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Siebentes Kapitel.
Eine neue Bekanntschaft an der Kugelbaake

Wenn irgend Etwas die Macht besaß, den Gefühlssturm zu besänftigen, der nach dem eben geschilderten Abschied in Paul van der Bosch trotz seiner äußerlich zur Schau getragenen Ruhe ausgestiegen war, und wenn irgend Etwas die Bedrückung und Niedergeschlagenheit seines Gemüths, die nach jener so plötzlich hereingebrochenen polizeilichen Ausweisung in ihm Platz gegriffen hatte, mäßigen konnte, so war es die allmälig bei ihm sich einstellende Freude, den guten alten Oheim wiederzusehen und ihm in seiner Bedrängniß zu helfen, von der er beim besten Willen keine richtige Vorstellung gewinnen konnte. Aber noch etwas Anderes kam hinzu, ihn rascher über jene Trennung und diese Niedergeschlagenheit fortzuheben, und das war die neue Scenerie, die sich nun bald vor seinen Augen entwickeln sollte und die jederzeit und überall eben so belebend wie erfrischend auf das menschliche Gemüth zu wirken pflegt.

Schon die Reise an und für sich, die Zerstreuung, die sie bot, der rasche Wechsel der Orte, die Begegnung mit fremden und meist heiteren Menschen, regte ihn lebhaft an, und als er nun bei dem ruhigen Sitzen auf dem ihm zugewiesenen Platze Zeit genug zur genausten Ueberlegung aller seiner augenblicklichen Verhältnisse gefunden, als er sich selbst klar geworden war und sich aus der düsteren Vergangenheit in eine wenigstens friedvolle Gegenwart hineingearbeitet hatte, da öffneten sich auch seine seit drei Tagen der Außenwelt verschlossenen Sinne wieder, da sah er, was die Menschen um ihn her thaten, da hörte er ihre Worte und verstand sie, da nahm er schon Antheil an dem ganzen äußeren Lebensgange, und das ist immer ein bedeutender Fortschritt zum selbstthätigen Leben und Wirken.

Wunderbar rasch verflogen ihm die ersten Stunden unterwegs, und bald nahmen seine Augen eine frischere, fröhlichere Umgebung wahr. Wo war der Staub, die Enge, die übermäßige Fülle geblieben, die ihn noch vor wenigen Stunden umdrängt und beängstigt – Alles war fort, wie von dem freieren Athem der Schöpfung weggefegt. Grüne Wiesen und Saatfelder, frisch knospende Wälder und Gebüsche, stattliche Gebäude in einem fremdartigen Styl tauchten um ihn her auf allen Seiten auf, und bald fühlte er sich mitten in die neue Welt hinein verpflanzt, während die alte, eben verlassene immer weiter in den Hintergrund seiner Erinnerung zurücktrat.

Als er nun aber gar in die Nähe der Stadt Hamburg gelangte – o, was für ein neuer und großer Horizont eröffnete sich da plötzlich vor seinem aufschauenden Blick! Ach, bis zu dieser Stunde hatte er nur noch wenige und meist trübe Erinnerungen aus seiner Vaterstadt bewahrt. Seine daselbst zugebrachte Jugend war keine liebliche Knaben- und Jünglingszeit gewesen, er war in Noth und Bedrängniß aufgewachsen, und namentlich die Noth und Sorge seiner guten Mutter, die ihn noch viel mehr bedrückt als die eigene, hatte er nie aus dem Gedächtniß verloren. Noch immer sah er im Geiste vor sich das enge Haus, worin die Mutter damals gewohnt und der Onkel Casimir hülfebringend sie besucht, noch sah er die schmutzige Druckerei und den kalten dumpfigen Laden der Leihbibliothek, und alles Das trat jetzt, da er sich diesen Orten näherte, wie zum zweiten Mal lebendig geworden, vor seine beklommene Seele. Aber wie hatte sich in Hamburg Alles seitdem verändert, wo waren jene engen Straßen mit den armseligen schmalen Häusern und Höfen geblieben? Ach, der große Brand im Jahre 1842 war zwar wie ein vertilgender Sturmwind über die regsame Stadt gebraust, aber über dem kahlen, rauchgeschwärzten Trümmerfelde war ein neues herrliches Leben emporgeblüht, und prachtvolle Paläste, herrliche Denkmäler hanseatischer Gewerbthätigkeit tauchten ihm aller Orten auf und er betrat seine alte gute Vaterstadt wie eine ihm vollkommen fremde, deren Leben, Handel und Wandel sich seit jener Zeit, wo er sie nicht gesehen, verzehnfacht zu haben schien. Und nun gar, wie sah Hamburg an den Ufern seiner Weltstraße, der Elbe aus! Als Paul am nächsten Morgen sich zuerst nach dem Hafen fahren ließ, war er erstaunt, den Wald von Masten und die in weiten Wasserstraßen neben einander liegenden Schiffe zu sehen, von denen er wirklich nur eine schwache Erinnerung bewahrt hatte. Rüstig und wohlgemuth regten sich hier in dem heiter spielenden Sonnenschein tausend flinke Hände, es war ein Kommen und Gehen, ein Jagen und Treiben ohne Ende; überall sah und erkannte man, was die Menschen unternahmen und warum sie es so und nicht anders anfaßten; es war nicht das wirre Durcheinander der großen Residenz, wo Einer an dem Andern rastlos und scheinbar zwecklos vorüber rennt und Niemand sieht, was durch das athemlose Laufen und das ewige Drängen zu Stande gebracht wird.

Nachdem Paul dieses Treiben an verschiedenen Stellen des Hafens längere Zeit mit immer wachsendem Antheil betrachtet hatte, glaubte er schon ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Das ihn umgebende heitere Bild fand Eingang zu seinem Herzen; seine eigene Heiterkeit erwachte, sein jugendliches Gemüth, nie zum Tiefsinn geneigt, riß sich von allen es bedrängenden Fesseln los und wie neu geboren schaute seine Seele in die klare, lichte Welt selbst mit klarem und lichtem Auge hinein.

Da er bei seinem ersten Besuch des Hafens nicht gleich ein Schiff fand, das ihn mit nach Cuxhafen nehmen konnte, so mußte er sich in Geduld fassen und noch einen Tag länger in Hamburg bleiben, als es in seiner Absicht gelegen. Auf Fritz Ebeling's Rath war er in Streit's Hôtel eingekehrt, aber von dem Vorschlage desselben, seinen Freund Hugo Baring aufzusuchen, nahm er Abstand, da er der Führung desselben durch die Stadt und Umgegend entbehren zu können glaubte und überdieß mit keinem Fremden mehr über die Verhältnisse seines Onkels reden mochte. Indessen sollte der Rath, gerade in das genannte Gasthaus einzukehren, sich bewähren und ihm gute Früchte tragen. Als er bei Tische saß und dem Gespräch zweier ihm gegenübersitzender junger Männer zuhörte, das sich zuerst um kaufmännische Geschäfte und dann um ihre bevorstehende Fahrt nach Bremerhafen drehte, mischte er sich in die Unterhaltung und fragte den Einen von ihnen, der ihn schon lange mit freundlichen Blicken betrachtet hatte, ob er nicht wisse, wann das nächste Dampfschiff nach Cuxhafen abgehe.

Der junge Mann verbeugte sich höflich und erwiderte: »Nein, leider weiß ich das nicht, die Schiffe gehen erst im Sommer regelmäßig ab. Es wird indeß stets durch die Zeitungen bekannt gemacht.«

»Wenn Sie nach Cuxhafen wollen,« nahm nun der zweite Fremde das Wort, »und auf das gewöhnliche Postschiff warten, so müssen Sie wahrscheinlich noch drei oder vier Tage Geduld haben.«

»Nein, so lange habe ich keine Geduld,« entgegnete Paul; »ich wäre am liebsten schon heute abgereist, da ich wirklich nach Cuxhafen will, und so werde ich den umständlicheren Weg zu Lande wählen müssen.«

Der junge Mann ihm gegenüber lächelte überaus freundlich. »Wenn Sie mit uns reisen wollen,« sagte er gleich darauf, »so soll Ihre Gesellschaft uns sehr angenehm sein. Ich gehe morgen selbst mit einem Dampfer meines väterlichen Geschäfts nach Bremerhafen, und dieser Herr, mein Freund, begleitet mich. Wenn ich auch nicht in Cuxhafen anlege, so kann ich Sie doch leicht an ›der alten Liebe‹ absetzen. Damit Sie aber wissen, wer ich bin, so erlaube ich mir Ihnen meine Karte zu reichen.«

Paul dankte für das freundliche Anerbieten und nahm es sogleich an; darauf wechselten die drei Herren ihre Karten und die neue Bekanntschaft war gemacht. Man trank noch eine Flasche Wein zusammen und traf die Verabredung, morgen früh um sieben Uhr von Streit's Hôtel gemeinschaftlich nach dem Dampfer zu fahren, der in der Nähe des Stintfangs vor Anker lag und sein nach Bremerhafen bestimmtes Gut schon eingenommen hatte. –

Der Morgen des nächsten Tages war angebrochen und Paul war mit seinen neuen Bekannten nach dem Hafen abgefahren. Es war ein überaus warmer, fast schwüler Maitag, der ganze Himmel mit grauen Wolkenschichten verschleiert und fast kein Luftzug zu spüren.

»Schade,« sagte der junge Kaufmann aus Bremen, als sie den stattlichen Dampfer erreicht und in der comfortabel eingerichteten Cajüte desselben es sich bequem gemacht hatten, »es wird unterwegs Regen geben und dann ist die Fahrt nach Cuxhafen trübselig und langweilig genug. Aber lassen Sie uns so lange wie möglich auf Deck geben, Herr Baumeister; da Sie zum ersten Mal die Elbe hinunterfahren, wird Ihnen das Ufer zur Rechten und das Treiben auf dem Wasser selbst gefallen. Wenn Sie eines regenfesten Mantels bedürfen, so bin ich damit dreifach versehen.«

»Ich desgleichen,« erwiderte Paul, »und ich brauche blos meinen Koffer zu öffnen –«

»Lassen Sie ihn zu – die Röcke liegen hier zur Verfügung bereit, so – da sind sie schon – und nun kommen Sie hinauf.«

Die drei Männer nahmen ihre Regenmäntel über den Arm und stiegen aus der Cajüte auf Deck, um in aller Gemächlichkeit den Wechsel der Scenerie zu betrachten, der sich ihnen bot, sobald der Dampfer sich in Bewegung gesetzt hatte.

Es ist eine wunderbare und reiche Welt, die den aus dem Hamburger Hafen Absegelnden umgiebt, und wer Interesse daran findet und ein Herz für das Seeleben hat, wird die ersten Meilen keine Minute ohne Befriedigung zurücklegen. Zuerst fahren wir an zahllos uns umgebenden und ruhenden Schiffscolossen vorüber, die ihre Fracht löschen oder neue nach irgend einem fernen Welttheile einnehmen. Größere und kleinere Communicationsdampfer schießen von allen Seiten, nach allen Richtungen über die Elbe herüber und hinüber. Hier wird ein schwerer vollgeladener Dreimaster von einem stöhnenden Schleppdampfer gegen die anströmende Fluth hinausbugsirt, dort kommen zwei, drei – nein, sechs, acht unter weißem Segelwalde steuernde Schiffe mit voller Fluth vom Meere herein. Zwischen allen diesen großen Schiffen tummeln sich flüchtig wie Schwalben, Boote aller Art, Kutter, Ewer und Jollen herum, theils vom Winde oder der Fluth, theils von rudernder Menschenhand fortgetrieben; Alles ringsum ist in Bewegung, selbst die auf hohem Hügel und unten am Wasser gelegenen Häuser von Altona scheinen es zu sein, an denen unser schneller Dampfer vorüberrauscht und im Abgehen noch hundert Grüße an alte Bekannte nach allen Seiten spendet.

Paul stand vergnüglichen Sinnes neben seinen Reisegefährten und blickte heiter angeregt auf die an ihm vorüberfliegenden Bilder hin. Alles, was er sah, war ihm neu, interessant, er konnte mit seinem raschen Blick kaum Alles erfassen, denn der flüchtige Schraubendampfer lief trotz der ihm entgegenströmenden Fluth schnell hinaus und bald hatte man das betriebsame, düstere Altona mit seinen schwarzbraunen Häusern hinter sich und gelangte an die malerische grüne Hügelkette, die von hier aus bis weit hinter Blankenese sich ausdehnt und dem Reisenden mit ihren Landhäusern, Thürmen und Brücken so viele Reize bietet, daß er sie niemals vollkommen überschauen kann.

Als man das Auge hinreichend gesättigt hatte, die Ufer flacher wurden und weniger Schiffe in Sicht kamen, lud der Bremer Kaufherr seine Gäste ein, sich mit ihm zu einem Frühstück nach der Cajüte zu verfügen. Der junge Mann schien sich für seine kurze Reise gut versorgt zu haben, denn Paul glaubte Alles auf dem Tische zu finden, was der leckerhafte Gaumen des verwöhnten Menschen nur begehren mag. So speiste man denn reichlich und kehrte dann wieder auf Deck zurück, wozu namentlich Paul trieb, der nicht genug von dem Seeleben sehen konnte, da er, je länger er es sah, um so größeres Gefallen daran fand.

Man war ziemlich weit vorgerückt, während die Herren gefrühstückt, und steuerte schon Glückstadt entgegen, und immer noch war die Luft still und der Regen hing wie in bleiernen Wolken fest am Himmel. Hier nun bot sich den Reisenden ein neuer Anblick dar. Es kamen große englische Dampfer von Hull und Liverpool und endlich gar einer der größten hanseatischen Newyork-Emigrantenfahrer angerauscht, der seinen Wettlauf über den atlantischen Ocean eben siegreich beendet hatte. Paul staunte mit großen Augen alle diese Wunder an und was er neulich gesucht, wonach er sich gesehnt: Natur, Freiheit, Unbeschränktheit – es trat ihm immer näher und näher entgegen, und bald, bald würde er ihnen ganz nahe sein, das sagte ihm ein unbestimmtes Vorgefühl, während das Herz ihm immer weiter aufging und seine Seele immer lebhafter mit den Augen in die unbekannte Ferne drang.

Von Brunsbüttel an, wo man das holsteinische Ufer der Elbe verließ und nach dem hannoverschen hinübersteuerte, nahm der gigantische Fluß schon einen seeartigen Umfang an und auch andere Anzeichen verriethen es, daß man sich der Mündung eines der breitesten europäischen Ströme und dem Meere nähere. Plötzlich erschienen dichte Schaaren kleiner weißbeschwingter Möwen, die mit heiserem Geschrei dem Dampfer folgten, über seinem schäumenden Kielwasser in den Lüften spielten und irgend eine Beute aus demselben zu erhaschen suchten. Dann aber auch wogten die bisher ruhigen Wellen höher auf, ein stoßender Wind fuhr sausend mit der Fluth darüber hin und Wogenkämme, schäumend und sich jäh über einander stürzend, hüpften rings um das tanzende Schiff.

Dieser Wind aber riß auch den bleiern am Himmel hängenden Wolkenschleier entzwei, ein warmer Regen rieselte anhaltend hernieder und verhüllte leider beide Ufer der Elbe, so daß man sich wie in einer unabsehbaren Wasserwüste befand. Dennoch blieben die drei Männer auf dem Deck; fest in ihre Regenmäntel gehüllt, gingen sie plaudernd auf und ab, bis der Regen wieder nachließ und sogar der blaue Himmel klar hervortrat und die Sonne sengende Strahlen auf das schäumende Wasser niedersandte, das nun wie mit blitzendem Silber übergossen schien. Um diese Zeit, es mochte bald ein Uhr sein, gewahrte man auch zum ersten Mal den Leuchtthurm von Cuxhafen am westlichen Horizont und nun wurde am Bugspriet des Dampfers eine rothe Flagge aufgezogen, die den Schiffern im Hafen das Zeichen geben sollte, daß man einen Passagier vom Bord hole.

Paul stand mit seinen beiden Gefährten im Buge des Schiffs und schaute voller Spannung nach dem Stückchen Land hinüber, auf dessen grüner Fläche sein Onkel einen früher nie erwarteten Ruheort gefunden hatte. Schon sah er die niedlichen Häuser des Hafenorts in der Ferne auftauchen, schon erkannte er den alten starken Pfahlbau ›der alten Liebe‹ in seinen genaueren Umrissen, und ja, da schoß auch schon ein mit mehreren Männern bemanntes Boot aus dem Hafen, dem Dampfer entgegen, denn die Wache am Strande war Tag und Nacht aufmerksam und kein Wink irgend eines Schiffes entging ihr.

»So müssen wir also Abschied von einander nehmen,« sagte der Bremer Kaufmann und reichte Paul freundlich die Hand. »Ich habe Sie, wie ich versprochen, glücklich bis an ›die alte Liebe‹ gebracht und muß es Ihnen nun schon überlassen, jenseits derselben sich eine neue zu suchen. Leben Sie wohl und ich danke Ihnen für Ihre angenehme Gesellschaft.«

Paul bedankte sich herzlich für die ihm erwiesene Freundlichkeit, schüttelte beiden Männern die Hände und machte sich dann bereit, die schon heruntergelassene Treppe zu besteigen und in das Boot zu schlüpfen, das bereits dicht am Bord des Dampfers auf den hüpfenden Wasserkämmen schwebte. Noch ein Zuruf der beiden Männer und er saß mit seinem großen Koffer in dem Boot, der Dampfer rauschte weiter und das kleine Fahrzeug drang kühn durch die hinter demselben aufwogenden Gewässer. Das Land trat allmälig näher an ihn heran und – er nahm es als ein gutes Omen auf – die Sonne lächelte ihm freundlich entgegen, als er das Bollwerk des Hafens betrat und hier alsbald von zwei fremden Herren begrüßt wurde, die sich beeilten, ihm jeder eine schön gedruckte Karte zu überreichen.

Paul wußte nicht, was das zu bedeuten habe, aber bald klärte es sich auf. Die beiden Herren waren die Wirthe der beiden Gasthöfe in Cuxhafen, und da ihnen die Flagge des Bremer Dampfers einen Passagier angekündigt hatte, so suchte ihn jeder von ihnen zu gewinnen und so waren sie an den Landungsplatz geeilt, um die hier gebräuchlich gewordene wirthliche Pflicht zu üben.

»Meine Herren,« redete der fremde Passagier sie, lächelnd an, »ich beabsichtige nicht, in irgend ein Gasthaus einzukehren; vielmehr muß ich meine Reise sogleich weiter fortsetzen. Wenn aber einer von Ihnen so gütig sein will, mir einen kräftigen Menschen mit einer Karre zu besorgen, der mir meinen Koffer nach der Kugelbaake schaffen kann, so werde ich ihm dafür dankbar sein.«

Herr Dölle, der behäbige Wirth des Belvedere und der Erbauer und Besitzer des schönen Pavillons am Seestrande neben dem Leuchtthurm, war schnell dazu bereit; in fünf Minuten hatte Paul seinen Karrenschieber gefunden und dieser bewegte sein Last schon munter davon, unserm Freunde den Weg nach dem begehrten ›Vierländer‹ zu zeigen.

Der Himmel war blau, die See wieder etwas ruhiger, aber die Hitze erschlaffend und mit einem Gewitter drohend, als Paul dem Hausknecht des Herrn Dölle unmittelbar auf dem Fuße folgte.

Hinter den ersten zierlichen Häuserchen von Cuxhafen, an dem Gasthaus Bellevue vorüber, führt der viele Meilen lange, mit Gras bewachsene, oben auf der Krone nur etwa vier Fuß breite und etwa zwanzig Fuß hohe Deich nach Westen, auf welchem man zunächst die Kugelbaake und das dicht dabei gelegene Haus mit dem nächtlichen Baakfeuer, damals ›Zum Vierländer‹ Es ist dies das jetzt allgemein bekannte Rehm'sche Haus, auch gegenwärtig noch das schöne Baakfeuer in seiner über den Deich blickenden Laterne führend und jedem Reisenden eine gastliche Aufnahme und einen herrlichen Fernblick über Neuwerk und die Mündung der Elbe gewährend, die hier schon lange Seewasser führt und drei bis vier deutsche Meilen breit ist, so daß man nur bei günstiger Beleuchtung die jenseitige holsteinische Küste erkennen kann. genannt, erreichen kann.

In der That, der Professor Casimir van der Bosch hatte Recht gehabt, wenn er diesen Weg einen anmuthigen nannte. Auf ebenem, festgetretenem Rasenboden schreitet man hoch über dem Strande dahin, der theils Schlick, theils Sand bei der Ebbe zeigt, behält zur Rechten stets das schäumende Wasser, und mitten darauf unzählige Segel und weithin sichtbare Rauchsäulen, die einen aus dem Meere zurückkehrend, die andern nach dem Meere steuernd und sich getrost den Winden und Wellen der rebellischen Nordsee anvertrauend. Zur Linken dagegen ziehen sich anfangs freundliche Landhäuser, meist Lootsen gehörig, mit ihren Obstgärten entlang; saftig grüne Wiesen dehnen sich später weithin landeinwärts aus, und dahinter ragt das alte Ritzebütteler Schloß, von dem reichen Blättermeere des alten wohlgepflegten Parks umgeben, mit seiner stumper Spitze empor. Weiter nach Süden und Westen hinaus aber erheben sich kleine bewaldete Hügelketten, eine Dorfschaft steigt nach der andern hinter ihren sie schützenden Deichen hervor, und blühende Obstbäume, wie mit schneeigem Teppich bedeckt, locken den Blick des fremden Wanderers an, als lüden sie ihn ein, näher zu treten und sich in ihrer wohnlichen Nähe eine heimatliche Stätte zu gründen.

Auf der Mitte des Weges blieb der vorausgegangene Karrenschieber stehen und erwartete den langsamer nachfolgenden Fremden. Nach dem Meere hinabdeutend, zeigte er ihm das Seebad von Cuxhafen, dessen hölzerne Umgebungen jetzt noch nicht aufgeschlagen waren, da man hier erst im Juli zu baden beginnt. Der junge Mensch hatte Lust zum Plaudern, aber Paul van der Bosch war zu eifrig mit dem Beschauen des Wassers und Landes beschäftigt, und so ließ er das gutmüthige Landeskind wieder weiter ziehen und richtete nur um so aufmerksamer seinen Blick auf das Ziel, dem er nun sichtbar näher kam und an welchem er zunächst von seinem guten Onkel hören sollte, der ja hier bekannt war, wie er ihm geschrieben hatte. Rechtsab, von grollenden Wogen umspült, stand die allen Schiffern zum Zeichen dienende Kugelbaake, zu deren einsamem Holzgerüst man auf einem Steindamm gelangt, der hier, fest auf einer Sandbank ruhend, weit in die See hineingemauert ist. Am Anfang dieser Steinzunge, hinter dem einen stumpfen Winkel bildenden Deiche, ragte aus einer grünen Niederung das Schieferdach eines kleinen, schon im Aeußern sich sehr sauber gestaltenden Hauses empor, und als man ihm näher kam, sah es Paul hinter einem zierlichen Vorgarten in künstlichen Lauben liegen und die weißen Gardinen der drei Parterrefenster leuchteten ihm schmuck entgegen, wie auch die schönen Blumen davor ihm ein freundliches Willkommen zuzurufen schienen. Einen Büchsenschuß weiter zur Linken erhob sich das ebenfalls vom Professor bezeichnete Bauerngehöft mit seiner strohgedeckten Scheune, und darüber hinaus erkannte man in der Ferne das Stranddorf Döse, und noch weiter hinaus einzelne Häuser des auf Dünen liegenden Ortes Dahnen, wo der Strandvogt wohnt, der die Ueberfahrt nach der drei Meilen entfernten Insel Neuwerk überwacht und die Rettungsstation befehligt, die hier der Hamburger Senat wohlweislich durch seinen Amtmann in Ritzebüttel hat anlegen lassen.

Paul ließ sein Auge neugierig über alle dies Gegenstände schweifen und folgte dann dem vorangegangenen Führer, der eben auf einem in den Anger hinabführenden Wege die Krone des Deiches verlassen und sich dem Hause des Baakfeuerwärters genähert hatte.

Hier blieb der Reisende vor der kleinen Gatterthür des niedlichen Gärtchens stehen und schaute sich in der nächsten Umgebung um. Alles war sauber und nett; jeder vorsorglich angebundene Strauch, jeder frisch geharkte Weg verrieth, daß sorgsame und fleißige Hände in diesem Hause walteten und den dazu gehörigen Grund und Boden in bester Ordnung hielten.

Wohlgefällig betrachtete unser Freund dies Alles und vergaß dabei den Himmel zu beobachten, von dem die Sonne wieder verschwunden war, während er sich von Westen her allmälig mit trübe heranziehenden Gewitterwolken bedeckte.

Der Hausknecht des Herrn Dölle war in das Haus gegangen, um zu fragen, ob ein Reisender eintreten könne. So hatte es Paul gewünscht, da er wußte, daß er kein Gasthaus vor sich habe und den harmlosen Bewohnern desselben nicht aufdringlich erscheinen wollte. Er hatte sich auf seinen Koffer gesetzt, der noch auf der Karre stand, und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, da der Gang von Cuxhafen hierher auf dem schattenlosen Deich in glühender Sonnenhitze ihn warm gemacht hatte.

Plötzlich hörte er aus dem Innern des Hauses und von der Höhe herab eine kräftige männliche Stimme rufen: » Friede! – Bist Du nicht da? Sieh doch hinaus, es soll ein Fremder vor der Thür sein – ich kann nicht hinunter, da ich gerade mit der Laterne beschäftigt hin.«

Kaum eine halbe Minute später wurde im Garten, aus irgend einer Thür des Hauses kommend, ein junges Mädchen sichtbar, das, ein heiteres Liedchen vor sich her trällernd, mehr zu springen als zu gehen schien. Es war ein kleines, etwa neunzehnjähriges Wesen von runder Gestalt und mit blühendem Gesicht, auf dessen Wangen eben so viel Gesundheit, wie in den blauen Augen Frohsinn und Heiterkeit lag. Ihre etwas volle Büste hielt ein enges Leibchen von schwarzem Wollstoff umspannt, an das sich ein faltenreicher und nicht übermäßig langer Rock von grün- und weißgestreiftem Sommerzeug schloß. Die hellblonden Haare trug sie in kurzen welligen Scheiteln und über die Mitte des Kopfes zogen sich dichte Flechten, welche ihre flinken Hände in einen zierlichen Kranz zu ordnen verstanden hatten.

Als sie nun aber den stattlichen Fremden in der modernen Reisekleidung mit dem edlen Gesicht und den sprühenden Augen sah, der ihr, als er sie bemerkt, sogleich entgegengetreten war, stockte sie in ihrem heitren Gesange, stutzte einigermaßen, aber begrüßte ihn dann und fragte mit wohlklingender Stimme.

»Wollen Sie nicht näher treten, mein Herr? O, wie Sie erhitzt sind! Ja, es ist heute sehr heiß – aber kommen Sie – drinnen ist es kühl.« »Darf ich auch meinen Koffer mit in das Haus nehmen?« fragte Paul dagegen, nachdem er ihren Gruß erwidert hatte. »Gewiß – trage ihn nur hinein, Louis,« wandte sie sich an den Knecht, »und stelle ihn einstweilen auf den Flur. Von da aus wollen wir ihn schon weiter schaffen.« Der Hausknecht befolgte den Wink, Paul belohnte seine Bereitwilligkeit reichlich, und dann trat er selbst vom Flur in die nächste Thür ein, die das junge Mädchen schon geöffnet hielt, indem sie ihn mit einem Blick ihrer schalkhaften Augen noch einmal aufforderte, näher zu treten.

Paul schritt in das Zimmer zu ebener Erde, dessen Blumen und schneeweiße Gardinen ihm schon aus der Ferne einen guten Begriff von den Bewohnern desselben beigebracht hatten, und er war in der That angenehm überrascht, als er die ungewöhnliche Sauberkeit gewahrte, die sich bis auf den kleinsten Gegenstand darin erstreckte.

Die Wände des Zimmers waren mit einer blau und weißgestreiften Tapete bekleidet und daran hingen in schmalen vergoldeten Rahmen viele größere und kleinere Bilder, theils die Familienglieder des Baakfeuerwärters Whistrup, theils Schiffe und Seestücke darstellend. Den braungebeitzten Fußboden der mäßig großen Stube bedeckten an verschiedenen Stellen allerliebste aus Tuchschnitzeln verfertigte Teppiche und die Tische und Commoden waren mit roth und weißgeblümten Decken belegt. Alle Geräthe von Metall blitzten wie von Gold und nirgends war ein Stäubchen wahrzunehmen, bis auf die kleinen Porzellanfiguren hinab, die neben einer Uhr in alabasternem Gehäuse auf der Commode unter dem blendend hell polirten Spiegel standen.

»Verzeihen Sie,« sagte das junge Mädchen zu dem Fremden, der sich auf ihre Bitte sogleich auf das mit rothem Damast bezogene Sopha hatte setzen müssen, »daß mein Vater Sie nicht selbst empfängt. Er ist gerade mit seiner Laterne oben beschäftigt und diese wichtige Arbeit geht bei uns allen übrigen vor.«

»Das finde ich sehr natürlich,« erwiderte Paul, dem es in diesem sauberen Zimmer ganz außerordentlich behagte. »Wohnen Sie mit Ihren Eltern in diesem Hause allein?« fuhr er fragend fort.

»Mit meinem Vater und einer Magd,« erwiderte Friede, »denn meine Mutter ist leider schon seit vier Jahren todt.«

»So sind Sie also die Hausfrau, die dies Alles hier in so schöner Ordnung hält?«

Friede erröthete leicht, denn sie hatte beim ersten Blick bemerkt, daß der schöne Fremde mit seinen dunklen Augen alle Ecken ihres hübschen Stübchens mit einer gewissen Verwunderung durchforscht hatte. »Ja,« erwiderte sie, »ich besorge meinem Vater die Wirthschaft, und daß ich Alles und Jedes in Ordnung halte, ist nicht mehr als billig und recht. Wenn Sie nachher in die Leuchtkammer zu meinem Vater gehen – denn die Besichtigung der großen Fresnel'schen Lampen hat Sie doch gewiß nur hierhergeführt – werden Sie finden, daß er mir mit Ordnung und Sauberkeit in seiner Pflichterfüllung vorangeht. Das ist einmal so Sitte bei uns.«

»Das ist eine hübsche Sitte, die man leider selten so geübt findet wie hier. Aber da Sie von den Lampen oben sprechen, so will ich sie allerdings besichtigen, indessen sind sie es nicht, die mich hierhergeführt haben. Ich möchte mich nur ein Stündchen bei Ihnen ruhen und muß dann meinen Weg zu Fuße weiter fortsetzen.«

»Zu Fuß – mit dem schweren Koffer – und heute noch? O, es wird bald ein starkes Gewitter geben, verlassen Sie sich darauf, und so rasch werden Sie nicht von hier aufbrechen können, wenn es heraufzieht. Die Gewitter in dieser Jahreszeit pflegen in hiesiger Gegend heftig zu sein und lange zu dauern.«

»Dann schadet es auch nichts, ich scheine bei Ihnen wohlaufgehoben zu sein und habe Zeit. Aber – dürfte ich Sie wohl um ein Glas Wasser bitten? Die Hitze und der Gang haben mir Durst gemacht.«

»Wasser? O, das thut mir leid. Unser Wasser, so nahe an der See, ist schlecht und besitzt keine erfrischende Eigenschaft. Aber mit Wein und Bier kann ich dienen. Welches von beiden befehlen Sie?«

Paul mußte über das entschiedene Wesen des jungen Mädchens lächeln und sagte dann: »Ich wünsche nur etwas zu trinken, geben Sie mir also, was Sie für das Beste halten.«

Die Tochter des Leuchtfeuerwärters sprang wie ein Reh hinaus und kam bald mit einem blinkenden Crystallpocal und zwei kleinen Flaschen zurück, die sie auf einem blank polirten Messingbrett trug und so auf den Tisch stellte.

»Was haben Sie da für seltsame Flaschen?« fragte Paul, die eine davon in die Hand nehmend.

»O, das ist englisches Fabrikat; wir beziehen es von Helgoland, da die Reisenden es lieben. Die eine enthält Ale und die andere Porterbier. Soll ich Ihnen den Trank mischen?«

Paul sah sie erstaunt an. Von einer solchen Mischung hatte er noch nie etwas vernommen. Indessen nickte er mit dem Kopfe und Friede zog flugs mit einem zur Hand liegenden Korkzieher den Pfropfen der einen Flasche heraus und goß die Hälfte davon in den großen Pocal, der sich sogleich mit dem dunkelschäumenden Porterbier füllte.

»So,« sagte sie, »nun muß sich der Schaum erst etwas setzen – da, er bequemt sich schon dazu. Und nun kommt das liebliche Ale hinzu.« Sie zog auch den Kork der zweiten Flasche kräftig heraus und schüttete nun die goldgelbe Flüssigkeit in den Pocal, bis derselbe bis an den Rand gefüllt war. Jetzt ergriff sie das Metallbrett, worauf er stand, und hielt es dem Reisenden mit den Worten hin. »Da haben Sie den ächten Seemannstrank; versuchen Sie ihn. Er schmeckt nicht übel.«

Paul that einen langen Zug und fand das bitterlich süße Gebräu überaus kräftig und erfrischend, was er seiner niedlichen Hebe auch eingestand. Sie freute sich darüber und setzte sich nun auf einen Stuhl an das Fenster, nahm ein Strickzeug aus einem daselbst stehenden Körbchen und begann sogleich fleißig an die Arbeit zu gehen.

»O ja,« sagte sie, munter strickend und bisweilen einen Blick über den vom Fenster aus sichtbaren Deich nach Cuxhafen hinunter werfend, »es ist ein kräftiges Getränk, obwohl es mir zu stark ist und leicht in den Kopf steigt. Ich trinke lieber Portwein mit Wasser. Jedoch müssen wir es unserer Besucher wegen vorräthig halten.«

»Haben Sie viel Besuch hier?«

»Im Sommer sehr viel, da kommen die Badegäste von Cuxhafen alle Tage her und in der Regel wohnen auch einige von ihnen bei uns, denn wir haben im Oberhause drei recht niedliche Gastzimmer mit der Aussicht über die See, wie man sie in Cuxhafen nicht hat. Im Winter ist's freilich sehr öde und trist, und nur wenn Wetter und Wege es erlauben, kommt einmal ein Bekannter aus dem Hafen zum Besuch. Jetzt haben wir noch Ruhe, erst in vier Wochen langen die ersten Gäste an, die oft nicht die Zeit erwarten können, bis sie in's Wasser springen dürfen.«

»Es ist auch sehr hübsch hier!« warf Paul ein, der ein sichtbares Gefallen an dem vertraulichen Wesen des heiteren Mädchens fand.

»O, o, Sie haben ja noch gar nichts gesehen, mein Herr,« erwiderte sie. »Kommen Sie nur erst auf unsere Deichecke da vorn und in die Laternenkammer oder auf den Balcon davor, dann können Sie durch Vaters Glas Neuwerk mit seinen beiden Leuchtthürmen und Hunderte von Schiffen sehen. Ich habe das freilich alle Tage vor mir und doch sehe ich es jeden Morgen von Neuem gern. – Aber darf ich mir erlauben, Sie zu fragen, wohin Sie von hier aus gehen wollen?«

Diese Frage hatte Paul schon lange erwartet, denn daran konnte er viele andere, von seiner Seite schon bedachte knüpfen. Daher nahm seine Miene wider Willen einen gespannteren Ausdruck an und er beobachtete von jetzt an das bald fragende, bald antwortende Mädchen genau.

»Ich will von hier nach Betty's Ruh!« sagte er mit möglichstem Gleichmuth.

»Nach Betty's Ruh! Ah,« rief das Mädchen, jetzt ebenfalls viel aufmerksamer werdend und den Reisenden voller Neugierde betrachtend. »Das liegt eine gute Stunde von hier entfernt, doch der Weg ist leidlich, wenn es nicht zu stark geregnet hat. Gestern – wir hatten gestern sehr schönes Wetter – war der Herr Professor aus Betty's Ruh – er ist nämlich jetzt der Besitzer des schönen Gutes – auch hier, heute aber dürfte er wohl ausbleiben, da das Gewitter ihn von seinem weiten Spaziergange abhalten wird.«

»So. Kommt der Professor, wie Sie ihn nennen, oft hierher?«

»Wöchentlich zwei bis drei Mal,« lautete die schnelle Antwort. »Und er scheint sogar gern zu kommen, um mit dem Vater über Gott weiß was für Dinge zu plaudern.«

»Was macht er denn hier, wenn er kommt, und hält er sich lange auf?«

»Anfangs im vorigen Sommer kam er nur selten und blieb höchstens eine Stunde hier. Jetzt kommt er viel häufiger und bleibt oft bis zum Abend. Und was er macht?« fragte sie lächelnd. »Je nun, entweder sitzt er oben auf dem Deich oder dicht am Strande, bisweilen auch unter der Kugelbaake da draußen und besieht sich die See, die Wellen, wie sie kommen und gehen bei Fluth und Ebbe, und untersucht mit einem Mikroskop den Sand und gefangene Thierchen. Das dauert aber immer nur eine Weile; sehr bald zieht er ein Buch hervor und beginnt Zahlen und Buchstaben zu schreiben, worin er so lange fortfährt, bis irgend Jemand ihn unterbricht und an den nahenden Abend erinnert. Oft auch sitzt er mit dem Vater oben in der Laternenkammer, untersucht die Prismen und Linsen der Lampe und sieht lange durch das Fernglas nach Neuwerk hinüber, wobei er meinem Vater so angenehme und unterhaltende Dinge erzählt, daß dieser ihn immer lieber kommen als gehen sieht.«

Jetzt lächelte Paul voller Befriedigung. Die Schilderung des jungen Mädchens paßte vollkommen auf seinen Onkel und er erkannte, daß dieser ihm die volle Wahrheit geschrieben, als er sagte, er glaube hier gern gesehen zu sein.

»Rauchen Sie denn nicht?« fragte da Friede plötzlich.

»Wenn Sie es erlauben, recht gern,« erwiderte Paul mit einem kritischen Blick nach den schneeweißen Gardinen, und zog schon seine Cigarrentasche hervor.«

»O, das ist ja eine Lieblingsbeschäftigung der Herren und sie macht sie immer redseliger, weshalb man sie ihnen nie versagen muß,« erwiderte Friede schalkhaft lächelnd und zündete sogleich einen Wachsstock an, den sie nun dem Fremden knixend entgegenhielt.

Paul setzte seine Cigarre in Brand und bedankte sich. Friede stellte das gelöschte Licht auf seinen Platz unter den Spiegel und nahm dann ihre Arbeit am Fenster wieder vor, nachdem sie den geleerten Pocal noch einmal mit dem braunen Trank gefüllt hatte.

»Doch, wir sprachen so eben von Herrn van der Bosch,« nahm sie das Wort wieder auf. »Sie wollen also nach Betty's Ruh. Kennen Sie es schon?«

»Nein, ich bin noch nie in hiesiger Gegend gewesen und es würde mich freuen, wenn Sie mir etwas von dem Gute erzählen wollten.«

»O ja, das kann ich, ich bin schon öfter dagewesen, wie alle Welt hier in der Umgegend, und habe mir das prachtvolle Schloß und das schöne Gut recht nach Herzenslust angesehen. Denn prachtvoll ist es über die Maaßen und das alte Schloß in Ritzebüttel ist dagegen nur ein verwittertes Storchnest.«

Paul's Augen vergrößerten sich und er hörte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit der Erzählenden zu.

»Ja,« fuhr diese fort, »schön ist Alles daselbst, das muß man sagen, und Sie werden Ihre Freude daran haben. Beschreiben läßt es sich freilich nicht, man muß es sehen, denn es ist so eigenthümlich gebaut. Und das Gut selbst ist das fruchtbarste in der ganzen Gegend. Es ist zwar nicht sehr groß, aber seit langen Jahren ist es tüchtig cultivirt und viel Geld ist in den früheren Haideboden gesteckt, wie mein Vater sagt, der das versteht. Nun, der alte verstorbene Herr konnte es ja, reich genug war er dazu. Jetzt freilich – jetzt« – und sie lächelte auf eine zurückhaltende Weise dabei, als sie mit einem Mal ihres Zuhörers gespannte Miene bemerkte und mitten in ihrer Rede stecken blieb.

»Nun,« ermunterte sie Paul, »Sie wollten wahrscheinlich von dem jetzigen Besitzer sprechen. Fuhren Sie dreist fort, es ist mir sehr wünschenswerth, daß ich die Wahrheit über ihn höre.«

»Ja, die Wahrheit!« versetzte das junge Mädchen, »wer kann die immer genau sagen! Wenigstens so viel ist gewiß, daß jetzt ein sehr gelehrter Mann auf Betty's Ruh wohnt.«

»Ja, das ist er,« erwiderte Paul, »und so viel ich weiß, ist er auch ein sehr braver Mann. Oder meinen Sie nicht, da Sie so schelmisch dabei lächeln?«

»O, was das Lächeln betrifft, mein Herr, so müssen Sie sich hier daran gewöhnen, wenn man von dem Erben von Betty's Ruh spricht.«

»Aber warum denn? Etwa weil er so gelehrt ist und seine Gedanken mehr bei seinen Rechnungen als bei anderen Dingen hat?«

»O nein, darum gewiß nicht,« erwiderte Friede, immer noch schalkhaft lächelnd. »Doch – ich will Ihnen die Wahrheit sagen, so weit ich sie selbst weiß: man lächelt allerdings über den Herrn Professor, weil er wohl so eigentlich – nicht nach Betty's Ruh paßt und vielleicht besser als Schulmeister an seinem Orte gewirkt hätte.«

»Aber warum paßt er denn nicht nach Betty's Ruh? Das möchte ich gern hören.«

»Ei, mein Gott, das ist ja ganz klar – er kann sich in den Reichthum, der ihm aus den Wolken zugefallen ist, nicht schicken, und darum findet man sein Benehmen so seltsam und eigentlich den Erwartungen, die man von ihm gehegt, nicht entsprechend.«

»So,« sagte Paul, mit einer Miene, als ob er den Ausspruch des jungen Mädchens bezweifeln müsse. »Vielleicht irren Sie sich, was den Reichthum des Professors betrifft. Oder halten Sie und hält man ihn überhaupt hier allgemein für sehr reich?«

»O, für ganz ungeheuer reich!« versicherte Friede mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Das mögen Sie mir nur glauben. Der alte verstorbene Herr van der Bosch war ein Nabob, aus Java gekommen, und dabei ein so närrischer Kauz, daß er mit Niemanden verkehrte, nicht einmal mit dem Herrn Senator in Ritzebüttel, der doch gewiß ein angesehener Mann ist – dieser Herr aber, der jetzige Besitzer von Betty's Ruh, der scheint ihn in einem Puncte doch noch zu übertreffen.«

»In welchem denn?« fragte Paul, anscheinend im Scherz, aber dahinter einen tiefen Ernst versteckend, weiter.

»Nun, im Geldpunct –«

»Im Geldpunct? Wie? Halten Sie ihn für noch reicher als den verstorbenen van der Bosch?«

»O nein, für jetzt nicht, aber künftig wird er gewiß noch viel reicher sein, denn – und da haben Sie's – er ist geizig genug.«

»Wie,« rief Paul, in Wahrheit erstaunt, »geizig? Meinen Sie das wirklich im Ernst?«

»Nun gewiß, denn er ist über alle Maaßen geizig. Der alte verstorbene Herr war es schon im hohen Grade, aber dieser ist es im höchsten. Denken Sie sich nur – und nun fing Friede an sich allmälig warm zu sprechen, so daß zuletzt ihre Wangen glühten und ihr großes Auge wie eine blaue Flamme funkelte – »so wenig Verkehr der verstorbene Gutsherr auf Betty's Ruh auch mit der Welt hatte und so selten er nur einen Thaler außerhalb seines Gutes verzehrte, in seinem Hause wenigstens ging es jeden Tag hoch her. Nicht allein, daß er sich einen theuren Koch hielt und täglich eine kostbare Tafel anrichten ließ, wovon er doch das Wenigste selbst genießen konnte, und daß er in seinem von Gold blitzenden Schlosse fürstlich wohnte und lebte, so sorgte er auch dafür, daß alle seine Diener, deren er freilich eine viel zu große Zahl hielt, es sehr gut bei ihm hatten. Eigentlich konnten die Leute thun, was sie wollten, so lange er lebte, und es verging wohl kein Tag, wo nicht einer oder der andere von ihnen in Cuxhafen bei Dölle saß und es sich im Festen und Flüssigen wohlschmecken ließ, wobei sich immer dankbare Gäste einfanden. Auch hielt der alte Herr sehr schöne Equipagen, mit denen er alle Tage durch sein Gut und in der Umgegend umher fuhr, vor allen Dingen sehr kostbare Pferde, und ich glaube gar, er hatte drei Kutscher zu gleicher Zeit und mehrere Reitknechte, obgleich er in den letzten Jahren nie mehr selber ritt. – Der jetzige Herr aber, sobald er kam, machte dieser ganzen Herrlichkeit ein sehr schnelles Ende. Allerdings gewann der stille Mann durch sein freundliches Wesen gleich alle Herzen und man freute sich schon, daß man wieder einen so guten Herrn bekommen hatte. Da aber nahm Alles, wie gesagt, bald einen ganz anderen Anstrich an. Er erklärte eines Tages vor seinen Dienern, die er zusammenrufen ließ, daß er sie nicht länger in der bisherigen Weise ernähren könne und daß er sich leider genöthigt sähe, sie bis auf einige Wenige in kürzester Zeit zu entlassen. Und das – ja – das geschah ohne Weiteres; die Leute zogen mit sehr mißvergnügten und unzufriedenen Gesichtern ab und wanderten in die Nähe und Ferne aus, um ihren neuen Herrn als den ersten Geizhals der Welt zu verschreien. Man konnte das den Leuten eigentlich nicht verdenken, da sie doch gewiß gedacht hatten, bis an ihr Ende auf dem Gute bleiben und das gewohnte angenehme Leben fortsetzen zu dürfen. Ach, sie hatten sich schrecklich geirrt! Und wie es nun mit den Leuten ging, so ging es auch mit allen übrigen Dingen. Es wurden alle Pferde bis auf zwei abgeschafft, die Wagen verkauft bis auf einen, und im Hause blieb nur der alte Gärtner, ein Kutscher, eine alte Köchin, ein Hausmädchen und ein paar Tagelöhner, die den neuen Herrn um Gottes willen baten, sie nicht aus ihren Kotten zu stoßen. Da war er denn auch mitleidig genug und behielt sie. Ach ja, Herr, das läßt sich nicht läugnen, geizig muß der Professor über alle Begriffe sein. Sie sollten nur den Unterschied in seinem Leben mit dem seines Bruders sehen. Wenn der verstorbene Herr Abends in seinem großen Saal, in dem jederzeit die Wachskerzen auf drei prächtigen Kronleuchtern brannten, von dem Secretair sich etwas vorlesen ließ oder auf und ab spazieren ging und seine schönen Sachen betrachtete und bewunderte, so sitzt der Professor ganz still und mutterseelen allein bei seinem Lämpchen vor dem Schreibtisch und rechnet. Während der alte Herr mit Vieren in einer vergoldeten Kutsche fuhr, läßt sich der Professor von seinen beiden Grauschimmeln ganz gelassen in einem kleinen Wagen durch den Sand ziehen, oder er geht gar meilenweit zu Fuße, wie wir es ja selbst so oft sahen. Und so ist es in allen Dingen. Besuch hat er auch niemals, so viel ich weiß. Anfangs wollte er sogar, aus Sparsamkeitsrücksichten, das Gut unter seiner Aufsicht bewirthschaften lassen, obgleich alle Welt einsah, daß er nichts davon verstand, denn Sie müssen wissen, daß der bisherige Pächter – der alte Herr hatte die Ländereien auch verpachtet – acht Tage nach dem Tode desselben ebenfalls starb. Da trat der Professor denn die Pacht an den Rentmeister Hummer ab, der sich das Ansehen gab, als thue er es dem neuen Herrn zu Liebe, aber in Wahrheit wußte er sehr wohl, wie gering die Pacht war und wie reich der Ertrag von derselben ausfiel. So ist denn das große Haus in Betty's Ruh jetzt wie ausgestorben. Der neue Herr lebt wie ein Einsiedler, völlig von aller Welt zurückgezogen, um zu sparen und zu sparen, Gott weiß für Wen! Nur hierher kommt er oft, wie gesagt, das ist seine einzige Erholung, wenigstens hat er das meinem Vater und mir selber oft vertraut, und dabei war seine Miene stets so ehrlich und gutmüthig, daß man ihm wahrhaftig glauben möchte, wenn man eben nicht wüßte, daß die Sache ganz anders zusammen hängt.«

Paul war bei diesen unerwarteten Aufschlüssen, die er so zufällig erhielt, in ein verwundertes Schweigen versunken. Das Räthsel, welches ihm schon lange vor Augen lag, war noch dunkler und unerklärlicher geworden und, wie die Sachen einmal lagen, gab er den zuerst beabsichtigten Versuch auf, den guten Onkel gegen die eben vorgebrachten Anschuldigungen in Schutz zu nehmen. Eben so wenig fühlte er sich geneigt, für jetzt schon an diesem Orte sein verwandtschaftliches Verhältniß zu ihm zu offenbaren. Nein, er wollte erst noch mehr hören und sich mit eigenen Augen von den Verhältnissen auf Betty's Ruh überzeugen, ehe er sich als den Neffen des seltsamen Erben zu erkennen gab. So sagte er denn jetzt, als er bemerkte, wie die frischen Augen des jungen Mädchens neugierig forschend auf ihn gerichtet waren, nur:

»Was Sie mir da sagen, klingt allerdings seltsam, und ich begreife es wahrhaftig nicht. So viel ich weiß, hat der Geiz früher nie zu den Eigenschaften des Professors gehört.«

»Ei, mein Gott,« rief Friede lebhaft aus, »ich begreife es recht gut. Er ist erst geizig geworden, mein Herr, nachdem er dies reiche Erbschaft angetreten hat. So geht es ja vielen Leuten. Als er die großen Haufen Gold sah, die sein Vorgänger ihm hinterlassen, da erwachte die Furcht in ihm, sie könnten ihm aus den Fingern schlüpfen, wenn er sie nicht festhielte, und so hielt er sie fest.«

Paul wollte eben etwas darauf erwidern, als die Thür aufging und der Vater des jungen Mädchens hereintrat. Es war ein Mann von einigen vierzig Jahren, von mittelgroßer Gestalt und eher mager als fett. Auf seinem wettergebräunten Gesicht lag der unverkennbare Ausdruck biederer Ehrlichkeit und sein blaues Auge blickte so freundlich und vertraulich wie das seiner ihm ähnlichen, aber viel schöneren Tochter. Er war in eine weite kurze Jacke von grauwollenem Stoff gekleidet und seine Beinkleider von schwarzem Leder steckten in langen, bis zum Knie reichenden Wasserstiefeln. Obgleich er so eben von seiner Arbeit in der Leuchtkammer kam, wo er die Laternen geputzt und mit neuem Oele versehen hatte, um sie für den kommenden Abend bereit zu machen, sah er doch sehr reinlich aus, hatte augenscheinlich ein frisches roth und weißgestreiftes Hemd angezogen und seine Hände waren rein gewaschen, was sogleich für seine Ordnungsliebe und Sauberkeit sprach.

»Guten Tag, mein Herr,« begrüßte er Paul und verbeugte sich höflich vor ihm, nachdem er, wie vorher seine Tochter, einen verwunderten Blick über den stattlichen Fremden geworfen hatte, »ich heiße Sie bei mir willkommen. Sie sind zu rechter Zeit unter Dach getreten, denn es zieht ein gewaltiger Gewittersturm heran, weshalb ich mit meiner Arbeit so eilen mußte, da es früh Nacht werden kann. Wenn es Ihnen aber Vergnügen macht, die Wolken und den Wind mit der Fluth heranziehen zu sehen, so lade ich Sie ein, mit mir in die Leuchtkammer zu kommen. So lange es noch nicht hart bläst und nicht regnet, können Sie vom Balcon aus einen prachtvollen Anblick haben. Es ist gerade jetzt Zeit dazu.«

Paul erhob sich sogleich und folgte dem voranschreitenden Manne, und ihm selbst schloß sich, leichtfüßig wie immer, die hübsche Friede an, nachdem sie unten die Thüren verwahrt und fest geschlossen hatte. Man stieg eine knarrende Treppe hinauf und trat in den Bodenraum des Hauses, von dem aus mehrere Thüren in die vorher von Friede erwähnten Gastzimmer führten. Die Leuchtkammer selbst war ein kleines Gemach, in dem nur verschiedene Geräthschaften, Reservelaternen und Prismen, Oelkrüge, Compaß und dergleichen standen, hinter einer zolldicken großen Glasscheibe aber erhob sich die kostbare, drei bis vier Fuß hohe Laterne mit ihren funkelnden Prismen und wie Gold und Silber glänzenden Lampen.

Als Paul's Auge auf dies noch nie gesehene Kunstwerk fiel, sagte der Laternenwärter, indem er eine schmale Thür dicht daneben öffnete: »Die Lampen können Sie nachher genauer betrachten und ich will Ihnen den Mechanismus des Fresnel'schen Systems erklären; wir wollen die günstige Zeit lieber jetzt zu etwas Anderem benutzen. Ah, bist Du auch da, Friede? Recht, Kind, aber schließ die Thür da hinten, damit wir keinen Zug haben.«

Nach diesen Worten trat er mit Paul auf einen kleinen eisernen Balcon hinaus, und mit der Hand in die vor ihm liegende Ferne deutend, sagte er lächelnd: »Da haben Sie das Beste, was ich Ihnen zeigen kann. Groß und allmächtig ist Gott und darum hat er auch eine so große und schöne Welt geschaffen, wie sie hier vor Ihnen liegt, wenigstens ein kleines Stück davon.«

Paul war auf das Höchste überrascht und sogar ergriffen von dem Anblick, der sich ihm hier so plötzlich bot. Dicht unter dem Balcon, auf dem er stand, lag der Winkel des Deichs, auf dem er gekommen, und zur rechten Hand ragte die allen Stürmen trotzende Kugelbaake von ihrem Steinwall in die schäumende See. Darüber hinaus aber, mehr nach Süden hin, breitete sich zunächst ein trübes, graues, aus Schlamm und Sand bestehendes Feld aus, von Hunderten kleiner Thäler, Rinnen und Gräben durchfurcht, die mehr oder weniger mit moderigem Wasser angefüllt schienen. Es war dies das gefährliche Watt zwischen dem Baakhause und der Insel Neuwerk zur Ebbezeit, die aber eben abgelaufen war, da die Fluth schon wieder in der Ferne sichtbar zu werden begann. Trotz des mit schaurig schwarzen und von hochgehenden Winden zerrissenen Wolken bedeckten Himmels war die Beleuchtung über dem Wasserspiegel doch nicht schlecht und Paul erkannte mit seinem guten Auge die den Eingang zur Weser und Elbe beherrschende Watteninsel Neuwerk mit ihren beiden Leuchtthürmen ganz genau, die etwa drei Stunden von hier entfernt sein mochte. Jenseits Neuwerk aber und mehr zur Rechten nach der Oeffnung der Nordsee hin waren Luft und Wasser in sichtbar wachsender dämonischer Bewegung. Mit Sturmeseile und von dem sich eben erhebenden Winde zu noch schnellerem Laufe getrieben, brauste die Fluth heran, auf der See in der Ferne wie ein silberner Reifen erscheinend, der von Minute zu Minute näher rückte und bereits ein dumpfes, drohendes Gebrause in den Lüften erklingen ließ. Noch schwieg zwar der himmlische Donner und auch kein Blitz fuhr aus den mit Electricität überfüllten Wolken, aber es lag schon die drückende, beängstigende Schwüle in der Luft, die dieser Erscheinung stets vorherzugehen pflegt.

»O mein Gott,« rief Paul voller Entzücken, »ja, das ist groß und schön und majestätisch. So prachtvoll habe ich mir die See und was sie bietet doch nicht gedacht!«

Der ernste Mann an seiner Seite nickte freudig lächelnd mit dem Kopfe. »O ja,« sagte er, »das hat mir schon Mancher hier gesagt, aber wenn Sie öfter herkommen, werden Sie es noch schöner finden, denn die Reize der See wachsen bei näherer Bekanntschaft. Sehen Sie aber wohl da die Schiffe – hui, wie sie alle Segel beigesetzt haben, um noch vor dem Ausbruch des Sturmes durch das enge Fahrwasser an Neuwerk vorbei auf die schützende Rhede in Cuxhafen zu gelangen! Sehen Sie, wie sie eilen, gleich müden Zugvögeln – ist das nicht schön? Und wenn Sie jetzt noch einen Blick durch das Glas thun wollen, Herr, hier habe ich es; viel Zeit bleibt uns nicht übrig, in fünf Minuten sind Regen und Wind zur Stelle und wir müssen die Thür schließen und von dem Balcon in's Innere des Hauses zurückweichen.«

»Nein, nein,« entgegnete Paul, das schon ausgezogene große Glas dankbar ablehnend, »meine Augen sind gut genug und ich sehe Alles ganz klar. Da – rechts von der Insel aber liegt ein dreimastiges Schiff vor Anker – es ist roth – was ist das?«

Der Laternenwärter wollte ihm eben antworten, als seine Tochter ihm mit hastigem Wesen zuvorkam. »Das ist,« sagte sie freudig lächelnd, »das Hamburger Leuchtschiff No. Drei, ›Jacob Hinnerich‹ geheißen – und Capitain Philipp Hardegge commandirt darauf,« setzte sie leiser und tief erröthend hinzu, was Paul freilich nicht sah, da sie hinter ihm stand.

»Aha, das bleibt immer dort liegen, nicht wahr?« fragte Paul weiter.

»Immer, Herr, Tag und Nacht, Sommer und Winter, bei Ebbe und Fluth, bei Eis und Wasser. Es erfüllt treu seine Pflicht, Herr, und giebt vom Untergang bis zum Aufgang der Sonne mit seinen Laternen das nöthige Licht, auf daß die Schiffer in Nebel und Nacht sich nicht irren und glücklich den Hafen finden.«

»Dann sind also auch immer Leute darauf?«

»Immer, Herr, ach ja! Neun Mann ohne den Commandeur. Im Sommer lösen sie sich alle vierzehn Tage, im Winter alle vier bis sechs Wochen ab, je nachdem Wetter und Eis ihnen die Fahrt hin und zurück gestatten.«

»Das muß ja ein beschwerlicher Dienst sein –«

»Ach ja, sehr beschwerlich und oft sogar gefährlich!« seufzte das Mädchen und ihr Vater stimmte ihr aus voller Seele bei. »Vor acht Jahren – Gott lasse es niemals wiederkehren – versank in einer Sturmnacht bei der Springfluth das ganze Schiff No. Eins bei der rothen Tonne, und Mann und Maus gingen damit unter im Niemand hat je ein Brett davon wiedergesehen.«

Paul wollte eben sein Staunen äußern, als der Laternenwärter ihn am Arm ergriff und rief: »Jetzt ist es Zeit – kommen Sie!«

Alle Drei traten rasch in die Leuchtkammer zurück und schlossen fest die starke Balconthür, die sogleich unter der Einwirkung des dagegen anprallenden Sturmes erbebte. Paul war ganz bleich geworden, als er diesen noch nie so rasch erlebten Wechsel empfand. Krachender, dumpf grollender Donner ließ sich jetzt vom Himmel vernehmen, Blitze zuckten aus den Wolken nieder, die heranstürzende Fluth, die schon das ganze Watt mit silbernem Gischt überwogte, brüllte noch viel entsetzlicher als Donner und Wind zusammengenommen und die haushohen Wogen schlugen so gewaltig gegen die Granitblöcke der Kugelbaake, daß sie zu beben schienen. Dabei ächzten und stöhnten die angstvoll flatternden Möwen geisterhaft und zwischendurch pfiff und heulte der Wind um das feste Gemäuer des Baakfeuerhauses, daß man laut sprechen mußte, um sich innerhalb der Laternenkammer verständlich zu machen.

Erst nach wiederholter Aufforderung des Wärters und seiner Tochter konnte Paul sich entschließen, seinen Beobachtungsposten am Fenster zu verlassen; endlich aber sah er hier oben nichts mehr. Nicht nur der prasselnde Regen, der heftig aus den Wolken niederstürzte, erfüllte die ganze Luft und machte sie für das schärfste Auge undurchdringlich, sondern auch eine Art Nebel, von fein zerstäubten Wassertheilchen gebildet, lagerte sich über Nähe und Ferne, und so stieg er mit klopfendem Herzen in das gemüthliche Unterstübchen hinab, denn er hatte ein Schauspiel genossen, welches ihm Seele und Geist bewegte und sein Blut in nie empfundene Wallung versetzte.

Als die drei Personen das freundliche Stübchen im Untergeschoß erreicht hatten, brach das Gewitter, und der Sturm in seinem ganzen Ungestüm los, wie beide ihn nur auf dem Meere zu entwickeln vermögen. Es war jetzt ungefähr Nachmittags fünf Uhr und schon lag es wie eine trüb heranziehende Nacht auf der See und ihrer Umgebung. Als diese Dunkelheit nun von Minute zu Minute sichtbar zunahm, stieg der Laternenwärter wieder in seine Leuchtkammer hinauf und zündete wie jeden Abend seine Lampen an. Als er dann nach einer Viertelstunde wieder herunterkam, fand er Paul rauchend auf dem Sopha und seine Tochter am Fenster sitzend, die noch immer mit ihren munteren Augen den Deich nach Cuxhafen hin bestrich, als erwarte sie trotz des bösen Wetters Jemanden von dorther.

»Darf ich mir auch eine Cigarre anzünden, Herr?« fragte der eben Gekommene bescheiden seinen ihm immer noch fremden Gast.

»Ich bitte sogar darum, ich rauche ja auch bei Ihnen!« erwiderte dieser und bot dem gefälligen Mann sogleich eine feine Cigarre an, die ihm als letztes Geschenk der gute Banquier Ebeling noch mit auf den Weg gegeben hatte.

Als nun Herr Whistrup auf einem Stuhl am zweiten Fenster saß, wandte sich Friede zu ihm hin und sagte: »Denke Dir doch, Vater, der Herr will noch heute zu Fuß nach Betty's Ruh gehen.«

Der Angeredete hob schnell sein Gesicht in die Höhe, sah erst den Fremden an und dann nach dem Gewitterhimmel hinauf und sagte: »O, da bedaure ich Sie. Sie werden einen schlimmen Weg haben, wenn Sie überhaupt bei dem Sturm und Regen gehen können, die mir diesmal etwas hartnäckig zu sein scheinen.«

»Wenn ich nicht gehen kann, so fahre ich,« erwiderte Paul. »Ich habe gehört, daß ich bei Ihrem Nachbar einen Wagen und Pferde finden werde.«

Der Laternenwärter schüttelte bedauernd den Kopf. »Auch das ist eine trübe Aussicht,« sagte er. »Wie ich weiß, hat der Bauer Hansen heute seine Pferde nach Ritzebüttel geschickt und erwartet sie erst am späten Abend zurück.«

»Das ist freilich schlimm,« versetzte Paul; »so viele Unfälle habe ich in der That nicht auf dem kurzen Wege erwartet. Indessen muß man sich fügen. Wenn es anhaltend so stürmt, nehmen Sie mich vielleicht für die Nacht auf, da ich schon gehört, daß Sie einige Gastzimmer besitzen.«

»O herzlich gern!« rief freudig der Laternenwärter. »Sie sind mir bei Nacht wie bei Tage willkommen. Friede, bestelle sogleich der Christine, daß sie Alles in Ordnung bringt und das Bett frisch überzieht.«

Friede nickte und flog zur Thür hinaus, kam aber gleich darauf wieder und gab ihrem Vater einen freundlichen Wink, als wolle sie sagen, daß Alles besorgt sei, worauf sie ihren Platz am Fenster rasch wieder einnahm.

»Also nach Betty's Ruh wollen Sie?« fuhr der Vater zu sprechen fort. »Nun, wären Sie gestern gekommen, so hätten Sie es besser getroffen und in Begleitung des neuen Herrn von Betty's Ruh dahin aufbrechen können.«

»Ich habe schon gehört, daß er hier war. Da Gestern aber nicht Heute ist, muß ich mich auch darein fügen. Ich habe vorher schon mit Ihrer Tochter über die Verhältnisse in Betty's Ruh gesprochen und in der That sehr viel Ueberraschendes erfahren.«

»Ach ja!« seufzte der Vater auf. »Ueber Betty's Ruh kann man Tage lang sprechen und wird doch nicht damit fertig. Wer hätte noch vor einem Jahre gedacht, daß daselbst so viel Neues und Unerwartetes geschehen könne! Ich nicht, und kein Mensch hier, sechs Meilen in der Runde.«

Paul horchte wieder hoch auf.

»Wissen Sie, was mich wundert?« fragte er nach einer Weile. »Daß der alte Herr kein eigentliches Testament gemacht und darin die Höhe seines Vermögens angegeben hat.«

»Ei,« rief der Laternenwärter verwundert, »hat er das nicht? Ich dächte doch. Nein, nein, darin irren Sie. Er hat wohl ein Testament gemacht und allen seinen Dienern ganz ansehnliche Legate ausgesetzt, die auch bis auf den letzten Schilling bezahlt sind, wie man hört. Nein, nein, die Sache liegt doch etwas anders. Ich – freilich ist meine persönliche Meinung hier von gar keinem Belang – ich wundere mich vielmehr über etwas ganz Anderes.«

»Nun, worüber wundern Sie sich?«

»Darüber,« erwiderte der Mann fast traurig, »daß er seinen ehemaligen Secretair, den Rentmeister Hummer, zum alleinigen Testamentsvollstrecker ernannt hat.«

Paul sah den also Sprechenden groß an, der mehr zu verschweigen schien, als er aussprach. »Wie meinen Sie das? Ist der Rentmeister Hummer kein zuverlässiger Mann?« fragte er.

Der Laternenwärter sah seine Tochter gleichsam um ihre Zustimmung fragend an, diese aber stand leise auf und verließ das Zimmer, ganz gegen ihre Gewohnheit, wie ein sanft entschwebender Schatten. Paul bemerkte auf der Stelle, daß seine so direct gesprochene Frage wie ein Blitzstrahl auf den Mann und dessen Tochter gewirkt hatte, und sein Herz klopfte eigenthümlich laut bei dieser Wahrnehmung.

»Darf ich vielleicht um eine Antwort auf meine Frage bitten?« sprach er fest und doch in vertraulich bittendem Ton zu dem immer noch schweigsamen Mann.

»Ach Du lieber Gott,« sagte dieser nun, »es kommt mir schwer an, Ihnen auf diese Frage eine so recht bestimmte Antwort zu geben. Bewahre mich Gott davor, daß ich von dem Secretair Uebles reden sollte. Nein, das kann und darf ich nicht, es liegt das gar nicht in meiner Art. Herr Hummer genießt gewiß mit Recht des besten Rufes in der ganzen Umgegend, und schon das Vertrauen, welches sein verstorbener Herr in ihn setzte, der ihn doch gewiß kennen mußte, beweist, daß er ein rechtlicher und zugleich ein kluger Mann ist. Ach ja! Ich, ja, ich habe an ihm etwas ganz Anderes auszusetzen, und das berührt sein Verhältniß zu Betty's Ruh nur zur Hälfte.«

»So theilen Sie mir zuerst diese Hälfte und dann das Andere mit, was Sie an ihm auszusetzen haben. Uebrigens versichere ich Ihnen, als ein ehrlicher Mann, daß Alles, was Sie mir sagen, ruhig in mir schlafen soll. Da ich aber selbst nach Betty's Ruh gehe und mit dem Professor aus früherer Zeit her in freundschaftlicher Verbindung stehe, so liegt mir daran, schon jetzt einen klareren Blick in seine Verhältnisse zu thun, und darin scheint mir der Rentmeister Hummer doch eine wichtige Rolle zu spielen.«

»O ja, Herr, so ist es auch,« brachte der Laternenwärter endlich mit Mühe hervor, nachdem er eine Weile unruhig auf seinem Stuhle hin und hergerückt war. »Nun denn, was ich Ihnen sagen will, kann Jeder hören, denn es ist die reine Wahrheit und ich stehe mit meinem Gewissen auf gutem Fuße, so daß ich nicht das geringste Herzklopfen dabei empfinde. Ja, der Rentmeister Hummer, hm! Was ich ihm zuerst nicht verzeihen kann, ist, daß er zugeben konnte, daß der neue Herr alle alten Diener seines Bruders entließ und sogar den ältesten und treusten, der ihn auf allen seinen Reisen in den indischen Meeren begleitet hat. Ja, Herr, das ist ein großes Unrecht und es bestraft sich vielleicht noch. Denn denken Sie nur, dieser alte treue Diener, Laurentius Selkirk ist sein Name, verließ bei Nacht und Nebel Betty's Ruh, wo er zehn Jahre mit seinem verstorbenen Herrn gelebt, und zog sich mit tief bedrücktem Gemüth und vor Kummer fast menschenscheu zu seinem Vetter, dem Vogt auf Neuwerk zurück – jener Insel, die wir eben vom Balcon aus betrachtet haben. Da sitzt er nun traurig und verlassen und ist nicht einmal im Stande, das schöne Vermächtniß mit Ruhe und Behagen zu verzehren, welches sein Herr ihm ausgesetzt hat.«

Paul's Miene nahm bei dieser Mittheilung einen bekümmerten Ausdruck an und er vergaß sogar, seine Cigarre in Brand zu halten. »O,« sagte er, »das finde ich auch nicht recht – aber trägt denn der Professor davon die Schuld?«

Herr Whistrup zuckte mit den Achseln. »Wer weiß es!« versetzte er. »Die Welt behauptet es einmal, und Sie wissen ja, was für eine Gewalt die öffentliche Meinung hat.«

Diese Worte wurden mit einer so überzeugenden Ehrlichkeit gesprochen, daß sie Paul ganz und gar für den sie kundgebenden Mann gewannen. Er nickte ihm freundlich zu und sagte: »Ja wohl weiß ich das! Aber nun, da Sie einmal so weit sind, nennen Sie mir auch den Grund, warum Ihnen der Rentmeister persönlich nicht recht gefällt.«

»Ja,« sagte der Mann dreist und nun wurde er wärmer als vorher, so daß man sah, daß er sich auf dem festen Boden einer unumstößlichen Ueberzeugung befand, »das kann ich und darf ich gewiß, denn das betrifft allein mich und mein Haus. Nun sehen Sie – aber Sie müssen verzeihen, wenn ich hier etwas weiter aushole – ich stamme aus den Vierlanden im östlichen Bezirk von Hamburg.

Ich habe die Landwirthschaft erlernt und hatte das Glück, ein recht hübsches Gütchen pachten zu können – an der Gränze von Lauenburg. Da ging es mir gut und ich legte mein erspartes Geld bei meinem Pachtherrn an, der ein reicher Schiffsrheder und Kaufmann war. Da machte derselbe unerwartet Bankerott und ich kam nicht allein um mein Erspartes, sondern auch um meine Pacht. Ach ja, das ist bitter, nicht wahr? Nun denn, ein so eifriger Landwirth ich auch war, mein Leben lang, jenes Unglück machte mich doch kopfscheu und ich gab den Gedanken an irgend eine andere Pachtung vor der Hand auf. Aber man kannte mich in Hamburg und vertraute mir diesen Posten an, wofür ich vom Staate sechshundert Mark jährlich beziehe. Das ist freilich wenig, aber es ist doch Etwas, mein Herr, und da ich so Manches nebenbei verdiene, so ist mein Loos jetzt immer erträglich. Als ich nun hier ein paar Jahre saß, wurde ich eines Tages mit dem verstorbenen Herrn van der Bosch bekannt, als er die Kugelbaake in Begleitung jenes genannten Selkirk besuchte, und obgleich er gegen Fremde immer sehr schweigsam und zurückhaltend war, so faßte ich doch Vertrauen zu ihm und erzählte ihm mein Schicksal. ›Mit einem Wort,‹ antwortete er mir, als ich zu Ende war, ›Sie möchten wieder eine andere Pachtung haben?‹ – ›Ja‹, sagte ich, denn aus seinem großen braunen Auge blitzte mir mit einem Mal ein wohlwollender Blick entgegen. ›Nun,‹ fuhr er fort, ›dazu kann vielleicht Rath werden. Wenn mein alter Dirksen einmal stirbt, melden Sie sich bei mir.‹ – Das war mir genug gesagt, lieber Herr, und ich freute mich. Da starb aber der alte Herr zuerst und kaum acht Tage nach ihm der alte Dirksen. Da faßte ich mir ein Herz und ging zu dem neuen Herrn auf Betty's Ruh, der eben angekommen war. Ich meldete mich bei ihm und wurde freundlich empfangen. Endlich aber, als ich mein Gesuch vorgebracht, sagte er: ›Lieber Mann, ich habe so ungeheuer viel zu thun und – aufrichtig gesagt – ich verstehe auch nicht viel von diesen Geschäften. Sprechen Sie mit dem Rentmeister Hummer; was der mir räth, das thue ich.‹ So ging ich denn zu diesem und trug ihm mein Anliegen vor.

Der Herr Rentmeister lächelte sehr fein; als er es hörte, und sagte mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit: ›Ja, Whistrup, Sie können Ihre neue Pachtung antreten, aber nur unter einer Bedingung.‹ – ›Welche ist das?‹ fragte ich. – ›Wenn Sie mir die Hand Ihrer Tochter geben, denn ich liebe sie.‹

Ach, Herr, da hatte der Rentmeister das Einzige verlangt, was ich ihm nicht geben konnte, denn meine Tochter, müssen Sie wissen, welcher der Rentmeister von jeher nachgestellt hat, kann über ihre Hand nicht mehr verfügen, da sie die verlobte Braut eines braven Mannes, eben jenes Feuerschiffcapitains Philipp Hardegge ist, von dem sie zu Ihnen oben gesprochen hat.«

Paul lächelte. Jetzt war ihm der Eifer der hübschen Friede erklärt, als sie von dem Feuerschiff sprach. »Da haben Sie Recht,« sagte er. »Nun, der Handel zerschlug sich also?«

»Ja, er zerschlug sich, und der Herr Rentmeister übernahm selbst die Pacht auf unbestimmte Zeit, da er schon lange die Neigung verrathen hat, wieder nach Ostindien zurückzukehren.«

Paul schaute hoch auf. Es war das zweite Mal, daß er diese Nachricht vernahm, die er schon aus dem letzten Briefe des verstorbenen Onkels kannte. »Lassen Sie ihn doch gehen und dann nehmen Sie die Pachtung!« sagte er endlich.

»Wie, Herr,« fragte der Laternenwärter, indem er aufstand und Paul verwundert anblickte, »wird der Herr Professor denn damit einverstanden sein, oder können Sie vielleicht dazu beitragen, daß ich sie erhalte?«

Paul lächelte vor sich hin und freute sich schon im Stillen, in Zukunft ein gutes Werk verrichten zu können. »Ich will nichts versprechen,« sagte er warm, »nur so viel will ich Ihnen sagen, daß« – und hier erhob er sich auch – »daß mit meinem Willen kein Anderer je die Pachtung von Betty's Ruh erhalten soll als Sie.«

»Wie?« rief der gute Laternenwärter ganz erstaunt aus, indem ein warmer Freudenstrahl sein blasses Gesicht überzog – »sind Sie denn so vielvermögend bei dem Herrn von Betty's Ruh?«

Paul streckte die Hand beschwichtigend gegen ihn aus und erwiderte: »Lassen Sie uns heute noch nicht darüber sprechen. Ein andermal, wenn ich Sie wieder besuche, denn ich werde Sie wieder besuchen, da es mir wie dem Professor hier außerordentlich gefällt. Ich will erst Betty's Ruh mit eigenen Augen sehen und die Verhältnisse daselbst werden mir hoffentlich bald klar werden. Und hier haben Sie meine Hand, mein lieber Herr Whistrup – ich meine es so ehrlich, wie ich es sage.«

»Ach Du lieber Gott, und Niemand kann es ehrlicher meinen als ich!« rief der gute Mann und ergriff mit beiden Händen die dargebotene Rechte des stattlichen jungen Mannes.

In diesem Augenblick hörte man vom Flur her ein freudiges Jauchzen erschallen, es mußte eben, während der Wirth und Paul mitten in's Zimmer getreten waren, Jemand in's Haus gekommen sein. Herr Whistrup horchte nur einen Moment nach der laut werdenden Stimme hin, dann sagte er lächelnd:

»Aha, das ist der Capitain Hardegge. Er kommt trotz Regen und Wind, um Abschied von Friede zu nehmen, da er morgen seine Wacht auf dem Feuerschiff bezieht.«

»Das ist mir lieb,« entgegnete Paul, »so bekomme ich ihn doch auch zu sehen und kann ihm gleich meine Bitte vortragen.«

»Was für eine Bitte denn?«

»Mich einmal mit nach dem Feuerschiff zu nehmen, wenn der Zutritt einem Fremden überhaupt gestattet ist.«

»Oho, wenn es weiter nichts ist, das kann ja jede Stunde geschehen. Und dann können Sie auch gleich einmal nach Neuwerk hinüber und diese seltsame und interessante Insel besuchen, denn zu Lande über das Watt während der Ebbezeit wird der Weg immer gefährlicher, da die ‹ Prielen‹ Tiefere Wasserarme, die auch während der Ebbe mit Wasser angefüllt bleiben, das leicht sumpfig wird. sich mehr und mehr erweitern und vertiefen und die sumpfigen Stellen von Jahr zu Jahr größer werden.«

Paul schien diese Worte kaum gehört zu haben, denn er war in tiefes Nachdenken versunken, jedoch nur einen Augenblick; bald raffte er sich wieder auf und entgegnete: »O ja, nach Neuwerk kann ich dann auch. – Ich werde den Capitain doch zu sehen bekommen?«

»O gewiß, Herr, er wird bald sichtbar werden. Für's Erste hat er sich nur zu trocknen und mit der Friede etwas zu plaudern, und das kann man ihnen Beiden gönnen, da sie sich so oft trennen müssen. Auch bleibt er heute den ganzen Abend hier; morgen früh um fünf Uhr erst tritt er seinen Weg nach dem ›Jacob Hinnerich‹ an.«

»Das ist mir lieb; so darf ich also den heutigen Abend in Gesellschaft Ihrer Familie zubringen?« fragte Paul.

»O mein Herr, es wird uns Allen eine große Ehre sein; auch können Sie sich ja zu jeder Zeit, wenn unsre Gesellschaft Ihnen nicht mehr behagen sollte, in Ihr Zimmer zurückziehen. Es liegt gerade auf der Ecke und hat nach jeder Seite ein Fenster, so daß Sie das Wasser nach Osten und Westen bestreichen können.«

»Das ist mir angenehm und ich danke Ihnen schon im Voraus für Ihre Güte.«

Bald darauf öffnete Friede die Thür und führte mit glückseligem Lächeln ihren Bräutigam herein, nachdem dieser draußen seine goldberänderte Mütze und seinen Regenrock abgelegt und an Stelle der schweren Wasserstiefel ein paar leichte Seemannsschuhe angezogen hatte, die er in der Regel bei sich führte, wenn er bei so starkem Regen das Haus zum Vierländer besuchte.

»Hier habe ich die Ehre, Ihnen meinen Bräutigam, Capitain Herdegge vom ›Jacob Hinnerich‹, vorzustellen,« wandte sich Friede mit einem artigen Knix an Paul.

Dieser erröthete leicht, als ihm diese Höflichkeit zu Theil wurde, da er ja nun auch seinen Namen nennen mußte. Indessen faßte er sich schnell und sagte:

»Ich bin der Baumeister Paul!« wobei er freundlich die Verbeugung des Seemanns erwiderte. Dieser war ein fast dreißigjähriger Mann von straffem und gedrungenem Körperbau, mittelgroß, aber beweglich und in Geberden und Mienen rasch und entschieden. Auf seinem wettergebräunten Gesicht lag eine eigenthümliche Mischung von Geradheit und Biederkeit und Stolz und Trotz, wie man es bei ächten seemännischen Naturen nicht selten findet. Sein kühnes blaues Auge aber blickte so ruhig, sicher und fest umher, daß die ganze Persönlichkeit auf Paul gleich im ersten Augenblick einen angenehmen Eindruck machte. Die blaue Uniform mit vergoldeten Knöpfen und Achselschnüren stand ihm sehr gut, und als er den Rock bald aufknöpfte, bemerkte Paul an seiner Wäsche, daß Sauberkeit auch bei ihm eine beliebte Eigenschaft sei.

»Sie haben es schlecht getroffen, Herr Baumeister,« redete er Paul an, »meines Schwiegervaters appetitliches Haus zum ersten Mal bei solchem Unwetter zu sehen. Es ist sonst ganz allerliebst hier.«

»Das habe ich schon wahrgenommen,« entgegnete Paul, »denn ich kam, als noch die Sonne schien. Wird denn dies Unwetter den ganzen Abend anhalten?«

»Ich glaube, ich kann mit Ja antworten, der Wind kommt stramm aus Westen. Wenn er aber bis gegen Mitternacht eine Wendung macht, können wir morgen einen um so prachtvolleren Tag haben.«

»Das sollte mir recht sein, ich habe eine gute Stunde in der Frühe zu gehen.«

»Ja, ich habe es schon gehört. Sie wollen nach Betty's Ruh. Will Herr van der Bosch vielleicht noch etwas bauen lassen?« fragte er verstohlen lächelnd, was ihm indessen einen ungemein gutmüthigen Anstrich verlieh.

Paul nickte ihm freundlich zu. »Das kann wohl sein,« erwiderte er. »Wenigstens soll ich einige baufällige Stellen seines Besitzes untersuchen und ihm – meinen Rath zur schnellsten Wiederherstellung derselben geben.«

Es entstand eine Pause, in der Jeder der Anwesenden sich seinen Theil denken mochte. Da fing der Laternenwärter wieder zu reden an, indem er sagte: »Capitain Hardegge, dieser Herr hat den Wunsch ausgesprochen, einmal Ihr Schiff und die Insel Neuwerk zu besuchen. Ich habe ihm Hoffnung gemacht, daß er Ihnen angenehm sein würde.«

Der biedere Seemann reichte Paul rasch seine Hand hin und rief: »Es soll ein Wort sein, Herr, und Sie sollen mir sehr willkommen sein, denn ich habe nur zu gern Besuch an Bord. Allerdings – mit meiner Beköstigung, wenn Sie länger bleiben, müssen Sie vorlieb nehmen, Alles Feste« und dabei lächelte er behaglich – »ist gut und in reichster Fülle vorhanden, aber mit dem Flüssigen ist es eben nicht besonders bestellt.«

»Das pflegt doch sonst nicht auf den Tischen der Schiffscapitaine der Fall zu sein?« sagte Paul lächelnd.

»Nein, freilich nicht, aber mein Schiff ist auch kein gewöhnliches Schiff, Herr, und hat eine schwerwiegende Pflicht auf sich. An Bord des Feuerschiffs darf kein Tropfen Wein oder Branntwein kommen und selbst mir ist nur ein leichtes Dünnbier gestattet, dasselbe, welches die Mannschaft trinkt. Und das ist recht, es kann nicht anders sein. Jeden Augenblick bei Tag und Nacht, kann ich und meine Mannschaft zu schwerem Dienst aufgerufen werden und dann muß er uns nüchtern und im Besitz unserer geistigen und leiblichen Kräfte finden. Der Branntwein ist für die Mannschaft eines Schiffes oft eine Wohlthat, oft jedoch auch ein Verderben. Dafür aber, mein Herr, und weil ich an Bord nichts trinken kann, entschädige ich mich am Lande, und um das zu beweisen, Friede, laß uns einmal eine Flasche von dem Portwein zukommen, den mir neulich der Herr Amtmann in Ritzebüttel empfohlen hat. Du weißt schon.«

Friede sprang hinaus, um das Verlangte zu holen, und die Männer setzten sich unterdeß an den Tisch, um in ihrer Plauderei fortzufahren.

»Im Uebrigen,« sagte der Capitain, »wohne ich ganz hübsch an meinem rothen Schiffsbord, davon werden Sie sich überzeugen, und unsere Admiralität und der Herr Amtmann von Ritzebüttel, unser kleiner König hier, haben für Alles gesorgt. Aber nun fragt es sich: wann wollen Sie mich besuchen? Sie sind mir freilich zu jeder Zeit willkommen, aber wenn ich meinen vierzehntägigen Dienst habe, kann ich Sie nicht gut nach Neuwerk begleiten, obgleich das alte Ding nur einen Katzensprung von mir entfernt ist. Nun, wir bekommen ja jetzt Sommer und die Tage sind lang. Sie können sich das überlegen. Eine Jolle finden Sie in Cuxhafen immer und guter Wind wird ja auch nicht ausbleiben. Wenn ich aber dienstfrei bin, trifft es sich vielleicht einmal so, daß wir mit dem Lootsendampfkutter hinüberstoßen können, und dann geht es bei jeder Witterung zur Fluthzeit, was Neuwerk betrifft. – Ah, da kommt ja der Porto, nun wollen wir auf einen baldigen Besuch Ihrerseits ein Glas leeren!«

Friede hatte eine Flasche Wein mit drei Gläsern hereingebracht und im Nu eine schneeweiße Serviette über die rothe Tischdecke gebreitet. Der Seemann entkorkte die Flasche und goß den braunen köstlichen Wein in die drei Kelchgläser ein.

»Auf gute Bekanntschaft!« sagte er, sein Glas gegen das Paul's erhebend, »und mögen Sie in Betty's Ruh recht viel auszubessern finden. Ein tüchtiger Baumeister ist unter Umständen ein wichtiger Mann.«

Paul nahm den gutgemeinten und wohl verstandenen Wink freundlich auf und versprach sein Möglichstes zu thun.

»Ah,« rief der Capitain, sich an die ihm zur Seite sitzende und eben aus seinem Glase nippende Friede wendend, »beinahe hätte ich vergessen zu fragen: ist mein Jung' heute Mittag hier gewesen?«

»Gewiß, Philipp, und er hat uns eine prächtige Steinbutte von Dir gebracht, die uns heute Abend gut schmecken soll.«

»Recht so, und da habt Ihr gleich eine ansehnliche Speise für Euern Gast. Sie müssen nämlich wissen, Herr Baumeister, daß die Steinbutte, wenn sie die rechte Größe hat, unser delicatester Fisch ist.«

»Ich freue mich schon jetzt darauf, denn ich bin ein Liebhaber von Seefischen, und die Steinbutte kenne ich noch nicht.«

Der Capitain hielt die Fingerspitzen seiner rechten Hand an den Mund und küßte sie. »Lecker, mein Herr, ich sage es Ihnen, und doppelt lecker, wenn die Hand meiner Friede sie bereitet hat. Die versteht sich auf die Küche – das glauben Sie mir.«

Friede hielt ihm ihre feinen Finger vor den Mund und sagte halb leise: »Nicht loben, wenn Andere dabei sind, Philipp, sonst trinke ich Dir allen Deinen Wein aus.«

»Im Keller ist mehr, wir schaffen ihn heute noch nicht. – Aber wahrhaftig, da hat mir das Wettermädel mein Glas leer gemacht!«

Während es draußen auf See und Land noch immer stürmte und der Regen in endlos erscheinenden Strömen sich ergoß, verging den in der behaglichen Stube des Laternenwärters Versammelten die Zeit bei allerhand Plauderei rasch genug. Um acht Uhr kam auch die vortrefflich gerathene Steinbutte nebst gutem englischen Beefsteak zum Vorschein und Paul erhielt den augenscheinlichen Beweis, daß Frohsinn und Herzlichkeit in dem kleinen, so weit von aller Welt entfernt lebenden Kreise heimisch sei, dem er so zufällig viel näher getreten war, als er noch kurz zuvor es hatte denken können.

Um zehn Uhr rüstete Capitain Hardegge sich zum Aufbruch, nachdem er zuvor erkundet, daß der Regen viel schwächer geworden war.

Er nahm einen fast herzlichen Abschied von dem neuen Bekannten und empfahl ihm als Baumeister noch einmal halb im Scherz, halb im Ernst, alle Risse in Betty's Ruh mit recht haltbarem Mörtel zu verkleben. Dann begab er sich mit seiner Braut hinaus und legte den Sturmkittel und die Wasserstiefel wieder an. Als er damit fertig war, kam er noch einmal herein und reichte Paul und seinem Schwiegervater die Hand. Dann begleiteten ihn Alle bis vor die Hausthür und hier blieb man eine Weile stehen und schaute sich nach allen Himmelsgegenden um, ganz erfreut, daß der Regen nachgelassen hatte und nur noch einige wenige Tropfen aus rasch vorüberziehendem Gewölk niederfielen.

»Sehen Sie wohl,« sagte der Capitain zu Paul, »ich werde Recht behalten und morgen früh meine Fahrt nach dem ›Jacob Hinnerich‹ im Sonnenschein antreten. Es giebt gut Wetter. »Der Wind ist schon etwas nach Norden herumgegangen, und ich will kein Seemann sein, wenn es morgen nicht gelinde aus Nordosten bläst. Nun gute Nacht, Ihr Herren!«

»Gute Nacht! Gute Nacht!« riefen diese ihm nach und traten in das Haus zurück, während Friede noch eine Weile mit dem Seemann vor der Thür blieb, da sie sich wahrscheinlich zuguterletzt noch etwas Wichtiges zu sagen hatten.

»Das ist ein wackerer Mann sagte Paul in der Stube zu seinem Wirth, »und Ihre Tochter hat gewiß wohl daran gethan, ihn dem Rentmeister vorzuziehen. Nur ist die so häufige Trennung von ihm nicht eben angenehm.«

»O, daran sind alle unsere Mädchen gewöhnt, lieber Herr. Sie wissen es ja von Kindesbeinen nicht anders, da fast alle Männer hier mit der See zu thun haben. Auch glaube und hoffe ich, daß der Capitain einst eine bessere Stellung erhält, denn auf dem Feuerschiff bleibt ein so gewiegter und gebildeter Seemann nicht lange. Ich denke ihn noch einst als Lootsencommandeur zu sehen, und das ist kein verächtlicher Posten, Herr. – Doch nun wird es wohl Zeit sein, daß Sie zur Ruhe kommen, nicht wahr? Sie haben ja noch keine fünf Minuten für sich gehabt, so lange Sie hier sind.«

»Ja,« sagte Paul, »jetzt weisen Sie mir mein Zimmer an und ich will die Probe machen, ob ich so nahe an der See schlafen kann.«

»O, das findet sich. Sie singt zwar ein etwas lautes Wiegenlied, aber es schläfert auch ein, verlassen Sie sich darauf.«

Jetzt kam Friede wieder herein und Paul sagte ihr Gute Nacht.

»Es ist Alles fertig, Herr,« erwiderte sie, »und die Christine steht schon oben mit dem Licht. Schlafen Sie wohl und stehen Sie nicht zu spät auf. Der Morgen an der See ist oft das Beste vom ganzen Tage. Gute Nacht.«

Paul stieg die schmucke Treppe hinan, aber sein Wirth ließ es sich nicht nehmen, ihm bis in sein Zimmer das Geleit zu geben. Oben auf der Treppe stand Christine, eine derbe kräftige Magd in der kleidsamen Vierländertracht, und trug das auf einem blank gescheuerten Messingleuchter brennende Licht in das Zimmer voran.

»Ich sehe,« sagte hier der Wirth, nachdem er sich aufmerksam rings umgeblickt, »daß man nichts vergessen hat. Ihre Stiefel bitte ich vor die Thür zu stellen. Schlafen Sie wohl und mag es Ihnen nicht zu eng in der kleinen Schlafkoje unter Dach sein.«

Damit ging er hinaus und Paul war in dem ihm zugewiesenen Raume allein. Es war ein höchst sauber gehaltenes Gemach mit einem kleinen Sopha, einer Commode von Nußbaumholz und hinreichend großem Spiegel. Ein runder Tisch, mit rothem Teppich bedeckt, stand vor dem Sopha, ein Kleiderschrank an der Wand und daneben der Koffer des Reisenden, den die aufmerksame Magd bei Zeiten an Ort und Stelle gebracht. Das Schlafgemach war allerdings eng und lag dicht unter dem schräg abfallenden Dach, das ungefähr nur anderthalb Fuß von dem Kopfe des im Bett Liegenden entfernt war. Die Betten aber waren vortrefflich und das Leinen so fein und frisch, wie Paul es hier nicht zu finden erwartet hatte.

Als er sich seine neue Wohnung in allen Einzelnheiten betrachtet, rauchte er noch eine Cigarre und ging dabei nachdenklich im Zimmer auf und ab. Er hatte viel an diesem Tage vernommen, was ihm von Wichtigkeit zu sein schien, und bereits hatte sich ein Plan in seinem Kopfe gebildet, nach dem er seinem Onkel gegenüber handeln wollte. Allein eine ganz bestimmte Handlungsweise ließ sich noch nicht beschließen, da er nicht wußte, was er in Betty's Ruh finden würde. Seine Spannung aber, diesen seltsamen Ort und seine Verhältnisse kennen zu lernen, war um ein Bedeutendes gewachsen, und er wünschte schnell den Anbruch des Tages und gutes Wetter herbei, um seine letzte Wanderung dahin antreten zu können.

Ehe er sich jedoch zur Ruhe legte, warf er noch einen Blick aus dem Fenster auf die See hinaus, und da hatte er einen eigenthümlichen und im ersten Augenblick ihn befremdenden Anblick in der Richtung nach Cuxhafen hin vor sich, indem er in eine lange mit Laternen erleuchtete Straße zusehen glaubte. Die Schiffe, die bei Anbruch des Sturmes jenseits Neuwerk sichtbar gewesen, waren jetzt auf die Rhede von Cuxhafen gelangt und hier lagen sie, durch vorschriftsmäßige Zwischenräume getrennt, neben einander in mehreren Linien und jedes hatte seine Laternen an den dazu bestimmten Stellen ausgesteckt, um geduldig den kommenden Tag und die steigende Fluth abzuwarten, mit deren Hülfe es in die Elbe hinein segeln konnte.

Endlich aber, als er sich auch an diesem Anblick geweidet, fühlte er eine sanfte Müdigkeit sich seiner bemächtigen und nun entzog er sich der Ruhe nicht länger und entkleidete sich. Als er aber mit einiger Vorsicht in seine niedrige Schlafkammer gekrochen war und das Licht gelöscht hatte, wurde er wieder munter, denn sein Ohr vernahm aus nächster Nähe das laute Gebrause des Windes und das Gebrüll des aufgeregten Wassers, das bald donnernd, bald klatschend und zischend an dem Steindamm der Kugelbaake brandete und seine mächtigen Schaumwogen oft sogar gegen die riesigen Deiche schleuderte. Endlich aber hatte er sich auch an diese großartige Musik gewöhnt und nun schlief er ein, und zwar so fest, daß er erst wieder erwachte, als der Tag schon lange angebrochen war. Rasch erhob er sich jetzt und warf sich mit einer Hast in die Kleider, als ob er etwas Wichtiges zu versäumen hätte. Wie erstaunte er aber, als er nun an das Fenster trat und einen Blick über die See hinaus warf. Der Capitain Hardegge hatte wirklich Recht gehabt, es war gutes, sogar sehr schönes Wetter eingetreten. Von dem Gewittergewölk des vorigen Tages war keine Spur mehr vorhanden und der Himmel strahlte in reinster Bläue.

Zur Rechten nach Cuxhafen hin funkelte schon der goldene Sonnenstrahl in den zitternden Wellen der Elbe und diese selbst hatte sich beruhigt; nur leise noch, vom leichten Nordost gekräuselt, plätscherte sie gegen den grünen Fuß der Deiche, an denen keine Brandung mehr zu sehen und zu hören war. Ueber der See jedoch, und in der Ferne am dichtesten, lag noch eine leichte Nebelhülle, aber auch sie wirbelte schon, von den Sonnenstrahlen gelichtet, hie und da in die klare Luft empor, so daß man bereits wieder die Segel unterscheiden konnte, die auf der See kamen oder in dieselbe hineinsteuerten.

Paul, als er dies schöne Wetter sah, fühlte wie selten in seinem Leben ein unbeschreibliches Sehnen in der Brust, hinaus in die frische Morgenluft zu kommen. Er kleidete sich rasch fertig an, schloß seinen Koffer zu und stieg in den unteren Raum des Hauses hinab, wo er indessen nur die Magd traf, die mit der Bereitung seines Frühstücks beschäftigt war.

Auf seine Frage, wo Herr Whistrup sei, erhielt er die Antwort: »Der Herr ist in der Leuchtkammer beschäftigt, aber Fräulein Friede ist auf dem Deich.«

Mit einigen Sprüngen war er an der Seite des hübschen Mädchens und sah zu seiner Verwunderung, daß sie auf der äußersten Spitze des Deichwinkels stand und mit einem großen weißen Tuche nach der See hin winkte.

»Guten Morgen, Fräulein Braut!« rief er ihr zu. »Aber was machen Sie denn da?«

Friede trat ihm entgegen und gab den Morgengruß lächelnd zurück, indem sie ihr Tuch zusammenfaltete und über den Arm legte. Aber sie beantwortete nicht sogleich seine Frage, sondern sagte: »Nun, sehen Sie wohl, daß Capitain Hardegge Recht hatte und daß er wirklich als Wetterprophet gelten kann? Können Sie sich einen schöneren Morgen zu Ihrem Spaziergange wünschen? Es ist zwar noch ein wenig naß, aber die Sonne wird das Schlimmste in einer Stunde aufgesogen haben und Sie können Ihren Weg getrost antreten, den Ihnen gestern Abend mein Vater schon deutlich genug beschrieben hat.«

»Das will ich auch in einer Stunde thun. Meinen Koffer aber lasse ich bei Ihnen; man wird ihn im Laufe des Tages von Betty's Ruh abholen. – Allein Sie haben mir ja meine Frage nicht beantwortet. Wem winkten Sie denn vorher so lebhaft zu?«

Friede lächelte verschämt, dann sagte sie erröthend: »Nun, mein Gott, es kann ja nicht schaden, wenn ich es Ihnen verrathe. Es ist eben meine Telegraphenstunde gewesen, in der ich meinen Bräutigam zu grüßen pflege. Er hat mir einen Chronometer gegeben, der mit dem seinen auf die Secunde stimmt. Wenn nun die zwischen uns verabredete Zeit kommt, trete ich auf den Deich und schüttele mein Tuch. Er sieht durch sein Glas vom Schiff und weiß, daß ich ihm einen Guten Morgen biete. Wenn ich ihm aber einmal etwas Wichtiges mitzutheilen habe, stelle ich mich auf den Balcon, den er immer zuerst in's Auge faßt, und dann gebe ich ihm mit meinen Flaggen ein Zeichen, welches er sich entziffern kann, da wir uns eine besondere Flaggensprache eingeübt haben.«

»Das ist sehr hübsch,« erwiderte Paul, »und Sie sind um diesen Genuß zu beneiden, da Sie sich so ja jederzeit mit dem Capitain unterhalten können. Falls Sie ihm aber etwas zu sagen hätten, wenn es finster ist, wie machen Sie es dann?«

»O, daran haben wir auch gedacht; dergleichen bringt einen Seemann nie in Verlegenheit. Nachts stelle ich einige Reservelampen in bestimmten Zwischenräumen an einem dazu geeigneten Fenster auf, und damit ich weiß, daß er meine Meldung empfangen und verstanden, läßt er eine blaue Rakete vom ›Jacob Hinnerich‹ aufsteigen.«

»Das ist wirklich sehr hübsch,« rief Paul beifällig aus, »und Sie haben sich da eine allerliebste Unterhaltung verschafft. Auch sehe ich jetzt, daß die Lage Ihres Hauses reizend ist. Jetzt kann ich mir denken, warum es dem Professor hier so gut gefällt. Nun, rechnen Sie nur auf mein baldiges Wiederkommen und dann – dann habe ich Ihnen vielleicht noch viele andere Fragen vorzulegen.«

»Ich werde sie Ihnen nach Kräften und immer gern beantworten. – Werden Sie denn lange auf Betty's Ruh bleiben?« fragte sie nach einer Weile, nachdem sie sich wahrscheinlich die Schicklichkeit dieser Frage überlegt hatte.

Ueber Paul's schönes Gesicht flog plötzlich ein blitzartiger Schimmer; er besann sich keinen Augenblick auf die Antwort und sagte mit festem, scharfem Blick in das fragend zu ihm aufschauende Auge Friedens:

»O ja – vielleicht mein ganzes Leben

Friede erschrak. Warum? das wußte sie freilich nicht, aber das Aussehen ihres Gastes war so rasch ein anderes, und wie es ihr vorkam, bedeutsameres geworden, daß sie schnell in ihrem Geiste die Gespräche durchging, die am vorigen Abend über den Besitzer von Betty's Ruh gefallen waren.

»Sie scheinen sich darüber zu wundern,« fuhr Paul fort, der ihren Schreck wohl bemerkt und den Grund davon errathen hatte, »aber denken Sie für jetzt nicht weiter darüber nach. Wenn ich wieder zu Ihnen komme, kann ich es Ihnen vielleicht klar machen, warum ich in Betty's Ruh bleibe.«

»Mein Gott,« rief Friede, in einen ganz falschen Gedankengang gerathend, »Sie wollen es doch nicht etwa kaufen? Denn man hat schon davon gesprochen, daß der Professor es verkaufen will.«

Jetzt machte Paul große Augen. »So,« sagte er, »auch das hat man gesprochen? Nun, so viel kann ich Ihnen sagen: wenn es bis heute Mittag noch nicht verkauft ist, wird es wahrscheinlich nie verkauft werden. – verstehen Sie mich recht, ich dehne dies nie etwa auf ein Menschenleben aus. Doch, lassen Sie uns von Betty's Ruh abbrechen, ich habe für's Erste genug darüber gehört. Darf ich jetzt wohl um mein Frühstück bitten?«

Friede schritt ganz betreten neben dem seltsamen Baumeister nach dem Hause zurück, der, als er in das freundliche Unterstübchen trat, den Tisch schon gedeckt fand. Schöne Tassen von vergoldetem Porzellan und eine dazu passende Kanne voll heißen Kaffees standen darauf, und wohlschmeckendes Brod, Eier und frische Butter, schon am frühen Morgen von Christine aus dem Bauerngehöft geholt, sahen dem hungrigen Gast appetitlich entgegen.

Während Paul in aller Ruhe sein Frühstück verzehrte, verließ Friede das Zimmer und ging zu ihrem Vater hinauf, mit dem sie erst nach einigen Minuten wieder herunterkam. Die beiden Männer begrüßten sich freundlich, obwohl Herr Whistrup eine etwas befangene Miene blicken ließ. Als nun Paul sein Frühstück beendigt hatte und sich eine Cigarre anzündete, sagte der Laternenwärter:

»Nun rüsten Sie sich wohl schon zu Ihrem Marsch, lieber Herr?«

»Ja, mein guter Herr Whistrup, und es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen meinen Dank für Ihre Gastfreundlichkeit zu sagen und Sie um die Rechnung zu bitten.

»Die Rechnung? Muß denn das sein?« fragte der bescheidene Mann mit halb niedergeschlagenen Augen.

»Ja, das muß so sein!« erwiderte Paul. »Nur Freunde stellen sich keine Rechnung für genossene Gastfreundschaft aus, und das waren wir ja bisher noch nicht – ich hoffe aber, daß wir es bald werden,« setzte er mit Nachdruck hinzu, indem er dem Manne die Hand reichte.

»Wenn es so ist, dann haben Sie einen Gedanken mit mir, Herr, und nun bitte ich Sie, grüßen Sie den Herrn Professor von mir und – und –«

»Vergessen Sie Ihr Versprechen nicht, wollen Sie sagen,« unterbrach ihn Paul. »Nein, ich vergesse nie, was ich versprochen, und Ihnen halte ich es gern. Also meine Rechnung!«

»Ach was Rechnung! Geben Sie mir einen preußischen Thaler –«

»Einen preußischen Thaler?« fragte Paul verwundert. »Sie vergessen den Wein und die Mahlzeit.«

»Nicht im Geringsten. Sie waren, ohne es zu wissen, gestern der Gast des Capitain Hardegge, und mit einem Thaler bin ich also reichlich bezahlt.«

»Wenn es so ist, so soll der Capitain nächstens mit seiner Braut bei mir Gast sein – wenn sie es Beide wollen.«

»Bei Ihnen? Wo ist denn das?« Paul sah die erröthende Friede an, die ihn verstand. Dann lächelte er und sagte: »Warten Sie es ab, Sie sollen es bald erfahren. So. Hier ist mein Thaler und hier ein zweiter für die Magd.«

»Um Gottes willen, Herr, was denken Sie!« rief Herr Whistrup erschrocken. »Das ist hier nicht Mode.«

»Bei mir aber ist es Mode und nun leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl, mein Herr, und ich danke Ihnen tausend Mal für Ihren Besuch!« rief der erfreute Wirth, dessen Tochter nun Paul wirklich für einen reichen Mann und für den wahrscheinlichen Käufer von Betty's Ruh hielt.

Paul reichte auch ihr die Hand und dann trat er vor die Thür, von Beiden bis auf den Deich begleitet, den er bis zum Dorfe Döse beschreiten mußte.

»Haben Sie sich auch den Weg gemerkt?« fragte Herr Whistrup den sich Verabschiedenden.

»Ich habe mir Alles gemerkt, was Sie mir sagten – und nun Guten Morgen, bis auf Wiedersehen!«

Und fort schritt er in den goldenen Morgensonnenschein hinaus, der, wie er im Meere mit Millionen Funken sprühte, so in jedem Tropfen auf Gräsern und Halmen wiederspiegelte – Vater und Tochter aber blieben lange auf dem Deich stehen und sahen ihm nach, bis er endlich ihren Augen nur noch als ein kleiner Punct erschien. Dann schüttelte der Laternenwärter verwundert den Kopf und sagte:

»Das ist ein stattlicher und schöner Mann, Friede, und wir haben, glaube ich, eine hübsche Bekanntschaft gemacht. Aber was er auf Betty's Ruh wollen mag und welche Mittel ihm zu Gebote stehen, sein Versprechen zu halten, ist mir ein Räthsel, Kind.«

»Mir auch, Vater, und doch vertraue ich ihm. Philipp sagte gestern Abend, als er ging: ›Friede, paß auf, das ist kein gewöhnlicher Mensch, und sein Besuch hier hat was zu bedeuten.‹«

»Da mag er Recht haben, ich glaube es auch.«

»Und ich auch!« fügte Friede hinzu und Beide verließen nun den sonnigen Deich und verschwanden bald im Innern des niedlichen Hauses, um wieder an ihre gewöhnliche Arbeit zu gehen.


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