrsinn in gewisser Beziehung mitgebracht.«

»Einen kleinen Starrsinn? Welcher wäre denn das?«

»Sie will nicht in ihren städtischen Kleidern in Sellhausen erscheinen, damit man sie nicht für etwas halte, was sie am wenigsten sein mag. Im Gegenteil, sie ist in ihren Hauskleidern hierhergekommen und will dieselben beibehalten, so sehr ich sie auch schon deshalb zur Rede gestellt.«

Bodo dachte einen Augenblick still nach. »Daran haben Sie sehr Unrecht getan, meine Liebe,« sagte er dann, »denn die Hauskleider stehen der Meierstochter sehr gut und sind überdies von einer Art und einem Stoff, daß –«

»Wie denn?« rief die gute Treuhold verwundert. »Woher wissen Sie denn das? Haben Sie sie denn schon gesehen?«

Der Legationsrat lachte leise vor sich hin. Er hatte wider Willen sein kleines Geheimnis verraten. »Ja,« sagte er, »ich habe sie gesehen.«

»Aber wo denn? Davon hat sie mir ja nichts gesagt.«

»Sie weiß es auch nicht. Sie unterrichtete Kinder in der Spinnstube und ihr Vater führte mich an ein Fenster, durch welches ich sie – oberflächlich betrachten konnte.«

Es entstand eine Pause. Bodo ging im Zimmer hin und her und blätterte in seinen Büchern. Fräulein Treuhold aber schwieg in stiller Verwunderung, dass ihr lieber Herr doch auch in gewissen Fällen ein diplomatisches Schweigen zu bewahren verstehe und ihr nicht alles erzählt habe, was ihm auf seinem Ausfluge begegnet. Endlich aber sagte sie:

»So, so! Nun dann habe ich Ihnen mit Ihrer Erlaubnis noch eine Frage vorzulegen, deren Erledigung ich vorher vergebens von Ihnen erwartete. Hat denn die Pfarrerin von Breitingen nicht von der Gertrud gesprochen, als Sie bei ihr waren? Denn Sie müssen wissen, beide sind Freundinnen und haben sich sehr lieb.«

Bodo lächelte wieder. »Sie kommen hinter alle meine Schliche, Liebe!« sagte er dann. »Wenn man auch anfangs schweigt, Sie verstehen am Ende doch zu erfahren, was Sie wissen wollen. Ach ja, es ist ja wahr, ich habe schon früher die Bemerkung gemacht, daß die Frauen geborene Diplomaten sind. Nun ja, ich kann Ihre Frage genügend beantworten. Die Pfarrerin hat sehr viel von ihrer Freundin gesprochen und mir sogar die herzlichsten Grüße an sie aufgetragen.«

»Dachte ich es mir doch!« rief die alte Dame vergnügt. »O, was die Männer geheimnisvoll sind! Nun, dann werden wir heute abend bei Tische eine fröhliche Unterhaltung haben. Hoffentlich haben Sie Appetit mitgebracht?«

»Ja, liebe Treuhold, einen besseren, als ich ihn hatte, da ich fortging. Doch ich denke, es wird bald Zeit sein, in das Speisezimmer zu gehen?«

»Gewiß, gnädiger Herr, und ich gehe voraus, um alles in Ordnung zu bringen. Sie sollen gerufen werden, wenn alles imstande ist.«

*

Die gute Haushälterin sollte im Speisezimmer nicht viel mehr in Ordnung zu bringen haben, dafür hatte nach ihrer einmaligen Anweisung für diesmal und von jetzt an jeden Tag eine andere Hand Sorge getragen. Wenigstens war der Legationsrat, als er bald darauf in das kleine Gemach trat, wo man gewöhnlich speiste, einigermaßen überrascht, eine Anordnung des Tisches zu finden, wie sie früher nicht stattgefunden. Nicht als ob Fräulein Treuhold, als sie noch allein im Hause waltete, nicht genügende Sorgfalt darauf verwendet, nein, das hieße der guten Dame einen unverdienten Vorwurf machen, aber in manchen in die Augen fallenden Kleinigkeiten war dennoch ein frischerer Sinn und ein feinerer Geschmack wahrzunehmen. Nicht allein war die glänzende Damastdecke mit Blumen zierlich geschmückt, auch die Anordnung des Ganzen, die haarscharf genaue Aufstellung des Geräts, der schönen blaugrünen Römer, die von dem seligen Herrn von Sellhausen herstammten, war eine andere, für das Auge gefälligere geworden, so daß sich eine besondere Absicht oder Vorliebe für dergleichen darin verriet.

Als Bodo noch im stillen seinen Gedanken hierüber nachhing, ging die Tür auf, und Fräulein Treuhold führte ihre Nichte herein, um sie dem Hausherrn mit wenigen Worten vorzustellen.

»Mein lieber gnädiger Herr,« sagte die alte Dame, mit einer gewissen freudigen Aufregung Gertrud an der Hand vorführend, »hier haben Sie meine Nichte, des Herrn Meiers zu Allerdissen Tochter Gertrud – und hier, Gertrud, siehst du meinen freundlichen Herrn, den Herrn Legationsrat von Sellhausen.«

Als Bodo die herrliche Gestalt der Vorgestellten zum ersten Male so dicht an sich herantreten und diese sanften, klugen Augen vertrauensvoll und mit natürlichster Ungezwungenheit auf sich gerichtet sah, als er die zierlich bescheidene Verbeugung wahrnahm, mit welcher sie ihm so anspruchslos entgegentrat, da ging eine seltsame Täuschung in ihm vor. Es schien ihm nicht die Tochter des Meiers, ein junges Mädchen vom Lande zu sein, welches ihn hier begrüßte, nein, es war eine Dame aus der großen Welt, die nur zum Scherz sich in diese gefällige ländliche Tracht gekleidet hatte und nun seinen Scharfsinn auf die Probe stellte, ob er sie in ihrer Verkleidung erkennen und richtig behandeln würde. Demgemäß glich seine Verbeugung auf ein Haar der, wie er sie vor einer vornehmen Dame gemacht haben würde, und er sprach auch, ohne sein Wissen, mit ausdrucksvoller und beinahe ergebungsvoll klingender Stimme:

»Seien Sie mir willkommen! Ich wünsche aufrichtig, daß Ihr und Ihres Vaters Wunsch in diesem Hause in Erfüllung gehe, und daß es Ihnen an dem stillen Orte gefallen möge!«

»Ich danke Ihnen, Herr von Sellhausen,« lautete die mit milder Schüchternheit gesprochene Antwort, »für die Erlaubnis, einige Zeit bei meiner Tante wohnen zu dürfen, und werde mich bemühen, Ihnen so wenig Unruhe wie möglich zu verursachen. Mein Vater läßt Sie freundlichst grüßen, und auch er dankt für das Wohlwollen, was Sie ihm durch jene Erlaubnis erwiesen haben.«

Rieke, die soeben die Suppe hereintrug, unterbrach die Fortsetzung des ersten zeremoniellen Gespräches; gleich darauf nahm man Platz und fing ohne weiteres an zu speisen, da der Verwalter noch durch Geschäfte von der Teilnahme abgehalten war.

Bei der großen Gewandtheit, die der Legationsrat besaß, eine gesellige Unterhaltung geschickt einzuleiten und fließend fortzusetzen, ging der erste Zwang der drei Personen, als sie sich nun gegenüber saßen, rasch vorüber, und in wenigen Minuten rollte das Gespräch ruhig fort, als ob man sich schon lange gekannt. »Es freut mich,« sagte er unter anderem, »daß ich Sie schon heute abend hier treffe, nun kann ich die Grüße ganz frisch überbringen, die mir die gute Frau Pfarrerin in Breitingen heute morgen an Sie aufgetragen hat.«

Das war nun allerdings ein Stoff, für den das Gemüt des jungen Mädchens empfänglich war. Ihre Wange belebte sich, ihr sanftes Auge wurde feuriger, und sie ergoß ihr Gefühl in einer aus dem Herzen strömenden Fülle anerkennender und dankbarer Worte über das Pfarrhaus in Breitingen, wo sie so viele glückliche Stunden verlebt.

»In diesem Punkte haben wir ein gleiches Schicksal gehabt,« erwiderte Bodo. »Ich habe mehrere Jahre meiner frühesten Jugend darin zugebracht, und wenn es Ihnen Vergnügen gewährt, wollen wir bei Gelegenheit die kleinen Abenteuer austauschen, die Sie ebenso gut wie ich daselbst erlebt.«

So war denn das Eis gebrochen, und schon nach der ersten halben Stunde floß die Unterhaltung so zwanglos hin, als ob die Verhältnisse ganz anderer Art wären, als sie sich Fräulein Treuhold in ihrer altjüngferlichen Ängstlichkeit vorgestellt. Das harmlose Geplauder über den benachbarten Pfarrhof wurde aber bald durch den Verwalter unterbrochen, der von seiner Arbeit hereinkam und seinen gewöhnlichen Platz am Tische neben dem Hausherrn einnahm.

Nachdem Herr Hinz rasch das ihm Dargebotene genossen und über verschiedene Geschäftsgegenstände seine Bemerkung gemacht, entstand eine kurze Pause, die Bodo mit der Frage unterbrach:

»Was werden wir morgen für Wetter haben, Herr Hinz?«

»Ich hoffe auf gutes, Herr von Sellhausen. Es ist etwas kühler geworden, und ein leichter Nebel flattert in den Höhen, der sich gewiß bis morgen senken und dann klare Luft machen wird.«

»Das ist mir lieb,« erwiderte Bodo. »Ich habe beschlossen, morgen meinen ersten Besuch auf Kranenberg abzustatten, und ich möchte nicht gern durchnäßt vor der Frau Baronin erscheinen.«

»O, dafür hab ich schon gesorgt, Herr von Sellhausen. Ich habe Ihres Herrn Vaters Chaise restaurieren lassen, das neue Sielzeug ist auch in bester Ordnung, und Sie fahren also ganz behaglich bis auf den Hof des Herrn Barons.«

Der Legationsrat sah den Verwalter verwundert an. »Nichts von der Chaise, nichts überhaupt von Fahren, Herr Hinz,« sagte er ernst. »Lassen Sie meinen alten Braunen ordentlich in Stand setzen, denn ich werde reiten wie bisher.«

Jetzt erhob der Verwalter das Gesicht und starrte seinen Herrn einigermaßen betroffen an. »Sie wollen den alten Braunen reiten?« fragte er, als ob er nicht recht gehört zu haben glaubte.

»Gewiß, warum nicht? Ich reite ja so gern.«

»Das weiß ich wohl, Herr von Sellhausen, aber – Sie entschuldigen meine Bemerkung,« fügte er mit einem Blick auf Gertrud hinzu, die ihre Augen auf den Teller niedergeschlagen hielt, als fühle sie sich als überflüssige Person bei diesem Gespräch – »der Braune mag in seiner Art ein recht braves Tier sein, aber zu Ihrem Reitpferd bei dem ersten Besuch auf Kranenberg scheint er mir denn doch nicht ganz geeignet.«

»Warum nicht?«

Gertrud wollte sich erheben und gab ihrer Tante schon einen leisen Wink. Bodo aber, der seine Augen überall hatte, fing ihn auf und sagte freundlich zu ihr: »O, bitte – bleiben Sie doch! Sie werden noch oft genug Geschäftsgespräche zwischen uns zu hören haben.«

»Warum nicht?« wiederholte der Verwalter mit bescheidenem Nachdruck. »Ei – ich möchte – Sie sollten –«

»Nun, was möchten Sie und was sollte ich? Heraus mit der Sprache, lieber Freund!«

»Was werden die Herren Barone, die nur Vollblutpferde reiten und fahren, zu Ihrem Braunen sagen, meine ich –«

»Was sie wollen, mein Lieber. Wenn sie weiter nichts an mir zu tadeln finden, als mein Pferd, so kann ich zufrieden sein. Überdies scheint es mir gerade für meine besonderen Verhältnisse« – er betonte das Wort – »die ich durchaus nicht zu verheimlichen gedenke, geeignet, in höchst bescheidener Weise vor meine Verwandten zu treten, und ich gelange so besser zu meinem Zwecke, als käme ich mit erborgtem Prunk und Pomp auf ihren Hof gerollt.«

»O,« nahm nun Fräulein Treuhold das Wort, »Prunk und Pomp ist das ja doch nicht, wenn Sie die Chaise und das neue Sielzeug nehmen – so herrlich und in die Augen fallend ist der alte Wagen keineswegs – aber Sie könnten naß werden.«

»Das ist mir schon begegnet, Liebe, und ich fürchte den Regen nicht. – Mit einem Wort also, Herr Hinz, lassen Sie meinen Braunen satteln, die Stunde werde ich Ihnen noch morgen angeben.«

Es entstand eine Pause, die nach längerer Zeit Fräulein Treuhold unterbrach, indem sie fragte: »Sie werden doch morgen mittag noch zu Hause speisen, gnädiger Herr?«

Bodo lächelte erst, dann wurde er sehr ernst, sah die also Sprechende mit einem seltsamen Blick an, den sie sich gar nicht zu deuten wußte, und sagte ruhig: »Nein, meine Liebe, ich möchte wenigstens den Abend morgen in Ruhe zu Hause verleben, wie den heutigen, und so werde ich um zwölf Uhr fortreiten und in Kranenberg essen. Man wird ja wohl für eine Person mehr eingerichtet sein.«

Das Gespräch stockte wieder, und nach einigem Harren erhob sich Gertrud mit ihrer Tante, verbeugte sich höflich gegen den Legationsrat und verließ das Zimmer, während ihr bald darauf der Verwalter folgte.

Bodo ging langsam und mit ernstem Gesicht im Zimmer auf und ab. Offenbar hatte er etwas im Sinne, was ihm kein Behagen erweckte.

Fräulein Treuhold aber, brennend vor Begier, zu erfahren, was er von ihrer Nichte denke, kam vertraulich zu ihm heran und sagte: »Nun, Herr von Sellhausen, wie gefällt Ihnen die Gertrud?«

»Die Gertrud?« fragte er, aus seinen Gedanken aufschauend. »Das will ich Ihnen ein andermal sagen – heute aber habe ich etwas – etwas zu tadeln.«

»Zu tadeln?« fragte die alte Dame fast bestürzt, denn eine solche Rede war noch nie von den Lippen ihres jungen Herrn gefallen.

»Ja,« sagte er mild, da er das Erschrecken des Fräuleins bemerkte, »etwas zu tadeln, was ich jedoch in das Gewand einer Bitte kleiden will. Sie haben mich heute wiederholt und noch zuletzt in Gegenwart des jungen Mädchens mit dem Wort ›gnädiger Herr‹ angeredet und mir dadurch, gelinde gesprochen, Ohrenzwang verursacht. Lassen Sie und alle übrigen Bewohner des Hofes – ich bestehe darauf – den ›gnädigen‹ Herrn ein für alle Mal beiseite. Mein Name ist Sellhausen. Nennen und lassen Sie mich ferner so nennen. Und wenn Sie den Herrn durchaus geltend machen wollen, sagen Sie einfach: ›Herr!‹ Das ist mir immer noch lieber, als jener zwitterhafte Ausdruck, der ebensoviel knechtischen Sinn von Seite des Redenden, wie menschliche Überhebung von Seiten des ruhig ihn Anhörenden bekundet. Und nun – da haben Sie meine Hand und – schlafen Sie wohl!«

Er reichte ihr die Hand. Die alte Dame blieb aber, als er gleich darauf nach der Tür ging, verdutzt hinter ihm zurück und sah ihm mit seltsamer Herzensbewegung nach. Er mochte eine Ahnung davon haben, denn schon halb aus der Tür, blieb er plötzlich stehen, drehte sich herum, zeigte ein überaus freundliches Gesicht und sagte: »Liebe Treuhold!«

»Was befehlen Sie, gnä – ich wollte sagen Herr von Sellhausen?«

»Gute Nacht, und damit Sie recht sanft schlafen, will ich Ihnen sagen, daß es mir heute abend bei Ihnen besser denn je geschmeckt hat.«


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