Friedrich von Gagern
Der tote Mann
Friedrich von Gagern

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Vor Tagesgrauen trat Ne-i-ki-mi hinaus. Tief in verhangenem Grund klickerte klein der schwarze Bach, der Schnee reichte bis zur Brust, aber der Himmel hatte sich gelichtet, das späte Mondkanu glitt in rasender Geisterfahrt durch dünnes Stöbergedünst. Ne-i-ki-mi mit einigen jungen Kriegern führte die Pferde auf die Halde heraus. Sie sollten sich etwas Grasung vorscharren; ein schwerer Tag begann, zu nächster Nachtrast mußte ein kleines altes, jetzt verlassenes Händlerfort am Kichi Kanija erreicht werden. –

Sie brachen auf. Die jungen N'dakotahweiber wurden nicht wieder gefesselt. Der alte Ne-e-na lebte noch; sein erkaltender Körper atmete. Aber ein anderer Krieger war während der Nacht gestorben; erstarrt hockte er an der glitzernden Sinterwand. Ne-i-ki-mi löste ihm feierlich den Skalp ab, daß nicht ein feindlicher Finder ihn schände, und er gab ihm zu letztem Wege die Waffen in die klammen Hände. Als Ne-e-na auf das Pferd gebunden werden sollte, öffnete er die schmalen Fieberaugen und wehrte mit schwacher Gebärde; aber keine Klage kam über seine fahlblauen Lippen. In schweigender Reihe ritten sie die Halde hinab, lautlos im spurenlosen Hochschneemorgen. Der Tote allein blieb zurück, ein einsamer Wächter an verkohlter Feuerstatt. – 163

Sie gewannen die freie Prärie; sie ritten, es schneite weiter; sie ritten stät, stetig wirbelte der Schnee; sie ritten stumm, und stumm vor ihnen, hinter ihnen, uferlos um sie her schloß sich die weiße stöbernde Stille.

Manchmal stieß der riesige Windadler herab, teilte den schwebenden Flockenfall und jagte ungeheure Eisfahnen, Gespenster über plötzlich gelüftete Weite. Dann schossen die scharfen Schneedunen wagrecht in blendendem Schwindelstrom den schrägen heißen Gesichtern und geknickten Federn der Reiter entgegen; sie erhoben sich, schwärmten in Nebeln von der Erde auf und fegten über die Krieger hinweg in den fahlgrauen Himmel zurück. Und der unsichtbare Windadler zog die Schwingen ein und setzte sich wieder auf die Schulter Manitus, und der gescheuchte Schnee fiel beruhigt in verdichtetem Gesprenkel.


Kaum ein Wort wurde gesprochen, kaum eine Hand gehoben. »Kichi Kanija . . . Büffel, dort . . . Mittag« . . . Und die Spitzenreiter wechselten, und der Ruf erstarb in Schweigen, und der Schnee fiel und verlöschte und begrub.

Mitte des Tages war vorüber. Die Ponys dampften vor Erschöpfung. Ne-i-ki-mi ritt stumpf, gesenkten Kopfes. Einmal überkam es ihn, daß er die Ladungen seiner Waffen, Büchse und Pistolen, prüfte und unter schirmender Hand frisches Zündkraut auf die Pfannen goß. Er gedachte seines jungen Pilgerweges, heim vom heiligen Pfeifensteinbruch: des schwarzen Bären im Winterlager, der beiden nachtrollenden Wölfe, des N'dakotah am grauen, überstöberten See. Dann fand er seinen Stamm fast weggestorben, dann vernahm er die Mahnungen des alten Manki Pi-ji-ki, dann ward er Krieger, 164 Unterführer, Sagamore . . . Und dann kamen immer mehr Bleichgesichter, die guten schwarzen Zauberer, die Händler, die Boten des großen Vaters am Po-to-mac . . . Und dann kam der große Rat, dann kam der große Plan, dann kam das sprechende Leder, dann kamen die N'dakotah, dann kam der weiße Manitu, dann kamen die Gewehre, die Decken, das Pulver, das Feuerwasser . . . Und es kam der rote Herbstmorgen des Elends, da der greise Akah Was-wa-gon in zorniger Verachtung das arme Volk am Opashkewa verließ und verfluchte: roter Mann – toter Mann! . . . Ne-i-ki-mis Blick fiel auf den alten Ne-e-na, wie er mit seiner faulenden Todeswunde, mit dem Marterpfahl im Leibe leichenstarr auf dem Pferde saß, düster glitzernd die schmalen Augen im gramvollen Adlergesicht . . . Roter Mann, toter Mann! . . . Und weiter ging der Ritt durch Schnee und Steppe im sinkenden Tag. –

Büffel standen und zogen da und dort, schwarze Hügel im weißen Gesprenkel. Aber die Skalpjäger auf schwerem Heimweg achteten nicht des Wildes, und das Wild in seiner Not achtete nicht des Feindes und stand und irrte dumpfbetäubt im Geschehen der Jahreszeit.

Die Sonne mochte noch eine Spanne hoch über der Welt stehen; da lichtete sich's von Mitternacht gen Abend und Morgen in helleren Streifen, und der Schnee fiel in dünnerem Schwarm. Wald auf flachen Hügelschwellen dämmerte heran; eine halbe Sonnenspanne dahinter entströmte der Kanija seinem gleichnamigen Muttersee. Gerade im verlöschenden Abendgrauen konnten sie das feste Blockhaus erreicht haben, das in seiner Stokade, im kugeldichten Bohlenzaun, auf freisichtigem Rain unweit des Flusses lag. Dann waren sie geborgen, 165 konnten einen Büffel erlegen und in Ruhe sich zur letzten Strecke des Heimweges erholen.

Aus den hellen Streifen klärte sich's, die Wolken stiegen, der zögernde Schneefall versiegte, in fahlem Widerschein ritten sie gegen grüne Himmelsferne hinaus. Der Wald vor ihnen lag blau im grünen Schnee, weit dahinter aus blauem Frostduft der Umriß verstreichender Hügel, des Forts Höhen in Winterrauch und Eisdunst. Der Schneemantel vorüberziehender Bäume von unten her grünlich angestrahlt; von grünem Lichte gesäumt die aufrechten Lanzen, die bemalten Gesichter und buschigen Pferdeohren.

Sie kamen an der Zunge des buchtigen Waldes vorüber und trieben die dampfenden Ponys zu letzter Anstrengung an. Deutlich stand der Würfel des Blockhauses vorm klaren grünen Himmelsgrunde des Abends; einzelne schmale, flammige Feuerwölkchen schwammen darüber hin. Mit Verlöschen von Weg und Welt, bei erstem Glitzern der Froststerne konnten sie in der bergenden Stokade am hellen Lagerbrand sitzen.

An Ne-i-ki-mi war es, noch einmal die Führung zu nehmen; denn sein Pferd, das beste unter den geraubten, zeigte fast keine Spur bedenklicher Ermüdung. Er hatte gerade wieder daran gedacht, wie er einst in solch kaltblauem Abendwalde zum rauchenden See niedergewandert, verfolgt von den Wölfen, und wie er dann Büchse und Skalp des erlegten N'dakotah im Schutze verschneiten Tanns aufgehangen . . . Nun drückte er seinem Pony die Fersen in die Weichen und ritt vor; und wie er von ungefähr, im Unbehagen einer fremden Nähe, dem Zuge entlang zurücksah, nach den Gefangenen, nach 166 dem sterbend hangenden Ne-e-na, erblickte er, wonach er all die Tage schon umgespäht – –

Dort stand es, dort bewegte, regte sichs am Waldrande, dort lebte etwas, Gestalten – dort mehrte und sammelte sichs, dort rottete sichs grau im Dämmer, und nun löste sichs ab und folgte, grau und grimm im grünen Abendschnee – –

Ne-i-ki-mi holte aus und schlug seinem Gaul die Fersen in die Flanken, daß er mit erschrockenem Satz vorwärtsschoß: »Pu-wai-gon! . . . Wölfe!«

Der Unterhäuptling des Namens fuhr im stumpfen Hinreiten auf und starrte hinter sich, gewahrte den Feind, seine Zahl, seine Nähe, und hieb seinem Pony die Hacken hinter die Rippen: Wölfe! . . . Wölfe! . . . Die riesigen Winterwölfe! . . . Die Eiswölfe aus dem Nordwald! . . .

Und schon wußten es auch die Pferde, schnaubten und schnellten in verzweifelten schweren Sprüngen durch den hohen Schnee . . . Und hinter ihnen her, ihrer mehr und mehr, die Wölfe.

Der Zug löste sich auf, keiner mehr, nicht Reiter, nicht Roß wollte der letzte sein . . . Und hinter ihnen her in langen, leichten Sätzen die Schatten der Wölfe.

Ne-i-ki-mi, ohne Überlegung seinen wildverängstigten Gaul antrommelnd, dachte in rasender Flucht: Schießen – bis man wieder geladen – unsicher in der Dämmerung – ein Wolf oder der andere – nutzlos – einmal angefallene Fährte – Wundwitterung – Schneereiter schon oft totgehetzt – zu viele . . . Und er ritt mit dem Kopf, mit dem Gesicht im Nacken.

Alle ritten mit dem Kopf im Nacken. Nur der alte Ne-e-na nicht. Er ritt mit verkrampften Kiefern und 167 Händen, den grünen Frostdämmerschein, den Abglanz ewiger Büffelfluren im hohl verfallenen Antlitz.

Und hinter ihnen her die leichten Schatten der Wölfe.

Schon waren sie auf Pfeilschuß, schon auf Wurfnähe, schon sahen die Reiter das Glutgrün ihrer Augen. Denn die Pferde, in Wahnsinn und Furcht zu Bogen gespannt, kamen nur mühsam, nur ruckweise vorwärts, schwerer, je mehr sie sich unter ihrer Last streckten. Und hinter ihnen her der blutheiße Atemrauch der Wölfe; und ferne noch im blauen Frostdunst der Umriß des verlassenen Forts auf seinem einsamen Hügel. Ferne in der Ewigkeit.

Ne-i-ki-mi wußte: lange würden die von Wetter, Weg und Futtermangel erschöpften Pferde die Jagd nicht mehr aushalten. Auch die Wölfe sanken mit jedem Sprunge ein, allein sie waren unbeschwert, nach tagelangem Trollen selbst waren sie immer noch frischer als ein Gaul, der seinen Herrn durch Sturm und Stöbern getragen, und sie waren glühend hungrig. Eine Weile würden sie hinter ihrem Wilde herhetzen, dann wagte der Frechste den ersten Bißsprung nach Sehnen und Weichen, ein zweiter und dritter, alle . . . Und weiter, weiter, mit sinkenden Kräften ging die schwere Flucht durch den mählich eindämmernden Schnee, gegen den brandig sich rötenden, von gespenstigen Feuerfahnen überloderten Nordhimmel. Die Pferde schnoben und prusteten; Fersen und Leitseile, Bogenschäfte und Lanzen schlugen dumpf auf naßzottiges Fell; und hinterdrein hechelten fleischheiß die Wölfe.

Pu-wai-gon wandte sich im Sitz und schnellte einen Pfeil nach den Verfolgern ab; er versank irgendwo im Schnee. Ne-i-ki-mi opferte die Ladung seiner Büchse; aber der Schuß war kaum gezielt, stumpf erstickte der Knall, 168 die Wölfe kehrten sich nicht daran. Die Odjibewe versuchten es mit dem Kriegsgeheul; allein ihre Stimmen waren taub im Schnee, sie verloschen. Und das Blockhaus auf seinem Hügel wich vor den gehetzten Reitern immer weiter in den Abend, in die fallende Nacht hinaus.

Da blieb Ne-i-ki-mi zurück. Eine der Eianktonsquohs jagte auf dampfendem, keuchendem Gaul vorüber. Der Sagamore blieb ihr zur Seite. Er beugte sich seitlich herab, er zielte mit dem Messer. Da traf der schneidende Hieb, mit zerhackter Sprungsehne brach der Pony hinten ein. Die Squoh glitt ihm vom Rücken, lief fliegenden Haares den anderen nach: – die Mähre wurde unter Wölfen begraben, das Weib sank watend bis an die Hüften ein, ward niedergerissen, ein dunkler Knäuel, vorbei . . .

Weiter, weiter ums Leben! Aber der Wölfe waren zu viele. Und nun waren sie toll vom Blutgeruch, vom Schlingfraße der anderen. Jedem seine Beute! . . . Und schon schnappten sie mit klappenden Kiefern nach Hanken und Hessen der hintersten, der müdesten Pferde.

Ne-i-ki-mi gab dem nächsten Krieger einen Wink. Der trieb seinen Pony hart an den der zweiten Eiankton und zerhieb ihm in vollem Laufe die Sehnen. Das unglückliche Tier knickte ein, die Squoh ward vom jähen Rucke abgeworfen und verschwand unter grauen Schattenhunden.

Und die übrigen Wölfe waren nun schon zwischen den Reitern. Sie sprangen nach den Flanken, sie schnellten und schnappten gegen die Köpfe, die prustenden Nüstern der Opfer hinauf. Die Pferde bäumten sich und bockten, schlugen aus und standen mitten in der Gefahr zitternd still. Qualmend vor Anstrengung und Angst, 169 wollten sie lieber zerrissen werden als die Qual vergeblichen Kampfes, vergeblichen Ringens länger ertragen. – Die dritte Eiankton ward geopfert. Und gescheucht von Fall und Röcheln ihres Gefährten und dem grunzenden Zubeißen und Zerren der Wölfe, sprangen die Gäule noch einmal an, gefolgt, geleitet von denen, die bisher leer ausgegangen.

Und die vierte Gefangene, die Pu-wai-gon sich erbeutet, fiel, und die fünfte, die gestern unter Ne-i-ki-mis Messer durch Finsternis und Fremde den Weg nach der rettenden Schlucht gewiesen . . . Sie kannte ihr Schicksal. Ne-i-ki-mi sah ein schmales Aufblitzen ihrer Augen. Er überlegte, ob er sie zu sich herüberreißen, das Pferd nur opfern sollte . . . Dann bog er sich kalt vor und stieß dem ermatteten Tiere die Klinge in den Hals. Die Squoh sprang ab und warf sich den Feinden entgegen, aufs Angesicht lang in den Schnee . . . Und immer noch jagte die Meute mit Grünglutaugen und heißgeifrigem Aasatem hinter den Männern her.

Aber nun war das Fort in näherer Sicht. Eine flache Senkung zwischen Hügeln trennte die Gehetzten noch von der Zuflucht. Ne-i-ki-mi hatte seinen N'dakotahpony mit Stichen und Schlägen vorgetrieben. Er war am wenigsten verbraucht, seiner Führung folgten dann die anderen . . . In der Rechten hielt er eine der beiden Doppelpistolen, mit dem Leitseil in der Linken peitschte er unaufhörlich den keuchend vorgestreckten Hals des Gaules . . . Nur zwanzig weite Pfeilschüsse noch, so weit, als das Auge in brauner Prärie den weißen Halsfleck des Springbockes erkennen, im Herbstdunst ziehenden Gänseflug erspähen mag, so weit, als der pfeilstarrende Büffel vor den Jägern flüchtet, bevor Schmerz ihn ergrimmt, 170 Blutverlust ihn schwächt und er mit rotumkreisten Weißwutaugen sich stellt . . .

Sie ritten unter Schlägen und wildem Zuruf gegen die flache Senke hinab; die Wolfsrotte blieb nun um ein Weniges zurück, als wittere sie Übermacht oder scheute sie die Nähe des festen Blockhauses drüben – als besännen sich ihrer etwelche darauf, wie aus Spalten und Röhren solcher Höhle schon irgendwann der rote Menschenblitz tödlich unter sie geschmettert . . . Auch kamen die Pferde eine Strecke lang besser vorwärts; der Schnee stand hier minder hoch; er reichte nicht einmal bis an die Sprunggelenke. Allein Ne-i-ki-mi und ein jeder Krieger wußte genau, daß die schwerste, die eigentliche Gefahr noch vor ihnen, unter ihnen lag, und als sie den Grund der flachen Senke erreicht, waren sie mitten darin, gaben sie sich verloren. Hier schichtete der zusammengefegte Pulverschnee in furchtbar tiefen Wehen; die Tiere versanken bis über den Bauch, bis zum halben Unterschenkel ihrer unbarmherzigen Reiter. Und die Wolfsmeute, von Neuem ermutigt, angereizt durch den verzweifelten Kampf ihres Wildes, rückte wieder näher auf.

Ne-i-ki-mi, der Sagamore, in dessen Hüttenrauch so viele Skalpe dörrten, der das Weiß im Auge so manchen N'dakotah und Assiniboin auf Tomihokweite geschaut, Ne-i-ki-mi, der Sagamore, wurde von entsetzlicher Angst ergriffen. Glühender Schweiß stach ihm aus der Haut, aus der starren Ruß- und Ockerschminke; alles in ihm zitterte, er schlotterte auf seinem Gaul wie ein Feigling, den die Pappuhse höhnen und die alten Squohs verachten. Kein Hund der Eiankton oder Warpeton hatte je seinen Rücken gesehen; nun aber brach etwas in ihm, daß ihm schwindelte, daß er alle Besinnung verlor. 171 Die Pferde schnellten sich mühsam von Satz zu Satz auf wie der ermattete Hase im dünnen Mehlschnee, wenn der Coyote ihn dreimal im Schraubenkreise herumgejagt; wie der Gabelbock in tiefen Wehen, wenn der Adler ihn mit sausenden Flügelschlägen blendet und betäubt; wie scharfhufige Hirsche im zähen Sumpf. Es war ganz still geworden; die Krieger heulten nicht mehr; die Ponys nur prusteten; dumpfe, stumpfe Schläge fielen auf Hälse und Kruppen. Der Himmel über blauem Frostdunst erbrannte in schaurigem Rot, finsterer Feuerschein überdämmerte den Schnee. So rang das weiter, verzweifelt, versinkend, versiegend – immer tiefer hinein in die große Nacht, in die Ewigkeit.

Da begann mit einemmal eine hohle Stimme zu singen, eine Stimme mitten unter den Kriegern, tief und klagend wie aus steinernem Grab.

»Ich habe die N'dakotah erschlagen . . . Ich habe die Assiniboin erschlagen . . . Ich habe die Mi-ni-ta-ri erschlagen . . . Kein Feind hat jemals meinen Rücken gesehen . . . Kein Odjibewe kennt eine Narbe auf meinem Rücken . . . Ich habe die N'dakotah erschlagen . . .«

Es war der alte Ne-e-na; es war sein Leichnam, der wie im Starrkrampf auf dem Rücken seiner Mähre saß, ein gesträubter, kranker Adler auf letztem Ast. Sein schmaler Mund öffnete und schloß sich im Todeskampf, seine inwendige Stimme sang das uralte Sterbelied der Helden.

Ne-i-ki-mi durchzuckte es. Er sah sich um, er zauderte. Dann hob er die Pistole. Der Schuß knallte matt. Die Kugel traf das Pferd zwischen Auge und Ohr in den Schädel. Es brach vorne zusammen. Ne-e-na ward abgeschleudert, sterbend saß er im Schnee. Die Wölfe 172 schnellten gierglühend heran. Unbekümmert sang der greise Häuptling sein Totenlied weiter. Für ihn gab es keine Wölfe mehr.

»Ich habe die N'dakotah erschlagen. Ich habe die Man-dan erschlagen. Die Skalpe der A-ri-ka-ra sind zahllos in Ne-e-nas Rauch. Der Mi-ni-ta-ri heult vor Ne-e-nas Schatten und Namen . . .«

Aber da hatten sich die beiden Söhne des Alten von ihren Pferden geworfen. Mit Tomihok und Messern standen sie vor dem Verscheidenden. Die Wölfe stutzten, dann stürzten sich ihrer vier oder fünf über das erschossene Roß. Die anderen setzten sich im Halbkreis, mit hechelnden Rachen, um die sichere Beute . . .

»Ich habe die N'dakotah erschlagen . . . Ich habe die Assiniboin gejagt . . . Die Weiber der Man-dan nannten Ne-e-na als den Veröder ihrer Hütten . . .«

Die hohle Grabstimme verklang in der dumpfen Schneedämmerung.

Mit Messerstich und Pfeilspitze, mit Kolben und Speeren marterten die Reiter ihre rauchenden Klepper weiter von Sprung zu Sprung, von einem letzten Satz zum anderen. Und immer noch floh es und keuchte in Rotten und Rudeln hinter ihnen drein. Zwanzig Wölfe vielleicht waren bei den Opfern zurückgeblieben, ihrer doppelt soviele, die von früher her die Genossen wieder eingeholt, setzten unersättlich, unermüdlich, unerbittlich die Jagd fort. Es war, als hätte der Sturm alle Wölfe des Nordwaldes vom Winnipeg bis zum Temiscaming hierher getrieben, hier zusammengefegt gleich dem Schnee, dem fluchtbarrenden, stickend umfangenden in den verderblichen Wehen der Senke . . . Und wohin Ne-i-ki-mi sah, er sah die ganze schneegraue Dämmerung gespenstisch 173 voll von Wölfen; Wölfe überall, nichts als Wölfe und Wolfsschatten, ein Wimmeln und Flimmern von Wolfsgestalten, Schattenwölfen, ihrer hundert, zehnmal hundert, ohne Zahl wie die Flocken im Wind.

Noch ein Opfer mußte gebracht werden. Ohne Besinnen schoß der Sagamore dem nächstbesten seiner Krieger den Gaul zwischen den Schenkeln tot. Das erlöste Tier brach zusammen, der Reiter watete den Gefährten ein paar Atemzüge weit nach – – Ne-i-ki-mi nahm die andere Pistole zur Hand. Das Gelände stieg unter den wilden Hasensprüngen der Pferde. Sie hatten den Grund der Senke überwunden. Noch drei Büchsenschüsse, die flache Düne hinauf . . .

Das Fort dunkelte heran. Die Wölfe ließen nicht ab. Ein Pony stürzt und bleibt qualmend liegen. Der Reiter klammert sich an die Mähne des nächsterreichten, rennt mit, läßt sich zerren. Ne-i-ki-mi bohrt seinem N'dakotahroß die Skalpierklinge zolltief in den heißen Schenkel. Ein Lanzenwurf noch . . . Die Wölfe haben ihr Wild wieder eingeholt: als habe die Nähe der Zufluchtsstatt ihre Kraft und Tollwut verdreifacht. Sie dringen in die Schar der Reiter ein, schwärmen vor, schnappen an Flanken und Hessen und Köpfen hinan . . . Ne-i-ki-mis Pony bäumt und sträubt; wieder sticht ihn der Stahl fingertief in die Kruppe . . . Andere rücken auf. Der Sagamore hebt die Pistole und schießt blindlings nach dem Klepper des Hintermanns. Er strauchelt und fällt. Der verratene Krieger rafft sich auf und setzt an, dem Pferde seines Häuptlings von hinten aufzuspringen. Ne-i-ki-mi sieht und feuert; der Odjibewe schlägt die Hand vor die Stirne, wendet sich wankend und stürzt vornüber aufs Antlitz, mitten unter die Wölfe. Die Ersten 174 haben die Stokade des Forts erreicht. Das Tor widersteht. Sie werfen sich zuhauf dagegen, dumpfes Krachen, sie bersten hinein. Der Trupp drängt, wühlt, keilt, knirscht, würgt nach. Zaun, Schutz, Dach. Gerettet.


Der Sturm hatte die Schindeln des Blockhauses zum Teil abgeblättert, Schneelast sie eingedrückt. Auch in den verlassenen Räumen lag der Schnee bis zur Höhe der Schießluken. Die Odjibewe mußten im Hofraum lagern. Ihre knackenden Feuer aus Sparren, Balken und Schindeln brannten klein unter dem ungeheuren Flammenfächer des Nordlichts, dessen Geisterlohen hoch zum Himmelspol leckten und die Wintersterne verlöschten. Stumm hockten die Krieger in ihren düster überstrahlten Decken; kein Wort fiel; abseits im finsteren Zwiedämmerschein standen mit gesenkten Köpfen, das schweißzottige Fell eisgesträubt, hungrig die todmatten Pferde.

Ne-i-ki-mi kauerte einsam; dumpf starrte er in den bunten singenden Brand. Vor Mitternacht sank das Nordlicht und erlosch; hoch in schwarzer Frostnacht erglitzerten die Sterne; draußen, fern im Abgrund der Schneestille, heulten die Wölfe. –

Schon am anderen Morgen, ohne sich die erhoffte Rast zu gönnen, brachen sie auf. Bleiche Nebensonnen hingen im Dunst; drunten in den kahlen Pappeln am Fluß saßen große Nebelvögel mit gesträubtem Gefieder. Ne-i-ki-mi ritt wie im Schlafe hinter den anderen drein. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, sein Blick verdüstert, schlaff hing er auf dem Rücken seines Pony. Er wußte: nun war alles zu Ende. Keiner mehr hätte seinem Befehle gehorcht, keiner hielt ihn eines Blickes wert, 175 keiner kümmerte sich um ihn. Er war entehrt, ausgestoßen, tiefer verschmäht und verachtet als der Feigling.

Dennoch ritt er mit ihnen heim an den Opashkewa. Vielleicht fand er den gnädigen Tod des Kriegers am Marterpfahl. Die hellgeflammten Adlerschwingen auf dem Giebel seines Wigwam brausten im blauen Winterwind; Fetthöcker der Büffel, die Jäger der vorausgeeilten Abteilung erlegt, dampften zum Siegesschmaus in den Kesseln. Die Boten des weißen Manitu aber hatten das Dorf wieder verlassen. Ne-i-ki-mi fragte nicht; er hätte keine Antwort erhalten. Er sah, ließ geschehen, harrte stumpf seines Schicksals.

Nicht einmal der Ehre des Marterpfahls ward er würdig gefunden. Pu-wai-gon berief die Häuptlinge zum Rat; er, der Gefallene, saß einsam auf seinem Büffelfell und wartete des Beilzeichens auf der Birkenrinde, des Todesurteils. Allein kein Bote kam mit der erlösenden Kunde; niemand achtete seiner und seines Grames; er war niemand mehr, ein toter Mann.

Der Totempfosten vor seinem Wigwam ward schwarz bemalt; dann holten sie die Adlerfedern vom Giebel herunter und befestigten sie am Pfahl. Alles geschah in eisernem, tödlichem Schweigen. Alte Squohs und Pappuhse schichteten Tannenreisig um das Mal. Die Haufen wurden in Brand gesteckt. Pu-wai-gon als erster trat feierlich vor, schwang den Tomihok und schleuderte ihn durch den beißenden Harzqualm; die Beilklinge zerschnitt eine der Häuptlingsfedern und blieb schräg im Pfosten stecken. Ein zweiter Führer traf mit seinem Wurf die nächste Schwinge, ein anderer die dritte. Feder um Feder ward zerhackt, der Pfahlkopf starrte von haftenden Tomihoks. Dann kamen die nicht ratssässigen, dann die 176 jüngeren Krieger und Kundschafter an die Reihe. Mit Axtwürfen und Messern zerspeilten sie den angeglühten, rauchenden Malbaum bis auf einen armen faserigen Stumpf. Weibern und Kindern blieb es überlassen, Späne und Splitter noch weiter zu spalten, zu martern und zu verbrennen. Hunde beschnupperten den verkohlenden Rest nach fortgeworfenen Knochen. – Ne-i-ki-mi war gerichtet.


Er verließ das Dorf am Opashkewa und wanderte einsam, ein toter Mann, in den Winter hinaus. Lange irrte er durch Schnee und Wälder, schlief da und dort unter Reisig und Wurfboden, in der blutfrischen Decke erlegten Hirsches. Er streifte das vereiste Quellseenland hinan gen Mittag; bei anderen Völkern der Odjibewe brannte ihm kein Feuer, rauchte ihm keine Pfeife des Friedens. Endlich fand er Aufnahme in einem kleinen Fort kanadischer Pelztauscher, ein finsterer, stummer Gast. Wenn draußen in stammklüftender Klingfrostnacht die Wölfe heulten, fuhr er auf von seinem Lager und redete irr. Als dann nach langem Winter das Eis mit Dröhnen barst, als der braune Tausturm kam und die weißen Schwäne hoch über erblauende Seen und brausenden Tann gen Mitternacht zogen, machte er sich wieder auf und schweifte, ruhloser Jäger, ruhloses Wild, auf birkenlichten Waldhöhen der Wasserscheide unterm Flug der Gänse und Kraniche ziellos in die Frühlingsferne. Einmal kam er an den Opashkewa; der Fischadler schrie, die Biber plumpsten, drüben bellten die Hunde, dort am Felsen hatte er einst seine erste Tat vollbracht.

Er streifte weiter, heimatlos weiter, und gelangte nach langem Wandern an den Rotfluß, wo die Boten des weißen Manitu inzwischen eine kleine Siedelung 177 errichtet und andere Bleichgesichter schon die Wälder zu Blockhäusern fällten und Land klärten. Er ward erkannt und als A-dam freundlich aufgenommen. Hier blieb er in Frieden und Stille mehrere Jahre, flocht Körbe, fertigte Fallen und Matten, half den Jägern der Niederlassung mit Spurenkunde und Führung und lernte sogar den guten Vätern bei Verrichtung ihrer heiligen Trankopfer den Sonnenmantel halten, das Zauberbuch mit dem Totem des Marterpfahls von einer Seite zur anderen tragen, das Medizin-Wasser über die Hände gießen, mit der Schelle zu läuten und die Zauberworte ihrer Gebete nachzusprechen:

Kirileison, Kristileison, Kirileison . . . Mea kulpa . . .


Aber dann kam es eines Frühlings, daß die N'dakotah, gereizt durch Trug und Gier der Bleichgesichter, sich wieder einmal bemalten und mit Büchse und Tomihok, Skalpiermesser und Feuerbrand aufbrachen aus ihren Dörfern.

Ne-i-ki-mi vernahm es, horchte auf, und Unruhe erfaßte ihn, wie den gezähmten Gaul, der die wilden Weidepferde über die Steppe stäuben – wie den gestümmelten Schwan, der seine Brüder hoch im Sturme unter dunkler Wolkentracht hineilen sieht: wie das gefangene Tier, das die Jahreszeit ahnt und erwacht und hin- und hergetrieben wird von seinem Blut . . .

Prärie erdröhnte unter Hufen, Adlerfedern leuchteten flammig im Windesritt, Kriegsgeschrei gellte im Morgengrauen, Skalpiermesser funkelte und zog seinen schneidenden Kreis . . . Ne-i-ki-mi witterte Blutdunst; seine schmalen Augen glühten; seine Nüstern blähten sich wie die des 178 Hengstes, der im Frühling weit über Wiesen die brunstige Stute riecht . . .

Und wenn es auch N'dakotah waren, Eiankton und Sissiton, Todfeinde – – es waren rote Krieger, es war Skalpjagd.

Ne-i-ki-mi wurde trotzig und unaufmerksam, und eines Tages betraf einer der guten Väter ihn dabei, wie er vor der Spiegelscherbe sich sorgfältig bemalte und den Schopf mit Federn zierte. Vorhaltungen beantwortete er mit tückischem Schweigen; am anderen Morgen war er verschwunden.

Den N'dakotah sich anzuschließen wagte er nicht. Er lungerte hinter ihnen her wie der Coyote in der abfallversprechenden Fährte des Fahlbären. Sie waren weit südlich über den Rotfluß gezogen und ins Seenland eingebrochen; Rauch und Blut zeichneten ihren Weg des Hasses, verkohlende Trümmer, geschundene Weiber. Allein sie wurden geschlagen, erlitten schwere Verluste, mußten weichen und harte Bedingungen in dankbarer Demut annehmen. Ne-i-ki-mi wurde wieder ein Freund der Bleichgesichter. Sie hatten ihn an den N'dakotah gerächt. Er hatte das Glück, beim Verstümmeln und Berauben weißer und bemalter Leichen nicht ergriffen zu werden.

Zu den guten Vätern aber kehrte er nicht wieder zurück. Er trieb sich in den Niederlassungen des Seenlandes herum; da gab es Feuerwasser und manche Gelegenheit zu einem kleinen Diebstahl. Ne-i-ki-mi trug längst nicht mehr das hirschlederne Hemd, das befranste Lederwams, die Tracht seines Volkes, sondern zusammengebetteltes, zusammengestohlenes Zeug, blaues Kattunhemd, Beinkleider aus Corduroy, dazu ein rotes 179 Halstuch, das er beim Krämer gegen drei Minkfelle eingetauscht und auf dessen leuchtende Kriegsfarbe er besonders stolz war. Wenn nüchtern, fertigte er Tabakspfeifen aus Gips und Rohr, Mokassins, Messerhefte und kleine Körbchen; aber die wenigen Cents, die er für seine armselige Arbeit löste, trug er sogleich in den Store und gab sie hin gegen das köstlichste Geschenk des weißen Manitu: Feuerwasser.

Dann lag er sinnlos trunken, grunzend im eigenen Auswurf, irgendwo hinter Zäunen oder mitten im Gleis, oder er schwankte gröhlend und johlend seines Weges, oder er kauerte sich stöhnend auf die nächste Schwelle, hielt den skalpierten Schmerzensschädel fest und beantwortete Spott wie Schimpf, Vorwurf wie Ermahnung mit demselben unaufhörlichen Wehgelall: »Red mandead man . . . Roter Mann – toter Mann . . . Kirileison . . .«

So kam er zu seinem dritten, zum letzten Namen, unter dem er in den Niederlassungen bekannt und berüchtigt wurde, eine Scheuche der Kinder, ein Ärgernis den Gestrengen, allen ein geduldeter, getretener Hund. Seinen wirklichen, seinen stolzen Kriegsnamen kannte niemand mehr. Man hieß ihn einfach »den toten Mann« oder, mit Spott gegen die Papisten: Kirileison.

»Der tote Mann, der tote Mann kommt! . . .« schrieen die Pappuhse, wenn er vom Store her rülpsend und blöckend, die Fäuste vor sich her ballend und mit dem Messer fuchtelnd die Zeile herunterkreuzte. Sie ließen ihr Spiel, rannten hinter die Zäune, spähten und warfen mit Steinen nach dem Betrunkenen: ». . . Toter Mann, Kirileison, toter Mann, Kirileison! . . .« Dann schielte er in weißer Wut nach den Spöttern, bleckte die 180 breiten Zähne, machte einen drohenden Ausfall gegen das kreischende Kleinvolk, strauchelte und blieb grunzend im Staube liegen.

»Warte, warte, ich rufe den Kirileison, der kommt und wird dich holen!« sagte die Mutter zum unartigen Trotzkopf, der seine Hafergrütze nicht essen wollte. »Der tote Mann, der tote Mann schaut zum Fenster herein!« weinten die Kinder abends aus dem Einschlafen auf. ». . . und hier, ihr alle kennt ihn, den der Branntwein so tief entmenscht . . . ihr alle kennt ihn, und wie wird er von euch selbst gerufen? . . . der tote Mann!« sprach der Reverend, wenn er Sonntags Veranlassung fand, im Namen Zebaoths gegen ein »bit permisces shootin«, gegen eine kleine, etwas wahllose Schießerei des Sonnabends und ihre vermutlichen Ursachen einzuschreiten . . .

Der tote Mann selbst kannte sich bald nicht mehr unter anderem Namen. »Ich toter Mann, Kirileison.« Er trank immer mehr und verblödete. Manchmal, wenn der große Geist des Feuerwassers nicht ganz von ihm Besitz ergriffen, weil die wenigen Cents nur zu einer kleinen Neige gereicht, bemalte er sich mit oberflächlichen, nachlässig rohen Strichen, blitzte aus schmalen Augen und prahlte: »Ich Ne-i-ki-mi – großer Sagamore«. Aber niemand glaubte es ihm, er glaubte es selbst nicht mehr recht und kehrte demütig heim zu seinem Rufnamen: Roter Mann – toter Mann; Kirileison . . . Bald wußte er überhaupt nichts anderes mehr zu sagen. Er torkelte durch die Straßen, schüttelte wie in ewigem Staunen den Kopf und murmelte stumpfsinnig vor sich hin: »Roter Mann – toter Mann . . . Kirileison . . .«

Er ward von einer Niederlassung zur anderen getrieben. Weil er stahl, soff und gegen Feuerwasser 181 versprochene Arbeit zu leisten sich störrisch weigert, wies man ihn aus. Er blieb heimatlos. Einmal noch kam er an den Opashkewa. Bleichgesichter, die mit dreibeinigen hohen Tischen, zeichenbedeckten Riemen und blitzendblanken Rohren Zauberei trieben, hatten ihn als Träger gedungen. Der Wald widerhallte von Äxten, Stämme dröhnten, Blaurauch stieg aus durchscheinenden Lichtungen, das Dorf war verschwunden. Von Herbstregen, Winterschnee und Frühlingsrieselwasser zerlaugte Brandkreise zeichneten noch die alte Statt. Aus einem derselben ragte ein kleiner verkohlter Stumpf. Die Odjibewe, nachdem ihr Anschluß an die aufständischen N'dakotah unter Pu-wai-gons Führung verunglückt, waren längst aufgebrochen von ihren gefährdeten Wohnsitzen und gen Mittag an den Mi-su-ri gezogen, zu den Putawatomi und Paoni, in das Land, das der große Vater ihnen zugewiesen. Trotzdem dämmerte Schein des Erkennens über des toten Mannes Antlitz: »Hier Ne-i-ki-mi – ich Ne-i-ki-mi – großer Sagamore – viel Skalp,« versicherte er. Aber dann verbesserte er sich sogleich: »Roter Mann, toter Mann – Kirileison.«


Eines Abends mitten im grimmigsten Winter, als die Bäume in klingenden Nächten klüfteten und Gerüchte von Einbruch und Rottung ungewöhnlich vieler Wölfe, Jägersagen und Wolfsgeschichten aus alter Zeit an den hellen Feierabendkaminen erzählt wurden – eines solchen Abends war es, daß der tote Mann wieder einmal das Glück hatte, für eine Handvoll Cents vor dem Angesichte des großen Geistes der Bleichgesichter zu erscheinen und aus seinem Feuerstrome sich zu laben. Selig durchglüht saß er in seiner eigenen Wärme und vergaß. Als er aber 182 über seine Barschaft hinaus noch um eine kleine, ganz kleine Neige bettelte, jagte ihn der Krämerwirt rauh zum Teufel, und die übrigen Gäste halfen ihm mit Spott, Flüchen und Gläserwürfen. A-dam Ne-i-ki-mi, der rote tote Mann, schielte, bleckte bitterbös die breiten Zähne und wich der Gewalt; allein im Hinaustaumeln erraffte er im Store mit verstohlenem Griffe noch ein buntes Nackentuch, das zuvor schon sein Wohlgefallen erregt und ihn für einen Augenblick in seinen Wünschen beirrt, bis betörender Duft des Feuerwassers die Wahl entschied. Er barg den Schatz im Hemdbusen und tappte hastig in den Winter hinaus.

Schneesturm hatte drei Tage und Nächte lang das Land gefegt, Himmel und Erde mit Eisstaub erfüllt; nun glitzerten wieder die Sterne. Der Trunkene in der scheuen Eile schlechten Gewissens und zorniger Angst taumelte aus dem festgetretenen Steig und verwatete sich hüfthoch in tiefen Wehen. Glut des Feuerwassers stach ihm heiß aus der Haut; er stapfte und wühlte weiter und fand sich nicht mehr zurecht. Unfern im Walde, über den Feldern, wußte er einen hohlen Baum; dort meinte er seinen Raub zu bergen. Es war sein einziger Gedanke. Er brach und schleppte sich weiter und weiter.

Der Diebstahl war entdeckt worden. Lichtschein, rauhe Stimmen, Flüche, Schüsse hinter ihm her. Er spürte einen Schlag, einen leisen Schmerz, heißes Sickern im Hemde. Aber er kehrte sich nicht daran; er fühlte es bald nicht mehr; nur die Beute wollte er in Sicherheit bringen und dann schlafen. Er watete unverzagt, sinnlos weiter; er hatte sich verirrt; ringsum offenes Feld, Waldwand, Schnee und Sterne. Er blieb keuchend stehen und dachte ein wenig nach; süße Wärme des 183 Feuerwassers schwächte seine Knie und stieg ihm schmelzend zu Kopfe. Er sah sich um: kamen sie dort? . . . Kamen sie ihn zu töten? . . . Roter Mann, toter Mann, Kirileison! . . . Oder waren es Wölfe, Schatten, trabende, lauernde Schatten auf Dämmerschnee? . . . Er schrak auf und tappte und taumelte vorwärts, getränkt in Schweiß und Angst. Allein die roten Wogen des Feuerwassers umbrausten ihm schon die Brust, das Herz, den Atem, die Augen, die Stirne. Er konnte nicht mehr. Er blieb nochmals stehen. Bleichgesichter? Wölfe?Schatten? . . . Was sind Bleichgesichter, was sind Wölfe? Schatten. . . . Die Welt wich unter ihm, Schneeweite schwankte, die Sterne kreisten. Bleichgesichter? Wölfe? . . . Er wußte nichts mehr. Schläfernde Müdigkeit umhüllte ihn mit dunklem Mantel. Er legte sich in den Schnee; alles in ihm löste sich in Licht und Stille. Er versank. –

Niemand suchte ihn; niemand vermißte ihn; niemand begrub ihn; Wölfe der Nacht stritten und bissen sich um seine Gebeine.

Er aber war daheim, bei seinem Manitu, in seinem Himmel, in den Büffelwiesen der Ewigkeit.

 

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