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Das also war Tetuan, die Hauptstadt der Lüste, wie Muley Hassan sie genannt, da sein Hengst vor dem Bab Tsuts brünstig zu wiehern anhub! … René hatte dem Eseltreiber bedeutet, ihn vor dem Tore zu erwarten; die bekannten Touristenritte auf stumpfsinnig geprügeltem Tier waren nicht nach seinem Geschmack.
Nun schlenderte er furchtlos und gelassen durch das mittagsglutweiße Bab Aukla, die engen Handelsgassen hinaus, an der Mauer des Mellach, des Ghetto entlang nach dem Fddan, dem großen Marktplatz, nach dem anstoßenden Suk es Srah, dem Kornmarkt, am spanischen Konsulat und der katholischen Kirche zurück in die Quartiere der Gerber und Färber, der Schmiede in der hammerhallenden feilenknirschenden Hadadia, der Seidenmakler in der Hariria, der Taschner in der Sanka del Msad, der Mantelschneider in der Sanka del Mukad: – bis er endlich, nach gemächlicher Wanderung durch allerhand wohlbekanntes Gedüft, Geräusch und Gedeut, von den struppigen Straßenkötern bald bewedelt, bald scheel angefletscht, von den Händlern aus der Tiefe ihrer Lauben angerufen, vom Volk der Märkte als Franke beflüstert, den Rersa, den budenbedeckten Trödelmarkt erreichte und fand, daß dies berühmte Tetuan im Grunde auch nichts anderes und besseres sei als irgend ein mauerheißes orientalisches Nest, Aleppo oder Beirut, Haifa oder Tanger. Da droben die übliche Kasba, die Zitadelle mit den üblichen wehrlosen Grünspankanonen; irgendwo das übliche Dirnenviertel, verseucht mit dem Stank von Hennah, Khol und ranzigem Öl; Berber und Mauren hier, dort Syrer und geiergesichtige Armenier; und Buden und Schund, Bauchtanz und Blödsinn, Hunde, Flöhe und Juden überall.
René erstand nach langem Fordern und Feilschen und schwierigen Verhandlungen – denn die berberische Mundart, das Maghribische mit seinen schlingenden Ab- und Ausstoßungen war ihm fast unverständlich – eine hübsche rote Maroquintasche, die der Mnadir für sechs Rialen ausgerufen, für zwei Franken, einen nicht üblen, irgendwie romantisch blutrostigen Krummdolch, ein paar schöner, sorgfältig gearbeiteter, angeblich aus den berühmten Werkstätten der Torres stammender gelber Pantoffel und eine zierliche kleine Kifpfeife; trank der Wissenschaft halber ein Täßchen heißen, honiggelben Pfefferminztees und verzehrte dazu fettgebackene Mschmischküchlein; sah noch einmal nach der blendenden Kasba, nach den dunklen, tiefen Bergen hinauf, über die weiße Sichel der Stadt hin – und schlenderte dann sehr gemach, zeitlos in zeitlosem Lande, nach dem Hafentore zurück.
Er fand seinen Weg und fand das Bab Aukla; dem Eseltreiber aber war die Zeit lang und das Gewissen kurz geworden, und René entschloß sich, die fünfviertel Meilen sommergeborstnen Rotlehms unter die eigenen Sohlen zu nehmen.
Insch' Allah, wie es Gott gefällt; und Gott hatte es nicht gefallen, dem Vater des Esels die Geduld seines Tieres zu verleihen.
Und eigentlich ist ja alles belanglos auf Erden. Zu Fuß oder zu Huf erreicht man doch nur sein vorbestimmtes Ziel irgendwo im Wandersande, im Areg der Ewigkeit.
Der Uad Martil zur Rechten drunten war auf ein schläfrig schleichendes, brackiges Rinnsal eingekocht; in den staubigen Krautfeldern seines Schwemmsandes weideten sommerlich träumend zahlreiche kleine Kühe. Da und dort in kaktusumhegten Tabakgärten, Mais- und Bohnenäckern am Reitwege hin klangen Harken, regten sich helle Gestalten. Maultierskelette neben riesenblütigen Aloën, Rippenkörbe und grinsende Schädel, wie zu Soda gebrannt, zeichneten die Straße, in deren Winterschlamm Huf und Tier unrettbar, unlösbar stecken geblieben und versunken. Drunten vor dem blauen Schmelzfluß des Meeres leuchtete heiß der einsame Kreidewürfel des Bordj, des Hafenkastells mit der morschgeregneten, mürbgeglühten Holztreppe und den verloschenen Kanonen. Ein fernes, dunkles Rauchfähnlein rückte auf der Nachmittagssee nach Nord, einem Vorgebirg vorüber gegen weit im Glast verklingende Inselhöhen, eine der Säulen des Herkules, Ceuta mit seinem Djebel Atscha, der als ungeheure Sphinx, als Berberlöwenweib Tod und Tempel und Geheimnisse Afrikas bewacht.
René verfolgte den Weg des entschwindenden Rauchwimpels, und plötzlich durchschreckte ihn ein unangenehmer Gedanke. Er begann schneller zu gehen, er lief schließlich trotz lähmender Wärme, obzwar widerstrebend und zornig überzeugt, daß all diese unorientalisch würdelose und aufreibende Eile nun doch schon vergeblich sei.
Maurische Bürger in weißen und dunkelblauen Mänteln begegneten ihm, verschleierte Frauen, geschwätzige, unbarmherzige Eseltreiber und Tragtiere; er achtete nicht verhohlener Neugier und höflicher Grüße, sondern trabte erbost weiter durch den Sonnenbrand. Diese verfluchte europäische Zeitpflicht, die dem Menschen nach so vielen Jahren Süd und Ost immer noch wie zäher, schwerer Leim in den Knochen, in Hirn und Nerven sitzt! … Als ob nicht alles am Ende gleichgültig wäre: Insch' Allah – wie es Gott gefällt! … Aber das Gepäck, die Koffer, die der treulose kleine Dampfer der Bland Line nach Ceuta, nach Tanger, vielleicht gar nach Mogador im fernsten Maghrib verschleppte! … Der Gläubige soll zwar sein Herz nicht an irdisches Gut, sondern den Blick richten auf das Paradies und dessen ewige Liebesfreuden; allein die Koffer bargen frische Wäsche, saubere, luftige Flanellanzüge, dreißig bis vierzig Halsbinden in allen Flaggenfarben und von den besten Seiden der Welt, die Jagdausrüstung, Waffen und Patronen, Bücher und das große Unentbehrlichste vor allem, Wertpapiere und Wechsel, Anweisungen, Geld! … Immerhin, es war ein britisches Schiff und nicht der alte schmierige Ölkahn der Franzosen, der Navigation mixte, der auch alle heiligen Zeiten einmal von Algier und Oran her den Weg über Melilia und Tetuan nach Ceuta nahm. René beruhigte sich bei dieser Erwägung: H.M.S., das bedeutete doch irgend eine Bürgschaft. Und dann gab es ja in dieser Hauptstadt der Lüste einen spanischen Konsul, angeblich sogar etwas wie eine internationale Polizei, vielleicht auch Konsularagenten anderer Mächte, vielleicht selbst etwas wie ein Postamt und darin einen Telegraphen … Nein, man mußte nicht verzagen; was gut und allenfalls brauchbar am alten Europa, das fand sich auch hier. René legte das letzte Drittel seines Weges in wiedergewonnener Gelassenheit zurück. Nur fort aus den Sinnen mit dem verblödenden, verherdenden Begriff der Zeitpflicht, die den Menschen zum Diener der Stunden knechtet, statt daß er Herr ist der Tage, Jahre und der Ewigkeit! … Dergleichen paßt nach Deutschland, nach Preußen, wo das Bürgertier nach polizeilich festgelegtem Minutenplan hüpfen und hasten muß, um während des achtmonatigen Winters sein stockiges Kartoffelblut in erwärmender Bewegung zu erhalten. Aber hier blühen Oleander und Opuntien, hier reifen Feige und Olive, hier wuchert die Edelrebe traubenstrotzend als Urweinberg die Höhen hinan – und hier will der Herr des Landes, der Allbarmherzige, Allgerechte, der Eine, außer dem Keiner ist, daß man Ihm diene mit seinem ganzen Gemüte und nicht mit dem kleinen, armen, beschränkten deutschen Stundengott, daß man sich freue des Granatapfels am Zweige und des Eselgerippes zwischen den staubigen Aloën, der Aasgeier auf der Stadtmauer und des fröhlich tummelnden Flohs auf der eigenen Menschenbrust, daß man dankbar sich füge in Seine Vorsehung und gedenke, wie aller Dinge Eingang und Ausgang von Ihm vorbestimmt sei – Amin. –
Auf der kleinen Reede, zwischen den Ghurabi, den sommerlichen Laubhütten, darin die wenigen Melissenteesieder und Maultiertreiber, Bootsleute und Fischer des Hafens die trockene Jahreszeit über hausen, regte sich noch einiges Leben, das Verlaufen der Flutwelle, die das große Wochenereignis des Dampferhaltes ans Land getrieben. René bewunderte wieder einmal die Briten. Gerade auf ihren eigenen hochheiligen Ruhetag, den Montag Jehovahs und Dienstag Allahs des Landesherrn, hatten sie die Rundfahrt des alten Steambootes angesetzt. Andere Regierungen und Schiffahrtsgesellschaften hätten dieses geringfügigen und doch so bedeutsamen Umstandes schwerlich gedacht.
Ein alter Graubart in schwarzem Mantel überwachte die Befrachtung mehrerer Tragtiere. Sein Antlitz war wie aus leicht vergilbtem Elfenbein geschnitten, die Nase schmal und zartgeflügelt, der dunkle müde Blick voll gütiger Schwermut. Abdurrahman, der Diener der Barmherzigkeit, dachte René im Betrachten, irgend einer der Almoraviden oder Abencerragen, Granada, Corduba, Löwenhof, das echte Alhambragesicht. Nicht weit davon war ein Mensch in erdbraunem kurzem Mantel damit beschäftigt, die Schnallriemen strammgeblähter Schuari, großer lederner Packtaschen, mit dem Gebisse anzuziehen. So mächtig waren seine Anstrengungen, daß er den kleinen knochigen Kaidar, das Tragpferdchen, mit jedem Ruck Schritt für Schritt zur Seite drängte. Endlich war das Werk vollbracht. Der Mann richtete sich auf, trat nachprüfend um den Kaidar herum, und René sah zu seiner Überraschung in hellbraunem Bartgesicht stechend blaue, herrische Augen und in der vom Boden aufgenommenen Waffe statt der erwarteten langrohrigen Orientflinte ein neues stahlfunkelndes Mehrladegewehr. Der Blauäugige zerrte und zog noch einmal an dem festsitzenden Schuari, untersuchte die Ladung seiner Büchse, schulterte sie entsichert, warf ein kurzes verächtliches »U slam!« hin und schritt dann leichtsohlig, Oliven oder Feigen aus der Kapuze speisend, dem angetriebenen Pferdchen nach, am Uad Martil gegen die ferne Stadt hinauf.
Vor der Gurbi des Teesieders tat sich auch der nichtsnutzige Muchacho, der Eseljunge gütlich, der René so schnöd' im Stich gelassen. Aber er wußte sich schuldlos zu reden. Der Vater des Dampfes habe dreimal mit großer Stimme gerufen, erklärte er, und da der Si' trotz wiederholter Mahnung nicht gekommen, habe er gedacht – –
Das sei wahr, bestätigte der hinzutretende Bootsführer, ein ernster, tiefbrauner Mann – derselbe, der René vorhin vom fernab ankernden Dampfer herübergeschifft – der Vapor habe dreimal mit starker Stimme geheult, und die Diener des Rauches ließen dem Si' sagen, seine Ladung würde sicherheitshalber in Dscheblaltar drüben statt in Sipta, Ceuta gelöscht. Der Si' möge also um sein Eigentum nicht in Sorge sein.
René kam ein Gedanke. Was solch ein uralter Großvater des Dampfes vermochte, das konnte eine Segelflukka in ölstillem Meere auch.
»Wie lange fahren wir nach Dscheblaltar?«
Der Bootsmann strich lange den dunklen schütteren Bart.
»Allah segne dein Haupt! … Acht oder neun Stunden, wenn der Allerbarmer es gibt, und gibt er's in zwölf oder vierzehn Stunden, so ist er immer noch gnädig.«
»Fahren wir, gut, meinethalben zwölf Stunden. Fahren wir!«
»Allah mehre deine Weisheit! … In vier Stunden ist es dunkle Nacht. Das Meer aber ist nicht die Reg, die Wüste, wo die Qafla des Abends nach dem Maghrib aufbricht. Und wo Allah es will, daß du dein Eigentum wiedersiehst, so siehst du es auch in einem Jahre wieder; und wo er das nicht will, so würdest du es morgen früh schon vergebens suchen.«
Das war richtig; René schämte sich fast seiner würdelosen Dringlichkeit. So tribulieren mag der Deutsche, der selbst seine Sommerreise in Bureau- und Kontorstunden zerzappelt und zerpflichtet, der Franzose, der das Ziel seines Ehrgeizes, der Brite allenfalls, der den Zweck seines Sportes verfolgt. Er aber war tiefen, alten, österreichischen Blutes – und geboren in Stambul, im ruhenden Mittelpunkte der Welt! …
»Allah schenke mir die Leuchte deines Verstandes; du hast recht. Morgen früh also?«
Wieder kraute der braune Seemann seinen ernsthaften Bart.
»Allah erbarme sich deiner! … Wenn die Segel meiner Flukka geflickt sein werden – vielleicht. Vorausgesetzt auch, daß Allah gutes Wetter, günstigen Wind, uns allen Leben und Gesundheit – und dir selbst Einsicht in meine Armut verleiht.«
»O, über die Weisheit des Allgerechten, der gnädig ist allen Geschöpfen, wenn sie handeln nach seinem Willen!« … René suchte aus seinem Geldtäschchen ein schönes neues Fünffrankenstück hervor und überreichte es dem Schiffer. »Mögen all deiner Wünsche Wege zu Allah also kurz sein, o Rais!«
Der Beschenkte, erschüttert fast durch die unerwartet reiche Gabe und die schmeichelhafte Rangerhöhung zum Kapitän, drehte die große blinkende Münze zwischen braunen, seilharten Fingern.
»Ein Duro franßis! … Ein Duro franßis!« murmelte er, und alles, was gerade im Hafen beschäftigt war, siebzehn Mann einschließlich des Teesieders und seiner Gäste, sammelte sich um ihn, starrte, staunte, befühlte und raunte es voll andächtiger Scheu nach. »Ein Duro franßis! … Ein echter, rechter, neuer Duro franßis! … Dafür kann ich mir kaufen – – was kann ich mir nicht alles dafür kaufen! …«
»Zwanzig Stunden des Paradieses im Taalah,« spottete ein schneller Rechner; »ein Duro franßis hat zwanzig Billein, und für einen Billun – –«
»Allah verfinstere dich und breche das Bein deines Esels! Bin ich ein Neger? Bin ein Muchacho, ein spanischer Soldat? Für diese ist die Taalah und für dich und deinesgleichen! … Höre nicht auf diesen, Herr!« … Er wandte sich an René, der der Anbetung des Duro franßis lächelnd zugesehen … »höre nicht auf den da, Herr! Ihn hat Allah mit Neid und Unvernunft geschlagen, wie er dich erleuchtet und erhoben über alle Völker und Gläubigen! Denn du, Herr, du im Glanze deiner Weisheit und Gnade kannst ein Ungläubiger nicht sein, wie dieser Abd Hamara, dieser Diener der Eselin hier behauptet.«
René steckte sich unter allgemeiner Bewunderung eine aus zartestem makedonischen Tabak selbstgerollte Zigarette an.
»Allah ist groß und hat viele Namen; und sein Prophet lehrt, daß Isa ben Marryam am Tage des Gerichtes niedersteigen wird und thronen auf der Omar-Moschee von esch Scham oder Dimischk, wenn ihr diesen Namen je gehört habt. Du aber sage mir, o Rais, wo ein Ungläubiger in dieser eurer Stadt übernachten kann, ohne daß der Vater des Sprunges ihn zur Blutrache nötigt?«
»Allah segne deine Augen! Es gibt doch Funadik, Herbergen, gleich ihrer drei, vier hintereinander, wenn du von eurer Kirche nach dem Kornmarkt kommst, dann zur Linken, am Judenviertel hinunter …«
»Der dritte und der vierte sind die besten,« rief ein anderer dazwischen; »sie gehören den Rassani, die auch die großen Tischlereien betreiben …«
»Der alte Sinko Addur vermietet doch ganze Hütten über Nacht!« erinnerte ein dritter; »oben in Taalah, auch nicht teuerer als die Funadik …«
»Allah lähme deine Zunge! … Wird der Herr auf den alten schmierigen Matten des Sinko Addur – Allah verdamme ihn! – ruhen, wo tausend Väter der Sprünge seines Blutes harren? … Herr, es wohnt doch der Raisul, der Abgesandte des Königs, neben der Nazarenerkirche! … was willst du da nach den Funadik oder gar nach dem Taalah gehen, um mit den Dienern der Unruhe zu kämpfen?«
»Es gibt doch auch ein ganzes Nazarenerviertel!«
»Einen Hauptmann der Muchacho, der spanischen Soldaten – Allah verdamme sie! … Denn du, o Herr, bist kein Spanier.«
»Es gibt doch auch eine Post der Fransi!«
»Und eine der Almani, gleich daneben …«
Alle beteiligten sich an der Lösung der schwierigen Frage, an der Beratung des freigebigen reichen Fremden. Der Graubart nur stand fernab bei seinen befrachteten Tragtieren und hörte mit stillem, klugen Lächeln zu.
René überlegte. Es gab also alles nur Erdenkliche in dieser Hauptstadt der Freuden, und gerade das ward ihm angeboten, dessen er am wenigsten begehrte. Solcher Abende langweiliger Gastfreundschaft bei ganzen oder halben Landsleuten, Austausch politischer und diplomatischer Höflichkeiten, gegenseitiger Lobeserhebungen oder gar, das Schlimmste, gefühlsseliger Vaterländereien hatte er bis zum Ekel genossen. Er wandte sich an den Schiffer.
»Ich kenne einen anderen Fonduk, in dem ich die Nacht zubringen werde. Du, selbst, o Rais, bist der Wirt, und deine Flukka dort soll meine Herberge sein, wieviel nimmt der alte Sinko Addur von seinen Gästen?«
»Einen Billun!« rief es vielstimmig im Chor.
»Gut. Ich will dir nicht einen Billun geben, sondern zehn Billein, und noch einmal zehn dazu, wenn die Väter des Sprunges mich nicht öfter als dreimal erweckt haben. Bist du einverstanden?«
Der betroffene Schiffer stand einen Augenblick ganz starr ob so viel der Gnade und unverhofften Segens. Auf einen Rippenstoß des an solchem Handel natürlich mitinteressierten Teesieders erst ermannte er sich und schöpfte tief vom Boden herauf die Gebärde des Grußes an Herz, Lippen und Stirne, um sie dann, getränkt gleichsam und gesüßt mit allen Gefühlen der Hingabe, dem hohen fremden darzubieten.
»Dein Herz, o Herr, gleicht dem Brunnen, der niemals versiegt, und der Dattelpalme, die eine ganze Familie mit dem Honig ihrer Früchte labt, gleicht deine Weisheit!! Möge dein Leben lange währen! Du wirst sicher wie in Allahs eigenem Schoße im Zelte meiner Flukka ruhen; möge der Schlaf dich verjüngen, daß du gestärkt heimkehrest zur Gebieterin deiner Hütte!« Er hielt inne und setzte erst auf neuerliche Rippenstöße von seiten seiner Beistände und Hintermänner mit veränderter Gebärde fort. »Aber wehe, mir Unglücklichem! Wehe der lieblich Flüsternden, wehe der Duftenden, die du so früh zur Witwe gemacht! Denn der Neid, o Herr, ist der schlimmste und grausamste unter den Feinden; er gleicht dem Skorpion, der unter dem Steine schläft, in dessen Schutz du dein Beutelchen vor dem Licht des Tages bergen willst, der in der Matte lauert, darauf du deinen müden Leib zur Ruhe strecken mochtest … O über mein Haupt, o über die Tränen meiner Mutter! Denn, siehe, du hast mich gemacht zum Ärmsten der Armen, zum Beneideten – und hast mich verurteilt zum sicheren Tode, da du mich preisgegeben den Löwen und Geiern, den Tatzen und Krallen der Neider!«
René lachte; er hatte dergleichen erwartet und erhofft. Für einige Münze, die er unter die Umgierenden – Bootsleute, Eseltreiber, Hafenbettler – verteilte, bekam er wieder das Lob seiner Einsicht in reichster Fülle und Auswahl der Gleichnisblumen zu hören. Dann erkundigte er sich nach irgendwelchem Zeitvertreib, damit er die Stunden bis zum Einbruch der Nacht zubringen könne.
»Will der Herr Bauchtanz sehen?« fragte der Teesieder schnell unter gleichsam unwillkürlich nachbildenden Gebärden; »wenn der Herr – ewig währe seine Jugend und Gesundheit – den echten Bauchtanz sehen will – –« Aber auf eine gebieterisch wegwerfende Handbewegung Renés verstummte er.
»Manche besuchen den alten Friedhof der Andalos,« erwähnte der Schiffer; »er liegt links der Straße nach Sipta, den Hang hinan unter der Kasba, gegenüber dem neuen Gräberhof. Du erreichst ihn durch das Bab Mkabar, kannst aber auch am Bab Saida vorüberreiten und die Stadtmauer zur Linken lassen, weiter noch das Tal hinauf findest du den alten Friedhof der Jahudis.«
René entschied sich für einen Besuch dieser ehrwürdigen Totenfelder. Bauchtänze und orientalische Spelunken kannte er bis zum Überdruß; was einst von scharfaromatischer Würze gewesen, selten und von brennendem Reiz, daraus hatte die plumpe Neugier geiler europäischer Touristen, Deutscher zumal, längst eine widerliche, stumpfe Industrie in stets lagernder Sinnlichkeit gemacht.
Unter allgemeiner Teilnahme vertauschte er seine staubheißen Schuhe gegen die luftigen neuen gelben Sobat aus der berühmten Meisterwerkstatt der Torres. Sobat … ein kleines zartes französisches Winterliebeslied mit seiner feinen Innenmelodie zog ihm plötzlich durch den Sinn:
»
Mets tès petits sabots
Sur la cheminée …«
Sobat – sabots – Wanderung eines Wortes … Und solcher Wanderungen aus gemeinsamem Mutterhause wie viele! … Völkerhaß, Krieg, eigentlich alles lächerlich! … Nationalbewußtsein? Erst recht! … Gedankenzüge glitten auf tausendwechsligen Gleisen schattenschnell durch Unterführungen des Bewußtseins und verschwanden wieder in der Tiefe.
Nachdem er dann das Köpfchen der Kifpfeife statt mit berauschendem Hanf mit zartestem Kraut aus Xanthi gestopft, die schöne rote Maroquintasche nach Landessitte unter die linke Achselhöhle gehängt und den blutrostigen Almohadendolch unterm schwarzseidenen Gürtel geborgen, besprach René mit dem Rais noch kurz die Stunde seiner Rückkehr und die der zu erhoffenden Ausfahrt, winkte gnädig seinem Abd Hamara, dem Diener der Eselin, setzte sich auf des Grautiers räudigen Rücken und ritt gelassen davon, wieder gegen die ferne Stadt hinauf, verfolgt von der Neugier und dem Geschäftssinn des Hafens.
* * *
Nein – so lautete der kleine Chanson:
»
Mets tes deux sabots
Sur la cheminée;
Tes petits sabots,
Tes sabots dorés …«
René begann die wehmütig zärtliche, von ganz feinem Pathos keuschester Liebe getragene Melodie vor sich hin zu pfeifen und zu summen, und Hammar, der geduldige Graue, der als Bürger von Tetuan dergleichen noch nicht vernommen, spitzte angeregt die Ohren und beschleunigte fast seinen kurzen Schritt.
»Stell' deine beiden Pantöffelchen auf den Kaminsims – deine süßen kleinen, deine vergoldeten Pantöffelchen …« Eigentlich doch ein armseliger Stumpfsinn, das! … Aber wieviel Stimmung, wieviel Schmelz in dieser rührenden Armseligkeit! … Und René begann die einfache, ganz reine Weise wieder vor sich hin zu pfeifen und singen. Er hatte sie berührt; nun war sie erwacht und ließ ihn nicht mehr los, eine Rosenranke, die aufschnellt aus dem Winterschnee und sich festhakt am Mantel ihres Befreiers …
Wo hatte er dies bißchen Musik, dieses bißchen Einfalt in Vers und Reim zum ersten Male gehört? In irgendeinem lyrischen Cabaret, zwischen zwei bretonischen Balladen? … Und dann wieder irgendwo in einem jener entzückenden französischen Landhäuser, die da steilgegiebelt mit ihren hohen schmalen Rauchfängen im, sanftglühenden Herbstsonnengold Parke stehen? … Er sah den weißen Porzellankamin mit der hellklingenden Pendule und dem ersten linden Feuerchen, dessen Lichter über die bronzene Dämmerung starrer Ahnenbildnisse hinspielten; er atmete die Feuchte letzter schwerer Rosen, den Tau des Abends, den Duft der stillen Früchte, die Blume blutschwarzen Weines, der da in vielrautiger Karaffe und zarten, weitgeschweiften Kelchen geheimnisvoll düster gegen die Flamme funkelte. Und dann, ja, dann fühlte er sie, wie sie sich leis fröstelnd an ihn schmiegte; leicht wie ein Flaum, heiß wie Fieber – wie sie ihn mit ihren dünnen·pulsenden Armen umschlang und ihm alle Besinnung aus dem Leibe trank und ihn zu sich hinabsog in purpurne Tiefen …
Wie hatte sie geheißen, wer war sie gewesen? … Suzanne oder Clemence, Margot oder Diane – irgend eine der Vielen an seinem Wege zum Überdruß.
Andere Lieder in anderen Ländern, andere Frauen in anderen Fremden, andre Höllen unter andren Himmeln, andre Weine mit andren Weibern: – Dauer und Aufwand nur waren verschieden, Neige und Nachschmack blieben dieselben, brackiger mit jedem Mal …
War es das feine alte, von den Fruchtzuckern aller Kulturen übergorene österreichische Blut, das ihn nirgends ruhen und verdummen ließ? … Oder war's, daß er, ein österreichischer Orientale, keine rechte Heimat fand zwischen Stambul und Wien, zwischen den beiden schönsten Städten der Erbe, der ewigen Brückenstadt zwischen zwei Welten und der ewigen Weltstadt zwischen zwei Brückenspannungen? … Geboren in Pera; schauen und erleben gelernt auf der Tom-Tom-Straße, aus der Jeni Tscharschy und der Tschukar Bostan, auf der Tos Koparan und der Kumbaradschy; erstes ganz großes Ereignis: die Brücke, die alte, darauf damals noch Asien mit tausend Lasten nach Europa hinüber-, Europa mit tausend Lasten nach Asien herübergewandert; zweites ganz großes Abenteuer: die Dampferreise nach Mudania und die Wagenfahrt über die Schulter des Gemidsch-Dagh nach den Zypressen und Platanen des olympgekühlten Brussa … Tägliche Mitgeschöpfe: die schmalgeknöchelten Hommalar, die heulenden Kaykdahylar, geiergeschnäbelte, wucherknochige Armenier, die prachtvoll goldglitzernden Offiziere von Top Hané drunten, die Schildwachen vor den Taxim-Kasernen, die Straßenverkäufer von Rachatlokum, Rahout und Dulcas, die blinden, schwärigen Bettler, die fahlen Hunde, die Esel, die still und räudig irgendwo an blendender Mittagsmauer standen oder als geblähte Gasbäuche von Egri Kapu ober Südlüdsche mit Ratten, Katzen, Wassermelonen, Kürbissen und Kohlblättern das goldene Horn heruntertrieben … Tägliche Landschaft: das Meer, der schmelzblaue, stahlschwarzblaue, türkisgrünblaue Bosporus, Zypressenstelen und Pappelsäulen in heißem Kobalthimmel, Rauchfahnen draußen und die gelben Segelbogen, breiter Flimmerschatten uralter Platanen über Glitterfiligran und Fayence der marmelnen Brunnenkioske, drüben auf dem Rücken von Stambul die taubenumschwärmten Minarehs der Bajezid-Moschee und die prachtvoll wachsenden Kuppeln der Suleimanieh, jenseits der weltenscheidenden Götterfurt, darüber der olympische Stier die verführte Europa getragen, der Dächerberg von Skutari und der Zypressenwald des Mesaristan, des größten Gottesackers der Erbe … Ja; und dann, eines Jahres, die seligblaue Luft eines ganz anderen, noch weicheren, noch schmeichlerischeren Südens: das ehrwürdige Schottengymnasium mit seinen klugen Lehrern, statt der Aja Sophia der unbesiegte Stephansdom, statt der Suleimanieh die Schubertkirche zu den neun Chören der Engel, statt der Minarehs der Bajezid-Moschee die apostolischen Schwert- und Zeptersäulen der Karlskirche, sonntagsblanke Fiaker statt der Kaykdschylar, statt Rachatlokum und Rahout die riesiggekuppelten, paradiesgefüllten Indianerkrapfen des Café Imperial – wenn der Onkel Laczy grad einmal seine besten Spendier- und Patenhosen anhatte oder wenn die Tant' Luis' nicht grad ausgerechnet irgend eine Nachmittagspredigt oder Litanei mit Segen hat anhören müssen … Und dann noch zwei Jahre Feinschliff im Theresianum auf der Wieden draußen, mit recht viel Freiheit dabei, und dann die Pandekten und die orientalische Akademie, und der Wiener Wald voll Wein, Weib und der ganze Himmel des alten Kenners von Prophet überallgegenwärtig in jeder dieser ewigen Frühlingsstraßen, unverschleiert, unverwehrt, jedem wahrhaft Gläubigen zugänglich, der herniedergestiegene Harem des Einen, Unbarmherzigen selber … Ja, und dann? Dann begann er eben einmal, jener lange, schwüle, vielwendige Weg, der durch südüppiges Gartengelände aufwärts führte, vom Guten zum Besseren, vom Besseren zum Besten, vom Köstlichsten zum Seltensten, vom Seltensten zum Seltsamsten in Blüte und pikanter Frucht – und von da steil hinan zum kahlen einsamen Überdruß …
Glücklich der Abd Hamara, der Diener der Eselin da hinten: der hatte noch die wilde Unschuld der Jugend in sich – und vor sich seines ganzen Volkes Aufstieg zu den Höhen des Mittags. –
Sie waren auf lehmstaubigem Feldpfade am Bab Saiba vorübergekommen und kletterten nun den heißen Hügel des neuen Friedhofs gegen die blendende Spätsonne empor, Von weitem schon, über das schmale Trockental hinweg, erkannte René die Hufeisenbogen und Stalaktitwölbungen des altmaurischen Totenfeldes im klippigen, von immergrünem Ziegengestrüpp überwucherten Gegenhange unter der abendlichen Kasba, der Zitadelle. Er überlegte einen Augenblick. Nein, er wollte diesen steinigen Acker Allahs gar nicht erst besuchen. Maurische Kunst war ihm zuwider. Er hatte das alles schon gesehen, in unzähligen Abbildungen, später in Granada selbst und in Corduba, Malaga, Sevilla. Kitsch, moschusstinkender Kitsch; Kitsch geworden durch die Kunstgeschichte. Eigentlich war ihm alle Kunst zuwider und langweilig; denn alle Kunst wird Kitsch, ob Michelangelo oder Böcklin, Grünewald oder die Pyramiden. Der Orientale kauert sich hin zu seinem Kef, raucht stillzufrieden seine Zigarette, seinen Tschybuck oder sein Nargileh und freut sich, daß durch Allahs Willen die Suleimanieh dort mit ihrem Kuppelgarten und ihren Minarehs so schön vorm niederglühenden Abendrot unterm jungen, blanken Mondschwert steht. Der Europäer aber, der Deutsche natürlich voran, schlingt und wühlt und käut und schmatzt das alles gierig in sich hinein und würgt nach kurzer Halbverdauung den ganzen ästhetischen Speisebrei wieder aus … René mußte der Pariahunde von Stambul gedenken, wie er sie einst, vor ihrer grausamen und unklugen Vertilgung, im Viertel Kara Gömrük drüben beobachtet. Da hatte einer einen schmierigen alten Pantoffel erobert, und mit gesträubtem Kamm, unter weißscheelem Knurren und Fletschen gegen seine fadenspinnenden Straßenmithunde fraß er ihn restlos auf. Aber nicht lange, so hob und krümmte und streckte es ihn, und nach einigen Stülpungen lag der Pantoffel zwei Schwellen weiter neben einem herrenlos gewordenen Topfscherben, vor dem kleinen Kramladen eines Kerzenziehers. Nun kamen wenigstens zwei Mitköter auf ihre Rechnung; ehe noch der Urheber der ersten Bearbeitung sich von seinen Wehen erholt, war seine Wiedergabe bereits einverleibt worden, um dann, fünf Türen weiter, um unterschiedliche Kommentare vermehrt und mit vielen Anmerkungen gewürzt, einem halben Dutzend nächster Kandidaten Stoff zu eigener lehrreicher Auffassung und Anlaß zu öffentlicher Mitteilsamkeit zu bieten … So macht man Kunstgeschichte, das ist Literaturgeschichte, so werden Schönheit und Geist, Tizian und Goethe zu verpestendem Unrat, so wird der Tempel der Musen zu Kanzlei und Bordell, wie der Duft der Damaszenerrose zum Gestank wird durch töricht vergossenes Rosenöl. –
René schüttelte sich. Dort drüben, zwischen geborstenen Hufbogen und verfallenen Arkaden in Myrthicht und Macchie weidete der große bärtige Kunstbock, und ihm folgte die ganze cimbroteutonische Herde zweier Welten, das deutsche Lodenschaf und der britische Homespunhammel und das nachblökende Volk transatlantischer Heidschnucken … wehe dir, Tetuan am Uad Martil, die du so bequem im Machtbereiche mittelmeerbeherrschender Ferienreisenbureaux liegst, und besitzest eine Sehenswürdigkeit! –
Drunten im Grunde zog eine ungepflegte, natürliche Reitstraße das Trockental hinauf. Dort irgendwo mußte der Friedhof der alten in Jahve verstorbenen oder im dreieinigen Gott verbrannten Hebräer liegen. Bald sah René das kalkweiße, von mehreren Kreidewürfeln überragte Gräberfeld in dem wie von Rost beflogenen, spärlich angegrünten Hange. Er wies den Treiber an, seiner zu warten und stieg dann lässig auf einem der vielen Pfade zur stillen Totenstadt empor.
Eigentlich wußte er ja nicht, was er hier wollte. Immerhin, Stimmung war in der abenddurchglühten kargen Landschaft; Judäa-Stimmung, Palästina-Stimmung, Golgatha-Stimmung, Semitische Steppen-, Hirten-, Halden- und Dornenstimmung schlechtweg. Geier kreisten westdurchflammt über aloëbitteren Höhen. Zwischen Ginster und Tamarisken schliefen weißgebrannt die schicksalsschweren Gruftsteine der Auserwählten. René las da und dort einen der trotz jahrhundertelanger Auswitterung immer noch nicht verloschenen Namen. Manche davon, aus Ahnung nur zu vervollständigen, klangen im Gedächtnis gleich Stimmen der Hoch-Kabbala, der heißromantischen Zeit, da das furchtbare Verführungsbuch Sohar aus Thora und Talmud hervorgeschmolzen worden: – Rabbi Nachman aus Valencia, Isaac Al Meir aus Corduba, Esra Ibn Barach Al Jahudi aus Toledo … Andere schienen wie mit brennendem Märtyrerblut in den Stein geätzt, wie vom Feuer der Glaubensgerichte umlodert, und doch durchstrahlt vom mystischen Licht des Goldes, erfüllt vom heimlichen Widerhall unermeßlicher Dukatenschätze: – Samuel da Costa aus Almeria, Leon Pereira, Joan Pintos, Schalom da Fiore aus Murcia – Namen von Geschlechtern, die noch heut als mächtige und gefürchtete Dynastien blühten … Welch ein Weg, von der brandgeschwärzten Zionsburg bis in dies stille, geierüberkreiste Oleandertal des letzten Friedens!
René kauerte sich auf den nächstbesten Grabstein nieder, steckte seinen feinen Tabak im Köpfchen der Kifpfeife in Brand und rauchte sinnend in die fremde, rauhe Landschaft hinaus. Gedanken kamen und zogen vorbei, gleich Wolken, gleich Wassern; andere flossen aus anderen Ursprüngen heran und versandeten irgendwo in der Ferne; endlich aber mündeten sie doch alle in den eigenen Lebensstrom ein, und wohin dieser seinen Lauf nehmen würde, das wußte Allah allein, der die Berge baut und dessen Hauch die Dünen schichtet, der sich den Regen aus dem Nebelbarte streift und dessen Glutodem die Fluten aufsaugt und verdünstet.
Morgen, mit des Allerbarmers Willen, ging die Fahrt hinüber nach der anderen Säule des Herkules, nach Gibraltar; und dann? … Irgendwo, irgendwann mußte dies Kreuzen und Schweifen ein Ende haben; das heißt, nach des Allgerechten Ratschluß.
Wenn dieser schwere, tiefmüde Überdruß nur nicht gewesen wäre, dieser unüberwindliche, träge, vergiftende Ekel, der da drinnen über der sogenannten Seele lag wie Sumpfgas über verschlammter Niederung! Dies kalte, lähmende Fieber im Herzen, war René zu matt, zu verdrossen zu jedem neuen Beginn.
»Paludisme«, Sumpfung, nannten französische Ärzte jenen ähnlichen Zustand körperlicher Schwermut, der durch Aufnahme toxischen Wassers entstanden und ohne jähe, schweißheiße Krankheit, ohne Gefäll mit schleichendem, trübem Delta ins Meer des Todes mündet. Paludismus, Sumpfung: ja, das war die zutreffende Bezeichnung. Von innen heraus, von unten herauf, wie ein ungereinigter, dumpfer Brunnen, den nicht ein ausgleichender Verbrauch in lebendiger Frische erhält, ward er langsam verseucht und mit Bittersalzen gesättigt. Irgendwo, an einer der vielen Festtafeln seines Lebens, aus einem von vielen geleerten Kelchen hatte er vielleicht einen ersten brackigen Trunk getan; dann kam das Fieber der Empfängnis, und der Durst trieb ihn weiter von Born zu Born, bis sein Gaumen, seine beschlagene Zunge nur mehr Hefe und Lauge schmeckte, Galle und Gift.
Oder waren es die Opiate des Orients, die ihn durchzogen, wie blauer Zigarettenrauch des Kef mit seinem den Vorhang tränkt? War es die Narkose des Kismet, das Haschisch schicksalsergebener Beschaulichkeit, was ihn umnebelte und erschlaffte und tätige Freuden verachten ließ? Oder war es nur die stille, abendliche Herbstmüdigkeit des Österreichers, in dem alle Kulturen der alten Welt sich zur Frucht erfüllt, der keine jungen barbarischen Hoffnungen mehr hegen, nicht mehr das Glück kunstloser Täuschungen und roher Überzeugungen genießen kann – war es dies?
Er dachte nicht darüber nach; selbst das schien ihm beschwerlich und unfruchtbar. Er wußte nur: feil und gefälscht alle Weiber, feil und falsch alle Menschen, möglich das Leben nur durch Lüge. Liebe und Sitte, Gesetz und Glaube, Pflicht und Tugend – – Lüge und nichts anderes, Schrauben unter den Fußplatten erlogenen Gleichgewichts.
Einigermaßen wohl fühlte er sich nur im Orient. Hier, durch das Kismet von inwendiger Angst erlöst, war der Mensch freier, leichter und gerader als sonst irgend auf Erden.
Kein halbjähriger Winter, der das Volk in dumpfe, dungheiße Ställe zusammenpfercht und vervieht; die Liebe nichts als flüchtiger ehrlicher Genuß ohne mühselige Verkünstelung und fremde fade Zutaten, ohne ermüdende Vorspiele und weitschweifige Umschreibungen, darum aber reiner und mitunter vielleicht selbst dauerhaft; das Weib als Weib gemacht, ängstlich gehütetes Gefäß der Freuden oder Arbeitstier, niemals aber Göttin, um deren Kult der Mann, Held oder Dichter, Zeit und Kräfte vergeudet, und vor allem keine Störerin der öffentlichen Ruhe.
Gleichwohl, auch in diesem Paradiese, trotz allgegenwärtiger Geschenke einer gastfreien Natur, kostete das Leben sogenanntes Geld, so viel Geld, daß dadurch der Gewinn an Bedürfnislosigkeit aufgewogen wurde. Und hier wohnte der Nerv, den auch die süßen Giftdämpfe von Haschisch und Esrar nicht vollkommen einzuschläfern vermochten. Ein paar Monate noch, dann war René ohne Mittel, und dann mußte er nach abendländischer Auffassung irgend etwas anfangen.
Nach dem Tode der zärtlich geliebten Mutter hatte René sich aus dem Dienste verabschiedet. Früher schon war er aus der glänzenden diplomatischen Bahn in die gemütlichere konsularische herübergegangen, zum Schmerze der ehrgeizigen alten Dame, die aber seine Gründe dann doch begriff und den Wechsel mit ihren starken Beziehungen unterstützte. René war in Odessa gewesen, im lasterhaften Saloniki, in Smyrna, im schönen zypressengrünen Brussa unterm Schnee des bithynischen Olymp, endlich im gefährlichen, fanatisch heißen Damaskus. Dann starb die Mutter; René trat die Erbschaft von einigen vierzigtausend Gulden an, verkaufte das alte Haus in der Josefstadt, hinterlegte den Schmuck in der Bank und ging auf selbständige Reisen. Er war jetzt vierunddreißig Jahre alt. Seine Ehe mit einer schönen üppigblonden Dame, die früher die fragliche Frau eines russischen Fürsten gewesen, war nach kurzem Spiel einverständlich und freundschaftlich geschieden worden. Anderen, weniger harmlosen Bindungen entrann er nur mit Not und Gewalt. Heimatlos, allheimisch schweifte er im großen Vaterlande von Orient und Levante umher, verlebte einen Frühling im geliebten Stambul oder vielmehr in Pera drüben, einen stillen Sommer im zypressenkühlen Brussa oder in Böjükdere, einen Winter in Port Said und den nächsten Lenz vielleicht in Beirut: – – so verstrichen die Jahre, so versickerte das Geld, Medschidié wie Gurusch, Franken, wie Pfund, und nun saß er im fernen Maghrib, im armseligen Tetuan auf dem Grabstein irgend eines alten Spaniolen und mußte sich ernstlich vornehmen, irgend einmal darüber nachzudenken, wie das ohne Dukaten und Piaster nun eigentlich werden solle.
Kunst und Schriftwerk, Liebe und Glaube, diese ganze Welt von Wahn und Wunsch war René mit den Wegen und Erfahrungen zweifelhaft, ekel und verdächtig geworden; eine Leidenschaft aber hatte er sich bewahrt und zur überzeugten Neigung veredelt – das Gefallen an der Jagd und ihrem urwaldschluchtigen Hinterlande von Gefahr, Ungewißheit und Abenteuer. In der Jagd offenbarte sich die einfache Wirklichkeit wie die höhere Wahrheit aller Beziehungen des Lebens; die Jagd, Schwester des Krieges, war die Mutter aller Dinge.
Er hatte in den Schroffen der kretischen Alpen und in den heißen, mythischen Klippen des Djebel Musa den Bezoarbock erbeutet; er hatte in den dampfenden Regenwäldern pontischer Landschaft bei den Wanderköhlern geschlafen und den hellbraunen anatolischen Bären erlegt. Er hatte einen Herbst in den Vorbergen des Kaukasus zugebracht und auf den Urhirsch, den Urbock, den kolchischen Keiler geweidwerkt; er holte sich aus fieberschwüler Dornenwildnis des Südsudan das Fell des Mähnenlöwen, aus dem Lavageschründ des Hauran den Balg des syrischen Panthers, aus den Sumpfsteppen des Ural die seltene Trophäe des gewaltigen Dschul-Bars, des Turkmenentigers. Aber dann, nach schwer errungenem, kostspieligem Erfolg versank er wieder in müde, gesättigte, überlegen geringschätzige Gleichgültigkeit; nach harten läuternden Anstrengungen und Entbehrungen erschlaffte er wieder in wohlfeilem Genuß und eitlem Müßiggang, in Kef, Mokka und Mohn.
Er kannte das an sich und verachtete sich darin, wie er die ganze Welt mit ihrem Wähnen und Wünschen verachtete. schließlich aber verachtete er selbst diese Verachtung, als einen ungelösten Rückstand trüben europäischen Gewissens, ließ alles gehen und fallen, schloß die inwendigen Lider und vergaß.
Uelet hawler kherwan getscher – der Hund bellt, und die Karawane zieht weiter … Was soll der kleine, räudige Menschenhund hinaufkläffen gegen die große Karawane der Gestirne? Sie zieht doch weiter ihre Straße durch die Steppe der Ewigkeit. –
Mitunter schien es René, als wohnten zwei Menschen in seinem Bewußtsein, zwei Rassen, zwei Welten, zwei Wahrheiten. Nach rauher Tat, nach wilder Einsamkeit, nach Kampf, Gefahr und Preis verlangte der eine, der Europäer, der Germane – nach Wollust und Ruhe, nach inwendiger Stille und den seidenen Kissen üppiger weiser Trägheit begehrte der andere, der Orientale, der Asiat. Und beide hatten sie recht, jeder drängte triebhaft zu seiner Kultur: zur täglichen Eroberung jener, dieser zur schwermütigen Erkenntnis. Aber wozu darüber nachgrübeln? Er war eben ein Österreicher, aus Faust und Mephisto gemacht, ein Mensch zweier Klimaten, ein Mensch mit dem Schattenschlage starker heißer Sonne auf weißgebranntem grellem Grund. –
Lange währte es, eh er sich wieder zu einer Unternehmung erraffte; dann aber geschah es ganz plötzlich, wie die durstigen Gewitter des Südens sich ballen, aufbäumen und entladen.
Rüstung und Bedarf zu längerem Aufenthalt in irgendeiner Wildnis bargen seine Koffer, die jetzt entführten, auch diesmal. Eine Büchse war darunter, das Wunderwerk österreichischer Präzisionsarbeit, von Meisterhand liebevoll gepflegt und bis in die letzte Einzelheit aufs äußerste verfeinert. Dies seltene, auserwählte Stück hatte René ein schmerzlich Stück Geldes gekostet; als er aber dann mit mehreren Engländern einen Ausflug nach den geflügelreichen Bitterseen unternahm, entschädigte ihn heimliches Ergötzen am kindlichen, sporthaft gegenständlichen Staunen der Briten für den leichtfertig gewagten Einsatz.
Dahinten irgendwo in diesen Bergen weidete noch das Mähnenschaf, ein ansehnliches und rares Wild; auch wohnte vielleicht doch in irgendeinem Wadi dieser mythischen Höhen der König der Könige, der Löwe der Löwen, der altberühmte Berber. Aber schon wußte René nicht mehr, ob er bei gebotener Gelegenheit Lust und Entschluß zu ernsthafter Jagd aufbringen würde. Was hatte man schließlich vom Tode eines stolzen, schönen Tieres, das einem nichts zuleide getan? Mit feiger Kraftübertragung, mit einem niederträchtigen physikalischen Experiment hatte man eine prachtvolle Form zertrümmert, einen letzten Zeugen des Paradieses für immer beseitigt – das war alles. Ja, wenn man einmal so recht nach Überzeugung auf Menschen Jagd machen dürfte, auf Armenier, auf Griechen, auf zwei Drittel, auf neun Zehntel derer, die sich für Herren und Zweck der Schöpfung halten! …
Öfter schon hatte René daran gedacht, einfach über den Atlant zu gehen und irgendwo im riesigen Nordwald der neuen Welt, unter Indianern und Tieren, von der Jagd für die Jagd zu leben, durch die Jagd in der Jagd. Am hudsonischen Eisgolf, am großen Sklavensee, an einem jener kanadischen Lachsflüsse, der des Jahres einmal, wenn der kurze Sommer unter zwanzigstündigen Tagen grünt, das Postboot nach dem einsamen Pelzfort hinaufträgt. Die Compagnien bezahlen ihren Mann in guten, harten Talern, und Überdrusses genug barg er im Herzen … Auch im wirtlicheren Wisconsin, auch im waldschwarzen, von tausend Quellseen durchspiegelten Minnesota sollte man noch von der Jagd sich nähren und den Cent zum Tabak ersparen können … Aber die kalte, atemlose, lächerliche Betriebsamkeit des Amerikaners war ihm in tiefster Seele zuwider; Amerika, das Land der Geschmacklosigkeiten, Amerika, die riesige Karikatur Germaniens! … Tabak, Teppiche, Schönheit, Weisheit, Kultur gab es nur in den Landschaften des blauen Mittagsmeeres, am Mutterhafen der Menschheit, in seiner Heimat! … Und er ließ den aufdämmernden Plan wieder verlöschen.
Nein, eine reiche Jüdin würde er heiraten, das war das einfachste und beste. Er war ja frei, und die Weiber liefen ihm nach wie einem Sänger oder Athleten, flogen ihm an wie Schmetterlinge und Nachtvögel dem Licht! … Eine reiche Jüdin würde er heiraten und sie genießen so lange sie blühte, ihr Geld verbrauchen sobald sie aus der Form quoll, andere Weiber dafür kaufen, nichts tun, jagen, reisen, schauen, sammeln, ganz nach Stimmung und Bedarf – und dann irgendwo verrecken, hinüberschlummern in den letzten großen Kef … Es war ja vollkommen gleichgültig; der Hund bellt, und die Karawane zieht weiter …
Der Abend schmolz glührot hinter karstigen Höhen hinab; drunten das Totental lag schon in grauer Stille. René war, als vernähme er die große alte Wüstenstimme von der Höhe westvergoldeter Minarehs: Bismi-llahi-rrachmani-rrachimi – – el-chamdu lillachi rabbi-l'alamina – – arrachmani-rrachimi – – maliki jaumi-ddini! … 'Ijjaka na'budu vaijjaka nasta'inu – – ihdina-ßirata-l'mustakima – – strat-lladina 'anhamta halaihim gairi-l'magdubi halaihim vala-ddallina – – Amin … Im Namen Gottes, des Lieberbarmers! Lob und Preis sei ihm, dem Herrn der Welten, dem Allgnädigen, dem Herrscher am Tage des Gerichtes! Dir dienen wir, dich flehen wir um Hilfe an! Den geraden Weg führe uns, den Weg der Auserwählten, nicht den Weg derer, über die ausgegossen ward der Zorn, noch den dunklen Weg des Irrenden – Amen …
Er stand auf dem alten grauen Genueserturm zu Galata und schaute über die kleinen bunten Papierlaternen der Kajks hinweg den riesigen vielgezackten Schattenschnitt von Stambul, die Machtkuppeln der Aja Sophia, der Bajezid, der Suleimanieh, der Sultan Mehmed, der Mahmudieh, der Jeni Walideh, der Sultan Selim mit ihren Turmhainen vor glutglastendem Abgrund des Abends – drunten das Gewimmel und leise Brückendröhnen des goldenen Horns, Tagesabrüsten und Gebet in den Kasernenhöfen von Taxim und Top-Haneh – draußen das weltenscheidende dunkelblaue Meerestal des Boghas, des Bosporus mit seinen Rauchfahnen, und gelben Segeln – drüben die Hügelstadt von Skutari mit ihrem Zypressenwald in letztem goldenen Widerschein … Er saß auf pappelumflüstertem Dach in der Ruta, der gartengrünen, bachplätschernden Villenvorstadt von Damaskus und sah in scheidendem Vesperglanz die Moschee des jüngsten Gerichtes, den Dom Omars, auf dessen Kuppel am Tag des Zornes Jesus, der Sohn Mariens thronen wird … Er gedachte jener anderen Kathedrale Omars, die mit breitgespanntem Dachrund auf dem eingeebneten Schutt eines unsterblichen Tempels, auf dem Grabe Zions ruht … Er sah die Sultan Barkonk-Moschee zu Kairo, auf dessen kreneliertem Gebetsturm abends die Schmutzgeier sich zur Ruhe einschwingen … Er erinnerte sich der traurigen, bleichen Ruinen der Gijüschi draußen unterm dunstigen Sichelmond der Pyramidenwüste … Und der heiße Atem einer ungeheuren Allgegenwart wehte ihn an, der Feueratem des Einen Einzigen Unteilbaren, der da gebietet von Manila im Pazifik bis nach Mogador am Atlant, von den Hochburgen und burangefegten Steppen des innersten Asien bis hinab nach Sansibar und den Lemurenwäldern Madagaskars … Der Herr ist über die schönsten Länder, die Mütter, die Teppiche und Gärten der Erde, dessen Siegesbanner einst im Firnwind der Bündner Alpen, vor Nußdorf, vor Döbling, vor Erdberg und aus der Wieden geflattert! … La Illacha illa Allachu we Muhammed raisul Ullachi – kein Gott ist außer Gott, und Sein Bote ist Mohammed! …
Diese Nacht also sollte er, mit Gottes willen, auf leisschaukelnder Flukka unter den mauretanischen Sternen schlafen und morgen, insch' Allah, führten ihn Wasser und Wind, Wunsch und Wahn nach dem armen alten Europa hinüber, nach dem Schicksalsfelsen des Tarik, der als zweite Löwensphinx, jener von Ceuta gegenüber, das Heiligtum des Mittelmeeres bewacht.
Und dann? … Allah bilmer – Gott weiß es … wohin? … Gott weiß es besser … Maalesch, was liegt daran? Stehn ist besser als Gehn, Sitzen ist besser als Stehn, Liegen ist besser als Sitzen, Schlafen ist besser als Liegen, und das Beste von allem ist der Tod. –
René bereitete sich zum Aufbruch; eine Zigarette noch rollte er – – es war spät geworden, der Talgrund verlosch, und, insch' Allah, vielleicht hatte ihn der Vater und Diener des Esels wieder im Stiche gelassen, wie der Erbarmer will: dann wanderte er eben zum zweiten Male an den sodaweißen Maultierschädeln und Kaktushecken vorüber zum fernen Meere hinab. Waffen? Diese Marokkaner sind nicht gutmütig und faul wie die Osmanly, nicht gastfrei und von stolzer Großmut wie die Stadtaraber; seltsame Gerüchte erzählte man in den Bazaren der Levante aus dem wilden, glühenden Maghrib, und das eben hatte ihn gereizt. Aber in seinem seidenen Gürtel trug er ja den alten Krummdolch, dessen Spitze vielleicht vergiftet von Rost und Mord und Fluch. Und im übrigen – – –
Da überschauerte ihn plötzlich das Gefühl einer fremden Gegenwart.
Er vernahm ein Geräusch, wandte sich scharf um und sah einen alten Mann hinter sich zwischen den Gräbern stehen.
Der schwermütig dunkle Blick des Alten, ein kluges stilles Lächeln seiner Lippen war auf ihn gerichtet; auf dem gelben Gesichte ruhte letzter Widerschein des Abends.
René wollte aufspringen. Eine seltsame Starre hielt ihn gebannt.
Da trat der Graubart im schwarzen Mantel näher, grüßte aus Herz, Mund und Stirne, und eine milde tiefe Stimme sprach:
»Shalaaom aalaichoum! … Ich habe den Efendi überall gesucht. Ich habe ihn gesucht auf dem Friedhof der Anbalos; ich habe ihn gesucht auf dem Rersa; ich habe nach ihm gefragt an allen Toren; und jetzt finde ich ihn auf den Gräbern der alten Juden.«
* * *
René wußte alles. Fast hätte er laut aufgelacht.
Ein Volk nur des Morgenlandes erweicht das scharfe ßin des Anlautes zum biblischen shin, und dasselbe Volk nur trübt den Vokal des Friedensgrußes ins Aramäische hinüber.
Ahasver nicht, der Ewige – sondern Manasse, Ehaim, Leb oder Siegmund, der Allgegenwärtige.
Und jetzt erkannte er auch das ehrwürdige Almoravidengesicht, den Alhambrabart, diesen Blick aus Tiefen der Jahrhunderte. Einmal schon, vor wenigen Stunden hatte er auf ihm geruht; drunten auf der Reede, während seiner Verhandlungen mit dem Schiffer.
Efendi? … Das war im Maghrib, war westlich der Syrten nicht gebräuchlich. Das schmeckte nach Ägypten, mehr aber noch nach Levante.
»Siz kim siniz? … Ne ißterßiniz?« fragte er scharf in der barschesten und bündigsten Sprache der Welt; »Wer sind Sie? … Was wollen Sie?«
Der Alte lächelte vertraulich.
»Moßjo est Francais?« fragte er in levantinisch verderbtem Französisch.
René schnalzte verächtlich aufnickend.
»Jok – nein.«
»Anglais?«
»Jok.«
»Americain?«
»Jok.«
»Allemand?«
»Jok.«
»Autrichien?« Der Ton der Frage hatte sich von Schlag zu Schlag gesteigert. »Autrichien?«
René schüttelte nachlässig den Kopf. »Ewwet – ja.«
Über das elfenbeingelbe Antlitz des Alten ging ein Aufstrahlen; er hob die Hände.
»Efendim, Gott, nu was redmer dann nicht daitsch? … Bin ich nicht selbst aus Österraich?«
»Galizien?« fragte René nachlässig und boshaft.
»Wieso Galizien? … Es sind nicht alle Juden aus Galizien! Was habmer zu schaffen mit de' Galizianer? Wir sein Spaniolen; der Efendi wird wissen. Wir sein Sephardim. Ich bin aus Triest. Gott, wie lange, daß ich nichts gesehen hab' von Österraich! Kann ich noch daitsch? Fünfundzwanzig Jahr bin ich schon in Tetuan; zehne war ich in Saloniki und ä dreie in Stambul. Efrem Efrus, wenn der Efendi kommt nach Salonik und fragt nach Efrem Efrus, die Lait werden ihm sagen. Es sein noch viele Efrusis in Salonik und auch in Triest. Der Efendi wird vielleicht schon einmal gehört haben den Nam.«
»Großbankiers?« fragte René über die Zigarette herab.
»Was haißt große Bankiers? De ainen haben, nu wie soll ich sagen, Glück – nu, de andern haben weniger Glück. Gott, nu, aber hab ich mers nicht gedenkt? Glaich hab ich mers gedenkt! Ein Östraicher is der Efendi, hab ich mir gedenkt, schon im Hafen unten, der Efendi wird mich haben vielleicht nicht bemerkt, wie soll er? Nu, wirst du ihm nachgehn, hab jach mer gesagt, und so hab jach den Efendi gesucht durch die ganze Stadt und an alle Tore und auf dem Mesaristan, cemeterio, wie sagt man, nu – der Efendi versteht, der Andalos da unten, und itz wirklich, hab ich ihn gefunden!«
René schürzte die Brauen hoch.
»Und womit kann ich Ihnen dienen!«
»Wieso dienen? Mir dienen! … Ich hab den Efendi gesucht, daß ich ihm dien!«
René verbeugte sich unmerklich.
»Sehr liebenswürdig, ich bin Ihnen verpflichtet, aber – –«
»Wieso verpflichtet?« Efrem Efrus trat näher heran. »Efendim, ich habe gemerkt, Sie wollen nix wissen vom Konsul, Sie wollen nix wissen von der Post, Sie wollen mit – nu, mit am Wort nix wissen von Landslait! Nu, was gehts mich an? … Nu, aber viellaicht kann ich dem Efendi doch – wie man sagt, rendre un service, jardym etmek, helfen. Efendim, moßjo! … Gehn Se nix hinunter zum Hafen; tun Se nix schlafen unten im Schiff; tun Se nix fahren morgen mit diesem Menschen nach Gibraltar! … Können Se machen was Se wollen; geht mich nix an; aber jach hab den Efendi gesucht und habs ihm gesagt. Tun Se nix trauen diesem Mann; es kost viel Geld, und es kann kosten mehr.«
René horchte auf. »Warum?«
»Warum? … Gott nu: weil er ein Rifi ist.«
»Ein was – Rifi?«
»Wie wird der nicht sein ein Rifi? Ein Bachari ist er, oder ich will nicht sein gesund.«
René lachte. »Ich auch nicht, wenn ich das verstehe.«
»Was heißt verstehen?« Efrem Efrus besann sich, trat einen Schritt zurück, sah an René hinauf und hinab. »Oder weiß der Efendi vielleicht nicht, was das ist ein Rifi? Einer vom Rif?«
»So ungefähr; Art Seeräuber?«
Der Jude hob fast ungeduldig die Hand. »Gott, was soll heißen: Seeräuber? … Ist einer ein Seeräuber, ist er auch ein anderer Räuber. Es können nicht alle leben am Meer; aber Räuber sind doch alle. Der Efendi kennt Salonik? Er hat gehört von den Albanesen, von den Mirditen, von denen, die sich Palikaren nennen? Nu, dasselbe sind die vom Rif, die Ruafa. Und noch ärger.«
René zuckte die Achseln.
»Meinetwegen. Was können sie mir tun?«
Efrum Efrus griff sich an die Stirn.
»Was kenn se Ihnen tun? Efendim! Was kenn se Ihnen tun? Efendim! Se kenn sagen: soll der alte Jüd sich bekümmern um sein eigene Sach! … Aber, Efendim! Se haben gezeigt den Laiten viel zu viel! Se haben Ihnen gezeigt Geld; Se haben ihnen gezeigt ä silberns Etui; Se haben ihnen gezeigt den reichen Mann. Nu, und wer ein reicher Mann ist, der kann zahlen. Das kenn se Ihnen tun.«
René verstand; bei Allah, der alte Hebräer da hatte recht. Die verschlossene Hand ist eine Faust, die niemand liebt; aber die offene Hand ist eine volle Schüssel, die keiner losläßt. Er begann zu überlegen.
»Warum haben Sie mich nicht früher gewarnt? Drunten im Hafen schon?«
Der Jude hob hilflos die Achseln.
»Was heißt früher? … Soll ich mich hineinmischen und hören: Jykye! Defol! … Kusch dich, du Hund! Marsch weg! …? … Efendim, ich bin ein armer kleiner Geschäftsmann, und was nach Tetuan auf die Märkte kommt, sind alles Ruafa, Leut vom Rif. Soll ich mich lassen erschießen? Soll ich mich lassen ausrauben? Soll ich die Kundschaft gehen lassen zur Konkurrenz? Sieht der Efendi?«
René entblößte in unschlüssigem Spiel die rostnarbige Klinge des alten Krummdolches und drehte und prüfte sie im dumpfspiegelnden Abendschein. Eine armselige Waffe, zum Meucheln gemacht und nicht zu weitreichender Verteidigung. Ja, wenn er seine Büchse im Arm hatte, dies prachtvolle Todesgewehr mit den Stahlstrahlen seiner Geschosse, oder wenigstens seinen schweren langläufigen Westrevolver in der Faust! …
»Und Sie meinen, diese Kerle könnten – –?«
Efrem Efrus antwortete mit Gegenfrage und Gebärde.
»Was heißt meinen, was heißt können? Ich weiß, und sie werden; der Efendi kann mir glauben, der Efendi kann mir nicht glauben. Der Efendi kann schlafen gehen in die Flukka; er wird aufwachen unter drei solchen Messern auf seiner Brust und mit Stricken um seine Füß, und wenn es hell wird, kann er sehen das Meer und vielleicht Gibraltar hoch von den Bergen irgendwo. Dann kann er essen Kuskussu und Brot vom Hafer und geröstete Eicheln, und dann kann ihm helfen kein Konsul mehr und keine Gewalt, sondern nur der Duro und die Bank. Der Efendi kann tun, wie ihm beliebt; ich red nix weiter.«
René dachte nach. Der alte Jude da in seinem Doppelwesen von bärtiger Würde und heiß durchflackernder Geschäftigkeit gefiel ihm eigentlich ganz gut. Auch war er viel zu lange im Orient gewesen, war viel zu tief durchschmolzen von den Gluten des Morgenlandes, um den Juden mit blonder kindischer Überzeugung zu hassen. Er liebte ihn, wie man den Fuchs liebt, wie man den klugen schwarzen Raben liebt, wie man den schnittigen Hecht unter den blöden Karpfen schätzt. Und wenn es irgendwo gar nicht auszuhalten war, dann fand man es beim Juden immer noch ganz erträglich, und wenn irgendwo in östlicher oder nördlicher Gottverlassenheit alles höhere Leben abgestorben schien, dann schimmerten im Hause des Juden immer noch die Lichter einer Art von Heimat. Der Jude war Generalkonsul der Kultur auf der ganzen Welt.
Aber das waren Erwägungen; und hier bedurfte es irgendeiner Entscheidung.
Bank? Er hatte nichts weiter als den Schmuck der verstorbenen Mutter und das alte Tafelsilber in zwei kleinen Lederkoffern. Da konnte er unter Umständen sein Leben bei Kuskussu, Haferbrot und gerösteten Eicheln beschließen. Gewiß heroische Gerichte: aber das Heldentum des modernen Stimmungsmenschen verlangt nun einmal nach Abwechslung.
»Und wegen dem Gepäck,« begann Efrem Efrus von selbst – »sein Gepäck kann der Efendi auf ein anderen Weg sicherer und billiger haben als durch die Flukka.«
»Wie? Zum Beispiel?«
»Gott, wie?« Efrus zuckte die Achseln. »Glaubt der Efendi, man hätt' keine Beziehungen nach Gibraltar?«
»Ja, schön. Na, gut. Aber – René zögerte einen letzten Zug seiner Zigarette lang und warf den verglimmenden Stumpf achtlos ins wuchernde Gesträuch. »Aber, ehrlich gesagt, mein Lieber: schlafen möcht' der Mensch auch ein paar Stunden, irgendwo. Ohne Wanzen und Flöh', wenn's geht.« Er fühlte sich auf einmal zu wienerischer Gemütlichkeit aufgelegt.
Der Jude sah ihn abwartend an. »Und zum spanischen Konsul will der Efendi nicht gehen?«
»Fallt mir nicht ein.«
»Zu den Deutschen auch nicht, die in der Stadt sind?«
»Schon gar nicht.«
»Ja, nu …« Efrem Efrus zauderte ein wenig unter stummem Gebärdenspiel. »Ja, nu – also a feins, a reins Quartier wüßt ich schon für den Efendi … Fein und rein und billig, Gott … Aber – –«
»Aber?«
»Ja, nu – – es is eben – – im Mellach wird der Efendi wahrscheinlich nicht nehmen wollen Quartier?«
René lachte auf; eine hochmütige Handbewegung streifte das Bedenken ab.
»Warum nicht? Wenn der Goj Quartier findet im Mellach – –!«
»Was heißt Goj?« Der Jude hob die Arme in gleichsam aufklärender, bewillkommnender Gebärde, »was heißt Goj? Sein wir nicht alle Menschen? Sein wir nicht Landsleut? Der Efendi wird finden ein koscheres Quartier, und morgen kennwer weiter reden.«
»Bei Ihnen also? Ja, da bin ich Ihnen dann natürlich sehr zu Dank verpflichtet –«
»Was heißt Dank? Gott! Mit Dank rechnen kann nur ein Narr. Wenn ich mich freu, dem Efendi zu Dienst zu sein, so soll auch das sein der Dank.«
»Und der Bootsführer am Hafen drunten?«
»Der, Gott? Geht ihm etwas verloren? Der Efendi kann schicken den Eseltreiber mit einer Botschaft, wenn er will. Der Efendi kann langsam reiten bis zum Bab Mkabar, ich werde vorausgehen und dort warten auf ihn. Der Efendi kann sagen dem Treiber, er hat sich die Sach überlegt und wird übernachten beim spanischen Konsul oder in einem der Funadik. Denn es ist nicht notwendig, daß man uns jetzt sieht zusamm,« setzte Efrus vertraulich hinzu; »Gott, es ist wegen der Kundschaft, will doch leben jeder Mensch.« –
Die Sache war abgemacht.
René wartete noch eine kleine Weile; dann stieg er auf nächstem Strauchpfade zutal und ritt friedlich auf müdem Grauen gegen die bleich eindämmernde Stadt hinunter. Zur Linken, aus dem steinbesäten Hügel des neuen Maurenfriedhofes kam dunstrot der Mond heraus; der dumpfe Brandschein streifte die marmornen Nachbildungen seiner jungen Sichel, wie sie die Grabmäler der Gläubigen krönten, überschauerte den Block der einsam wachenden Zitadelle und beglänzte die Höhen starr ruhender Gebirge im Süd.
Die alte kluge Frage des Römerrechtes zog René durch den Sinn: Cui prodest? … Wem nützt das? … Irgendwie nützt alles Allen, jegliches Irgendeinem.
Aber dann verwarf er die mißtrauischen Nebengedanken und überließ sich müde dem Zufall.
Alles beginnt einmal irgendwo im Flusse des Geschehens, jedes Drama, jeder Roman, jedes Kapitel, vielleicht begann hier etwas, was des Erlebens besser wert war als der Normalroman des Durchschnittshelden, der über siebenunddreißig Ideale und einundvierzig Weiber stolpert, schließlich in irgendeinem Philistertum liegen bleibt, verbiert und vertiert.
* * *
Sie gingen vom Bab Mkabar über den von Lohe und Fäulnis verpesteten, stankschwangeren Debaguin, den Platz der Gerber und Färber; Efrem Efrus führte den Gast vorsichtig zwischen den offenen oder nur nachlässig mit Stangen und häuten überspannten Gruben hindurch.
Nach kurzer Wanderung in den engen, vielschluchtigen, finster überbogten Krämerstraßen standen sie vor der hohen, von düsterem Rotschein steigenden Mondes schräg angedämmerten Mauer des Mellach, des unreinen Bodens, des Ghetto.
Efrem Efrus pochte in bestimmtem Rhythmus gegen das tiefnischig in Schatten rückspringende schmale Tor. Es öffnete sich schweigend, ein Mund des Todes; sie traten ein wie in ein Geheimnis.
René hatte das wohlbekannte Gefühl, auf Scherben und glitschendem Aushub, auf unsichtbaren toten Ratten, Eiter und schleimigen Frühgeburten zu gehen. Es war der Boden aller verrufenen Viertel orientalischer Städte, von Marseille bis Bagdad. Unter dünnen Lichtstreifen, die da und dort scheu aus Fensterspalten niedriger, schwül geduckter Häuser fielen, zeigten sich dem ahnenden Auge Umrisse schaudererregender Dinge, Verknäuelungen, langsam fortkriechende Gedärme, Spinnen, Skolopender und Kraken der Vergangenheit und des Gedankens. In beißenden Aushauch von Ammoniak schlugen Miasmen der Verwesung, Brodem aus Kellern, Kloaken und Kanälen. Und überall in Tiefen dieser Unterwelt schien es tausendgestaltig, tausendstimmig zu leben, zu flüstern, zu hocken, zu lauern, zu gären; das regte sich vor bleichem Sternhimmel auf den platten Dächern, das raunte hinter Fensterhöhlen, das rührte sich im kauernden Dunkel der Schwellen, huschte auf aus der Pestilenz und verlor sich hyänenhaft irgendwo im Gemäuer der Nacht.
René hatte auf seinen Wegen manches gesehen, hatte an manche Schrecken des Morgenlandes sich gewöhnt; dennoch liefen ihm Asseln und Taranteln über den Rücken hinab, und sein Fuß schritt hohl wie auf Quallen.
Wenn in solche Gasblähung die Stichflamme des Pogrom hineinheulte! … wenn in diese Ruinen voll Eulen und Hyänen schwertheller Glaubenshaß hineinblitzte! … Er gedachte der Quartiere in dicht hinaufgeschachtelten Armenierstädten, wo dann eines Tages die alten Geldgeier als weiße, schwarzschwelende Petroleumflammen durch die Straßen rannten …
Sie waren durch mehrere Stollen und Wölbgänge des vielwinkligen Labyrinths gegangen, umflüstert, umlurcht, umkrochen von allgegenwärtigem gespenstigem Leben. Auch der Führer schwieg, als sei ihm dies unheimliche Elend heilig wie schwärende Wunde des Märtyrers oder als wollte er nicht noch mehr der Vampyre und Chamäleonen aus ihren Verstecken scheuchen. Vor einem niedrigen Tor in halbverfallenem Hause blieb er endlich stehen; ein Schlüssel öffnete klanglos; sie traten ein.
René hörte Anstrich eines Schwefelholzes, langnagliges Scharren und Tasten in der Nische einer rauhgekalkten Mauer; gleich darauf sah er den Sabbathbart des alten Juden von rötlichem Schein durchglommen, atmende kabbalistische Schatten auf überflackertem Talmudgesicht – ein niederländisches Bild aus den tiefgoldbraunen Zeiten des großen Uriel Acosta. Aber seine Stirne fühlte gleichwohl das klebrige Staubgrau annistender Spinngewebe, und seine Hände, sein ganzer Körper, alle seine Nerven hatten die unabwehrbare Ekelvorstellung scheußlicher, mumienfarbener Häutigkeit faltiger Fledermausflügel.
Efrem Efrus mit seinem geizigen kleinen Talgstumpf führte weiter, einen Gang entlang, dessen ammoniakdurchsogenen Wände von salpetrigen Ausschwitzungen erglitzerten wie der Stollen eines Salzbergwerks; undeutliche Gelasse, Vorkammern, Kellerschlünde da und dort zu beiden Seiten, in deren Abgründe das erschrockene Dunkel flüchtete und versank. Dann kam ein Hof, gleich dem eines östlichen Chans von mitlaufender Innengalerie umgeben; Schatten, die hier gesessen, sprangen auf, wuchsen und lösten sich in Nacht, es roch nach Cholera und verrottendem Kohl, über eine Ecke des Gevierts fiel schräger Mondschein. Jenseits eine von geronnenem Blut, Unflat, zertretenem Geziefer und ätzenden Effloreszenzen starrende Wanzentreppe führte zu kerkerschwerer, gepanzerter Türe – – und gleich darauf stand René auf kostbarem Teppich in kerzenhellem Raume, Möbel aus wertvollem Callitris und kanarischem Ebenholz glänzten ihm gastlich entgegen, der bronzeblanke siebenarmige Leuchter, seidene, goldschriftdurchwirkte Gobelins, Bücher auf Borden, eine wunderschöne altarabische Ampel aus herrlichem Eisenfiligran, und auf dem Tische unterm massiven Kandelaber leuchtete bräutlich rein ein Tafeltuch von feinstem, blütenüberschimmertem Damast.
Efrem Efrus blies den Talgstumpf aus, setzte ihn sparsam beiseite und grüßte lächelnd noch einmal mit der huldigenden Gebärde des Orients.
»Shalaaom aalaichoum, jetzt kann ich's erst richtig sagen: der Friede sei mit Ihnen! … Nu, sieht der Efendi, daß man's österreichisch haben kann auch in Tetuan?« Um seine schwermütigen dunklen Augen flimmerte das Spiel kleiner Fältchen, und aus seinem klugen Blicke funkelte ein tiefinwendiges, heimliches Licht. »Man muß es nur nicht zeigen, nach außen, wozu? Wer zeigt, der muß zahlen, und wer zahlen muß, der wird ein armer Mann. Es ist besser, man hat tausend Dukaten unter einem alten schmutzigen Mantel, als man hat einen neuen reinen Mantel und gar keinen Dukaten darin. Ist's nicht so?« Er sprach jetzt ganz ruhig, in fast fehlerfreiem, nur leise klagendem und rachigem Deutsch.
»Ich hoff', der Efendi wird sich wohlfühlen in meinem Hause – und er wird vergessen das Mellach da draußen, den – – unreinen Boden. Gott! … der Weg zum Glück geht immer durch Schmutz und Elend und Gestank! Ist's nicht so?« Er schloß mit gleichsam allverstehender Gebärde. »Derf ich nu fragen den Efendi? … Der Efendi redet Türkisch wie ein Osmanly, er redet arabisch wie einer aus Damaskus – weiß er auch Griechisch?«
René lächelte. »Ich bin in Pera geboren, ich habe in Saloniki und Smyrna gelebt. Genug?«
Efrem Efrus hob die Hände in aufstrahlendem Entzücken.
»Gott! … In Pera geboren? … In Salonik und in Smyrna gelebt? … Gott! Was werden sie sich freuen!« Er schlug einen Vorhang zurück. »Gesche, güwerdschinim, meine Taube – Biancha, bejas gülüm, meine weiße Rose! … hier ist ein Gast, den ich euch mitgebracht habe, daß ihr ihn pflegt und Ehre macht eurer Heimat und Erziehung!«
Er sprach Türkisch und Griechisch durcheinander.
René nahm sein fast peinliches Erstaunen hinter zwei leichte, schlanke Verbeugungen zurück. Er sah ein gedämpft helles, teppichbuntes Frauengemach und auf eingelegtem Mokkatischchen eines der unverkennbaren zitrongelben Romanbücher der Librairie Hachette. Er wählte daher zu seiner eigenen Einführung die allverstandene Salonsprache des Orients:
»Madame, ich schätze mich glücklich, Ihnen die Grüße Ihres Vaterlandes überbringen zu dürfen.«
Madame lächelte angenehm und müde. Als er aber Mademoiselle sich zuwandte, um auch ihre Gunst mit irgendeiner billigen kleinen Süßigkeit zu gewinnen – –
Madame gehörte zu jenen meerschaumfarbenen Frauen der Levante, deren Stammbaum selbst dem Kenner nicht mehr leserlich ist, die in ihrem Frühling nichts sind als schöne traubensüße gutmütige Weibchen, zufrieden schon mit Pariser Mode, einer kleinen kosmetischen Apotheke, recht vielen seidenen Kissen, parfümierten Zigaretten, Konfekt, der Librairie Hachette und ein bißchen Intrigue, und die mit dem frühherbstlichen Verblühen zu sehr guten, klugen, ruhigen Müttern gleichgearteter Töchter werden. Niemals brüten sie in Dachstuben über Idealen und Höllenmaschinen, niemals schießen sie mit Schlagworten und Revolvern, und über Gott, Liebe, Seele, Staat und Gesellschaft denken sie nicht mehr nach als einst den Bewohnern des verlorenen Paradieses vorgeschrieben. Genuesisches, venezianisches, ägäisches, kyprisches, syrisches, armenisches, zirkassisches, georgisches, grusinisches, jüdisches, türkisches Blut mit all seinen Nebenflüssen von Urhöhen des Ararat, des Kaukasus, des Taurus und Libanon, des Balkan und der Alpen strömt da in gegenseitiger Lösung zucker- und fetthaltig durch träge Adern; es verleiht einen mildwarmen, stillen und fast unverwüstlichen Teint, es schwellt früh schon die Brüste, es befördert mitunter späteren Bartwuchs, und niemals wird es mangels roter Farbzellen zu philosophischem Scheide- oder zu frommem Weihwasser, zu erotischem Kunstessig oder gar zu mystischen Spirituosen und Äthern versäuern, sich verdünnen, verfuseln.
Madame war bis vor ganz kurzem schön gewesen; sie besaß nicht die schläfenständigen pflaumigen Hieroglyphen-Augen gewisser Orientalinnen, und ihre gelassene Üppigkeit zeigte trotz nachsommerlicher Fülle immer noch Spuren kunstgesetzmäßiger Gliederung. Sie trug bequeme Kleidung eines sehr freien morgenländernden Stils und starken Schmuck um Hals, Arme und Finger; von Busen und lächelndem Antlitz her wehten die Wohlgerüche rosiger Puder, emaillierender Creme und tierisch geilen Parfüms; dem dunklen Haar enthauchte der Beizduft eines bekannten Färbemittels, und auch die Wimpern der müden Lider, obzwar nicht durch Fliegenbeine verlängert, waren schwärzer als wahrscheinlich. Madame mochte im schläfernden Augustnachmittag ihres Lebens stehen; immer noch ein Weib mit seiner Sehnsucht, immer noch ein Weib mit seiner Entsagung, ein Garten, dem Jasmin und Flieder, Mandel und Maienrose seit einer Jahreszeit schon abgeblüht.
Jasmin und Flieder, Nachtschatten und Rose, die soeben im schwülen Lenz eines anderen Gartens zu Licht und Liebe sich erschlossen … René, verwöhnt und hochmütig, fühlte einen ersten Blick lang jenes heiße, reine Aufstaunen, das die Erscheinung eines unerwarteten Gipfels, morgenblauer Meeresweite zwischen Oleanderbüschen, eines Meisterwerks, irgendeines Gotteswunders im Herzen entzündet. Er kam sich mit einem Male sehr bestaubt und unkultiviert vor: Biancha war eines der schönsten, war das schönste Mädchen, vor dem er je sich verneigt.
Sie stand da in roten hochschnäbligen Saffianpantöffelchen, und ihr Haar, leicht überkraust, war tiefbraun mit edlem Bronzeanflug; sie trug weite, zartfarben gestreifte Pluderhosen aus feinster bithynischer Seide, und die Schwere ihrer langbewimperten Lider war nicht müd', sondern klug und insgeheim. Der Samt ihrer Augen glomm tiefer noch als der ihrer goldbordierten Westenjacke; von wachsbräunlicher Haut atmete es warm, und sommerbräutlich wie Maronenblüte aus dem geschwellten Busen schneefrischweißen Fälbelhemdes. Das war alles, was René mit erstem Zuge wahrnahm; und daß ihr Näslein leicht aufgestumpft, ihre Lippen von der vornehmen, welkrosigen Blässe der Brünetten, ihre Zähne im leisen Anlächeln nicht ganz regelmäßig … Denn was läßt sich von einem vollkommen schönen Weibe sagen? Auf tausend Blättern und in tausend Ghaselen nichts, von einem häßlichen? In einer einzigen Zeile alles. –
Und dergleichen wuchs in Tetuan? In Tetuan, auf dem Abfallhaufen des Mellach, auf »unreinem Boden«! …
»Ja, dreie hat man nu ausgeheiratet,« erklärte Vater Efrus in zärtlich schwermütigem Stolz; »eine nach Alexandria, eine nach Smyrna, eine nach Konstantinopel … Was will man? Man kann Mädchen nicht aufheben wie Dukaten oder auf die Bank geben, daß sie sich verzinsen wie Geld. Einmal muß man sich trennen von seinem Schatz, und einmal werd' ich ziehen lassen müssen auch diese, die letzte und schönste, Biancha, Bianchetta, gülüm, kuschum, bülbülüm, gözüm, gönlüm, meine Rose, mein Vogel, meine Nachtigall, mein Auge, mein Herz! … Dann ist man alt und einsam und weiß nicht, wozu man hat gearbeitet und gesorgt und gespart sein ganzes Leben lang … Aber was red ich? Der Efendi wird sich wollen kühlen und leicht und bequem machen; ich hoffe, daß der Efendi wird finden alles, was er für heute braucht.«
Er steckte eine echte Wachskerze auf schwerem Bronzeleuchter an und führte seinen Gast, den die Damen mit huldvollem Neigen und Lächeln beurlaubt, durch mehrere Teppich- und Kissengemächer, Boudoirs, Salons, ampeldämmrige Heiligtümer, Schreine und Geheimschatzkammern des süßen Müßiggangs, ambraumwölkter Träume, opiastischen Kefs, alle leuchtend von den Edelwollen Persiens und Bochara, schimmernd von Rasseseiden Brussas und Syriens, schillernd in den Perlmuttern von Maskat und durchduftet von Sandel, Rosenöl, Mokka und blumigem Tabak. Einmal wandte er sich nach Rene herum; seine klugen Augen glitzerten.
»Sehen Sie, es gibt zwei Arten zu leben: der Eine wohnt im – nu, was soll ich's nicht sagen – Dreck hinter einer großmächtig schönen Fassade – – und der Andre wohnt ganz fein und still und rein hinter einer alten dreckigen Mauer, was ist besser?« Er schob einen Kilim zurück und öffnete eine Tür. »hier wird der Efendi wohnen, solange es ihm gefällt, und ich hoffe, er wird vergessen, daß er in Tetuan ist und unter ihm der – – unreine Boden. Shalaaom aalaichoum.«
Zwei freundliche Kerzen brannten schon auf mächtigen ziselierten Leuchtern; eine Ampel glomm mystisch bunt unter gebälkter Decke; Räucherwerk verdampfte aus kupferner Pfanne über blaugoldner Weingeistflamme.
René sah sich nach seinem Wirt um. Er glaubte nicht an die Wunder Tausendundeiner Nacht; daran vielmehr glaubte er, daß Allah etlichen seiner Söhne die Absicht, anderen die Wirkung als Kismet zuerteilt hat, und schon spitzte sich ihm eine schmale, höflich mitwissende Frage auf den Lippen.
Aber dann erkannte er die Unschuld des Angebots und all dieser fast demütig zärtlichen Vorbereitungen, er betrachtete den Alten in seinem bescheidenen dunklen Mantel und seinem ehrenwerten Schabbesbart, er gedachte Bianchas in roten Pantöffelchen und goldbetreßter Samtweste, und die mißtrauische Bemerkung unterblieb.
An Längs- und Stirnseite des Gemaches zog sich eine breite, kissenbelegte Truhenbank hin, entsprechend dem Minder, der Pritsche, türkischer Wohnhäuser; aber von Ost nach West stand da auch ein sauberes, durchaus fränkisches Bett aus weißlackiertem Rohrgitter, und hinter leinenem Vorhang einer Nische blitzten neben breitem Waschbecken geschliffene Karaffen, wie sie auf dem Putztische einer abendländischen Göttin kristallener nicht zu finden …
Und das alles im Maghrib, fern von Algier, wo die letzten Randwellen sogenannter Zivilisation in südlicher Steinglut verdunsten, in Tetuan, wo der Dampfer noch ein Ereignis, in der Lemurenstadt des Ghetto, hinter jaucheschwitzenden Mauern, inmitten Fäulnis, Unrat und Pestilenz! …
Efrem Efrus zog sich behutsam zurück.
»Wird der Efendi nicht finden, was er braucht? … Wenn ihm etwas fehlt, so soll er rufen oder in die Hände klatschen. Ich werde nebenan warten, bis der Efendi sich hat erfrischt und hergestellt.« –
René lachte leise vor sich hin. Was immer die Absicht, die Frucht war löblich, das Erlebnis reizvoll. Eine Novellette, ein kleines Kapitel Lebensroman in marokkanischem Ghetto, warum nicht? Immerhin anregender als ein Liederband voll Liebe mit Lenz und Laute und Lindenbaum, woraus bescheidene Dichter soviel Unsterblichkeit gemacht! … Ah! Französische Badeseife, und da sagt man, die Juden des Ostens und Südens seien verwildert, verfloht wie die Pariahunde! … Immer doch spannender, würziger als solch ein Ziegelstein Normalliteratur – Peau d'Espagne, pfui Teufel, Cherry flower, ehks, Eau de Cologne Russe, na ja, irgendein Geilgestank muß hierzulande dabei sein – Normalliteratur, darin eigentlich nichts geschieht, als daß ein angeblicher, ganz überflüssiger und langweiliger Mensch, Hellmuth Frei oder Reinhold Starck – was Teufel, rohseidene Hemden, nagelneu und durchgewaschen auch noch! – aus einer ganz gemeinen Kartoffel zu einem Tropfen Brennspiritus eingedämpft wird … Oder wie? … War das – – da, feine, frische, kühle Pantoffel, weit gewählteren Leders als die selbstgekauften – – war das alles am Ende gar, wie sagt der Große aus dem Düsseldorfer Ghetto – nein, diesmal nicht die Tat, aber die Erfüllung – die Verkörperung eigener Gedanken? … Eine reiche Jüdin – – sieh her, ein luftiger, meerschaumweißer Haik aus leichtester, festester Edelwolle; der alte Efrus macht wohl in orientalischer Konfektion? – – eine reiche Jüdin hatte er doch schließlich als letzte und einfachste Lösung – – hier, der richtige rote Tontopf, der zinnerne Einsatz voll einer guten Okka Tabak, Blume von Yenidze, unverdorben durch anatolisches Kraut, handgeschnitten mit einem Messer, das vor drei Jahren mit einem Läppchen aus ferner Nachbarschaft bulgarischen Rosenöls abgewischt worden, Kultur, Kultur! Erlesenste Schleichhändlerware! … Und Houblon-Papier, und echtes Job, und zwei Tschibuks mit Jasminrohren und Bernsteinspitzen, zu aufmerksam! – – ja, als letzte und einfachste Lösung, warum nicht? … Rassenmesalliance? Lächerlich! Weiß denn einer noch, woher er stammt? Dreißigjähriger, siebenjähriger, napoleonischer Krieg, anderer Vorgänge im europäischen Mischkessel gar nicht zu gedenken! Gibt es noch Deutsche? Noch Franzosen? Hälfte der Deutschen sind Slawen! Jakuten gibt es, Ostjaken, Samojeden und Eskimos; aber Deutsche oder Russen oder Franzosen? … Sprachen gibt es, deutsch, tschechisch, magyarisch, französisch, russisch – aber Nationen? … Österreicher weiß das; hat es im Blute; ist Europäer … Man betet und büffelt Bibel; werkelt Psalmen; hält oder bricht die zehn Gebote eines gewissen Moische ben Amram aus dem Hause Levi; predigt aus den Propheten; vergöttert Einen aus dem Stamme Jesse, und soll eine Rose von Saron, eine Taube vom Felde Jezreel, eine Lilie aus dem Garten Juda nicht hegen an seinem Herzen und freien? … Lächerlich! – – Wahrhaftig, auch Bücher? Französische natürlich; gelbe Librairie Hachette und verwandte. Zum Beispiel? Gyp, uralt aber lesbar. Anatole France, teurer Rührgreis. Maeterlinck, nur den Wehleider nicht. Maupassant, Saul unter Propheten. Zola, Au Bonheur, na natürlich. Bourget, Totlangweiler. Gréville, Dosia, selbstverständlich. Nun ja, zwanzig Jahre zurück; für Tetuan am Uad Martil allerhand … René warf noch einen Blick in den metallgefaßten Spiegel; der Haik kleidete ihn angenehm und gut. Er verlöschte die Lichter und trat durch Türe und Kelim hinaus zum Gastfreund.
Gastfreund? Warum nicht! … Efrem Efrus, Friedrich Wilhelm Schultze, Achmed Wefik Pascha, Graf von Rothenlöwen, Fürst Taditscheff, Marquis von Saint-Bernard, Earl of Doncaster: – Alle denken sie mit einem Kopf, gehen sie auf zwei Beinen, sprechen und kauen mit einem Munde, verdauen mit einem Magen – und sterben, wenn das Herz stille steht … Und dieser Efrem Efrus bot freiwillig mehr als mancher Nachfahr ritterlicher Kreuzeshelden, und wenn das Alter Vorrang verleiht und adelt, mein Gott: – zu einer Zeit, da die Germanen noch zottig in Eishöhlen saßen und Markknochen knackten, baute ein gewisser Scholem ben Dawid seinem Gotte schon Kathedralen aus Ophirgold, und seine Söhne waren schon degeneriert! … Und Biancha? Aus dem Orient kommt alles Saftige und Süße, Kirsche, Pfirsich und Feige. Ex Oriente lux. –
Es gab einen sehr veredelten Pilaw, mit zartem Gänsefett unausdenkbarer Herkunft statt mit bockigem Hammeltalg durchschmort, gespickt mit Geflügelbrust und Leberchen, und mit Tomaten und echtem Parmesaner leicht verwelscht; granatschwarzglühender Balearenwein karfunkelte dazu in rautenschliffiger Karaffe. Dann wurden Tschörek gereicht, süße Butterkuchen, wie die Griechen sie zu ihren Festtagen backen, und in ihrem Gefolge zeigte sich honigbrauner Mavrodaphne, schwer und flammig wie trockener traubengoldner Spätsommer des Südens. Zum Schlusse dampfte echter, leuchtender Tee in eierschalendünnen chinesischen Tassen, Tee von jener blumigen Sorte, die in kleinen Lackkistchen höchstens bis Kiachta, Wladiwostok oder Blagoweschtschensk gelangt und fast niemals bis zum Samowar Rußlands, geschweige denn bis zur armen europäischen Kanne.
René in seinem luftigsauberen Haik saß zwischen den Damen; Vater Efrus in ehrwürdigem Sabbathbart, glücklich und listig lächelnd, thronte patriarchalisch am Kopfe der kleinen Tafel. Die Gespräche, türkisch, griechisch, französisch, gingen um Levante und Marokko, Smyrna und Tetuan, Saloniki und Ceuta, Stambul und Tanger. René erzählte von seinen Reisen nach dem Kaukasus und dem Aralsee, vom Dastarchan, dem Vorgerichte turkmenischer Gastmähler, und von der ungemütlichen Schnelligkeit persischen Speisens – dieser Pilaw aber sei ein Gedicht, dem kein Sang Firdusis, kein Lied des Hafis, kein Vers des großen Dschelaleddin al Rumi an die Seite zu setzen … Er berichtete von der jungtürkischen Bewegung und von den fränkischen Moden freiheitsdurstiger Hanumlarin; aber verglichen mit der romantischen Anmut altorientalischer Tracht – er verneigte sich huldigend gegen Biancha … Paris? In Paris sei man dies Jahr unglücklich gewesen, der enge Fesselrock und der dreißigzöllige Chanteclerhut … Chantecler? Madame weiß nicht, wer und was Chantecler ist? Oh! … Und er gab die Geschichte vom wachsamen gallischen Hahn in ortsdienlicher Vereinfachung zum Besten. … Madame haben schon lange kein europäisches Theater besucht? … Mademoiselle noch nie? … Monsieur, das können Sie verantworten? Vertrauen Sie mir Ihre Damen auf drei Herbstmonate an! Wir gehen nach Paris, nach Wien, nach Stambul. Madame, Sie kennen Paris nicht? Worth? … Madame, ich habe in Ihrem Hause nun schon eine ganze Reihe von Überraschungen erlebt, aber das machen Sie mich nicht glauben. Madame ist in Paris aufgewachsen. Nein? Auf Ehre! … Und Mademoiselle war noch nie in Konstantinopel? Konstantinopel, die schönste Stadt der Welt. Mademoiselle, die Gösleme, die Pfannkuchen, die Baklawa, die Blätterteigschnitten, der Kurabije, der Makronenpudding, die Schlagsahnennudeln, Helwa und Rahatlokum von Konstantinopel – Madame, Sie lächeln? … Oh ja, es gibt auch anderes noch im alten Stambul … Mademoiselle, Rahatlokum schmelzend auf der Zunge, und dazu der Hintergrund des blauen Bosporus, der schwarzgrünen Zypressen von Skutari, wie würde Sie das kleiden! … Ich sehe Sie im Bogenfenster eines schönen stillen Landhauses ober Büjükdere, auf dem Hügel überm Rosental und dem Kastanienbach – Sie erinnern sich, Madame? … die alten Platanen stehen noch – oder bei Jeniköi an der Kalenderbucht im Schatten des Krionero … Schön, Madame, nicht wahr? … Und das Café am Han Tschajyri! … Da sehe ich Sie, Mademoiselle, so wie Sie da sitzen, nur à l'Osman, nicht wahr, und vor Ihnen das Rauchtischchen mit Kaffee und Räucherflamme, und drüben der blaue Himmel von Asien, mit einer schlafenden gelben Wolke darin, und das Schloß des alten Mehmed Ali und der Riesenberg mit seinem einsamen Minaret und der Platanenpark von Hunkiar Iskelessi … Wissen Sie, Mademoiselle, was Kef ist? Kef ist: bei Stambul irgendwo, in Jeniköi oder Büjükdere unter Zypressen und Pinien wohnen, nach Asien hinüberträumen, den besten Kaffee der Welt trinken, den besten Tabak der Welt rauchen, zwischendurch einen französischen Roman lesen oder in einem Pariser Modejournal blättern, und in den Sternennächten des Frühsommers, die so still sind wie Rosenöl oder wie ein tiefer Teppich – – … Das heißt, Ihr Tabak, Monsieur – meinen besonderen Dank; ich bin Kenner – so gut und rein raucht man selbst in der hohen Pforte nicht mehr. Die Regie: teurer und schlechter. Ja, manches hat sich verändert. Sie wollen jetzt eine neue Brücke bauen. Die ganze Stadt ist voll von Deutschen, Preußen. Die Bagdadbahn! Überall Banken; die neue Zeit! Des banques et des routes – enfin la banqueroute … wie der alte ehrliche Achmed Mefik, der Wesir, es vor vierzig oder fünfzig Jahren vorhergesagt, bester Witz des neunzehnten Jahrhunderts … Ja, und jetzt die Einverleibung Bosniens und die Rückgabe des Sandschak: überall Spannung auf dem ganzen Balkan und Druck von Rußland her … Und die sogenannte Verfassung und Umsturz und Revolution, und der gelbe rachsüchtige Abd ul Hamid immer noch im Hintergrund … Marokko hier: die Türkei, der Balkan Afrikas – Straße von Gibraltar: die westlichen Dardanellen … Suez-Kanal: die südlichen … Alexandria? Schöne Stadt, das Odessa der Levante … Odessa? Anderthalb Jahre dort gewohnt. Samsonoff? Natürlich! Welcher? Der in der Torgowaja am neuen – oder der auf dem Usspenskij-Prospekt am alten Bazar? … Madame, Ihr Tee! … Ja, wenn ich bitten darf – so, von Samsonoff aus dem Usspenskij-Prospekt? … Erstklassig! …
Und so plauderte er und erzählte und spielte er, all seine Gaben als Bote Europas anmutig verteilend, bis in tiefe Nacht hinein, und draußen die Gespenster des Mellach, Spinnen und Kraken aus den Schwellen, Tetuan selbst und der alte Judenfriedhof, Marokko selbst und das Gepäck in Gibraltar und alle Zukunft waren vergessen. –
Als er aber dann in seinem Zimmer zwischen kühlem frischem Linnen lag und im Schein der Wachskerze eine allerletzte Zigarette der Sammlung rauchte, mußte er sich fast gewaltsam darauf besinnen, wohin Zufall oder Kismet, Allah oder Strömung des Lebens ihn entführt.
Die Fahrnis hinüber nach Europa – ihn selbst durch eine Hölle von Elend, Schmutz und Spuk mitten hinein in den geheimsten und allerinnersten Orient, in ein Paradies.
Unglaubhaft geradezu, wollte man das niederschreiben. Einer jener Romane der Tatsachen, die weniger wahr fast und unwirklicher sind als die ersonnenen.
Auf unreinem Boden stand dies Haus, darin er ruhte, dessen selbstlose Gastfreundschaft er genoß? … Lächerlich; Herdeninstinkt! Ohnmächtiger Schimpf der faulen Neider! … Zirkusgesindel der Playas, der Stierarenen, adliger und uniformierter Genußpöbel, Kartoffelbarone und Fetischanbeter teilten sich darein. Der aber, den sie beneideten und schmähten, der ihnen ein Minderwertiger war, ein Gezeichneter, ein Paria – der saß nicht unter der blutheulenden Plebs der Spiele, der verluderte und verblödete nicht bei hohen und niederen Dirnen, bei Karten und Gäulern, der stand fein drunten an mittagheißem Hafen bei seinen Tragtieren, diente seinem Gotte mit Fleiß und Vernunft und wartete still, bis seine Zeit gekommen.
Nur: er natürlich, er selbst hätte es einem Efrem Efrus oder Leb Cwol oder Chajim Charas nicht gleichtun können und mögen. Zu alt an Kultur, zu müd, zu vergiftet! … Er war von der Fügung bestimmt zu ästhetischem Verbrauch der Dinge und Güter, zu vorbildlicher Nutzanwendung; auch das war etwas, und den Platz, auf den Gott einen gestellt, hat man auszufüllen.
Ghetto? Lächerlich. Ghetto ist die ganze Welt. Juden sind alle Menschen, seit das Geld erfunden worden. Und wer hat den Juden gezwungen, wer ihn gelehrt, das Geld zu erfinden und auszubauen zu einer ganzen Unterstadt, zum Labyrinth von Kellern, Kloaken, Kanälen, Katakomben? … Wer? …
Biancha? … Warum nicht diese? … War eine aus den Ghettos der großen Städte besser? … Eine von den Dirnen europäischer Zivilisation, oder gar eine von den verschämten? … Schwerlich schöner, niemals reiner. Hier brannten noch die frommen Lichter des Sabbathabends, hier war noch Widerschein einer milden, alten, ruhigen Kultur der Absonderung. Und eine Jüdin würde es doch werden. Dann lieber gleich Vollblut. Vollblut ist edel in allen Kassen.
Der süße junge Ernst ihres Antlitzes hatte sich in Lächeln gelöst unter der Berührung seiner Worte; ihr Blick hatte schmelzstill in dem seinen geruht … Mensch! heute mittag noch aus dem Kersa und in Gedanken unterwegs nach Ceuta, Tanger, irgendwohin in die Zukunft; heute nachmittag noch ein ungeduldiger Rebell gegen die Fügung des Allbarmherzigen; heute abend noch ein Grübler auf dem alten Judenfriedhof einer fremden Stadt; und heute nacht mittendrin in einem Abenteuer, in einer Episode, in den Vorgärten dichterischer Verliebtheit, im Vorfieber einer Kinderkrankheit! … Kalten Guß drüber und kalte Packung; Abenteuer wollen kalt bestanden sein; gute Abenteurer sind immer dolchkalt. Eine hübsche Jüdin eben, die annehmbare Mitgift eines wohlgebauten Vermögens. Ein junges, knospiges Weib, das man eine Zeitlang als Geliebte genießen und behandeln kann … Ein Roman auf – unreinem Boden? … Wieviele auf weit weniger reinem! … Unreiner Boden die ganze Welt … Man mußte eben Pfahlbauer sein … Auch dieses Haus ein Pfahlbau im Sumpf … Pfahlbauten in Marokko? … In einem Schott, einer Sebcha, einem jener seifengrünen Salzschlammseen der Wüste? … Und so schlief er endlich ein. –
* * *
Ein Tag verging unter Teppichen, leichtem Geschwätz, Langeweile und Zigarettenduft. Der Gast war spät aufgestanden. Efrem Efrus blieb bis zum Abend unsichtbar.
Nun nahm sich alles ganz anders aus. Da draußen das Ghetto: René schauderte. Wie war er hierher geraten? Wann ging der nächste Dampfer? Der Engländer in sechs, ein Franzose in zehn Tagen. Aber konnte man nicht zum Beispiel hinüberreiten nach dem verdammten Ceuta? Die Berberpferde hatten ja hohen Ruf. Einen blauheißen Tag auf hengstgewordnem Feuergeist! … Schon war René krank vor heimlichem Überdruß, vor müdem hochmütigem Ekel. Stimmung – eine Stimmung eben war das gestern gewesen. Und Stimmungen soll man nicht breitschmieren; nicht über Flamme ausschmelzen; ranzig, Margarine, Hammeltalg.
Nicht der unreine Boden da herum; das war unter Umständen ganz interessant. Aber die Wände hinter den Gobelins und Teppichen schienen doch irgendwelche Kloakengifte, Säuren, Alkalien auszuschwitzen. Die sanfte bunte Dämmerung dieses ganzen Harems – nun ja, was sonst war es? – war mit einem Male voll süßlicher Stickluft. Es roch nach Puder, nach geilen Pomaden, nach Moschus, nach Hennah und Khol, nach Zibeth und Bisam, nach fadem, verdächtigem Räucherwerk, nach Mäuseholz, nach Buchsbaum, nach Weibern und bitteren Mandeln. Durch vergitterte, seidenverhangene Fenster atmete die gesunde weiße Mittagsglut herein.
Biancha war auch heute noch schön; über damaszenischen Pluderhosen trug sie ein langes, bordiertes, knapp in die Hüftung gearbeitetes und ärmelloses Obergewand, das Anteri östlicher Frauengemächer, und darunter den vielfarbig schillernden indischen Gürtelshawl. Sie sah reizend aus, wie sie mit ihrem verschwiegenen, schwebenden Lächeln vor den Gast hintrat und ihm auf dem Tepßi, dem getriebenen Messingbrett, den schwarzen, duftdampfenden Frühtrunk darbot. Die schoßweite Jacke mit den tiefen, ausgesteppten Zwickeln kleidete sie noch weit besser als der brokatübersponnene Samtspenser; sie übertrieb gleichsam, verhehlte, deutete flüchtig nur an und stellte der Ahnung die angenehmsten Aufgaben. Und doch hätte René sie viel lieber draußen irgendwo in grellem, freiem Sonnenschein gesehen, in heißer, ehrlicher Luft; dies üppige Zwielicht ging ihm auf alle Sinne, machte ihn ungeduldig und argwöhnisch.
Den ganzen Tag fast durfte er mit Biancha verbringen. Die Frau des Hauses ging leise und müd ihren Pflichten nach, und später zog sie sich auf mehrere Stunden zurück. Das war zuviel. Die Gespräche stockten und versickerten.
»Mademoiselle haben Tetuan noch nie verlassen?«
»Oh doch. Einmal waren wir in Ceuta, einmal in Cordova und Sevilla.«
»Oh, Sevilla. Eine schöne Stadt, Sevilla. Der Guadalquivir, nicht wahr. Hat Sevilla Ihnen gefallen?«
»Oh ja.«
»Sie haben Bekannte in Sevilla?«
»Ja.«
Der schwache Faden riß. Mas sollte er anfangen? Mit Weibern, mit Mädchen zumal, muß man etwas anzufangen wissen; je schöner sie sind, desto dringender. Sonst gibt es ein Unglück. Liebe ist oft nichts als Notwehr gegen Langeweile. Man langweilt sich in eine Liebe hinein.
»Mademoiselle spielen Schach?«
»Nein.«
»Karten? Bezique, Ecarté, Piquet?«
»Nein.«
»Patiencen legen? Poker-Patience?«
»Nein.«
»Mademoiselle sind in Tetuan geboren?«
»Ja. Wir alle.«
»Ihr Vater ist schon lange hier?«
»Fünfundzwanzig Jahre.«
»Ihre glücklichen Schwestern, nicht wahr?«
Sie schloß fast die langbewimperten Lider. »Ja.«
»Und – wenn ich fragen darf – was treibt eigentlich Ihr Vater?«
Sie zuckte leicht die Achseln.
»Handel – wie alle im Viertel.«
»Ja, Handel; ich meine, mit Leder – mit Gewürzen – mit Farbstoffen – mit Halfagras –?«
»Oh, mit allem. Ich glaube, mit Korkrinde. Aber der Haupthandel geht doch ins Land. Mit Kerzen, mit Seife, mit Zucker, mit Gewehren …«
»Wie, mit Gewehren?«
»Ja, mit Gewehren, deutschen Gewehren, glaube ich. Die Ruafa nennen sie Mausiehr.«
»Mausiehr? … Mauser vielleicht? … Erzählen Sie, Mademoiselle. Ich bin doch hier fremd. Wer sind diese Ruafa? Ihr Vater hat sie gestern erwähnt; er hat mich vor ihnen gewarnt. Das müssen ja sehr interessante Leute sein. Sie schießen mit richtigen Mausergewehren?«
»Ja; das wissen Sie nicht? Manche Stämme sollen über tausend Mausiehr besitzen.«
»Das klingt gefährlich.«
»Die Ruafa sind auch gefährlich.«
»Ruafa, Sie entschuldigen meine Unwissenheit … Sind das Araber?«
»Nein. Eben – Ruafa. Die Andjera, die Beni Uriachel, die von Gelaia, die Rmari, die Hausmar, die Bachari – alles Ruafa.«
»Die wohnen hier, landeinwärts?«
»In den Bergen.«
»Und mit diesen Stämmen treibt Ihr Vater Handel?«
»Ja; wie doch alle im Viertel.«
»Das verlohnt sich?«
»Ich weiß nicht. Der Vater hat doch auch eine Goldschmiede.«
»Nein; im Händlerviertel. In der Straße der Gold- und Silberschmiede.«
»Ah. Das ist hübsch. Könnte man ihn da einmal besuchen?«
»Oh ja … Aber – –«
»Aber? … Er sieht es nicht gern?«
»Doch, warum? … Nur …« Sie zögerte. »Es wäre vielleicht Ihnen selbst – –« Sie stockte vollends und sah unter tiefgesenkten Lidern zur Seite.
René erriet; aber sollte er sich mit diesem Mädchen, diesem Weibchenkinde da in Pathos und Rührung einlassen? … Er lachte auf.
»Mademoiselle, ich bin noch immer ein- und ausgegangen, wo ich wollte. Das würde ich sogar bei diesen berühmten Ruafa tun, trotz ihrer tausend Mausiehr. Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Sie müssen meinen Vater fragen. Ich weiß wenig. Sie sind sehr gefürchtet. Sie haben schon oft mit dem Markt tkaß gemacht, auf dem Fddan, auf dem Rersa, auf dem Suk es Srah …«
»Was haben sie gemacht?«
»Tkaß. Sie haben einfach geschossen, bis der Markt gesprengt war. Das nennen sie tkaß machen. Die Soldaten des Sultans richten nichts aus gegen sie.«
»Prachtvoll. Diese Ruafa steigen in meiner Achtung. Könnte man einmal mit ganz Europa so: »tkaß« machen!«
Das war wenigstens etwas gewesen, irgendein Anfang, eine kurze kleine Wirklichkeit. Aber dann versandete das dünne Gespräch wieder in schwüler Niederung.
René kannte die Art. Es gibt Mädchen, die immer dunkel auf etwas zu warten scheinen. Sie sind nicht tief; sie sind nicht stumpf; sie langweilen sich nicht. Sie, sind still und schwer, wie Wolken, wie Früchte, die des Sturmes harren. Und sie gerade sind die gefährlichsten; geheimnisvoll blutdurchglühter Gral, der einen törichten Frager anlockt, zur Neugier reizt und verführt.
René kannte auch diese Gefahr. Leuchtfäulnis im Sumpf, Flimmerfäden stillstehender Fische. Trotzdem wagte er einen Schritt, eine leichte Betastung.
»Sagen Sie, Mademoiselle – da Sie doch schon ein wenig in der Welt gewesen sind – trotz Eltern und Wohlstand und Heimathaus: haben Sie nicht manchmal Sehnsucht?«
Sie wandte den gesenkten Blick zur Seite. »Ich verstehe nicht.«
»Ich meine – fühlen Sie nicht manchmal Verlangen? … Eben: nach der Welt – nach den großen Städten – nach anderen Menschen – nach Freiheit, Licht und Luft – –?«
Sie zupfte am Nahtwulst eines Kissens. Weiber und Gebärden bleiben doch überall dieselben. »Oh ja.«
Heiße dämmernde Sommerstille. Sie wartete. Aber René wußte genug und hütete sich vor der nächsten Frage. – –
Er atmete auf, als er den irgendwie heimatlichen Chechonim-Bart des alten Efrus wiedersah. Ein Mann des täglichen Handwerks, ein Mann mit seiner tröstlichen Sachlichkeit.
»Gott, die Ruafa, was soll ich sagen über die Ruafa?« erklärte er auf die Frage des Gastes; »ich kann sagen, es sind meine besten Kunden, ich kann sagen, es sind die größten Räuber und Diebe. Hab ich Zeit darüber nachzudenken, was sie machen mit den gelieferten Gewehren? Kann man nachlaufen jedem Schermesser? … Die Ruafa? Sie sind meine besten Kunden, aber Gott soll mich beschützen vor ihnen.«
»Haben diese Leute denn Geld? Bargeld ist doch selten in der Wildnis.«
Efrem Efrus lachte auf, als er mit der Linken den klugen knisternden Bart durchkraute.
»Geld? was ist schon Geld? Die Ruafa haben mehr als bloß Geld.«
»Französisches vielleicht wie die Tuareq oder englisches wie die Tebbu?« fragte René; »ich meine: politisches Geld?«
Der Alte schürzte geheimnisvoll die Stirn; die Fältchen seiner Augenwinkel flimmerten.
»Was heißt politisches Geld? Alles Geld ist politisches Geld, und politisches Geld – nu, es ist eben auch nur Geld. Die Ruafa aber haben mehr als das.« Er schloß mit einer seltsamen Gebärde. »Der Efendi kennt die Tuareq, die sich Imoschagh nennen?« '
»Ein wenig. Nur die Asdscher, um Mursuk und Ederi.«
»Und die Tebbu, die sich Teda heißen?«
»Auch nur ein wenig. Vom Sudan her.«
»Dann kann ich dem Efendi sagen: die Ruafa sind gefährlicher als die Tuareq und Tebbu zusammen. Was sind die Tuareq? Mutig sind sie. Wohin sind sie gekommen mit allem Mut? Den Franzosen gehören sie. Aber die Ruafa sind nix bloß mutig; sie sind klug. Mutig sein, Gott, das kann auch ein Chammer, ein Esel; hab ich recht? Aber klug sein, das kann nicht jeder Chammer, das kann nur ein Auserwählter. Sieht der Efendi? Wem gehören die Tuareq mit ihrer ganzen Sahara? Den Franzosen, wem gehören die Tebbu mit ihrem ganzen Sudan? Den Engländern. Und wem gehören die Ruafa? Niemand. Nicht den Spaniern, nicht den Franzosen, nicht den Engländern, nicht einmal dem Sultan von Marokko. Sich selbst gehören sie. Wofür geben sie ihr gutes Geld? Nix für Schmuck, nix für feine Kleider, nix für tausend Sächel: bloß für Gewehre, Mauser – Gott, was hab ich ihnen schon tausende geliefert – und für Patronen, hat der Efendi gehört von dem Sturm auf Melilia und von den Schlachten in den Bergen? Gott, was haben die Spanier, die Christianos und Hidalgos dabei Ehre und Blut gelassen, und der Bu Hamara auch, der Narr! … Das waren Ruafa von der Gelaia, Beni bu Kaffr, Beni bu Ifror, Beni Sikkar und die Beni Uriachel, die stärksten und gefürchtetsten von allen. Nu, und die Mausergewehre …« Efrem Efrus machte eine vielsagende Gebärde … »Ist Melilia spanisch, sind die Presidios spanisch, steht der Handel dort unter Aufsicht – Tetuan ist nicht spanisch, und Schießgewehr und Patronen können auch gehen den Weg durch die Berge.«
René hörte aufmerksam zu.
»Und um was handelt es sich dabei?«
»Um was?« Efrem Efrus hob die Achseln. »Fragt der Efendi? Um was handelt sichs bei kleinen und großen Kriegen? Um Handel handelt sichs! Um die War' handelt sichs! Man kann sagen: um die Ehr; man kann sagen: um die Würde; man kann sagen: um das Recht. Nu ja, Ehr und Würde und Recht – aber glaubt der Efendi, in Wirklichkeit handelt sichs doch nur um die War'. Es sind andere Namen dafür; es sind schöne Deklarationen. Gott, sagt man nicht: Ehe – und meint man nicht: Geld? …«
»Und das lassen Sie sich gefallen, meine Damen? … Sie sind ein Zweifler, Herr Efrus.«
Der Alte lächelte.
»Was heißt zweifeln? Man weiß, von einer Ehe kann kommen kein Geld, aber vom Geld kann kommen eine Ehe. Von der Ehr' allein kann kommen kein Handel und keine War'; aber vom Handel und von der War' können kommen Ehre und Würde und Recht und alles.«
»Sie sind ein Philosoph. Aber sagen Sie, diese ehrenwerten Herren Ruafa –«
»Sie haben einen selber gesehen,« unterbrach Efrus; »drunten am Hafen, der mit dem kleinen Tragpferd.«
»Der Blauäugige?«
»Das sind sie alle.«
»Blauäugig und blond? … Was sprechen sie für eine Sprache?«
»Was werden sie schon sprechen? Schilcha.«
»Arabischer Dialekt?«
»Wieso arabisch? Schilcha ist Schilcha.«
»Und sind Mohammedaner?«
»Was heißt schon Mohammedaner? Man kann sagen Allah, man kann sagen Jahve, man kann sagen Elohim, man kann Namen geben so viele man will … Aber der Efendi hat gesagt: Sprache. Spricht der Efendi Haussa?«
»Leidlich. Für orientalisches Konsulat unentbehrlich, nicht wahr.«
»Auch Temahak?«
»Zur Not. Davon gibt es viele Mundarten, im Süden mit Negersprachen, gegen Mursuk mit Arabisch gemischt.«
Über das kluge alte Antlitz des anderen ging ein leises Aufleuchten; seine schwermütigen Augen glänzten.
»Der Efendi hat viel gelernt und viel Welt gesehen.«
»Durch das Sehen mehr gelernt als durch das Lernen selbst, Monsieur.«
Efrem Efrus blickte den Gast nachdenklich aus der Tiefe an.
»Der Efendi ist ebenso mutig, wie er klug ist.«
René lachte auf.
»Was heißt mutig?« gab er zurück; »man hat nicht viel zu verlieren. Und Sie sagen ja: mutig sein, das kann auch ein Chammer, ein Esel.«
Efrus hob einschränkend die Hand.
»Es wird vielleicht ein Unterschied sein zwischen dem Mut eines Chammer und dem eines Löwen! … Wenn einer versteht, wozu er mutig ist und wie er seinen Mut anlegt, dann ist er auch klug. Ich habe das gewußt, wie ich den Efendi zuerst gesehen habe im Hafen unten, hier ist ein Mann, hab ich mir gesagt, wo der Kopf eine Hand hat und die Hand einen Kopf; es wär schad um ihn … Nun, Biancha, gülüm, gönlüm, was sitzt du da und redtst gar nichts?«
Aber dann versank der Alte selbst in nachdenkliches Schweigen, und René blieb es überlassen, die vernachlässigten Damen mit einem kleinen Buntfeuerwerk zu entschädigen und zu versöhnen.
* * *
Wo wollte das enden? Am nächsten Tage war die Fahrnis aus Gibraltar da.
René war peinlich erstaunt, als er gegen Abend, Frauendienstes müde, schaler, zäher Süßigkeiten krank, aus der ewigen moschusschwülen Teppichdämmerung in sein Zimmer trat.
Da standen die beiden gelben, weitgereisten Kofferwuchten, und die breiten Messingplatten ihrer Schlösser blinkten mit dem Schein einer anderen Welt.
Hätte ein Vogel Roch sie in riesigen Krallen über die mittäglichen Meerengen hergetragen, so hätte René sich des Wiedersehens dankbar gefreut; die Zauberkünste dieses Märchens aber bereiteten ihm verdrießliches Unbehagen.
Alles wegen dieses verwünschten Abd Hamara, dieses gottverlassenen Eseljungen, der ihn – – das heißt, war dieses Werkzeug der Vorsehung wirklich schuld? … Kismet, Fügung, Bestimmung? … Gleichviel, in fünf Tagen kam und ging der nächste Engländer, und wenn er schon so lange in diesem hintermaurischen Krämerneste ausharren mußte, dann wenigstens in eigener Wäsche, in eigenem Dunstkreis, in eigener Luft! … Es war ja alles recht schön und gut gemeint, aber – –. Und überhaupt: Luft! … Dieses süßliche, parfümierte Zwielicht; sollte wohl Liebesstimmung darstellen und erzeugen? … Kef, Ruhe der Anschauung, ist köstlich, ist Kultur; ist es aber nur dem Einsamen, schließt verpflichtende Nähe aus. Kultur gehört den Einsamen; Kultur ist Einsamkeit … Fünf Tage noch in diesem Teppichkerker, in diesem Gedünst von Bisam und Weiberschweiß? … Unerträglich; nicht auszudenken. Hinaus, Luft, flammige Wüstenluft, eherne Mittagsglut, Staub und Durst, aber freie Weite! … Vielleicht gab es in den Bergen da herum etwas zu jagen. Hyänen, Schakale, Steppenfüchse, Gazellen, und wenn es nur Aasgeier waren, irgendein Vorwand! … René zog das Schubfach des Kofferbodens auf, darin seine wertvolle Meisterbüchse samt Fernrohr und Requisit in belederte Kissenblöcke eingepaßt. Das Gefühl von ölgeschliffenem Nußbaumholz und glasglattem, schwarzspiegelndem Edelstahl – ah! …
Er löste die Geheimsicherung und ließ den sanften, stillen Verschluß spielen. Echt österreichische, subtile Feinarbeit; wie klappert und rasselt dagegen der deutsche Mauser; Er lud fünf der goldblanken Patronen auf die leisknackenden Speichen der Magazintrommel und ließ die Feder wieder einen Springquell von Messing und Nickel in die hohle Hand aussprudeln; Wunder der Präzision! … Er setzte das Zielfernrohr in die zart einschnappenden Riegel der Fußplatten auf der Hülse und versuchte die gustiose Übung des Visierens mit Abzug eingestochenen Schnellers. Aber diese verdammten Dämmerdumpfgitter vor den Fenstern! Kunstvoll geschnitzt oder nicht, am liebsten hätte er sie mit dem Kolben eingeschlagen, mit dem Fuße eingetreten … Luft! Licht! … Er liebte den Orient; aber das war des Orients zuviel. Dieser Käfig stank nach Aas und Stall, stank mit seinen fettigen Wohlgerüchen in alle Nerven hinein. Irgend etwas Befreiendes mußte unternommen werden.
Dies köstliche Gleichgewicht dagegen in Griff und Hand – die seidige Rauhung der durchgeführten Schiene, die milde Kehlung des Kornsattels, der Hornschluß des langen, lindkantigen, gegen Schrumpf und Schwellung mit vorsichtigen Stahlplatten unterbrochenen Stilschaftes, die feine Fischhaut und das edle, wohlige Holz an der Wange: irgendwie Heimat, alles miteinander, Waffe und Werk.
Mit solcher Büchse irgendwo in herber hoher Einsamkeit leben, nach Lust und Gelieben aufgeteilt unter Muße und Jagd – es müßte doch schön sein. –
»Wie in aller Welt haben Sie das gemacht?« fragte Rene mit einiger Überwindung; »das geht ja zu wie in Tausendundeiner Nacht.«
Der Alte lächelte in listigem Stolz.
»Wieso Tausendundeiner Nacht? Dazu sind wenige Stunden nötig. Der Efendi ist viel gereist, er ist klug, er wird wissen: es gibt gar keine Zauberei außer einer – nu, und die macht Berge auf, und ist die Wunderlampe, die überallhin leuchtet, und ist ein Vogel, der überallhin fliegt, und ist ein Arzt, der alle Krankheiten heilt, und ist ein Schwert, das alle Köpfe spaltet … Wer erzählt Märchen? Die Armen – und die nichts zu tun haben. Glaubt der Efendi, es ist nur eine Flukka drunten am Uad Martil? Wie käm ich zu meiner War'?«
»Dann hätte ich doch gleich mitfahren können.«
Efrem Efrus beschwichtigte mit hohepriesterlicher Gebärde.
»Wird der Efendi fahren mit War' hin und mit War' zurück? … Der Efendi wird fahren, wenn seine Zeit gekommen ist, mit anderen Herren: wie sichs für einen Efendi schickt. Und wird der Efendi uns so bald verlassen, wo noch nicht der Rauch verflogen ist von seiner ersten Zigarett'? … Wenn der Tabak dem Efendi schmeckt: keine Angst, es sind noch zehn, es sind noch hundert Okka davon da! … Nu, Biancha mein Kind, gülüm, gönlüm, was sitzt du so und redtst gar nix? Was soll der Efendi glauben? …«
René sah ihr Verdunkeln unterm bräunlichen Duft des jungen Antlitzes.
»Ich bin jedenfalls in Ihrer Schuld,« unterbrach er in höflicher, etwas starrer Sachlichkeit.
»Was heißt Schuld?« fragte Efrus fast geringschätzig zurück; »wir Menschen sind alle einer in des anderen Schuld. Ists nicht so? Wenn der Efendi durchaus will sein in meiner Schuld, gut, so will ich sein dafür in des Efendi Schuld. Wann kommt unsereins über den Geschäften hinaus in die Welt? Nu, so hat der Efendi gebracht die Welt in mein Haus. Er hat uns erspart weite Reisen nach Paris, nach Wien, nach Konstantinopel, nach Rußland, nach Damaskus. Er hat uns gegeben, was wir seit, Gott, wievielen Jahren nicht mehr geschmeckt haben in Tetuan. Was redet also der Efendi von Schulden, wo wir hoffentlich noch lange mehren werden die eigenen?«
Das Gespräch nahm eine andere, ungefährliche Wendung; René, an seine Pflicht erinnert, begann wieder verschwenderisch zu erzählen, Theater, Moden, Menus, wahre, halbwahre und kühn erdichtete Abenteuer, Liebesleben in Madrid, Hoffeste in Sinaia, luxuriöse Aventuren in Jalta an der russischen Riviera, Intermezzos aus Nizza und Monte Carlo, üppige Improvisationen aus Trapezunt, alles bunt durcheinander jongliert wie die Kugelfontäne eines Artisten. Madame hörte mit gütig schläfrigem Lächeln zu; mitunter aber fühlte er sich im Schmelz eines jungen, schwermütig sinnlichen Blicks, und dann stockte ihm der Fluß von Spiel und Sprache auf Sekunden.
Früher als gewöhnlich zogen sich die Damen zurück: auf einen heimlichen Wink des Alten, wie René schien.
»Will der Efendi auch zur Ruhe gehen?« fragte Efrem Efrus, als sie allein bei Tee und goldbraun funkelndem Griechenwein geblieben; »ich habe diese Nacht noch zu wachen – will der Efendi mir Gesellschaft leisten? Wir können hinaufgehen auf das Dach, da weht der Wind jetzt kühl vom Meere her.«
René war gerne einverstanden. Luft, Himmel, und endlich ein Männergespräch!
»Aber wenn Sie in dieser Nacht noch zu wachen, dann werden sie auch Wichtiges zu tun haben. Falls ich Sie nicht störe?«
Der alte Jude beschwichtigte mit gelassener Gebärde.
»Würd ich es sonst dem Efendi sagen? Ich habe in dieser Nacht zu wachen, zu warten und zu horchen; das ist alles. Und wenn es den Efendi interessiert, so kann er wachen, warten und horchen mit mir. Dabei vergeht die Zeit, hab' ich recht?«
René unterdrückte die geweckte Frage. »Ich bin gerne dabei. Vorausgesetzt, daß ich rauchen darf.«
»Was heißt dürfen? Soviel der Efendi will, kann er rauchen. Und den Wein und das Glas des Efendi wollen wir auch mitnehmen. Nur – –« Efrem Efrus stockte und sah mit großem, mißtrauischem Blick an Renés Kleidung herunter. »Nur – – wenn der Efendi auch etwas – erleben will in dieser Nacht: dann soll er wieder anziehen den Haik und die Pantoffel, ohne Socken, auf die bloßen Füße. Und – –« Wieder zögerte der Alte. »Nu, und – – vielleicht kann der Efendi darunter in den Gürtel stecken seinen Revolver und den krummen Dolch, den er damals gekauft hat auf dem Altmarkt. Gott, nu, man weiß nicht.«
Endlich etwas wie Spannung, ein klein wenig Intrigue, Hintertreppe, Kolportage! … René legte wieder den weißwollenen Radmantel an, schlüpfte barfuß in die kühlen Pantoffel und prüfte sorgfältig die Ladung seines schweren langläufigen Amerikaners. Mehr als einmal schon hatte dieser Stahlgetreue, dieser kalte Blaue mit dem prachtvollen Fingerhaken am Abzugsbügel ihn durch Labyrinthe des Lebens begleitet, in Damaskus, in Bagdad, im Dirnen- und Mörderviertel von Smyrna, wo das fränkische Quartier mit dem der Armenier und dem Ghetto in hundert furchtbaren kleinen Gassenkloaken zusammenschmilzt. Ja, und unter den bunten Jagdtrophäen, kaspischen Tiger- und sudanesischen Löwenfellen, Steinbockhörnern und kaukasischen Keilergewaffen, die noch immer in mächtigen Kisten auf irgendeinem Speicher Peras der Verfrachtung nach endgültiger Heimat harrten: – unter diesen Trophäen, Siegeszeichen und Andenken befand sich auch ein gelber, bimssteinpolierter Schädel, ein grinsender Menschenschädel, das zackige Loch in der häßlich fliehenden Stirn und das dumpfe Kollern gestauchten Bleipilzes in der ausgetrockneten Hirnhöhle … Arsingian hatte dieses Ich einst geheißen, mit Geld, Knoppern und Mädchen hatte es im Großen gehandelt, und am Tage der Auferstehung würde sein Geripp in Straßen und Bazaren, Kanälen und Gräberschutt von Bagdad vergeblich nach dem Haupte suchen …
Mädchenhandel? … René stand in plötzlich aufhorchendem Verdachte still. Der Alte im ehrwürdigen Schabbesbart, handelte er am Ende mit – Fleisch? War das die »War'«, dies das starke, allmächtige Zahlungsmittel dieser Bergvölker, das wertvoller und weltgültiger sein sollte als Geld? Kabylinnen waren ja neuerdings in Europa sehr gesucht, als Bauchtänzerinnen, sogar als Maitressen; Kabylinnen waren im müden, gifthungrigen Europa augenblicklich geradezu Mode. Ein Schub zu erwarten in dieser Nacht? All diese Teppiche, Seiden, Bronzen und sonstigen Luxurien gekauft mit silbernen Tränen, mit Leben und Leibern, mit Laster und Lust? Was für Schicksale in den dumpfen, durchseuchten Tiefen dieses Hauses, das mit seinen Schätzen und seinem Wohlstand hinter Zerfall sich barg? … Aber das ist nun einmal die Wirklichkeit: was ändert daran die sogenannte sittliche Empörung? Man lebt um des Genusses willen und dank dem Genuß; insch' Allah, der Mensch hat die Kreatur nicht geschaffen und ihre Triebe nicht gepflanzt. Und Handel ist schließlich irgendwie alles. Und im übrigen würde man ja sehn. –
Der Alte hatte ein Licht in großer verglaster Laterne angesteckt. Er streifte im Nebengemach einen Wandteppich zur Seite und führte bedächtig auf schmaler Treppe zur Plattform des Daches hinan. René atmete tief aus sehnsüchtiger Brust. Die Stadt lag bleich unter heißen Sommersternen, aber vom roten Mondaufgang her wehte kühlend bittrer Salzhauch des düsterschimmernden Meeres.
René blieb eine Weile still im Schauen des Bildes. Drüben unterm alten kleinen Nordstern – wie niedrig überm Horizonte stand er schon in diesem Himmel – ruhten dumpfdämmernd die Gestalten breiter schlafender Gebirge. Lichter irrten einsam in ihren dunklen Hängen, da und dort blitzte golden ein kleiner ferner Fensterherd. Von anderen Dächern her murmelten leise Feierabendgespräche; aus dem Geheg der hohen, von mattem Schein überflorten Brüstungen klang es fast wie das Aufträumen holder Brunnen in blühender deutscher Dichternacht. Aber dem Gebell der Hunde im Rund antwortete von den Höhen und aus der Talsteppe des Uad Martil das Gekläff der Schakale, und aus der Tiefe herauf goren zuweilen die Blasen übler Grubengase, die Miasmen des unreinen Bodens, des Ghetto.
»Ja, das ist Tetuan,« sagte der Alte schwermütig; »das ist Tetuan, wo ich nun schon seit fünfundzwanzig Jahren lebe mit meinem kleinen Handel und mit meinen Sorgen und mit meiner täglichen Arbeit und mit Frau und Kindern und meinem ganzen Gewinn …« Er seufzte auf und breitete die Arme gegen die Gestirne. »Gewinn, Gott! Ist das schon ein Gewinn? Wie ich gekommen bin, wie ich dieses Haus gekauft habe, war es ein Stall voll Unrat und Verwesung. Jetzt, der Efendi kennt es, kann ein Mensch darin wohnen, kann ein Mensch darin – warten. Das ist der ganze Gewinn, wozu? Und warten, worauf? Andere haben ihre schönen Häuser in Triest und Salonik, in Therapia und Smyrna. Sie waren klug, sie haben gehandelt mit dem, was sie haben greifen können, sie haben gespart und sind glücklich. Und ich? Sterben werd' ich in Tetuan, meine Kinder werden verstreut sein über die ganze Welt, und ich werde warten bei den Vätern da draußen, wo ich den Efendi zuletzt gefunden habe, an der Straße nach Ceuta. Das ist der ganze Gewinn.«
Es klang ein bitterheißer sehnsüchtiger Groll aus der Klage des Alten, Groll gegen den Gott, der da verheißet Mehrung des Öls in den Krügen und gebietet wuchernden Zinseszins zu nehmen vom Goj und zinslos zu leihen an den gläubigen Bruder. Und warten – warten tat Efrem Efrus, Goldschmied, Korkkönig, Waffenschmuggler, Gemischtwarengrossist und vielleicht auch Mädchenhändler? Um zu warten, dazu hatte er sich nach Tetuan gesetzt, dies Haus gekauft und mit Biber- oder Hamsterfleiß wohnlich austapeziert? … Ja, Meister des Wartens, das waren die sonst so schnellen, sonst so rastlos geschäftigen Auserwählten Gottes; auf den Meschiach warteten sie, auf die Erfüllung, auf die Befreiung, auf die Abrechnung, auf das Reich … Aber unter all dem glomm fast ängstlich eine Frage, ein Geständnis, irgendeine Absicht, ein Zweck; René fühlte es deutlich, und wieder mahnte ihn jene kluge Stimme aus den Tiefen römischer Weisheit: cui prodest, wem nützt es? … Gelassen steckte er sich die Zigarette in Brand.
»So verkaufen Sie doch Haus und Handel mit Vorteil und setzen Sie sich in Ruhe, irgendwo bei Ihren Schwiegersöhnen, in Alexandria, bei Stambul, in Smyrna, irgendwo in der Heimat! Ich jedenfalls an Ihrer Stelle – – schon mit Rücksicht auf die Damen – –«
Efrus lachte still und mitleidig vor sich hin.
»Heimat, was heißt schon Heimat? Der Efendi hat leicht reden. Und was meint der Efendi? Ich hätte nicht französische Fräulein gehalten meinen Töchtern und meiner Frau? Echte französische Fräulein für schweres Geld, hier in Tetuan! … Was heißt schon: in Ruhe setzen? Hätt' ich Ruhe wo anders?« Er brach ab. »Aber will der Efendi sich nicht bequem machen? Dort steht der Wein, dort liegen Kissen – es kann noch dauern seine Zeit.«
Sie kauerten sich unter die klafterhohe, mit Halbröhren gebrannten Mergels gegitterte Brüstung. Honigbraun im Laternenschein glitzerte die Karaffe auf niedrigem Schemeltischchen. Die Hunde bellten. Schakale kläfften. Sterne erbleichten und erloschen im wachsenden Mondlicht. Immer noch träumend Gemurmel, plätschernde Frauenstimmen aus den Gevierten benachbarter Dächer. Und manchmal das Aufhauchen, Aufquellen pestigen Brodems aus der Finsternis.
Lange schwiegen sie. René rauchte vor sich hin, schon gegen den Faulstank, der den Genuß selbst der Nachtluft verleidete. Endlich begann der Alte.
»Der Efendi ist ein kluger, ein gereister Mann, er versteht Sprachen, er ist ein Gelehrter. Darf ich fragen: ist der Efendi auch ein Gelehrter der Schrift?«
René lachte kurz auf.
»Erstens, Monsieur, bin ich durchaus kein Gelehrter. Die orientalische Akademie, ein paar Spaziergänge, ein paar Liebhabereien, das ist alles. Und zweitens: Schrift? Thora, Gesetz? Noch weniger, Monsieur.«
Efrem Efrus hob die Hand.
»Wer sagt Thoira? Ich meine Schrift, wirkliche Schrift, geschriebene Schrift. Ist der Efendi ein – nu, sagen wir, Kenner auch darin?«
»Kommt darauf an. Ryka, Neshi, Dimani, Talyk, Igazet, Sülüs, Hatt-i-gali, Sijaket? Armenisch, Zyrillisch – Hebräisch? Hieroglyphisch, hieratisch, demotisch?«
Der Alte wehrte erschrocken ab.
»Gott über die Welt! So ein Kopf! … Nein, nein. Sanskrit?«
»Sanskrit? … Ein paarmal gesehen, daran gerochen – lesen, verstehen: nein.«
Efrus sank verlöschend zurück.
»Nein? Und ich habe geglaubt! Ich hab' gehofft! Nein? Nicht? … Also auch nicht!« Er wiegte das graue Haupt. »Also nicht! … Und ich hab' gehofft.«
»Sanskrit ist erstens keine Schrift, sondern eine Sprache,« belehrte René; »und zweitens ist es nicht einmal eine Sprache, sondern eine Literatur; und drittens ist es beinahe schon keine Literatur mehr, sondern eine Religion.«
Der Alte kraute den knisternden Bart.
»Was versteh' ich davon? … Ich habe geglaubt, weil der Efendi alles weiß und gelernt hat. Ich hab' gehofft. – Nein, nichts.«
Er brach verzichtend ab.
»Was hat Sanskrit aber auch in Tetuan zu suchen?« fragte René; »wenn wir in Benares wären oder in Haiderabad oder meinetwegen in Khabul – –«
»Weiß ich denn, ob es Sanskrit ist?« unterbrach Efrus fast heftig; »weiß ich? … Aber was soll es sonst sein? Türkisch ist es nicht, arabisch nicht, hebräisch auch nicht …«
»Es – was für ein: Es?«
Der Alte wurde mit einem Male wieder ruhig; sein Antlitz erstarrte fast unter der herabstreichenden Hand.
»Der Efendi hat ein Recht, so zu fragen. Man ist ein Narr, auf seine alten Tage noch. Gott, was red' ich?« Er griff mit gebogener Hand zurück in den weiten Ärmel seines Mantels und brachte ein bräunliches, mehrfach gefaltetes Blatt anscheinend groben Papieres hervor. »Hier, soll der Efendi selbst sehen. Keinem Menschen noch hab' ich's gezeigt. Bücher hab' ich mir gekauft darum. Eine ganze Bibliothek liegt mir da in Staub, in Spinnweben. Gott, was soll man machen? Man hat's eben nicht gelernt in der Jugend. Man ist eben kein gebildeter Mensch. Man kann unterscheiden jede Seide von jeder anderen, man kann fühlen mit dem Finger im Finstern, ob der Safran aus Safranboli kommt oder aus Persien: – und man kann nicht lesen so ein Blatt Papier.« Er dämpfte die wieder aufflackernde Erregung; sein schattiges Gesicht war voll Kummer und zorniger Reue. »Was hat man nu davon? … Soll der Efendi versuchen. Wenn es nicht Sanskrit ist – – was weiß ich, ob es Sanskrit ist oder nicht? … Aber etwas muß es sein; denn was geschrieben ist, das ist eine Schrift, und was geschrieben steht, das muß doch haben einen Sinn. Soll der Efendi sehen und mir sagen.«
Er legte die gefaltete Urkunde gleichsam verzichtend vor den Gast hin und versank in glimmendes Schweigen.
René warf die Zigarette weg und nahm das Blatt mit vorsichtigen Fingern auf. Zunächst betrachtete er das Papier.
Es war bräunlich wie Reis- oder Maisschilfpapier, derb und rippig, an den Falzen und Ecken von Schweiß, Schmutz und häufigem Bruch durchgescheuert. Keine Antiquität. Auf dergleichen Papier hatten die Gänsefedern Europas von den Zeiten Luthers bis herab ins neunzehnte Jahrhundert geschrieben und gesündigt. Keines jener uralten Papiere aus Heimatlanden des Islam, in denen einer der großen Gelehrten der Wiener Universität schließlich die eigentlichen Ahnherren und Vorbilder der abendländischen Industrie erkannt … René rollte bedächtig eine frische Zigarette – diese Kanalschwaden aus der Tiefe! – steckte sie an und eröffnete darauf sorgfältig das geheimnisvolle Dokument.
Es war in dichten, enggeschlossenen Reihen zu zwei Dritteln bedeckt mit quadratischen, rechteckigen, hufeisenförmigen Zeichen, mit Klammern, Kreisen, Strichen und Punkten. René stieß den Qualm mit leisem Aufzischen von sich.
»Tefinaq,« sagte er kurz.
Der alte Jude stürzte förmlich empor. »Der Efendi kennts!« Er sank wieder tief atmend zurück; aber seine Augen glitzerten im steigenden Mondschein. »Der Efendi kennts? Der Efendi kanns?«
»Tefinaq,« wiederholte René gleichmütig; »was in aller Welt bringt Sie auf Sanskrit? Tefinaq!«
»Weiß ich? Was weiß ich? Weiß ich, was das ist, Tefinaq? Gott! … Und der Efendi kennts! … Der Efendi kanns! … Ich soll wissen?«
»Nein? … Tefinaq. Schrift der Tuareq. Die alten Tugga-Inschriften aus der karthagischen Zeit sind schon mit denselben Zeichen geschrieben. Die eigentliche Berber-Schrift. Wenn der gute Onkel Massinissa und ein gewisser Jugurtha je korrespondiert, so gewiß im Tefinaq. Die Liebesbriefe der schönen Sophonisbe: Tefinaq auf rosa Papier.«
»Gott über die Welt! … Und der Efendi kann das lesen? … Was für ein Kopf, Gott, Gott! … Was für ein Szeichel, Gott, Gott! … hab ich mirs doch gleich gedacht!« Der alte Spaniole raufte sich ordentlich den Bart vor Entzücken. »Gott, wenn der Efendi das lesen kann, dann – –« Er brach ab.
»Also doch zu etwas gut,« versetzte René von ungefähr; »aber können, erst können!«
»Der Efendi sagt doch.«
»Ich sage nur: Tefinaq. Ich erkenne. Aber zwischen erkennen, kennen und können ist ein gewisser Unterschied.«
»Der Efendi kann!«
»Woher? … Aber jeder Wanderprediger der inneren Sahara wird es können, jeder Marabut. Wenden Sie sich doch an einen solchen!«
»Gott soll mich bewahren! … Wenn der Efendi es kann, werde ich fragen einen Marabut? Ich als Jude? Und wo soll ich finden einen Marabut der Tuareq, hier in Tetuan?«
René studierte nachdenklich, zwischen Wolken von Tabak, die sauber geschlossenen Zeichenreihen.
»Wie kommt eine Tefinaq-Schrift nach Tetuan, in Ihre Hände? Könnte man ebensogut fragen.«
Efrus, in wiedergewonnener Würde, hob die Hand und ließ sie fallen, ein Seufzer in Gebärde.
»Wie? … Die Wege der Dinge sind wunderbar. Der Efendi soll es erfahren. Aber zuerst soll der Efendi versuchen, ob er – –« Er brach ab und senkte den sorgenvollen alten Kopf, »wenn der Efendi es liest, wird er auch verstehen.«
René hörte kaum darauf. Immer tiefer verstarrte er sich in die reinlich fortlaufenden Zeilen der Punkte, Striche, Kreise, Klammern und Quadrate. Er nahm ein Streichholz und verfolgte mit verkohlter Spitze die Kanten des Schriftgevierts. Seine Lider blinzelten. Seine Lippen murmelten.
»Niederträchtigstes aller Alphabete,« sagte er, ohne aufzusehen; »wenn man wenigstens wüßte …« wieder führte er den Streichholzstift über die Ränder des Textes. »Nämlich …« – er legte seinen Notgriffel fort, rollte die einundfünfzigste Zigarette dieses Tages und schänkte sich ein Glas des honigbraunen Griechenweines voll, ohne dabei die Schrift aus dem betrachtenden Auge zu lassen – »nämlich: man muß wissen, daß Tefinaq geschrieben werden kann: von rechts nach links, so, nicht wahr« – er wies mit der fertigen Zigarette die Richtung – »wie Türkisch, Arabisch, Hebräisch und so weiter – von links nach rechts, wie die europäischen Schriften – von oben nach unten – von unten nach oben – oder: mit den Zeilen wechselnd: links-rechts, rechts-links – oder: oben-unten, unten-oben, hinunter-hinauf – und dann noch: daß horizontale Zeilen in beiderlei Richtung einander von oben nach unten und umgekehrt folgen können – vertikale in beiderlei Richtung von rechts nach links und von links nach rechts – und daß man schließlich sehr viele Buchstaben halb oder ganz umstellen, umdrehen, wenden kann – auch verschiedenartig schreiben, zum Beispiel das f und das d auf fünferlei Art …«
»Gott, Gott über die Welt! … Und da soll man wissen? … Gott, der Efendi mit seinem Kopf! …«
»Und das ist noch lange nicht alles,« erklärte René; »die Sprache, in welcher Sprache? Es kann Haussa sein, die Handelssprache der ganzen Südsahara und Mittelafrikas. Es kann Arabisch sein. Es kann aber auch Temahak sein, die eigentliche Sprache der Tuareq oder Imoschagh, und dann erst: welcher Dialekt? Reines Temahak wie bei den Ahaggar? Mit Arabisch vermischt wie bei den Asdscher? Oder mit Haussa versetzt wie bei den Kelowi von Asben?«
»Gott über die Welt! … Wozu so viel Schwierigkeiten?« Der Alte rang mit den Händen nach Luft. »Wozu so viel Geheimnis? … Soll der Efendi versuchen; nur versuchen; der Efendi mit seinem glücklichen Kopf!«
René lachte kurz auf.
»Leicht gesagt! … Wozu soviel Geheimnis? Wenn es sich vielleicht um ein Geheimnis handelt?«
»Wozu soviel Rätsel in der Schrift? Rechts-links, links-rechts, hinunter-hinauf, wie soll da ein Mensch wissen?«
»Der Mensch soll wahrscheinlich nicht wissen; denken Sie an Ihre eigene Kabbala,« erinnerte René; »die Tuareq sind eben Meister in geheimer Wissenschaft. Nie davon gehört? Ausgezeichnete Astronomen, gläubige Astrologen, leidenschaftliche Alchymisten …«
»Aber wo sind die Tuareq und wo ist der Rif?« unterbrach Efrus; »das kann nichts zu tun haben mit den Tuareq.«
»Die Tuareq sind Berber, Berber wohnen auch in Marokko, und das hier ist Tefinaq, Berberschrift,« entgegnete René; »wenn man erst ahnt, um was es sich handelt? … Soll das ein Goldrezept sein, ein Testament, ein Wegweiser, ein Kalender, oder –?«
Der alte Spaniole griff sich mit mageren unruhigen Fingern an den haarigen Hals; immer wieder strich er sein Antlitz glatt.
»Gott, an was der Efendi alles denkt! … So einen Kopf wenn man hätt'! … Was heißt Goldrezept?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt: die Tuareq sind begeisterte und unverbesserliche Alchymisten, Goldmacher.«
»Was heißt Gold-Macher? … Wer kann sein ein Gold-Macher? …« Efrem Efrus wehrte den Aberglauben mit verächtlicher Gebärde ab. »Kann der kluge Efendi so etwas denken von mir? Daß ich mit solchem Stuß mich abgeb'?« Die Stimme klang seltsam belegt, gewaltsam beherrscht. »Nein, Gott – es muß sich da handeln – so wie ich weiß, um etwas hier im Lande, im Rif muß es sich handeln … Wie kommt der Efendi auf Gold und Gold-Machen?«
»Das will ich Ihnen später sagen. Hm.« René hatte wieder ein Streichholz aufgenommen und ging einzelne Zeilen des Schriftgevierts nach verschiedenen Richtungen durch. »Also Sie meinen, um Land und Orte müsse es sich handeln …« Er versank von neuem in Grübeln und leises Buchstabieren, trank zwischendurch einen Schluck, stieß Tabaksgewölk in ganzen Cumuli von sich und arbeitete hingegeben, flüsternd, kopfschüttelnd, erregt blinzelnd weiter. Weißes Mondlicht vermählte sich dem nahen gelben Laternenschein. Hunde heulten. Schakale kläfften, von den glanzüberschauerten Bergen her kam das gräßliche Gelächter der Hyänen. Manchmal war es, als rauschte das Meer, fern und kühl wie im tiefinwendigen, purpurnen Widerhall der Muschel.
Der Alte wartete. In seinen großen Augen spiegelte sich dämmernd die helle Sommernacht. Der Christ da, würde er ihn erlösen von seinem Fluch? Würde er das Siegel lösen von dieser Rolle? Und wenn, was sollte geschehen? Dann war das Geheimnis geteilt. Dann war es auch kein Geheimnis mehr. Dann gehörte nicht mehr ihm allein, worum er fünfundzwanzig Jahre lang gewacht und gesonnen, gesponnen und gespart, entbehrt und ertragen. Wäre es doch nie in seine Hand gekommen, dies glimmende Papier, dieser glühende Schlüssel! Dann hätte er ein Haus in Smyrna oder Saloniki, in Konstantinopel oder in Triest, lebte glücklich darin und zufrieden, mehrte still seinen Gewinn und das Öl in seinen Krügen und erfreute sich behaglich der feineren Genüsse Europas. Dann hätte er eben mit Korinthen gehandelt oder mit Safran, mit Teppichen oder mit Seide, mit Südwein oder mit Geld, und zur Ruhe setzte er sich nach getanem Lebenswerk an die Wiener Börse. Aber dieses Papier, dieser Fetzen Papier, das war wie ein Gespenst im Hause, ein unheimlicher Gast, ein allgegenwärtiger Schatten. Nicht froh mehr werden konnte er seines Vorteils, groß und klein. Wie sollte er auch? Bei jedem Geschäfte sah der Geist dieses Papieres ihm über die Schulter. Man mußte daran denken, an der Wage, am Schmelztiegel, über den Rechnungsbüchern, bei jedem Handel, bei jeder Ziffer, bei jeder Nachricht aus Europa, Paris, London oder Berlin, bei jedem Gerücht aus dem Inneren des Landes, bei der Politik, bei jeder Münze, über den Kursen. Und war dann nach Tages Tun und Tausch endlich der Feierabend, war nach heißer Werkwoche mit erstem Stern der reinigende Schabbes gekommen, dann fand man erst recht nicht Frieden vor dem furchtbaren Dämon. Er war wie ein alldurchdringender Magnet; wie ein von Irrlichtern umspielter Schatz; wie ein allgegenwärtiges Spinnennetz, aus dessen klebrigem Gewebe keine Rettung. Und irgendwo im Winkel dieses Gespinstes saß verknäult ein stummes, grauenvoll rätselgestaltetes Wesen, der Gast, und seine stieren bunten Augen sahen einem überallhin nach … Er schlug die Thora auf, irgendwo inmitten Gesetz und Propheten: da lag im heiligen Buche das Papier, und Aleph und Gimel, Zajin und Sad des Poßek verwandelten sich in Quadrate und Klammern, Striche und Punkte. Er las: Jehi Aur, waijhi Aur – es werde Licht, und es ward Licht: und plötzlich ward es dunkel vor seinem Blicke, eine Falltüre in seinem Inneren ward aufgestoßen, und aus der Tiefe heraus stieg wie Samuel vor Saul das Gespenst, die Angst, dämmernder Leuchtnebel der Zukunft. Er wollte wie ein anderer friedlich und gerecht im siebenflammigen Kerzenschein bei den Seinen sitzen und mit ihnen an des Herrn reinen Gaben sich erfreuen; und plötzlich ward er angerufen von einer inneren Stimme, er besann sich, er war ja in Tetuan und weit da draußen die hellere, freiere Welt, all sein Besitz war ihm mit einemmal verleidet, und tief durch die heilige Sabbathnacht, wenn drüben in den Hügeln die Hyänen lachten, brütete er in karger kloakenfeuchter Stube über der Kabbala dieser allmächtigen Schrift.
Wie oft, wie oft hatte er sie zerreißen wollen, sie verbrennen, sich weiden an den Krümmungen ihrer Qual und ihrem Untergang: was er nicht besaß, ein anderer sollte es auch nicht besitzen! … Dann war der Bann gelöst, dann war das Gespinst zersprengt, dann waren die Wege frei nach Nord und Ost, nach Europa, nach der Heimat, zur Ruhe! … Aber jedesmal legte sich eine schwere Hand auf sein zorniges Herz, und die Stimme sprach: fünfzehn Jahre – zwanzig Jahre – vierundzwanzig Jahre – soll das alles vergebens gewesen sein, Opfer und Geduld, Arbeit und Hoffnung? … Und er schloß das Papier wieder ein und legte die Gebetsriemen an und wartete und sorgte und sann ein anderes Jahr.
Und nun? … Sollte nun nicht mehr sein Eigen und Geheimnis sein, darum er fast ein Menschenalter lang gedient? … Aber wenn dieser Goj da es wirklich löste – Gott ja, es waren fünfzig Perzent an einer guten Sache immer noch mehr als hundert an einer schlechten – fünfzig Perzent an Etwas mehr als hundert an Nichts – die Hälfte aus vollem Topf mehr als das Ganze in einem zugelöteten – und, Gott nu ja, Schweigen will auch gewonnen sein, gekauft wie jede Ware, und es ist vielleicht die teuerste aller Waren auf dem Weltmarkt … Und verläßlich schweigen? … Tut nur der Beteiligte, mitschuldig oder mitnutzend … Aktiengesellschaft … Und mußten es denn gleich fünfzig vom hundert sein? … Gott, zum Einschlag gehört dann mehr als bloße Gelehrtheit! … Mußte einer geben den Namen, mußte einer geben den Verstand, mußte einer geben auch Kapital! … Und: efscher – Gott, vielleicht, wer weiß, blieb es in der Familie … Warum nicht? … Einmal geschieht es doch, daß der Goj das Geld des Juden nimmt und der Jude Ansehn und Namen des Goj; daß Geld und Name sich heiraten, weil sie doch zueinander gehören! … Geschieht es nicht täglich in den großen Städten? … Hatte nicht eine seines eigenen Namens aus Triest einen Grafen geheiratet? … Name sucht Kapital, Kapital sucht Titel und Wege! … Und dieser hier mit seinen Kenntnissen, kein ganz gewöhnlicher, ein feiner Mann, ein schöner Mann, mit einem Auftreten wie ein Fürst – einer, mit dem man selbst auftreten und hinter den man sich stellen konnte! … Seine Biancha, das Kind, Gott! … So einen hatte sie noch nie gesehen, so einen würde sie nie wieder sehn in Tetuan! … War doch ein Schiddach für beide Teile … Und was den Nedan anging, die Mitgift – – –
»Ja also, wenn es sich um Ortsnamen handelt – oder Ihrer Meinung nach handeln muß –« … Die Stimme des anderen weckte ihn aus schweifenden Träumen wie zu plötzlichem Schuldbewußtsein … »Wenn man erst einmal einen derartigen Anhaltspunkt hat … Sehen Sie hier, zum Beispiel …« Efrus rückte gespannt näher, René führte den Streichholzstift unter der zweiten Zeichenreihe von rechts nach links. »Einfacher Punkt über der Zeile ist A; drei Punkte untereinander kenne ich als das arabische »gayn«; das Doppelkreuz hier lese ich als z, das aber auch anders geschrieben werden kann; und das leere Quadrat steht für reines R. Das ergibt zusammen AGHZR. E wird aber im Tefinaq ebensowenig ausgeschrieben wie im Arabischen oder überhaupt in einer semitischen Schrift. Man muß es interpolieren. Nun, bitte: diese Folge von Zeichen – AGHZR – wiederholt sich mehrmals im Text, und zwar immer in der gleichen Richtung. hier – hier – hier abermals – hier wiederum. Die eigentlichen Verheimlichungskünste des Tefinaq sind da also nicht einmal angewandt worden. Nun sagen Sie: Ortsnamen. Also auch Ortsbegriffe. AGHZR heißt im Temahak nichts; aber Aghezer heißt sehr wohl etwas, nämlich dasselbe wie Wadi, Uadi, Uad, das ist Tal, Trockental, Flußbett. Unstreitig ein Ortsbegriff. Ruhig, ruhig, nur abwarten. Nun noch einen Namen zum Ortsbegriff. Hier zum Beispiel, wieder der Punkt über der Zeile: A. Dann dies Zeichen wie ein nach links gewendetes lateinisches E, entstanden aus der Verdoppelung des klammerförmigen D, also D, DD oder auch T. Dann ein richtiger Doppelpunkt: bedeutet O und U oder etwas zwischen O und U. Und wieder das leere Quadrat, das R von vorhin. So. Das wäre zusammen: Aghezer Ator, Addor, Atour … Natürlich, ob es das gibt – –«
»Uad Adur!« … Der Alte sprang mit rauhem Schrei auf, die Hände um die Schläfen; sein Blick, sein Bart selbst sprühte. »Uad Adur! … Der Efendi hat's! … Der Efendi hat's getroffen! … Gott, Gott über die Welt! … Der Uad Adur, der von den Bergen der Rmari nach Süden und dann nach Al Ksar im Abend fließt! … Gott! … Der Efendi hat's wirklich! … Der Efendi kann es lesen! … Der Uad Adur, Gott!« … Er griff mit mageren Fingern nach dem Papier, »wo steht das geschrieben, wo? … Soll der Efendi es mir zeigen!«
Er kauerte sich wieder auf das Kissen; seine Hand zitterte; seine großen Augen glänzten fiebrisch, Widerschein inneren Brandes rötete selbst seine vergilbten Wangen. Fern über der Stadt, im Tal der Friedhöfe lachten grausig die Hyänen.
René wies ihm die entzifferte Stelle. »Hier, sehen Sie? … A-gh-e-z-e-r A-d-o oder u-r … Und hier wieder ein Aghezer – und hier wieder – lauter Aghezer, lauter Wadis, lauter Täler. Der reine Führer. Weiß Gott, wohin?«
Efrem Efrus riß ihm fast das Blatt weg.
»Gott über die Welt! … Wahr und wahrhaftig! … Der Efendi hat's! … Gott – kann der Efendi mich das nicht lehren?«
René lächelte verächtlich.
»Tefinaq, das Alphabet? … Ja, zur Not. Aber verstehen Sie Temahak, die Sprache dazu? Nein.«
Der Alte ließ den Kopf sinken und gab die Urkunde verzichtend zurück.
»Wie soll ich verstehen, wo ich es nicht kenne? … Ich, ein armer Mann.«
»Ja. Nun also.« René steckte die frische Zigarette an, nahm einen Schluck vom flammigen Wein und begann aufs neue seine Unterweisung. »Aber dieser Aghezer ist noch nicht alles, jetzt, da ich weiß, daß es sich um etwas wie Geographie handelt … Einfach die naheliegendsten Temahak-Worte vorgesucht. Adschelmam, See – paßt nirgends. Abankor, Regenteich – paßt nirgends. Tit oder Temassint, Quelle – noch nicht gefunden. Anu und Tanut, Brunnen noch nicht begegnet. Aber Adrharh, Adrhargh, dasselbe wie der türkische Dagh, Berg – sehen Sie, hier – und hier – und hier – und hier, unzähligemal! Immer wieder dieselbe Zeichenfolge: der A-Punkt, die D-Klammer, die drei Punkte des rgh oder gayn, zweiter A-punkt, zweites gayn. Lauter Berge. Berge, die wahrscheinlich zu den Aghezers, den Wadis, den Tälern gehören. Und nun Namen dazu! Hier zur Probe. Im Tefinaq werden die einzelnen Worte so gut wie gar nicht voneinander getrennt; man muß die Trennungen erraten – oder verstehen. Buchstabieren wir von diesem Adrhargh weiter nach links. Vier Punkte übereinander, das ist H. Dann kommt unser A-Punkt: H A. Nun eine nach links geöffnete Hakenklammer: H A M–«
Er kam nicht weiter.
Efrem Efrus taumelte von seinem Sitze auf wie erstickend, fiel aber sogleich wieder zurück.
»Djebel Hamam! … Der Djebel Hamam! … Also doch der Djebel Hamam! … Gott über die Welt! … Also doch der Djebel Hamam! … Also doch! … Also doch!«
René staunte.
»Djebel Hamam, Berg der Tauben, Taubenberg? … Also doch, sagen Sie? … Irgendeine wichtige Bewandtnis?«
Aber der Alte starrte und murmelte ganz verstört vor sich hin.
»Der Djebel Hamam! … Also doch, also doch! … Also doch der Djebel Hamam! … Gott über die Welt! … Also wirklich der Djebel Hamam! …«
René trank einen Schluck vom sonnensüßen Wein.
»Kann uns das weiter helfen?« fragte er nach einer Weile.
Der andere sah aus fast erloschenen Augen zu ihm auf.
»Was heißt weiter helfen? Der Djebel Hamam selber, das ist es! Was heißt: weiter helfen? Zum Djebel Hamam muß einer weiter helfen.«
Die Stimme war ganz alt und tot, wie ausgeronnen mit Tränen.
René schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht?«
»Hat denn der Efendi nie vom Djebel Hamam gehört?« Die Frage klang trostlos müd und mild, »hat der Efendi wirklich nie vernommen vom – Gott! berühmten Djebel Hamam?«
»Nein, woher, wann, wo, wieso? … Das heißt –« René sah scharf auf aus der Urkunde und dem Alten mitten in den Blick … »Das heißt – ich hatte es Ihnen schon angedeutet – ein Wort scheint hier zu stehen, hier, da, voilà, diese paar Zeichen – mir ganz zufällig entgegengesprungen aus dem Text – wenn das der Schlüssel ist? … Wenn es sich darum handelt?«
»Was für ein Wort?« In den Spiegeln der dunklen traurigen Augen flackerte es wieder auf. »Was für ein Wort?«
René lächelte mitleidig.
»Nun, das Wort der Worte. Nicht JHWH, nicht Jehovah, Jahve oder Eloah, nicht Addonai oder Zebaoth, nicht das alte ICHTHYSder Märthyrer oder irgend ein Name des Tausendnamigen Namenlosen … Sondern das eigentliche Kernwort aller Magie, das Herzwort aller Religionen, das Gotteswort von Rosenkreuzern und Illuminaten, der stärkste Höllenzwang, der Talisman … Der Name des Arztes, der alle Kranken heilt, des Schwertes, das die härtesten Köpfe spaltet, des Dichters, der die schönsten Märchen ersinnt … Hier, wollen wir einmal buchstabieren –«
Aber Efrem Efrus unterbrach ihn mit plötzlicher Gebärde, legte ihm horchend die Hand auf den Arm.
»Still! … Da! … war das nicht –?« … Er sah zu den mondgeblendeten Sternen auf. »Mitternacht.«
René lauschte. Drüben in den beglänzten Hügeln der Gräberfelder lachten schaurig die Hyänen. Und jetzt pochte es drunten in der Tiefe des Gassenlabyrinths; ganz leise; dreimal.
Efrem Efrus stand auf.
»Es ist Zeit. Sie sind da.«
Er nahm die Laterne.
»Der Efendi mag die Kapuze so weit als möglich übers Gesicht ziehen und über Mund und Nase schließen. Hat der Efendi seinen Revolver und den Sikkin, den Dolch? … Gehen wir.«
* * *
Sie stiegen durchs Haus hinab. Efrem Efrus trat vom Hofe aus in eine kleine, durch eisenbeschlagne Türe verwahrte Kammer. Die Wände, braundurchjaucht, glitzerten von salpetrigem Schweiß wie die einer Saline. Das Gelaß war fast kahl. In einer Ecke schimmelte ein Hauf verfaulter Bücher. Auf Borden lag rostiges Feinhandwerkszeug, Tischambos, Feilen, Greifzangen, Hämmerchen; trübe ausgestorbene Flaschen standen daneben.
Efrus schloß eine zweite schwere, niedrige, rostgenarbte Schmiedetüre auf: mit drei Schlüsseln, einem unter dem anderen.
»Der Efendi mag warten.«
Er öffnete noch einmal und warf ein langes Stück Wollenzeug heraus.
»Das soll sich der Efendi um den Kopf schlingen. So: über Stirn und Kapuze, die Enden im Nacken gekreuzt, das längere Ende breit über Mund und Nase, bis zu den Augen herauf, und dann hinten geschürzt. Ich lasse die Laterne dem Efendi hier. Ich komme gleich.«
Die Türe fiel in die Schlösser, René vernahm ein vorsichtiges Zuriegeln, dann war er allein zwischen diesen aussätzigen Wänden. Er vervollständigte seine Verlarvung. Klar: man sollte ihm den Europäer nicht ansehen. Braun genug hatte der Orient ihn gebrannt, und seine Augen waren südlich dunkel. Er prüfte noch einmal die Ladung seiner Waffe: Kaliber zweiunddreißig, das würde auch so einen Herrn Berber oder Kabylen stoppen, wie die Briten es so hübsch kurz und zynisch nannten. Tefinaq, Temahak, der rätselhafte Djebel Hamam, der Taubenberg – etwas viel für eine Nacht. Immerhin. Besser als schwüler Frauendienst.
Efrus kehrte bald zurück. Er atmete wie einer, der eilig eine Treppe herauf gestiegen; ein verborgener Gegenstand bauchte seinen Mantel.
»Gut sieht der Efendi aus. Ich würde glauben, er ist ein Araber. Ja, so hat das ganze Haus gestunken und geschimmelt, damals, wie ich es gekauft habe, vor fünfundzwanzig Jahren. So wohnen unsere Leute im Mellach, wir sind fertig.«
Er verschloß sorgfältig Tür auf Tür, führte über den gespenstisch schattenschwankenden Abfallhof und durch das verfallene Vorderhaus ans Tor. Hier verlöschte er die Laterne. Wieder pochte es an, leise, doch hartnäckig. Draußen im Mondhalbdunkel stand eine ungewisse Gestalt. Ein alter Bart dämmerte über schwarzem Mantel.
»Sie warten auf dich.«
»Wo?«
»Auf dem Debaguin.«
»Wieviele?«
»Drei.«
»Es ist gut.«
Sie gingen wieder den Weg, den sie damals gegangen. René, an den Orient gewöhnt und abgehärtet, hielt sich unter dem Umschlag noch die Nase zu. Seine Pantoffel traten auf Frühgeburten, verreckte Ratten und flügellahme Fledermäuse, wateten in Schleim, Eiter und verfaultem Blut. Bleiche Kaldaunen, von Gasen gebläht, krochen im Zwielicht umher; riesige Spinnen flüchteten langbeinig vom Aase auf, verknäulten sich im tiefen Schatten der Mauern und lauerten den Feinden aus stieren bunten Augen nach. Überall wieder jenes unhörbar raunende, gärende Leben und Spähen; Stimmen flüsterten von den Dächern; Lemuren regten sich auf den Schwellen. – Endlich erreichten sie das hohe strenge Sondertor.
Der Weißbart schob lautlos die schweren Riegelbalken zurück. Scharfes kaltes Mondlicht fiel schräg herein.
»In einer Stunde.«
Sie traten auf hellen leerhallenden Marktplatz hinaus. René sah sich noch einmal nach dem Alten um. Dort stand er, den Silberbart über dürrer, schattiger Kehle, das magere Antlitz, die hoffnungslosen triefenden Augen dem einsamen Monde hinaufgewandt: der Pförtner einer anderen Welt.
»Wenn der Efendi auf spanisch angesprochen wird, so stelle er sich taub und dumm,« belehrte Efrus; »die Spanier sind im Rif mehr verhaßt als die Heuschrecken.«
René blickte nach den Sternen; nach Norden führte die mitternächtige Wanderung, desselben Weges vielleicht, den sie damals gekommen, gegen die Kasba und das Tal der Gräber hinauf. Dort irgendwo lag ja auch der Platz der Gerber und Färber mit seinen Lohgruben, den der neue Freund ihm als Debaguin bezeichnet. Wie wenig war seither geschehen – und wie viel! Was wußte er an jenem Abende noch vom Djebel Hamam und von einem Wadi Adur, was von den Geheimnissen dieses Landes und von seinen eigenen geheimen Plänen! … Eine reiche Jüdin gedachte er zu heiraten und irgendwo mit ihrem Gelde einen Pol der Ruhe zu finden. Nun war im Gaukelspiel der Erfüllung alles ganz anders gekommen. Biancha Efrus aus Tetuan in Marokko – lieber Gott, und eine Hella Friedländer aus Berlin oder eine Anselma Auspitzer aus Wien? So groß war der Unterschied nicht, und die Rasse wurde durch das Schmadden schwerlich besser. Orientalisches Vollblut immerhin, oder spaniolisches, sephardisches Halbblut, jüdisches Edelblut. Und eine fragliche abgelegte Fürstin, deren Schleppen schon den Kehricht aller verrufenen Weltplätze gefegt? Oder irgendsoein normaleuropäisches Heiratskalb? … Aber nun schieden sich noch vor dem Ziel die Pfade. Gänglich und breit zu nahem Genusse führte der eine, rauh und steil, in Höhendunst verdämmernd der andre zu ferner eigner Tat. Unabhängigkeit, köstlicher als aller Frauen Minne! … Aber freilich, das alles war noch Umriß, kaum geahnte Gestalt im Nebel, eine Spiegelung vielleicht nur, Mirage. –
Sie kamen ins unheimliche Dunkel der klafterengen, vielfach überwölbten Krämergassen. Hunde flüchteten da und dort knurrend auf aus der Finsternis, verschwanden hyänenhaft, böse Nachtgedanken. Aus den Schlünden verwinkelter Sackgäßchen drohte Winseln und Knacken, Schmatzen und Schnappen, Nagen und fletschiges Gegrunz. Aber doch hauchten die Gänge dieses Labyrinths von Bogen, Stollen und Lauben solche Pestilenz nicht aus wie die Höhlen des Ghetto, der Sumpf des unreinen Bodens. Die Parias, dort nicht geduldet, versahen hier den niedrigsten Dienst, den der Abdecker und Totengräber.
Ruch der Gerberlohe wehte mit Bergwind entgegen. Sie traten auf den grellen freien Platz hinaus. Links über ihnen auf dunklem, teilweise mit weißen Hütten benistetem Hügel leuchtete mondbleich die Zitadelle, vor ihnen, zur Kasba hinansteigend, die krenelierte Stadtmauer mit ihren Zinnen und Scharten und dem Schattenbogen des Bab Mkabar.
Efrus blieb stehen: drei Kapuzengestalten lösten sich aus dämmerndem Hintergrund eines nächtigen Torgewölbes.
»Chamasia?« fragte eine Stimme.
»Mausiehr!« antwortete der Jude.
Die drei Kapuzenmäntel, zwei helle, ein dunkler, kamen langsam heran. Dolchscharfe Augen blitzten im schmalen Ausschnitt der geheimnisvollen Masken; im Mondstrahl funkelte schwarzer Laufstahl.
»Wer ist der andere?«
»Ein Freund.«
»Was für ein Freund?«
»Ein Vertrauter.«
»Was für ein Vertrauter?«
»Ein Bu Chamasia, ein Vater der Fünfschüssigen.«
»Wozu hast du ihn mitgebracht?«
»Euretwegen.«
»Dasselbe, was ich von euch will, wenn ihr dasselbe wollt wie von mir.«
»Warum ist er mit dir gekommen?«
»Damit er sieht, was gegeben wird und was genommen.«
»Woher ist er?«
»Aus einem Lande, wo man nachts nicht so viel fragt.«
René fühlte die tastenden Spitzen messerkalter Blicke. Die drei Masken zogen sich zu flüsternder Beratung zurück.
»Was soll das heißen?« fragte René auf Türkisch; »ich ein Händler oder Schmuggler?«
Efrus schüttelte bejahend den Kopf. »Der Efendi versteht; der Efendi lasse es bewenden.«
Die Kapuzenmäntel traten wieder heran.
»Hat dieser Bu Chamasia Mausiehr zu verkaufen?«
»Mausiehr, Etnaschia, Zwölfschüssige, was ihr wollt.«
»Auch Patronen?«
»Soviel ihr braucht.«
»Auch Pulver, Geschosse, Zündkapseln?«
»Alles.«
»Wir können das nicht glauben, wann hat noch ein Jahudi sein Geschäft einem anderen überlassen?«
»Ich muß es tun.«
»Warum?«
»Sie sind mir auf der Spur. Es ist vielleicht die letzte Lieferung. Ich muß Tetuan vielleicht verlassen.«
»Ist dieser hier ein Titauni?«
»Er wird es vielleicht werden, wenn er sieht, daß es lohnt.«
»Ein Jahudi?«
»Was fragt ihr? Sind die Mausiehr Jahudis?«
Die drei Kapuzenmänner gingen noch einmal zur Seite. Ihre Blicke blitzten manchmal argwöhnisch herüber; ihre Büchsen schimmerten nackt im Mondschein.
René hatte jedes Wort verstanden. Der Sprecher redete ein seltsam gedrängtes, bündiges, doch leidlich reines Arabisch, nicht unähnlich jenem der algerischen Kabylie. Efrus selbst schien im Verkehr mit solchen Leuten ein anderer zu sein. Seine Antworten waren klar, hart, streng.
Die Masken kamen zurück.
»Dieser ist uns im Wege.«
»Und eure Torheit ist mir im Wege. Ich kann Mausiehr auch nach Fes oder Melilia verkaufen. Dann bin ich frei von jedem Verdacht und bleibe.«
Die anderen überlegten.
»So sei es, insch' Allah. Gehen wir.«
Die beiden Hellen führten ins Gassengewinkel der Hügelstadt gegen die mondhell leuchtende Zitadelle hinauf. Der im dunklen Mantel aber ging wachsam hinterdrein, und in seinen Händen spiegelte schwarz das Gewehr.
Die Aashunde knurrten, Schakale heulten, vom Gräbertale her lachten wild die Hyänen. Einmal war's, als riefe eine klagende Mondstimme aus den silberschauernden Bergen.
Das mußte das verrufene Viertel sein. René erkannte verdächtige kleine Hütten und durch all das nachtlagernde Gedünst witterte er den widrigen Mischgeruch von Khol, Hennah und ranzigem Moschus.
Die Führer blieben horchend stehen, wölfisch Gerudel stob aus aus der blauen Helle, Schattenleben rührte sich in schützendem Mauerdunkel, Knochen knirschten unter Zahnraspel, alte Sohlen, verworfene Scherben, daran vielleicht noch ein Duft von eingesogenem Hammeltalg. Die Parias, Herrenlose, Ausgestoßne, wie das arme Weibsgetier dieser Bisamhöhlen.
Seltsam, dachte René, daß doch die Dirnenquartiere fast aller Städte irgendwie auf Hügeln nisten: Tempel, Kapitale und Lupanare … Und dann erinnerte er sich der üppigen Liebesoase Biskra, dieser Tempelstadt der Venus Africana, dieses Dattelpalmenhains der Lüste, dieses lieblichen Wüstengartens giftscharfer Reize, tödlicher Tänze, brennendsüßer Freuden, mohnroter Mysterien, deren Priesterinnen die braunen leichten Töchter der Ulad Nail, welche seit Geschlechtern irdische Houris züchten wie andere Stämme ihre Hochblutpferde, die Bischarihn ihre Hedjahn, die Tuareq ihre weißen Meheri … Da saß man in irgendeinem der zahllosen Kaffeehäuser, auf ein- und selber Matte zusammen mit dem Ibn Merasiq, der eine Karawane glücklich über den Salzsumpf des Schott el Dscherid gebracht, mit dem Ibn Mzab, mit dem Kabylen, mit dem verschleierten Tuareq, mit dem eingeborenen Biskri, der sich in Algier oder Constantine glücklich ein paar Napoleons zusammengefront und nun seine Handvoll Verdienst im Paradies der Heimat verschwelgen möchte: – und herein von mädchenschwärmender Straße lacht plötzlich ein Flug kohelgeschminkter Nailijahs, bronzene Bacchantinnen, Geishas der Wüste … Wie Tauben zur Tränke lassen sie sich flüchtig nieder zu den dampfenden Schalen, darin der narkotische Herzsud so schwarz und heiß und gesüßt wie der Girrblick ihrer lasterhaft untermalten Augen … Und dann der betäubende Paukenschlag der Derbuka, und das holztrockene Knacken gerupfter Saitennerven: und mit einem Sprunge flattert das auf zum Tanz, diesem Tanz der Zuckungen, der Schauder, der rhythmischen Krämpfe, der Muskelakkorde, der Allabrevetakte eines inwendigen Presto, der Raserei lechzender elfjähriger Körper, schluchzenden Entgegenbäumens, zitternder Auflösung, wollüstiger Erstarrung … Aber hier war nicht das blühende Biskra, hier war Tetuan und gefährliche Gegenwart, nicht die Derbuka dröhnte, sondern derber Faustschlag des Führers gegen ampelrot durchglommenes Morschgitter, und die Fata Morgana versank.
Ein Frauenzimmer trat auf die Schwelle der Hüttenhöhle. Der vermeintliche Freudengast griff zu und warf die herrenlose ohne Umstände in den Mondschein heraus.
»Hier sind zwei Billein; wir brauchen dein Quartier.«
Die Dirne schien solcher Mietsgeschäfte gewohnt. »Drei!« forderte sie frech.
Allein der Kapuzenmantel drohte mit Fußtritt und Kolbenstoß. »Zwei sind zuviel für eine, die keine Perita wert ist. Die Jahudis bettle an; die haben Duros, wo wir noch keine Musuna.«
Er ließ das Weib stehen und ging voran; die anderen folgten.
Ekle Schwüle von Schminke, Talg, Ruß und Lauch schlug ihnen entgegen; eine verfaulte Matte; eine Blechlaterne, mit einem schmierigroten Zigeunerfetzen Kattun traurig überdämpft, hier also wurde Liebe verkauft, die Portion zu fünfundzwanzig Centimes.
René fühlte es bis in Haarwurzeln und Fingerspitzen. Sein ganzes Bewußtsein war mit einemmal Bittersalz, lau aufsteigender Brechreiz. Nicht der widerwärtige süßranzige Geruch, nicht das bißchen Elend und Verwesung: aber die Welt, die mit der Flamme der Talgkerze hinter diesem täuschenden roten Lumpen schwelte! … Lust wurde hier feilgehalten, Tod wurde hier verschachert – Bordell und Arsenal, die Fortschrittswerkstatt der Menschheit.
Sein Herz hatte Luftnot; das geschah noch manchmal, wenn er unversehens zu tief getaucht, was gingen die Geschäfte des alten Juden ihn schließlich an? Er trat zurück, hinaus in den reinen Mondschein, gefolgt von den argwöhnischen Blicken der Masken.
Alles um Geld! Um Geld züchten und verkaufen die Ulad Nail ihre Töchter, bauen die Völker ihre Kanonen, Essen und Eisenbahnen. Hätte man seiner einmal so viel, daß man es gar nicht mehr sähe, nicht daran denken müßte! Das geheimnisvolle Wort der Tefinaq-Schrift stieg wieder vor ihm auf, von Irrlichtern umspielt wie mitternächtiger Schatz an verrufenem Kreuzweg, wie eine phosphoreszierende Leiche, wie ein schimmernder Berg aus Truggärten der Fata Morgana. Ist doch nichts anderes, darum die Fauste sich mühen und aus der Asche ihrer Herde Flammen blasen; nichts anderes, was die Gretchen verführt und mit Spiegelungen blendet und zu Ruhm gekommen, zu Fluch geworden ist um ihretwillen; nichts anderes, darum Pakte mit heißem Blut unterzeichnet, Urkunden gefälscht und entsumpfende Kanäle gegraben werden … Insch' Allah, all das mit Willen Gottes, des Allerbarmers; es hatte also keinen Zweck, darüber nachzugrübeln. Aber wenn jene Mütter der Dinge im Djebel Hamam wohnten und ein mephistophelischer Zufall bot die Schlüssel zu ihrem Verließ – – drüben in dornendurchstrauchten Klippen des Gräbertales lachten die Hyänen. –
Es währte lange. René bemerkte, wie einer der drei Kapuzenmänner ihm nach auf die Schwelle trat und da zur Wacht sich kauerte. Mochte er; mochte er schießen oder dolchen, es war ja ganz gleichgültig. Wer die Liebe aus dem Leben verloren, hat keine Angst mehr vor den Menschen und ihren kleinen, neidisch wachsamen Sorgen.
Es war wieder einer jener Unfälle alkalisch bitterer Gesundheit, die ihn mit astronomischer Regelmäßigkeit fast heimsuchten und deren Grundgefühl ihn nie ganz verließ: eine inwendige Malaria, gegen die es kein Chinin gab und kein Klima, keine Landschaft und keinen bleibenden Menschen, nur die zynische Homöopathie eines Opiats bisweilen und dann dämmerndes Vergessen.
Hinter dem Rohrgitter des kleinen rohen Spitzbogenfensters bewegten sich die Schemen der drei Schattenmenschen, Spieler einer Schattenpantomime auf rotem Hintergrund der Lusthöhle, ein Gleichnis aus platonischem Ideenreich. Deutlich zeichnete sich, neigte und sträubte sich der Shylockbart gegen die stummen Kapuzen: Geld gegen Waffen, gemünzter Verstand gegen eiserne Gewalt. Der Besuch hatte die Neugier der Nachbarschaft erregt; überall raunte es und spähte aus den morschen, dumpf durchglühten Rohrgittern der regellos in Trümmern und Unkraut verstreuten, dann wieder zu geschlossener finsterer Zeile gedrängten Hütten dieses Venusberges. René ging langsam wartend durch das Quartier hinan, heiß angeflüstert, am Mantel gegriffen, angehaucht von Moschusatem, Hennah und Beizdunst von Ammoniak und Schwefelantimon.
Die Ausgewiesene hockte auf einer der nächsten Schwellen; der runde Mondschein fiel gerade auf ihr kalkweißes narbiges Gesicht, in den bettelnden entzundenen Blick ihrer Augen. Sie zerrte am Haik des Wanderers.
»Komm mit mir! Wir gehen hier hinein. Für einen halben Billun macht Meryam uns Platz.«
Sie sprach ein seltsam verderbtes, nasales Arabisch. Ihr Flüstern war krank und heiser, staubig wie von süßlichem Puder und Meltau einer heimlichen Seuche.
René blieb stehen und tastete durch den Mantel nach seiner Börse. Sie zog sich an ihm hinauf; ihre Nüstern schnoberten, wie die Nase einer argwöhnischen fremden Hündin.
» Monsieur il n'est pas Arabe,« sagte sie plötzlich dann leise in lockendem Einverständnis; »der Herr ist kein Araber, kein Maure – Europäer?«
»Warum? Wer sagt Ihnen das?«
Sie lachte häßlich mit schmalen, larvenhaften Lippen.
»Man riecht es! … Ich rieche es. Die da« – sie zeigte mit dem Daumen nach den wispernden und winkenden Rohrgittern der Nachbarhütten – »die da können es natürlich nicht. Aber ich.«
»Sie sind Französin?«
»Von Nimes. Ich kam – zuerst als Gouvernante nach Marseille, dann nach Algier, dann nach Constantine, dann nach Tetuan …«
Das alte Lied; welche törichten Träume einst in dieser Seele, als sie noch lebte und im warmen Bett der Knospe schlief! … Träume von Glanz und Macht, von Perlenketten, Kronen und leuchtenden Seidenbrokaten, von Paradiesen und Purpurn, vom großen Wunder! … Und der täuschenden, schmeichelnden Kunst schlechter Romane folgte als Erfüller der große unbarmherzige Künstler, der nackte Gott des Lebens, harten Blickes, Greifhand, Wehrfaust und Bocksvlies. Statt des Romangrafen irgend ein ganz alltäglicher Verführer, der Erstbeste, den die zur Blüte aufgetane Sehnsucht empfängt; statt hohen Traumschlosses oder des fürstlichen Hotels in vornehmem Faubourg das Matrosenbordell in Algier und zum Schluß eine verpestete Hüttenhöhle im Dirnenviertel von Tetuan … René langte ein Fünffrankenstück hervor und gab es abwehrend hin; aber das Frauenzimmer haschte inbrünstig nach seiner Hand und klammerte sich an ihm fest.
»Oh, du bist gut! … Du bist schön! Du bist so schön! … hör', du! … Bleib! … Ich will dir erzählen! … Oh, ich bin so unglücklich …«
Aus einer der benachbarten Hütten kam ein später Liebesgast geschlichen, ein Neger. Er grinste, seine breiten weißen Zähne funkelten im Mondschein.
René hatte sich losgerissen, hinter ihm her rief das enttäuschte leere Lachen der Dirne. Er stieg höher den verrufenen Hügel hinan, begleitet vom Flüstern und Kichern der Fenstergitter, hoch vor ihm leuchtete kreidehell die Zitadelle, eine Geisterburg. Er erreichte einen freien Platz; Gespensterhunde knurrten um Schutthaufen; drunten schlummerte marmorweiß die Stadt, ein Traumgesicht inmitten der dunklen Wirklichkeit starrer alter Wächterberge.
In solchen Nächten rufen die Stundenglocken über lindenumblühtem Silbersommer der Brunnen, heimliche Gärten duften nach Tau und Liebe und irgendwo im Dunkel eines Tores bildet man sich ein, nicht scheiden, nicht entsagen zu können, der Erste und Ewige zu sein und gleich solchem Mondbrunnen unstillbar dahinbluten zu müssen … Und wo endet all diese Lyrik? Ihr Goldschnitt erblindet, sie selbst wird Makulatur, und war das Leben gnädig und köstlich gewesen, so ist man auf dessen Mittagshöhe immer noch ein Heimatloser, ein Freier, ein Herrenloser – bissig und mißtrauisch wie die Hunde dort um den Schutthaufen, von brennenden Bittersäften vergiftet, ungläubig und frech wie die Dirnen … Nach dem Buche der Lieder das der Satiren, und schließlich die Grube voll ungelöschtem Kalk …
René sah noch eine Weile über die feenweiße Stadt hin nach den fremden, düsterschimmernden Bergen im Süd. Welcher unter ihnen war er, der geheimnisvolle Djebel Hamam, der Taubenberg? Der Berg der Wirklichkeit, die jede noch so hohe Intuition beschließt? … Gut, hatte ihn der Zufall schon an diese Küste verschlagen, so sollten Söhne und Enkel dieses Zufalls ihn noch weiter führen. Den Schlüssel zu Gottes innerstem Heiligtume in der Hand: – vielleicht hörte dann all das ermüdende Zweifeln einmal auf.
Als er damals, auf Anschluß an eine Karawane nach Tuggurt und Biskra wartend, im alten heißen Rhadames sich langweilte und im Palmenschatten der berühmten Stutenquelle Henri Duveyriers »Touareg du Nord« las, als er später das Duveyriersche Alphabet an den ehrwürdigen Tugga-Inschriften, versteinerten Zeitgenossen Hannibals und Jugurthas, übte und nachprüfte – welcher Marabut, welcher Traum hätte ihm da vorhergesagt, wo das Ungefähr dieser Kenntnis ihm noch nützen würde, wie und wann! Insch' Allah, der Allgerechte mußte es so gewollt haben. Wozu? Allah wußte es besser.
René wandte sich ab vom Bilde der jungfräulich schlummernden Mondstadt und wanderte langsam, zwischen Schutthalden und Nachtgestrüpp, ins elende Dirnenviertel hinunter. Nein, mit philosophischem nicht, mit kaltsachlichem Zynismus wollte er über die seltsame Geschichte nachdenken. Geschäftsmäßig kalt; rasiermesserkalt; detektivisch kalt.
Erstens gleich: wer war überhaupt dieser Efrem Efrus, dieser vorgebliche Spaniole edlen Sephardenbluts? Spaniolen waren mit den Mauren nach Afrika ausgewandert oder vielmehr geflüchtet; richtig. Aber dieser Efrem Efrus aus dem berühmten Finanzhause der Efrusi und Ephrussi kam aus Saloniki oder Triest, wo allemal der Weizen reicher blüht als im dürren Tetuan. Also irgendein triftiger Grund vorhanden; ein zwingender oder lockender Grund. Zweitens dann: wie war dieser Efrem Efrus zu solchem Schriftstück gelangt – oder vielmehr: wie solch eine Urkunde in Schrift und Sprache der Sahara in die Krallen eines alten levantinischen Geiers? Woher das Dokument und welchen Alters? Wenn in Beziehung zu diesem Lande, warum in Zeichen und Idiom eines fremden fernen Volkes? Hatte es überhaupt seine Richtigkeit damit? Djebel Hamam: nie davon gehört! Und doch sollte gerade dieser Fleck marokkanischen Bodens irgendwie berühmt, ja sogar – berüchtigt sein? Und wenn alles leidlich stimmte – hatte denn ein Efrem Efrus oder irgendein Mensch verwirklichbaren Anspruch auf eine Handvoll Landes, das wahrscheinlich längst nicht mehr herrenlos war? Natürlich, danach fragt Europa verdammt wenig. Europa braucht, der andre muß. Aber man ist nicht allein in Europa. Im Gegenteil, in Europa ist man nie allein. In Europa riecht doch jeder den Braten des anderen, noch in der Pfanne. Europa ist übervölkert von einander beschnuppernden Hunden. In Europa wird ununterbrochen Lärm geschlagen, geschnüffelt und geschwatzt. Die Wage Europas steht auf Schrauben; ein Lufthauch, und das Gleichgewicht ist verloren. Ganz Europa ist geladen mit Dynamit; ein Funke, und die Welt fliegt in die Luft. Ganz Europa ist unterhöhlt von labyrinthischen Minen und Konterminen, von Stollen und Schachten; ein Strahl nur offener Flamme, und der Kohlenstaub vergast, Schlagwetter sprengen die Erde. Kein Schade drum; einmal mußte mit den Millionen ein bißchen aufgeräumt, mußte gründlich durchgeforstet werden; allein darüber ging vielleicht die gute Beute verloren. Ohne Europäer war im Ernstfall nichts zu machen; aber so ein Europäer hält fürs Leben nicht das Maul, und die Folge ist der Nibelunge Not und Untergang. Gerade Marokko war den Europäern, war den Doggen, Bullenbeißern, Blut- und Wolfshunden der hohen Politik eine Art von herrenlosem Markknochen, wie einst Polen, wie Syrien und Arabien, wie Persien und Innerasien, wie Ägypten und vorläufig noch der antarktische Kontinent. Solch nahrhafter Abfälle aber gab es immer weniger, und je seltener die Brocken, desto heißer und lauter die Eifersucht, desto länger und schärfer die Fangzähne, desto grimmiger die Wachsamkeit, desto giftiger das Mißtrauen. Wenn ja einem der europäischen Ungeheuer, so nur dem bescheidensten gönnte er den Fund: seinem eigenen Österreich, dem einzigen Kulturstaat des Abendlandes. Aber Österreich lag krank und müde abseits der großen Schinderstatt; Österreich sah in die aufgeregte Welt mit den wunschlos weisen Augen des erfüllten Greises, der nur noch an das Eine denkt: den hitzigen unmündigen Erben mit letzten gütigen Kräften Häuser und Äcker vorsorgend zu bestellen … Nein, Österreich streckte seine altersschwache Hand nicht mehr aus nach dem geheimnisvollen Djebel Hamam im südfernen Atlas, im Lande der Hesperiden. Und der Weg auch von den Quadraten und Kreisen der Tefinaq-Schrift bis in den Schoß jenes unbekannten Sagenberges war ein recht weiter, höchst ungewisser und unwahrscheinlicher. René erkannte es und setzte vorläufig einen klaren Punkt. Insch' Allah!
Vor wenigen Tagen noch hatte er an die verirrte Fahrnis in Gibraltar, hatte er an eine hübsche Tochter Juda in Samt und Damaszenerseide, hatte er an ein beschauliches Landhaus in Büjükdere und einen ungewöhnlich langen Liebeskef gedacht … Und nun diese neue Fata Morgana, ein schimmernder, kaum geahnter Höhenzug in flimmernder Ferne, Gärten blühenden Genusses ringsher um seine quellenrieselnden Hänge, drüben gen Mitternacht der Wüste das schwüle rote Sandsturmgewölk der großen Politik – – und dort traten sie gerade in den Mondschein heraus, Efrem Efrus in silbern durchschauertem Sabbathbart und vorsichtig busenbergendem Faltenwurf des Mantels, die drei Kapuzenmänner mit argwöhnisch blitzenden Maskenaugen und schwarzfunkelndem Laufstahl.
Ein Erkennen, ein Aufdrohen lang spielte Wetterleuchten ihrer Blicke über René hin, den Fremden, den Ungerufenen. Dann wandten sie sich zum Gehen, ohne Gruß oder Gebärde des Friedens.
Aber nach drei Schritten blieb der Führer umkehrend stehen.
»Wenn dieser Ungläubige da wirklich dein Freund ist, dann ist er auch dein Bruder, und ist er dein Bruder, so mußt du ihm beistehen. Und willst du ihm beistehen, so sag ihm, daß wir im Rif für gute Ware gutes Geld geben, für gute Dienste guten Schutz, für Verrat aber den Tod – und daß wir den Hunger des Gastes mit Kuskussu und dem fettesten Hammel stillen, die Neugier aber mit dem Dolch.« Er spuckte aus. »U slam – wir sind fertig.«
Die drei Masken verschwanden im Gemäuerschatten der Nacht. Durch das gespenstige, hundertäugige Labyrinth dunkelüberbauter Gassen und Höfe führte Efrus nach dem schmalen, strengen, mondeinsamen Tore der Lemurenstadt, der Schmerzensstadt ewigen Heimwehs zurück.
Der greise Pförtner, weiß und hager wie Charon, öffnete; Tartarus empfing sie mit dem Aushauch seiner Schlünde, mit Spinnen und Vampyren seiner Höhlen, mit dem Glimmern verknäulter Drachenbrut. Vom Tal der Gräber her über Zinnen, stille Dächer und schweigende Türme lachte noch einmal die Hyäne. –
Efrus steckte die Laterne an. »Der Efendi wird müde sein.«
»Der Efendi hat sich in große Gefahr begeben. Sie waren mißtrauisch, warum ist der Efendi nicht geblieben?«
René lachte verächtlich.
»Geld und Dirnen – beide stinken.«
»Gott, was heißt stinken? … Sie stinken nicht in Gold und Jugend und neuer Seide!« Er schloß die eisenbeschlagene Türe des Hofgelasses auf, brachte den verborgenen Gegenstand aus dem Mantelbusen hervor und stellte ihn wie vorläufig auf eines der Borde zu rostigem Gerät und entseelten Flaschen.
Es war eine Goldwage. Ihr messingner Gewichtteller blinkte nachschwankend im gelben Laternenschein.
»Nu, was tut sich? … Will der Efendi noch ein Glas Wein nehmen vor dem Schlafengehen?«
»Wenn Sie noch Lust haben zu unserem alten Tefinaq? Wir sind stehengeblieben beim – bei diesem merkwürdigen Djebel Hamam.«
Der Alte hob aufseufzend die magere Hand.
»Gott, was soll heißen merkwürdig?« … Er sah René tief und zweifelnd, aus ernster Schwermut in die Augen. »Will der Efendi wissen, was es für eine Bewandtnis hat mit dem Djebel Hamam? … will er es erfahren ohne Schrift und Wort einer fremden Sprache? … Will er? Gehen wir.« –
Sie saßen wieder auf dem Dache. Vom Meere her wehte kühlbitterer Salzhauch. Fern irgendwo in der Tiefe mondbeglänzter Berge fiel trocken ein Schuß.
Efrus horchte auf. »Blutrache.«
René hatte sich noch einen Trunk des dattelgoldnen Sonnenweins in den Kelch geschänkt. Die Zigarette glomm. Unter den dünnen langen Schattenkreuzen der Laternenspangen auf seinem bräunlichen Papier lag das Schriftgeviert der Quadrate, Kreise, Klammern und Punkte.
Der Alte schwieg eine Weile noch in seinen Bart hinab. Die Hyäne war verstummt, die Schakale nur heulten gegen den stillen einsamen Mond. Uet hawler kharwan getscher – der Hund bellt, und die Karawane zieht weiter …
»Der Efendi hat gelesen den Namen des Djebel Hamam aus dieser Schrift,« begann Efrem Efrus nach schwülem Überlegen; »er hat gelesen vielleicht auch noch mehr, ich weiß es nicht.« Seine Stimme war schnell und heimlich erregt. »Aber der Efendi sagt, er hat noch nie gehört von dem Berge, den sie den Berg der Tauben nennen. Gut, nu, ich will's glauben; wo ist Tetuan und wo ist Konstantinopel und Paris?« Er strich sich den Schriftgelehrtenbart, gesenkten Gesichts; seine Hände zuckten. »Aber einmal, Gott, würde es der Efendi doch erfahren. Er würde es erfahren aus der Schrift, er kann es erfahren von anderen Leuten. Ich habe dem Efendi vertraut – und, Gott nu, was soll ich machen ein Geheimnis vor dem Efendi – kann es doch nicht bleiben mein Geheimnis allein, soll es sein zwischen uns ehrlich geteilt –« Er brach ab, zog ein Säckel aus dem Mantelbusen, nestelte es auf und stellte die kleine runde Wucht vor René hin. »Das ist er – der Djebel Hamam, der Taubenberg.«
René warf einen flüchtigen Blick hinein, nahm lässig eine Prise zwischen spitze Finger, hielt sie nahe ans Licht, krümelte sie ruhig zurück und blies den Blauduft seiner Zigarette in kurzem, verächtlich blinzelndem Atemstoß zur Seite.
»Ach so … Ich habe zum mindesten geglaubt: Diamanten!«
* * *
Diamanten waren es nicht. Aber Goldstaub war es, mit kleinem Goldgries durchmengt: so rein und klar, wie er aus den Seifen des Ural und dem Bachkies Alaskas nicht schöner gewaschen. Und auch Goldstaub ist ein starkes Gegenpulver gegen die süßen Gifte des Schlafes.
»Gott über die Welt!« hatte Efrem Efrus sich verschworen; »Diamanten gleich will der Efendi haben? … Ist Gold nicht genug? … Ist Gold nicht das Stärkste?« Dann besann er sich. »Steht gar von Diamanten etwas in dem Papier?«
»Weiß ich noch nicht,« hatte René geantwortet; »Gold ja, sehen Sie, hier: das Kreuz, unser gewöhnliches T – –«
Aber Efrem Efrus war viel zu erregt zu wissenschaftlich kühler Mitarbeit.
»Gott über die Welt! … Der Efendi liest und versteht alles; der Efendi ist mir bald unheimlich! … Und es steht da von viel Gold? von einem ganzen Bergwerk vielleicht, von einem Schatz?«
»Weiß ich auch noch nicht. Mein Blick war nur zufällig darauf gefallen, wie gesagt.«
»Aber es muß darin stehen! … voll Gold ist der Djebel Hamam, ich weiß es, voll Gold! So viel Gold, daß man daraus Dukaten schlagen lassen könnte für die ganze Welt.«
»Da gratuliere ich Ihnen. Und den europäischen Finanzen auch; sie haben es zum Teil sehr nötig.«
»Was heißt gratulieren? Mir gratulieren? Kann ich etwas machen allein? Und hat der Efendi nicht gehört, wie diese gesagt haben: für die Neugier den Dolch?«
»Kann ich ihnen nicht verdenken. Aber ein gutes europäisches Infanteriegewehr reicht weiter als ein Dolch.«
»Was heißt: reicht weiter? Der Efendi kennt diese Leute nicht.«
»Sind also diese Kapuzenmänner die sozusagen rechtmäßigen Herren des Djebel Hamam?«
»Was heißt: Herren? … Bis jetzt sind sie die Herren. Nicht gerade diese. Das waren Andschera, und der dunkle war ein Ibn Maddan.«
»Ibn Maddan? … Dann heißt der Stamm Beni Maddan? … Das bedeutet ja geradezu ›Söhne des Bergwerks‹!«
»Gott, was heißt da schon Bergwerk? Kupfer ist da, bei den Beni Maddan.«
»Aber die Drei zahlten doch in Gold?«
»Was heißt: zahlen? … Gott nu, es war ein Tausch. Gold ist im ganzen Atlas. Aber alles nichts gegen den Djebel Hamam.«
»Und mit wem hat man da zu rechnen und zu rechten?«
»Was heißt rechnen und rechten? Sie lassen nicht mit sich rechnen und rechten! Sie schießen!«
»Wer?«
»Gott! Die ärgsten im ganzen Rif! Die Beni Uriachel!«
»Aha. Der Name wurde mir von Ihnen schon genannt. Die schießen also. Und Sie liefern Ihnen dazu noch die Gewehre!«
»Gott über die Welt! … Sieht der Efendi nicht? … Wozu liefere ich Gewehre über Gewehre an den ganzen Rif? Warum wird von mir geliefert durch alle, Gott nu – Juden in Melilia und Addus, in Aschdir und Tamrirt –«
»Tamrirt? Das ist ja ein richtiges Temahak-Wort und bedeutet Treffpunkt!«
»Und es ist ein Treffpunkt. Da kommen die Straßen zusammen von Oran und Figig und Fes und Melilia. Dort habe ich drei Geschäftsfreunde, durch die ich liefere – –«
»Gewehre?«
»Gewehre und Patronen und Pulver und Zündkapseln. Und in Melilia habe ich vier Geschäftsfreunde, in Addus zwei, in Aschdir drei …«
René pfiff dünn durch die Zähne. »Allerdings genial!«
»Nu, und wozu? … Wozu, seit zwanzig, seit fünfundzwanzig Jahren? … Wozu habe ich den ganzen Waffenhandel über den Rif in meine Hand gebracht und in Schwung? … Ohne Gewehre und Patronen, wie sollen sie sich da wehren und das Ihre verteidigen? … Wo wäre da längst schon der Djebel Hamam und der ganze Schatz? … Sieht der Efendi?«
»Ich sehe. Großartig, mein Kompliment. Nur ein oder zwei Dinge sehe ich nicht. Erstens: Ihre Herren Geschäftsfreunde – haben die auch Kenntnis von unserem berühmten Djebel Hamam und so weiter?«
Efrus lächelte mitleidig.
»Wofür hält mich der Efendi? Einen kleinen Nutzen haben sie, Gott; aber keine Kenntnis!«
»Gut. Zweitens: wenn sich Ihre lieben Herren Beni Uriachel da wehren und das Ihre verteidigen müssen – wenn sonst der schöne Djebel Hamam mit seinen Wundern längst bei allen Teufeln wäre – ja, da ist doch die ganze Geschichte ein öffentliches Geheimnis?«
»Was heißt: öffentliches Geheimnis? … Man weiß, Eisen ist im Djebel Hamam, und Blei ist im Djebel Hamam, und Kupfer ist vielleicht auch im Djebel Hamam, und Kobalt und Amethysten und ein wenig Silber. Aber man weiß nichts von Gold.«
»Und wenn diese Herren Beni Uriachel auch so durchdringend klug sind und ihr schönes Gold gleich beutelweis zu Markte tragen?«
»Was heißt zu Markte tragen? … Sie zahlen vielleicht in Gold, manchmal, nicht immer. Aber sie reden nichts.«
»Und woher soll dann das Gold stammen? Vom Himmel?«
»Sie sagen, es hätte ihnen jemand geschenkt.«
»Äußerst glaubhaft. Und Ihre Herren Geschäftsfreunde?«
»Gott, die! … Die reden erst recht nichts! … Die sind froh!«
»Durchaus vorstellbar. Und machen sich auch keine Gedanken?«
»Gott, was heißt: Gedanken? … Gedanken kann man sich machen über vieles. Sie denken vielleicht, Gott nu. Aber lassen wir sie denken; sie wissen nichts.«
»Ihr anmutiger Djebel Hamam genießt also nur so ganz allgemein den Ruf eines Erzberges?«
»Gott über die Welt, wie der Efendi fragt! … Nu ja, Gott, man weiß etwas – und weiß doch nichts.«
»Nichts von Gold?«
»Was heißt: Gold? … Gold kann man machen aus allem; zu Gold kann man machen alles. Aber nichts von diesem Gold.«
»Wesentlich beruhigend. Nichtsdestoweniger aber ist unser lieblicher Djebel Hamam doch schon als Erzberg ausge- und beschnüffelt worden?«
»Was heißt beschnüffeln? … Blut ist geflossen darum!«
»Ah! … Blut, höchst spannend. Was für Blut?«
»Nu, Gott, was heißt: was für Blut? … Menschenblut, schwarzes, braunes und weißes. Hat der Efendi noch nie gehört von Bu Hamara?«
»Bu hamara, Vater der Eselin? Nicht die Ehre.«
»Gott, was wär das für eine Ehre? Eigentlich hat er doch geheißen Jussuf Dschelali es Serhuni. Er hat sich wollen erheben zum Sultan von Marokko; er hat gemacht Revolution. Und er hat verpachtet und verkauft Minen und Rechte am Djebel Hamam für eine Million Duros an Spanier und Franzosen. Denn, Gott, Geld hat er immer gebraucht; wie sollte er nicht? Seine Soldaten haben essen wollen und die Räder an seinem Wagen sich drehen; der Efendi versteht. Gott nu ja, wenn einer anstellt Revolution und gibt sich für einen Sultan! … Aber die Beni Uriachel und Beni Tussin und Amrit haben sich gewehrt; sie haben geschossen; geschossen mit den Gewehren und Patronen von meiner Lieferung. Nicht sich selbst und nicht ihren Berg haben sie wollen lassen verkaufen. Dem Bu Hamara seine Soldaten sind geschlagen worden und die Spanier und Franzosen blutig davongejagt. Alles mit meinen Gewehren! Das ist die Geschichte; nun weiß der Efendi.«
»Diese prachtvollen Beni Uriachel sind also sozusagen sultanstreu?«
»Was heißt: sultanstreu? … Was für einem Sultan treu? … Treu sind sie niemandem; treu sind sie nur sich selbst.«
»Auch ein Standpunkt. Diese Beni Uriachel steigen in meiner Achtung. Aber das bringt mich auf etwas ganz anderes, wie steht es mit dem Bergrecht in Marokko?«
»Bergrecht, was heißt Bergrecht? Hier gibt es gar kein Bergrecht! Hier gibt es nur die Rechte, die man sich selber nimmt und verteidigt.«
»Beneidenswert und idyllisch. Ich glaube, wir bleiben in Marokko. Weiter kommt man mit Wissenschaft und Polizei auch nicht. Ja nun, aber die Beni Uriachel und Kompagnie selbst? Kennt denn diese schätzbare Firma den Goldhort und sein Versteck?«
»Was heißt: kennen? Sie bringen Gold wie dieses zum Tausch. Sie kennen vielleicht – sie kennen vielleicht nicht; vielleicht kennen nur einige unter ihnen; soll ich wissen?«
»Ja. Aber, gesetzt den Fall – warum bauen sie ihren Goldberg nicht selbst ab? Unverständlich.«
»Soll ich verstehn? … Gott über die Welt, an was alles der Efendi denkt!«
»Notwendig. Kommt denn Gold überhaupt in größeren Stücken vor? In Knollen, in Brocken, in Nieren, in Draht, in Kartoffeln, in Taubeneiern und Haselnüssen?«
Efrem Efrus hob die Hände.
»Gott soll mich bewahren! In Kartoffeln, in Brocken! So wie es der Efendi da sieht. In Sand und Gries.«
»Hoffnung auf mehr vorhanden?«
»Soll ich wissen?« Er zeigte auf die Schrift. »Der weiß!«
»Ah! … Schön, aber bevor wir weiter gehen: wo liegt eigentlich dieses Land Ophir, dieser Berg des Lichtes, dieser Djebel Hamam?«
»Wo wird er schon liegen? … Im Gebiet der Beni Uriachel. Man kann dahin kommen auf der Straße über Snada und Schörfa Tafrut, man kann dahin kommen auf der Straße von Melilia über Kasba Seluan und Midder nach Meknessa fokani. Man kann auch dahin kommen durch den Uad Nukor oder den Uad Kert – –«
René winkte unterbrechend ab.
»Glauben Sie, ich weiß jetzt mehr? Sie sagen Melilia. Also ganz allgemein im Osten von Tetuan. Und Ausdehnung des Gebietes?«
»Ausdehnung, was soll das heißen? … Es ist ein Berg, es ist ein ganzes Gebirge, was heißt Ausdehnung? Weiß ich, wo der Djebel Hamam anfangt und wo er aufhört? Und wo das Gold?«
»Noch nie dagewesen? Ein bißchen, na, spioniert?«
»Gott soll mich bewahren! Bin ich der Stanley? Bin ich der Emin Pascha, den ich noch gut gekannt habe, wie er ein kleiner Hauslehrer und Arzt war in Albanien und geheißen hat Doktor Schnitzer? … Oder bin ich der Nachtigal? … Ich bin nicht neugierig. Soll Gott mich behüten! Ich habe Haus und Frau und Kinder!«
René lachte auf. »Sehr löblich und vorsichtig. Ja, Held ist man oft nur aus purer Langeweile oder Einsamkeit. – Aber nun das Allerwichtigste: gibt es denn wenigstens etwas wie einen Anhaltspunkt? Eine Vermutung? Ich meine: Gerüchte oder Angaben oder Überlieferungen hinsichtlich einer bestimmten Fundstelle?«
Efrus hob die Hände in Gebärde des Erstaunens.
»Was heißt: Vermutungen oder Gerüchte oder Überlieferungen? … Der Efendi fragt? … Das muß doch alles stehen in dieser Schrift!«
»Ah! … Sie hatten also eine Ahnung von ihrem Inhalt?«
»Gott, Ahnung! … Der Jude wand sich zwischen vielsagenden Gebärden. »Ahnung! … Man hat sich etwas gedacht – – man hat auf etwas gehofft – – man hat es so gehabt, wie soll ich sagen – man hat es gehabt in der Nase – – man hat gehabt einen Geruch oder Geschmack davon – –«
»Auch vom Djebel Hamam?«
»Gott, was heißt: auch? … wenn schon, dann natürlich auch vom Djebel Hamam – wo man es doch weiß – –«
»Gut, gut. Und Ihre Beni Uriachel, Ihre getreuen Kunden? haben die Kenntnis vom Dasein dieser Schrift?«
»Gott, was fragt der Efendi alles? … vielleicht haben sie Kenntnis, vielleicht nicht! … weiß ich? Bin ich ein Ibn Uriachel?«
»Nein, soweit ich sehe. Und wie kommen dann Sie zu diesem Geruch und Geschmack? … Zu dieser Witterung? …«
»Was heißt Witterung, was heißt dazukommen? … Gott, nu, der Efendi kann sich ja denken: wenn ich selber schon fünfundzwanzig Jahr im Lande bin, in Tetuan – und kauf mir ganze Schiffsladungen von Büchern wegen der Schrift da – und kann sie nicht lesen – dann – –«
»Dann hat sie ihre Geschichte, zweifellos. Und?«
»Was heißt: und? … was heißt: Geschichte? … Nu ja, es ist eine Geschichte –«
»Monsieur, aus Neugier frage ich nicht, wenn es Ihnen nicht angebracht erscheint –«
»Was heißt: angebracht? … Gott ja nu – –«
Er brach ab. Sie schwiegen, wieder fiel in den Mondbergen ein Schuß. Gleich darauf, wie zur Antwort, lachte grausig kreischend die Hyäne des Gräbertales.
Efrus erwachte aus bärtigem Sinnen.
»Blutrache! … hört der Efendi? Die Blutrache geht wieder um in den Bergen. Und die Geschichte? … Gott nu ja – – es ist spät geworden – soll der Efendi sagen: hat es Zeit bis morgen?«
René verbeugte sich über die Zigarette hinweg.
»Ganz nach Ihren wünschen, Monsieur.«
»Was heißt: Wünschen? … Was hilft schon das Wünschen? …« Der Alte barg das sorglich geknebelte Säckel mit dem teuren Golde an seinem Herzen und nahm wie von ungefähr – gleichsam mit verjährten Schicksalen aufräumend, wie man vergilbte Briefe oder verblaßte Bilder in ihren Sarg schließt – auch die kostbare Urkunde wieder an sich … »Was hilft schon das Wünschen? … Man kann wünschen und wünschen ein halbes Leben lang, und warten und arbeiten … Der Efendi braucht das doch für heute nicht mehr? … Gott, heute – was red ich? … Es ist bald heller Tag! … Nu, der Efendi kann sich ja in Ruhe ausschlafen; aber ich muß ans Geschäft, an die Sorgen, ich muß vergessen den Djebel Hamam und alles …« Er stand seufzend auf, ergriff die Laterne mit dem niedergebrannten Licht und die Karaffe, darin noch eine Neige vom dattelgoldbraunen Inselwein … »Ich muß vergessen den Djebel Hamam für die Zeit der Arbeit; wo wär sonst mein Geschäft, Gott? … Aber der Efendi soll sich ausschlafen und stärken und keine schweren Träume haben und sich fühlen wie in seinem eigenen Hause. Nu, und morgen, wenn der Efendi will und Geduld hat – morgen, was red ich, heute ist auch noch ein Abend. Da kann dann der Efendi weiter fragen und kann zum Schlusse – Gott! – sagen: der Efrem Efrus, der einen schönen Handel haben könnte in Pera oder Salonik oder Triest und ein Haus in Wien oder Therapia und könnt längst in Ruhe sitzen – er ist ein alter Narr.« – –
Das war das Gespräch dieser Nacht, und nun lag René mit der ersten Zigarette in der zeitlosen vergitterten Dämmerung des Erwachens und dachte nach über all die seltsamen und dunkel lockenden, weitreichenden und tiefen Zusammenhänge.
Gold. Immerhin: Gold. Gold, dafür alles feil ist auf Erden. Gold, das alle Genüsse verschafft. Gold, das alle Feinde beseitigt. Gold, das alle Weiber entbehrlich und gefügig macht. Gold, dem alle Freunde dienen. Gold, das alle Geheimnisse in sich schließt. Gold, das wahre Wort Gottes, die einzige Wirklichkeit auf Erden.
Es hatte ihn schon an diesem Morgen nicht einschlafen lassen. Nicht das kleine Abenteuer im Dirnenquartier; nicht das Bild der bräutlichen Mondstadt; nicht der helle, einsam hallende Platz und aus dem Torschatten die drei bewaffneten Masken; nicht all die verbrauchten Stimmungen, das bißchen Hintertreppe und Orientkitsch – lieber Himmel, beim Barte des Propheten, bei den Gebeinen Alis, beim Gedächtnis Hossein des Märtyrers, nein! … Aber jenes Eine, das niemals Kitsch wird: Gold! … Jener eine Gott, der niemals veraltet: Gold! … Gold und Macht und Genuß; Vater, Sohn und Geist; dreieinig einander wirkend, schaffend und bezeugend von Ewigkeit zu Ewigkeit …
Er prüfte sachlich. Dieser Djebel Hamam mußte aufzufinden sein. Melilia, hatte der Alte gesagt. Melilia war sozusagen spanisch; dem Namen nach. Es gab ja so etwas wie eine spanische Einflußzone in Marokko. Von Melilia aus also. Zunächst aber das Dokument. Was stand da noch alles darin? Vielleicht würde er es nicht entziffern können, vielleicht nicht verstehen. Wahrscheinlich gäbe dieser gute Efrus viel darum, wenn er sich in der Überraschung nicht verraten. Aber das Wort traf unvermutlich einen hochempfindlichen Nerv. Traf ihn zentral. Sah ganz danach aus, als hätte der Alte von Tetuan aus längst schon den Goldberg belagert. Am Ende war alles miteinander ein Humbug. Immerhin: vom Tal des Sacramento, von Alaska, von Ballarate hätte man das vor den ersten Funden auch sagen können. Warum sollte der Atlas nicht Gold bergen? Die griechische Sage verlegte hierher den Garten der Hesperiden, den Garten des ewig jungen Goldes. Und die Griechen wußten und ahnten allerhand. Woher auch die Schätze der Maurenherrscher? Die Sahara selbst war nicht ohne Gold. Algerische Flüsse führen Gold in ihrem Lande. Gerade der sonstige Erzreichtum dieses Djebel Hamam: dasselbe im Ural, alle Schätze der Erde nebeneinander in einem Schoß. Soviel er vom Lande gesehen – ja, genau bedacht, es war eine Goldlandschaft, kahle Höhen, versandete Flüsse. So irgendwie stellte man sich Arizona vor, Nevada, Neu-Mexiko. Kam nun alles auf das Stück Papier da an. Warum gerade im Tefinaq? Vielleicht aus Gründen des Geheimnisses; vielleicht auch war es die eingeborene Schrift dieser Berge und ihrer Völker. Wenn der Alte sich drückte? Dann müßte man eine Abschrift nehmen. Eigentlich gegen das Gefühl. Aber was haben Gold und Gefühl miteinander zu schaffen? Nur schön eins nach dem anderen. Erst Gold, dann Gefühle. Gefühle: Luxus. Wie anpacken? Würde sich ergeben. Zuerst finden, haben, wissen. Und dann? Wenn – zum Beispiel? Nicht heiraten, pro primo. Keine Jüdin, keine Arierin, keine. Gold, Auswahl, Abwechslung. Gesetzte Haushälterin, Haushofmeister, Sklavinnen. Nur nicht heucheln. Residenz am Bosporus, Jeniköi, Büjükdere, Therapia. Winter in Wien, Paris, Nizza. Zwischendurch einmal Palermo, Balearen, Indien. Jagen, lesen, bißchen sammeln, viel Nichtstun, Kef. Kleine Abenteuer, kleine Negoziationen. Vorausgesetzt, daß – –. Aber natürlich Humbug. Schwindel. Goldsand, Goldgries? Allerdings auch in Kalifornien. Viel Sand, Staub, Grus – und dann einmal eine ganz grobe Kartoffel. Nie weiß man. Österreich? Von Herzen gern. Aber nicht zu erreichen. Zehn Instanzen, zwanzig Hofräte, Kommissionen, Todesschlaf. Ja, Österreich vergolden! Ganz Europa zum Trotz! Aber diese sogenannte spanische Zone. Schwierig, schwierig; abwarten. Überlegen. Erst einmal Basis. –
Und René sprang auf und wusch mit französischer Lavendelseife alle Träume von sich ab.
* * *
Dieser Tag ward gekürzt durch Studium der » Telegrama del Rif«, der kleinen spanischen Lokalzeitung, davon der aufmerksame Gastfreund mehrere Jahrgänge hatte bereitlegen lassen. Erst lächelte René des unscheinbaren schmalen Tageblättchens, aber dann las er sich wie von ungefähr hinein, und seine Nerven spannten sich. Bei den Bärten aller Propheten von der Sintflut bis zur Hedschra, ja! … Das war noch eine Welt, darin zu leben nicht ganz zwecklos.
Keine Ernennungen; keine Ordensverleihungen; keine Sitzungsberichte; keine kitschigen Kriminalfälle aus der Vorstadt; keine Parlamentsprotokolle; keine Leitartikel voll des sogenannten Wahren, Guten, Schönen; keine Ideale, keine eigentliche Politik, nichts Vollundganzes, keine Schlagworte: – aber dafür die Beni Uriachel, wie sie das Aufgebot dieses Bu Hamara zehnteten und buchstäblich tothetzten; oder ein rundes Stück Blutrache aus den Bergen der Beni Mahis; ein schmucker kleiner Straßenraub vom Karawanenwege nach Figig; ein sauberer Handstreich auf die lästig neugierigen Scheinwerfer spanischen Kriegsdampfers, Mausiehr überm Kopfe hinausgeschwommen, im Finstern wassertretend die Blendaugen eingeschossen, ausgezeichnet, in Österreich kriegt man dafür das Maria-Theresienkreuz. Von den Pflichten Afrikas gegen Europa war man hier noch lange nicht überzeugt.
Und nun fiel René ein, daß vor einigen achtzig Jahren der Ruhm selbst eines österreichischen Admirals – wie hieß er doch gleich? Bandiera! – an diesen Steilküsten kläglichen Schiffbruch erlitten. Drei Kanonenboote brachte er mit, und einige Dutzend Sklaven machten die Rifpiraten. Und nicht reicheren Lorbeer pflückte später ein Hohenzoller in diesem stachligen Garten. Anderthalb Stunden lang prahlte die schwarz-weiße Flagge im blauen Mittelmeerwind, dann rutschte sie beträchtlich auf halbmast, und was davon übrigblieb, war ein betrübliches Lümpchen. Die Ruafa aber hatten ihre Freude an den erbsspeckfeisten blonden Sklaven. Ja, und der alte Lord Napier, Held des Krimkrieges, mußte hier gleichfalls büschelweis Haare lassen, und die Erben des armen Columbus und des tapferen Vasco konnten wohl Mexiko erobern, Cuzco, Gewürzinseln und Goldländer, nicht aber den Rif.
So, und mit diesen Helden hatte man zu rechnen. Mit Straßenraub, Blutrache, Sklaverei und ähnlichen erfrischenden Urgebräuchen unverdorbener Menschheit. –
René hatte an diesem Tage für Frauendienst keinen Sinn. Nun er um den teppichverhangenen Treppenstieg wußte, stieg er gegen Abend mit seiner Büchse nach dem Dache hinauf. Nach Luft und Freilicht gelüstete ihn, vor allem aber nach Ziel und dazugehörigen Einbildungen.
Tetuan und seine dunklen, gestrüppigen Hirtenberge im Zauberkreis des verfünfenden Rohres! … Nicht viel mehr sah man als das Schachtel- und Kassettenwerk der umbrüsteten Dächer, ein paar maurisch krenelierte Gebetstürme, die kleine Kuppel der Nazarenerkirche und weit drüben gen Nord in düsterem Hange die kreidige Zitadelle. Wie ein schmales weißes Mädchen am braunen Körper des Geliebten, so ruhte die marmorhelle Stadt zwischen den Schenkeln ihrer rauhen ernsten Umhöhen. Verstreute Hütten weideten wie Ziegen abendstill die Halden hinan.
Ein Ziel! … Dort trat einer auf die zinnengeschmückte Hochkanzel des Gebetsturmes, der Muezzin vielleicht, ein Alter mit bronzenem Gesicht zwischen Turban und angoraweißem Bart. Der Todespunkt, auf dünnem Faden schwimmend zwischen den beiden gespitzten Querstacheln, jetzt spielte er dem drüben auf der Stirne, über der Nasenwurzel – jetzt! … Und der Schneller sprang stählern ab. Wenn das so ein Rifi war, mit seinem Mausiehr kauernd hinter heißem Felsen! Blutrache! … Blutrache: wie das klingt! … Uralt, urtief, urgewaltig; Geister der antiken Tragödie steigen hohl aus Abgründen herauf, Elektra, Medea, Orest, Ödipus. Und wie süß eigentlich und traut, Widerhall aus einer verlorenen Heimat, Kinderheimat rauher roher Tugend, ungestüm ehrlicher Triebe, die noch nicht zu schleichendem Laster versumpft … Da, ein anderes Ziel: der Geier, der braun, satt und schleppend mitten über das Ghetto hinstreicht. Weit vor seinem Aasschnabel zieht das Kimmenkorn durch die Abendluft, jetzt schwimmt er fünffach groß in den Visierkreis herein, der Stecher knackt, jetzt hätte er aufgehört, hungrig und paarig, ein Ich zu sein … Rene setzte eratmend die Büchse ab. Rätselhafter Zwang zur Vernichtung anderer, gleichberechtigter Lebewesen, Nachklang uralter Not. Nein, Friede nicht, Krieg aller gegen alle ist das Leben; Krieg ist die gesunde fördernde Praxis, Krieg und Fraß und Neid und gärender Haß; Friede – bleibt Theorie und bleichsüchtig fromme Literatur. Das müßten die Menschen wieder einmal lernen, glauben und offen bekennen; dann würden sie auch wieder im verlorenen Paradiese sein.
Er versuchte Auge, Faust und Herzschlag noch an dieser und jener Zielmarke, dem schmalen Bogenfenster des Gebetsturmes, Weidetieren drüben in der Unkrautsteppe des Uad Martil, dem Turban eines kühlungsbedürftigen Gläubigen auf fernem Dache. Aber das alles waren hungrige platonische Übungen, und ihn dürstete nach heißer leibhaftiger Wirklichkeit. Diese schöne, schwarzschmeidige Waffe, so lind und voll im Griff, nach Nußbaumholz und feinem Leinöl duftend, so klar und klug und eindeutig, sollte sie nicht einmal etwas erleben, sich erfüllen in seiner Hand? Wieder betrachtete er den schön geflammten Schaft, in dessen fast achatschichtiger Maserung ganze Wolkenwelten, Spiegelungen, phantastische Zerrgestalten; an solchem Flader erfreuten sich schon die wählerischen alten Römer, wenn sie die Platten ihrer kostbaren Citrustische verglichen und für ein auserlesen gepardeltes, geströmtes oder pfauenwedeläugiges Stück willig ein ganzes gutbürgerliches Vermögen bezahlten. Richtig, und der Mutterbaum dieser klassischen Prunktische mußte ja da oben irgendwo in diesen Bergen grünen, im mythenumdämmerten Atlas! Gold, Kupfer, hesperidische Äpfel und Zedern, was noch alles? … Wahrhaftig, etwas Köstliches und Heiliges war um solche Waffe. René betastete bräutlich liebkosend die zartgerauhte Fischhaut, den stilgerechten Hornschluß, die mattglitzernde Strömung der Laufschiene, die milde Kehlung des Kornsattels, die schwarz einbrünierte Rankengravur auf Hülse und Bügel. Waffe, Mannes edelstes Besitztum; Waffe, der Menschheit ehrlichstes und treuestes Gerät. Waffe, die Mutter aller Dinge. Waffe, das Alpha und Omega alles Lebens, vom gestachelten Schaltier bis hinauf zum giftstachelhauchenden Halbmenschen brasilischer Urwälder. Waffe, der Begründer neuer Arten. Waffe, der Eroberer neuer Reiche. Waffe, der getreue Freund, der den Hungrigen speist und den Nackten bekleidet, den Gefangenen befreit und den Kranken heilt und erlöst. Waffe, die heimliche Göttin und Königin aller Völker; Waffe, die Herrin und Ordnerin der Zeiten, Lande und Meinungen. Waffe, die Eröffnerin, die Beschließerin der Epochen und Geschlechter; Waffe, der Schlüssel in den Toren aller Tempel, in den Pforten aller Schatzberge und Hallen der Unterwelt – vielleicht auch im Riegelwerk dieses drachenbehüteten Djebel Hamam, in dessen Schoße schlummernd seine eigene Zukunft. –
René hatte seine Mühe und Pflicht an diesem Abend.
Der Alte war still und verschlossen wie das Buch Sohar der Kabbala. Er strich seinen klugen Bart, und seine Augen sahen schwermütig über die Gegenwart hinweg nach einer anderen Zeit. Die Damen aber wollten natürlich unterhalten sein. So ließ René seine buntesten Fontänen steigen, Pariser Liebesleben, Karneval in Nizza, ein paar kleine dynastische und internationale Skandälchen, ein paar feingewürzte Indiskretionen aus den interessantesten Boudoirs und Schlafzimmern Europas: Madame lächelte dazu in schläfriger, gutmütig entsagender Wollust, in Bianchas verdeckten Augen brannten bisweilen heiße Leuchtfeuer auf, die Grüße einer Gegenküste … Aber plötzlich besann sich René, daß er ja nicht daheim in einem Salon der großen Welt, daß er ja in einem marokkanischen Neste war, auf dem unreinen Boden eines Ghetto, am koscheren Tische gastfreier frommer Juden. So kommt es, wenn man allein ist mit seinem Temperament und seiner Bildung; man genießt ungehemmt sich selbst und erschrickt dann beschämt ob der heillosen Verirrung. René stellte seine bedenklich sprühenden Wasserkünste ab und rettete sich auf trockenes Gelände, ein bißchen Mode, ein bißchen Küche, ein bißchen Teilnahme – aber diese tetuanische Haremshaft mußte bald ein Ende haben, so oder so. Man wurde sonst ganz zuchtlos vor Langeweile, Bosheit und Vereinzelung. –
Die Damen hatten sich zurückgezogen. Efrus holte schweigend die Laterne mit frisch eingesetztem Licht. »Will der Efendi?«
Wieder saßen sie auf dem nachtgekühlten Dache, wieder heulten die Schakale, kläfften die ohnmächtigen Hunde, lachten die schaurigen Hyänen, wieder schimmerte dumpf-rötlich der ferne Meeresstreif unter später aufgehendem Monde, und in der rautigen Karaffe blinkte honigbraun der metallisch süße Wein.
»Will nun der Efendi weiter fragen?« begann der Alte nach sammelndem Schweigen und Sinnen; »will der Efendi weiter fragen, will er weiter lesen in der Schrift – oder will er hören?«
Ganz ruhig, ganz gefaßt war heute das magere vergilbte Gesicht mit den müden Augen und dem ehrwürdigen Bart; der Blick wie ausgeweint, die Stimme wie unter inwendigen Tränen verloschen.
René rollte an seiner Zigarette.
»Zu fragen habe ich nicht, höchstens zu erinnern,« sagte er höflich; »und im übrigen – wie es Ihnen am liebsten ist, Monsieur.«
Der Jude spreitete und schloß langsam die Hände.
»Gott, am liebsten? … Der Efendi hat gelesen in den Zeitungen?«
René nickte. »Danke. Sehr interessant.«
»Das nennt der Efendi interessant? Weiß der Efendi nun, was das für Menschen sind, diese Ruafa?«
»Nicht die schlechtesten.«
»Was heißt schlecht, was heißt gut? … hat der Efendi gelesen von ihrer Blutrache?«
»Über die wir nur darum uns aufregen, weil wir selbst sie nicht ausüben dürfen, Monsieur. Wir möchten schon, wenn es uns nur freistünde.«
Efrus antwortete mit vielsagender Gebärde. »Es steht uns nicht frei? … Der Efendi ist klug, er hat die Welt gesehen: ist nicht alles Rache?« Er schloß mit einem Seufzer und ließ die beredte Hand wieder an seinen Bart niedergleiten. »Aber nicht deshalb habe ich den Efendi gefragt. Sondern darum: weiß der Efendi, was Blutrache ist? … Ist er bekannt mit ihren Gebräuchen?«
»Werden hier kaum andere sein als in Arabien, Kurdistan, Albanien. Oder bei den Tuareq.«
»Immer wieder spricht der Efendi von den Tuareq, von ihrer Schrift und ihren Künsten. So mag mir der Efendi sagen« – er brachte aus dem vielbergenden Mantelbusen einen länglichen düsterfunkelnden Gegenstand hervor und legte ihn vor den Gast hin unter das gelbe Licht der Laterne »so mag mir der Efendi sagen: wenn diese Schrift Tuareq ist, oder wie der Efendi es nennt – ob dieses hier auch ein Messer der Tuareq ist oder ein anderes?«
René nahm die Zigarette aus dem Munde und warf einen flüchtigen Blick auf die Waffe. »Keinesfalls Tuareq.« Er prüfte die lange, schmale, leichtgebogene Klinge, den dunkel eingekrusteten Rostschlag, die Schneide, das Beinheft. »Unter keinen Umständen Tuareq. Dolch des Targi immer sehr luxuriös ausgestattet, Klinge gerade, gewöhnlich damasziert. Griff aus Ebenholz und mit Silber oder Kupfer eingelegt. Wird nicht im Gürtel getragen, sondern an ledernem Armband, das mit der Scheide starr verbunden. Klinge muß also viel kürzer und gerader sein. Außerdem: die meisten Klingen der Sahara Solinger. Diese hier? Schwerlich. Sieht nach Kaukasus aus. Keine Parierstange. Zwei Blutrinnen. Art Kindschal.«
Der Alte hörte geduldig zu; in seinem Bart spielte ein schwermütiges Lächeln.
»Der Efendi ist sehr bewandert; aber diesmal hat er doch falsch geraten. Das hier ist ein echter Rifdolch, ein Sikkin, wie ich ihrer – Gott! – tausende, abertausende, zehntausende verkauft, nachdem ich diesen ersten da gesehen … Gesehen, Gott! Gefunden! … Gefunden im Herzen eines Mannes! … Der Dolch, den der Efendi neulich auf dem Altmarkt erhandelt, ist ein maurischer; der da aber ist ein berberischer, ein rifischer, eben ein Sikkin – und der ihn hat steckenlassen im Herzen eines anderen, der ist ein Berber gewesen, ein Rifi, einer aus diesen Bergen, ein Ben Uriachel! … Gott, wenn das mich nicht getroffen hätte –« Er brach klanglos ab und bedeckte die müden Augen mit welker magerer Hand.
René strich mit vorsichtigem Finger über die rostrauhe Klinge hin. Also Blut war das, Menschenblut, giftheißes Drachenblut! … Er wartete.
»Wenn das mich nicht hätte getroffen,« begann Efrus nach einer Weile der Fassung – »wenn das nicht hätte gerade mich aufgesucht: Gott, wo wär ich heute … In Triest vielleicht, in Stambul, in Alexandria, irgendwo in der Welt! … aber so –!«
»Blutrache?« tastete René.
Der Alte setzte sich zurecht.
»Der Efendi hat eine Ursache, so zu fragen. Er muß es glauben, nach dem, was er da gehört. Was heißt: Blutrache? Gott, Blutrache! Ja, es war Blutrache – es war keine Blutrache – es ist geschehen wegen Blutrache – man kann sagen so, man kann sagen auch so. Der, dem das Messer, der Sikkin im Herzen gesteckt hat, der, in dem ich den Dolch da gefunden habe in jener Nacht – der hat vergossen gehabt kein Blut in all seinem Leben, außer dem eigenen. Gott, der José Costa, und vergießen Blut! …«
René horchte auf. »Costa? … Costa? … Klingt mir bekannt; nicht nur vom alten seligen Uriel … Ah; weiß schon; Friedhof draußen …«
»Der Efendi, wie ich gefunden habe, ist gesessen sogar auf dem Grabe von einem Costa,« erklärte Efrus; »Gott, es ist eine alte Spaniolenfamilie wie die unsrige. Die Costa sind gegangen zum Teil nach Tetuan, zum Teil nach Holland und dann nach England; die Efrusi nach Neapel, nach Genua, und dann nach der Levante. Der Efendi ist aufgeklärt; er kennt die Geschichte unseres Volkes.«
René nickte. »Moros, Moriskos, Inquisition und so weiter.« Er trank einen Schluck des topasenen Weines. »Sehen Sie, es wehrt sich eben jeder wie er kann und glaubt, das ist Weltgeschichte, hat eben jeder seinen Floh, nach dem er kratzt und den er knackt.«
»Und wir Juden werden von allen gekratzt und geknackt,« versetzte der Alte in schwermütig höhnischem Groll; »nu, Gott, dafür beißen wir desto mehr. Aber dieser José Costa; der Efendi kennt also den Namen, wäre dieser José Costa nicht gewesen: Gott, weiß ich, vielleicht hätte ich heute ein großes Haus in Wien und wär reich wie der Rothschild, und der Djebel Hamam – –« Er unterbrach sich mit wegwerfender Gebärde, »Was sagt der Efendi: Kommt mir eines schönen Tags der José Costa aus Tetuan ins Haus, und –«
»Ins Haus, wohin?« warf René ein; »Stambul?«
»Stambul; hab ichs dem Efendi noch nicht erzählt? Früher war ich in Salonik. Dort hab ich mir erspart genug für Stambul. In Stambul hab ich gehabt einen schönen Handel; Handel mit allem möglichen. Gott, man muß suchen sein Geschäft. Es war da eine Wechselstube, die hat betrieben mein Schwager, er war mit in der Firma zu einem Drittel. Und dann haben wir gemacht in Export von Tabak, Rosinen, Feigen, Wein, Teppichen, Seide – nu, und in einem Import von anderer War … Alles war schön und in Frieden, und unseren Gewinn – Gott, man kann nicht arbeiten ohne Nutzen – haben wir auch gesehn; gewohnt haben wir in unserem eigenen Han im Bazarviertel – der Efendi kennts, wie wird er nicht? und dann haben wir auch noch aufgetan, wie wir gesehen: es lohnt sich, eine Spedition, wegen der Fremden, wegen Zoll, der Efendi weiß. Reich sind wir nicht gewesen, Gott, was heißt schon reich? Aber man hat gelebt, nu; man hat gelebt schöner und besser als in Tetuan, glaubt mir der Efendi? … Meine Frau hat mir da geboren die Manuela, es ist so ein schöner Nam; jetzt gut und glücklich verheiratet in Smyrna, hat schon selber drei Kinder … So hat uns gar nichts gefehlt, bis – nu, bis eben der gekommen ist: der José Costa aus Tetuan.«
Efrus machte eine nachdenkliche Pause; die Schakale heulten; ein Sternfunke zog in aufglimmendem Bogen hoch über die schlummernde Stadt gegen die Berge und verlosch.
»Geschäftsfreund?« fragte René nebenhin – nicht aus Neugier, sondern um seine höfliche Teilnahme zu erweisen.
»Gott, Geschäftsfreund?« Der Alte zuckte die Achseln. »Was heißt schon: Geschäftsfreund? … Er ist gekommen, ja, um eines Geschäftes willen. Und eben dieses Geschäft – – nu, ich will dem Efendi alles erzählen.
»Ich hab ihn nicht gekannt, den José Costa aus Tetuan. Nicht einmal gewußt hab ich etwas von Tetuan, wo es liegt, wie groß, was für Menschen. Wo ist Stambul, wo ist Tetuan? Der Efendi kann sich denken. Hätt ichs nur nie erfahren, es wär mir besser; der Efendi kann wohl sagen: alter Narr!
»Nu, aber die Spaniolen von Tetuan haben gekannt die Spaniolen von Salonik, von Triest, von Stambul, in der Levante. Sie haben sich erinnert. Wir sind ja alle gewesen einmal eine Familie. Da war ein gewisser Rosas, in Tanger drüben, Gott soll verdecken sein Angedenken, er ist auch schon tot, sonst würd ich ihm wünschen keinen gesunden Tag – dieser Rosas hat einmal gekauft einen ganzen Posten Tabak und Opium, Esrar, durch mich, und geht her und schreibt dem José Costa einen Empfehlungsbrief, und eines Tags ist der José Costa damit da, und was soll man tun, Gott, ein Glaubensgenosse in der Fremde? Man macht ihm sein Haus auf und nimmt ihn zum Gast.
»Was werd ich lang die Geschichte ziehn? Ich habe bald bemerkt, wozu der José Costa eigentlich nach Konstantinopel gekommen war. Wozu wird er gekommen sein? Wenn ein Mensch kommt, so kommt er gewöhnlich um Geld. Geld hat er gesucht zu einem großen Geschäft; zu einem Geschäft von Millionen, wie er gesagt hat. Millionen, was red ich? Milliarden! Milliarden schon damals, wie man noch gar nicht recht verstanden hat, was das ist, eine Milliarde. Gott nu, so hat der José Costa aus Tetuan gesprochen. Ich kann wissen?
»Gott nu, ists nicht so? An einem guten Geschäft beteiligt man sich gerne. Man hat lieber vier Perzent in einem guten Geschäft als fünfzig in einem schlechten. Der José Costa hat gesucht Kapital. Ein Kapital, wie er gebraucht hat, das hab ich nicht gehabt. Ich soll aufbringen einige fünf Millionen Franken? Mit hunderttausend, mit zweimalhunderttausend hätt ich können eintreten. Es ist gut. Nu, und das übrige hätte ich sollen vermitteln durch Empfehlung, weil ich doch bekannt war unter unseren Leuten in Stambul und Salonik. Darum hat ihm ja geschrieben dieser Rosas in Tanger den Brief an mich. Disteln sollen wachsen auf dem Weg zu seinem Grab; mein ganzes Leben hat er mir verdorben mit einem Stück Papier und zwei Federn voll Tinte. Nu, ich will nichts mehr darüber reden. Gott, es hat vielleicht sein müssen, weiß ich wozu? Vielleicht, damit der Efendi hier vor mir sitzt, auf meinem Dache in Tetuan, und mir weiter hilft – oder mir sagt: Chammer! … Ich bin kein Chammer gewesen, kein Esel – ich mit meinem schönen sicheren Handel in Stambul, der täglich und jährlich gegeben hat seinen Gewinn? … Ein Chammer so groß wie der, mit dessen Kinnbacken Samson erschlagen hat die Philister.
»Nu, wie soll ich erklären? Der Efendi ist ein kluger Mann, er versteht die Menschen und die Welt. Es hätte bleiben sollen ein Geschäft unter uns; ein – – Gott, ein jüdisches Geschäft …« Der Alte hob die Achseln und spreitete wie bedauernd die Arme aus den Ellenbogen. »Schließen sie aus von Rechten und Ansehn uns – gut, schließen wir aus von Geld und Gewinn sie. Sie brauchen uns; wir brauchen niemand; so hab ich damals gedacht … Nu ja. Es hätte also werden sollen ein rein jüdisches, wie sagt man – Konsortium; eine Aktiengesellschaft mit jüdischem Kapital. Heißt das: mit spaniolischem Kapital, mit spaniolischem Geld aus Stambul und Salonik und vielleicht Triest und Smyrna und sonst aus der Levante. Denn, der Efendi wird wissen, die Spaniolen sind Juden für sich. Sie sind besondere Juden unter allen anderen. Sie sind, wie soll ich sagen, dasselbe wie der Adel unter den Christen. Von ihnen ist gekommen, dem Efendi wird es bekannt sein, alle jüdische Bildung und Gelehrsamkeit, vom Talmud ein großer Teil und die ganze Kabbala. Und die feinere Judenschaft von Salonik wie Stambul und Smyrna bis nach Triest hinauf ist alles spaniolisch. Sind die spanischen Juden groß geworden und glücklich gewesen unter den Mauren, sind sie dann auch weiter gewandert lieber unter den Halbmond als unter das Kreuz. Daher kommen die Spaniolen.
»Nu, und das Geschäft, wird jetzt der Efendi fragen, was gehn mich an die Spaniolen, wo ist das Geschäft, das Milliardengeschäft? Ganz recht hat der Efendi. Das Geschäft eben, das ist's gewesen.«
Efrem Efrus machte wieder eine kleine, fast betrübte Pause. Er sprach heute weit ruhiger als am Vorabend, nicht mit überlegen feierlicher Sabbathgelassenheit, aber auch nicht mit gieriger Hast und pharisäisch marktenden Gegenfragen, sondern einfach menschlich nach seiner Art, fast gemütlich und unter wehmütigem Spott verzichtend. Nach kurzem Erseufzen fuhr er fort:
»Das Geschäft eben, das ist's gewesen, das Milliardengeschäft, die große Sach. Ein Milliardengeschäft, Gott im Himmel, wer will sich da nicht daran beteiligen? Das kommt einmal vor in tausend Jahren. Es ist gut. Ich habe mir gesagt: mit hunderttausend, mit hundertfünfzigtausend, mit zweimalhunderttausend Franken geh ich hinein, wenn ich sehe sicheren Nutzen und finde gute starke Teilhaber, einige zwanzig mit ebensoviel Anteil oder zehn oder zwölf mit viermalhundert-, fünfmalhunderttausend Franken. Der Leon Diamantidis, das war gleich einer, auf den ich hätt' rechnen können – dem Efendi vielleicht bekannt der Name? – und der Alexander Flores, der damals den größten Teppich-Han gehabt hat am Bazar, und der Joan Kastro in Salonik, und der Moise Perera in Smyrna, und der Simonidis in Rodosto, und der Benzusan in Skutari, lauter Spaniolen, das sind schon sechse. Gott, wenn ich mich erinner, jetzt bei den Namen: wo sind die? … und wo bin ich, ein alter Narr, ein Chammer! … Alles wegen dem Geschäft; der Efendi wird sehn.
»Wenn man will machen ein Geschäft, wenn man will – wie sagt man – finanzieren eine Unternehmung: gut, so muß man wissen, was? … und wieso? … und wozu? … und wo? … und wieviel? … Nu, und eben deswegen – glaubt mir der Efendi? – haben alle Juden der Levante zusammen dem José Costa aus Tetuan nicht helfen können zu seinem Nutzen und nicht zusammentreten mit ihm zu einer Gesellschaft. Denn gerade das – möchte der Efendi glauben? – hat er nicht angeben können; hat er selber nicht gewußt. Nicht das: was? … nicht das: wo? … nicht das: wieso? … nicht das: wieviel? … Gar nichts hat er angeben können, als daß es in die Milliarden geht. Alles was er hat sagen können, war eine Geschichte von Gold und Silber und Bergen in Marokko. Alles was er gebracht hat neben dem Empfehlungsbrief war ein Stück Papier.«
René trank wieder einen Schluck vom braunen Harzwein und rollte sich erfrischt eine neue Zigarette. Der Alte lächelte schwermütig.
»Der Efendi hat erraten; Gott nu, es war vielleicht nicht schwer. Der Efendi kennt das Papier. Es ist das Papier, auf das wir hätten zusammenlegen sollen unser Geld; das Papier vom José Costa, den ich dann gefunden habe in der Nacht auf den Sukkeß, das Laubhüttenfest, mit einem Sikkin, mit diesem Dolch da in der Brust vor meinem Hause.«
»Wie aber sollen wir Geld zusammensteuern auf die Milliarden Gold in einem Papier, das wir nicht lesen können? … Der Efendi kann; der Efendi ist weit gereist; wir Spaniolen, wir Juden in Stambul oder Salonik sollen etwas wissen von Schrift und Sprache der Tuareq in der Sahara? … Wir sollen setzen unsere Franken darauf? … Gott nu ja, der José Costa hat gemeint, es wird jemand in Stambul – wie sagt man – dechiffrieren können die Zeichen. Aber zu denen, die es vielleicht hätten können, zum Scheich ül Islam oder zu einem Gelehrten, zu denen ist er nicht gegangen. Er kann als ein Jahudi, ein Jude? … Und sollte doch bleiben ein Geheimnis unter uns! Wir aber sind dagesessen mit unserem Gelde und haben nicht gewußt zu raten und zu helfen. Der Efendi kann lachen: dagestanden sind wir wie vor einem Berg, wie vor einem versperrten Kasten, wie vor einem versiegelten Buch, wie vor einem – wie soll ich sagen – verschütteten Bergwerk. Mit dem Betriebskapital, mit dem Hauptschlüssel in den Händen! Was hat es uns genutzt? … Einer hat gemeint, es ist vielleicht Sanskrit, in Wien ein Professor, der könnte es lesen. Ein anderer hat gemeint, es ist ägyptisch, man sollte es versuchen mit dem Brugsch Pascha, der war doch ein Gelehrter und war zugleich österreichischer Konsul, er hat also auch etwas verstanden vom Handel, und gegen eine Beteiligung an der Sache – man braucht doch auch Ingenieure, Arbeiter, Mechaniker – –« Der Erzähler brach erschrocken ab. »Gott nu, aber dann – daß ichs bald sage – schließlich ist eingeschlafen das Ganze … Der Efendi versteht: ein neuer Tag, ein neues Geschäft … Man kauft und verkauft die Orangen, die man hat, die man greifen kann; ist man klug, so liebt man die Frau, die man heiraten kann, und nicht eine in den Wolken … Markt, Handel und Leben, Gott, gehen weiter, weiter, wie die Jahre, wie das Wasser, wie die Schiffe auf dem Meer … Und so bin ich allein geblieben mit dem José Costa aus Tetuan und seinem Papier.«
Efrem Efrus senkte das schattige Antlitz und starrte in seinen geheimnisvoll überstrahlten Bart hinab. Aus benachbarten Dachgevierten traumplätschernd Nachtgespräch; über fernen Marktplatz einsam mondhallende Schritte; vom Gräbertal hinterm verrufenen Berge her das schaurige Aaslachen der Hyäne, weit im düster kühlen Schimmer der nackten Höhen fiel wieder ein Schuß; noch einer.
Der alte Mann sah auf, wie aus einem Buche.
»Ja, so bin ich allein geblieben mit dem José Costa aus Tetuan und seinem Papier. Denn der José Costa ist nicht fortgereist von Stambul. Er hat bei mir gewohnt, in meinem Hause; er hat weiter gehofft und gesucht und studiert und spekuliert – – nu, und ich mit ihm. Denn – – Gott, mir hat er mehr gesagt als wie den anderen. Mich hat er ins eigentliche Vertrauen gezogen; ich war der Einzige. Unter strenger Verschwiegenheit; was hätts auch genutzt, hätt ichs weitergeredet? So sind wir abends oft gesessen und haben die Köpfe gehängt über die Schrift und haben beraten und sind nicht klüger worden davon.
»Kann nun der Efendi fragen: woher hat der Costa gewußt? … Wenn er schon kommt und sucht Kapital, muß er auch etwas wissen. Und wenn er etwas weiß, wieso spricht er nicht? Und wieso geht er auf die weite Reise mit einem Papier, das er nicht versteht? … Hat der Efendi gehört die Schüsse in der Nacht? Das ist die Blutrache; die geht um im Rif. Und Blutrache ist es gewesen auch damals.«
Efrem Efrus holte von Neuem aus, mit veränderter, versachlichter Stimme.
»Hat einer Blutrache da hinten in den Bergen, eine offene Schuld; hat Frau und Kinder und will den Blutpreis zahlen. Das waren einige tausend Franken damals; heute gibt man vier Mausiehr oder fünf, und hundert Patronen zu jedem. So wird es berechnet, geboten und genommen für einen gewöhnlichen Totschlag; das Dreifache oder Fünffache für einen wirklichen Mord. Nu, es ist gewesen ein Mord. Ein echter, wirklicher Mord. Und dieser Mord ist selbst geschehen für einen Mord, und dieser für einen anderen, und dieser wieder für einen anderen, und so hinauf weiter bis ins zehnte und hundertste Glied. Das ist die Blutrache.
»Dieser aber, wie ich erzähl, hat wollen den Blutpreis zahlen, woher soll ein Rifi nehmen dreitausend, fünftausend Franken? Soviel sind nicht wert die Hammel seines ganzen Stammes. Der Handel mit Gewehren ist damals noch nicht gewesen in Gang wie heute, wie soll er nun schaffen das Geld, daß damit seine Sippe den Frieden aushandelt, während er selbst geht für eine Weile außer Landes?
»Er kommt nach Tetuan; hat zur Nachtzeit eine Zusammenkunft mit dem José Costa; spricht zu ihm: so und so. Spricht der Costa: es ist gut, aber wo seh ich meine Sicherheit? … Spricht der andre: kennen wir uns denn nicht seit Jahren? hab ich nicht oft genug Ware bezahlt in gutem Gold? … Sagt ihm der Costa: hast du Gold, was zahlst du den Blutpreis nicht damit? … Entgegnet der andere: Gold braucht Zeit, ich aber muß gehen außer Lands, sonst wird söhnelos meine Mutter und eine Witwe mein Weib … Spricht zu ihm der Costa: es ist gut, gib sichere Pfänder und siebzig Perzent, hier ist das Geld, das Geschäft ist gemacht … Jammert der andre: Pfänder, was soll ich geben für Pfänder? … Spricht dagegen der Costa: gib Gold für tausend Franken, will ich dir dann darleihen das übrige gegen fünfzig Perzent … Verschwört sich der andre: ich hab jetzt kein Gold, nicht für tausend, nicht für dreihundert, nicht für hundert Franken, was soll ich tun, ich hab es nicht, und hab auch keine Zeit … Fragt der Costa: wo findest es du denn sonst, das Gold? Gib Auftrag deiner Familie und mir eine Sicherheit, sie können dann mir verkaufen oder verpfänden das Gold, geb ich ihnen das Geld für deinen Loskauf von der Blutrache … Sagt der andre, die Familie wüßte nichts, wüßte nicht wo und wie, und das ginge nicht … Wo es denn also herkäme, das Gold, fragt der Costa weiter … Sagt der andre, das wüßt er selber nicht, er hätte es eingetauscht in Figig oder in Fes oder in Schauen von einem Pilger aus dem Uad Draa, und dazu ist Gelegenheit nicht alle Tage … Zuckt der Costa die Achseln und spricht: dann kann er nichts machen, ohne Pfand gibt er Geld nur an sichere Leute und nicht unter hundertfünfzig Perzent … Meint der andre: nun, er will es sich noch einmal überlegen, und nimmt sein Gewehr und geht.
»Nu, und kommt in der zweiten Nacht wieder und bringt ein zusammengefaltetes Stück Papier und legt es dem Costa hin: ob er das annehmen will als Pfand … Der José Costa sieht an die Schrift: was soll das bedeuten? … Sagt der andre nur: es ist so gut wie Gold und ist mehr wie Gold … Der Costa lacht ihm ins Gesicht: so gut wie Gold, Gott, das kann ein jeder sagen von einem Fetzen aus einem alten Koran … So hat freilich der José Costa nicht gesprochen, der Efendi kann es sich denken, er hat sich gehütet als Jahudi gegen einen Rifi, aber gefragt hat er noch einmal, was das bedeutet, damit kann er nichts anfangen, das ist kein Pfand … Sagt der andre drauf in vollem Ernst: es ist so gut wie Gold, es ist mehr als ein Beutel Gold, es bedeutet Gold und ist das beste, was er zu geben hat … Erwidert der Costa: auf bloße Worte leiht er nichts her, mit wieviel Perzenten er einlösen will den Zettel? mit zweihundert? … Bedenkt sich der andere: zweihundert, nein, das könnte er nicht, das wär ihm zuviel, mit hundert vom Hundert, in Allahs Namen! … Das ist dem Costa durch den Sinn gegangen: hätte der andre zugeschlagen auf zweihundert, so war das Papier ein Tinnef, war nichts wert, da er aber hat gehandelt, so ist dabei gewesen eine Bedeutung … Nu, aber der Costa macht noch eine Probe: weil du es bist, so sollen es sein hundertsechzig, wie ich sie sonst nehme von sicheren Leuten ohne Pfand, aber weniger nicht um eins vom Hundert … Der andre drauf: nein, hundertsechzig kann er nicht, das kann er nicht versprechen – hundert, wie er angeboten … Der José Costa: hundertsechzig, nu in des Allerbarmers Namen hundertfünfzig, das letzte Wort … Das letzte Wort? … Ja, das allerletzte Wort; hundertfünfzig mit Zinseszinsen, auf drei Jahre … Da, wirklich, nimmt der andere sein Papier, steckt es in seine Schkara und will gehen: hundertfünfzig mit Zinseszins, nein, dann soll lieber die Blutrache nehmen ihren Weg … Ruft ihn der José Costa zurück: gegen ganz sichere Pfänder leiht er zu sechzig und achtzig, gut, wenn er weiß, daß dies ist ein halbwegs sicheres Pfand, will er machen eine Ausnahme und vorstrecken das Geld zu hundert, was hat die Schrift für einen Wert, was bedeutet sie, ist es ein Schuldbrief, ist es eine Verschreibung, kann man etwas damit anfangen? … Beteuert der Mensch beim Barte des Propheten, der Schein wäre Gold, wäre lauteres Gold, wäre mehr Gold, als im ganzen Rif zu finden von Tanger bis Oran, wäre das Gold selbst … Was heißt: das Gold selbst? fragt der Costa – gut, ich will dir glauben, gut, du sagst Gold, gut, es soll gelten für Gold, aber weiß ich? Und weiß ich, ob du weißt? Bring mir zweie, die das bezeugen, die dafür bürgen, die das für wahr erklären, zwei sichere Männer, so können wir weiter reden … Erschrickt der andre furchtbar und reißt sich in den Bart: um des Propheten willen, keiner darf das wissen, keiner, auch aus meinem eigenen Stamme, auch aus meiner eigenen Sippe nicht, sonst – – … Merkt nun der José Costa deutlich, wie das Wetter steht, sieht das Feuer unter dem anderen seinen Sohlen, denkt bei sich: es können sein fünftausend verlorene Franken – es können werden fünfzehntausend Franken ohne den Zinseszins – es können auch werden Millionen, Gott, Milliarden – besser gewinnen einen kleinen Verlust als verlieren einen großen Gewinn, fünftausend Franken, Gott, kann man bald wieder einbringen, Millionen nicht in einem Leben, Milliarden nicht in alle Ewigkeit – – aber der Efendi hat eine Frage?«
»Ja. Hören Sie, Monsieur, hundert, hundertfünfzig Perzent – ist das Ihr üblicher Zinsfuß hierzulande?«
Efrus hob die Achseln.
»Gott, was heißt üblich? … Auf dem Dorfe, weiter drin in den Bergen kann man Geld borgen zu fünfzehn, zu zwanzig vom Hundert; in den Städten nimmt man sechzig mit gutem, achtzig mit schlechtem Pfand, hundert ohne Pfand mit Bürgen, hundertfünfzig ohne Bürgen und Pfand …«
»Ich danke. Na, Ihr Schuldner möchte ich nicht gerade sein.«
Der Alte gestikulierte mit hohepriesterlichen Händen.
»Gott, wie der Efendi denkt? … Man verleiht doch nach dem Ansehn der Person! … Und man muß rechnen die Gefahr, die Spesen, die Verluste! … Es ist nicht wie in Europa, wo ich hingehe und sehe ins Grundbuch und reiche ein die Pfändungsklage! … Wie oft, daß man findet nichts zu nehmen für sein gutes Geld! … Dafür büßen die andern mit hohen Perzenten. Es ist wie in einem Lande, wo die Gesetze zugeschnitten sind nach den fünfundneunzig Perzent Mördern und Dieben und nicht nach den fünf Perzent Gerechten.«
Rene spülte sein empörtes Staunen in harzbraunem Wein herunter. Eigentlich wahr. Die indischen Tiger und Brillenschlangen sind auch nicht schuld an ihrem furchtbaren Ruhm – sondern ihre blödsinnig frommen Opfer, die sich andächtig fressen und beißen lassen statt selbst dergleichen zu tun.
»Meinetwegen. Aber ich sage Ihnen, ich gehe nach Europa, komme mit hunderttausend Franken zurück, lasse mich in Tetuan als Geldverleiher nieder und mache Ihnen Konkurrenz. Das scheint mir der wahre Djebel Hamam zu sein. Einen dickeren Goldberg gibt's ja überhaupt nicht. Nun, weiter. Ihr José Costa – – fünftausend Franken kann man bald wieder einbringen, Millionen nicht in einem Leben, Milliarden nicht in alle Ewigkeit – – – das heißt, noch eine Frage! Wind hatte er doch, der selige José Costa, eine dämmernde Ahnung, einen Tau, eine Spur? Oder?«
Efrus hob den Rücken.
»Was heißt Ahnung, was heißt Spur? … Gewußt hat er, daß Gold ist im Lande, viel Gold, massenhaft Gold. Daß man es nicht eintauscht auf Märkten und nicht geschenkt bekommt von Geistern, daß es irgendwo liegen muß, in einem Versteck, in alten Gräbern, in den Bergen. Das, Gott, wissen die Spaniolen schon seit Hunderten von Jahren!«
»Aber die Schrift, das Papier! Konnte doch wirklich ein Fetzen aus einem alten handgeschriebenen Koran sein.«
»Sag ich ja: hätte der José Costa nicht gehabt eine bestimmte Spur, er hätte auch nicht einen Groschen gegeben auf den Zettel.«
»Was für eine Spur?«
»Gott, Spur?« Efrus kramte unruhig in seinem Barte. »Es ist, Gott, ein altes Gerede von einem Gerücht, von einem großen Schatz, von einem Geheimnis, das im Besitze sein soll von nur wenigen Kbail, von nur wenigen Geschlechtern oder gar Männern dieser Stämme. Von einer gehüteten Kunde, darum schon viel Blut geflossen wäre und Rache sich vererbt habe in den Bergen. Gott nu, ein altes Gerede!«
»Ah. Höchst spannend. Da kommen wir glücklich wieder auf unseren guten alten Djebel Hamam. Und diese Kunde wäre ausgerechnet im Temahak überliefert, in Tefinaq abgefaßt?«
»Weiß ich? … Hat doch der Costa auch nicht gewußt, was das ist, Temahak und Tefinaq.«
»Wie das Beispiel zeigt. Und ist doch eigentlich naheliegend. Aber nun weiter, Verzeihung.«
»Gott, weiter? … Es ist nicht mehr viel weiter. Der Costa hat also bedacht und gewägt den kleinen Verlust und den großen Gewinn, hat das Papier angenommen als Pfand und darauf dem Menschen vorgestreckt fünftausend gute Franken, ohne Bürgen, ohne Zeugen, zu hundert Perzent und mit Zins vom Zins, Verfall in drei Jahren. Das heißt, wenn der andre hat wollen und können, so war der Schein auch auszulösen früher, an jedem Tage, zu jeder Stunde, gegen Kapital und Interessen, natürlich. Damit war perfekt das Geschäft, der Mann ist verschwunden, und der Costa hat nichts mehr gehört und gesehen von ihm über die ganze Zeit.«
»Die ganze Zeit?«
»Die ganze; volle drei Jahr.«
»Und der Blutpreis?«
»Der ist ausgehandelt worden und ausgezahlt; das hat der Costa erfahren.«
»Und der Mörder blieb trotzdem außer Landes?«
»Er war vielleicht wieder im Lande. Aber was hätte er suchen sollen beim Costa? Man geht nicht gerne zu seinem Gläubiger, es ist eine alte Sache.«
»Seltsam. Na, lassen wirs. Also, Ihr unglücklicher Freund mit dem berühmten Namen. Drei Jahre, das muß ihn auf den Nägeln gebrannt haben.«
Efrus lächelte unheimlich. »Der Efendi sagt recht. Es hat ihn gebrannt. Es hat ihn mehr gebrannt mit jedem Monat und mit jedem Tag. Er hat sich verliebt in das Stück Papier, verliebt hat er sich in die Schrift, davon er hat nicht ein einziges Zeichen lesen können. Zu jeder freien Stunde, jede Nacht ist er darüber gesessen und hat nachgesonnen, und hat gerechnet und hat gebaut an einem goldenen Schlosse mit diamantenen Fenstern, und hat sich ganz und gar eingewohnt darin und hat von da aus gesponnen ein Netz über die ganze Welt. Gott! … so kann es kommen über einen. Und glaubt mir der Efendi: so kann es ergehen auch einem Juden, trotzdem daß man uns nicht viel Zeit gelassen hat zum Dichten und zum Träumen. Träumt man aber erst von hunderttausend, träumt man bald von einer Million; träumt man eine Million, träumt man bald in Milliarden. So ist es geschehen dem José Costa. Das Papier, in das er sich verliebt, hat gelegen zuerst in seinem Schranke, dann in seinem Pulte, dann in seinem Buche, dann des Tags auf seinem Herzen und des Nachts unter seinem Kissen; so ist nichts anderes mehr gewesen in seinem Sinn. Nu, und wie seine Frist herum war, weiß ich? … auf einmal kommt er mit dem Briefe vom Rosas nach Konstantinopel und ist da und sucht Geld zum großen Unternehmen.«
Der Alte erzählte nun drängend weiter, wie um sich rasch vom dünnen Boden einer brüchigen Stelle zu entfernen.
»Ist also da und sucht Kapital, jüdisches, spaniolisches Kapital. Wie das gegangen, der Efendi hat es schon gehört. Wer schießen will, muß doch haben ein Ziel. Flinte war da, Pulver war da, aber ein Ziel war nicht da. So ists derweilen eingeschlafen. Und der José Costa ist trotzdem geblieben. Hat mit mir überlegt und gerechnet, hat mich vollgeredet aus seinem Herzen, hat etwas gewußt und etwas gehabt in der Hand, und hat doch nichts gehalten in der Hand. Und hat immer wieder gestarrt in das Papier bald wie Wahnsinniger, und hat nicht wollen zurückgehen nach Tetuan.
»Der Efendi wird fragen nach seiner Frau und seinen Kindern. Auch die hat er wollen lassen nach Konstantinopel kommen. Geld war bei ihm genug, um zu eröffnen in Stambul oder Skutari oder vielleicht Rodosto ein kleines Geschäft. Fragt er mich darum. Gott nu, mehr eine Konkurrenz, was kanns mir schaden? Sag ich ihm: eine Wechselstube zum Eingewöhnen, und dann ein Export, vielleicht nach Marokko und Algier, Tabak und Opium, oder Teppiche oder Leder oder Safran oder Rosenöl oder Galläpfel oder Aufkauf und Versendung von Hundekot – der Efendi entschuldigt – wie man ihn immer braucht zum Gerben. Es ist gut; und wir gehen eines Tages zusammen nach Galata hinüber wegen einer Gelegenheit und fahren dann nach Skutari zum Eigentümer und kommen zurück wieder über Galata und die Große Brücke. Nu, der Efendi wird wissen: was sieht man nicht alles, was geht nicht alles hin und her auf der Großen Brücke, Armenier, Araber, Inder, Ägypter, Juden aus Rußland und Juden aus Syrien, Griechen, Tscherkessen, Tartaren, Kurden, Europäer, Zigeuner, Neger, Perser! … Gott, man schaut nicht mehr, man hat seinen Weg und sein Geschäft und ist froh, wenn mans hinter sich bringt im Gedränge. Aber damals: bleibt mir der Costa stehen und starrt und wird ganz anders im Gesicht, und zieht mich weiter und starrt wieder zurück, wie nach einem Gespenst oder nach einem schrecklichen Tier, oder wie nach einem, den man tot oder weit in der Fremde geglaubt, oder, Gott soll mich behüten, wie nach der Gestalt der eigenen Frau bei einem anderen … Denk ich mir zuerst: Gott, er hat den Bettler gesehen mit den sieben Nasen, der sitzt da gewöhnlich, oder vielleicht den Hamd el Kawwi, den Hammal, der da manchmal seine vierhundert, fünfhundert Okken schwere marmorne Tischplatten hinüberträgt nach Galata, daß man meint, die Brücke und das goldene Horn zittert unter ihm … Aber der Costa stiert und stiert und blickt zurück wie mit umgedrehtem Hals. Frag ich ihn: was siehst du, was hast du? … komm, daß wir herauskommen aus dem Volk! … Sagt er drauf: nichts, nichts! und schielt noch einmal rückwärts, und ich mit ihm, merk nichts besonderes, Griechen, Armenier, Tscherkessen, Arnauten, und einen in braunem Mantel, der schaut uns nach mit blauen Augen, die sind mir, ich weiß nicht, aufgefallen. Nu, aber was kann der schon bedeuten, ein brauner Mantel ist nichts seltenes, blaue Augen sind auch nichts seltenes, nur hat der Costa selber gedrängt, und endlich waren wir drüben in Stambul.
»Gott, der Efendi liest fremde Schriften, er liest auch diese Schrift und hat es schon erraten, ich kanns machen kurz. Der Costa hat nichts gesagt, so hab ich ihn nichts gefragt. Einmal hat er etwas gesprochen von einer Ähnlichkeit – ob auch Berber aus dem Maghrib wohnen in Konstantinopel? Ich soll wissen? Konstantinopel – Gott, eine Stadt! … werd ichs noch einmal sehen mit meinen Augen? – Konstantinopel ist groß, es hat mehr Häuser als Waben ein Bienenstock und jedes Haus bald ebensoviel Löcher und Schlupfe; es kommen da zusammen alle Völker der Welt von Maroc bis China, soll man da wissen? … Nu, und Zeit ist weiter hingegangen, ich habe vergessen, der Costa hat vielleicht auch vergessen, aber stiller ist er jetzt gewesen, von dem großen Unternehmen und von der Schrift hat er weniger geredet, und auf den Straßen hat er sich immer umgeschaut, wie einer, der sich vor den Hunden fürchtet.
»So ist gekommen der Herbst; ich in meinem Geschäft und meiner Familie; und am Tage nach dem Jom Kippur, ich weiß noch wie heute, hat der Costa aufgetan eine Wechselstube drüben in Galata, gleich hinter der Brücke, der Efendi kennt ja, im Börsen- und Postviertel; ein ausgezeichneter, der allerbeste Platz, man kann werden da ein reicher Mann. Nu, Gott, ich hab ihms vergönnt; hab ihm doch selbst verholfen dazu; es kann nicht einer haben und betreiben alles.
»Gewohnt hat er noch bei mir; aber in Unterhandlung ist er schon lange gestanden mit einem aus Skutari wegen einem Hause in der Jeni Dschami-Straße und dem dazugehörigen Geschäft, gerade gut passend zu seiner Wechselstube; hat er gehabt ein Glück, nu. Die Jeni Dschami-Straße, der Efendi erinnert sich –«
»Wo heute ein Bahnhof steht,« unterbrach René.
»Ein Bahnhof? Gott! In der Jeni Dschami-Straße?«
»Ja; das wissen Sie nicht? Von da fährt heute die Drahtseilbahn durch einen Tunnel nach Pera hinauf.«
»Drahtseilbahn? Tunnel? Pera hinauf? Gott, Gott! Was muß heute für ein Handel sein in Konstantinopel! … So ein Narr! Chammer! … Hätt mirs der Efendi lieber nicht erzählt! … Und alles wegen diesem – – aber, daß ich zu einem Ende komm.
»Also gewohnt hat er noch bei mir, derweilen. Bald nach Sukkeß, dem Laubhüttenfest, hätt seine Familie eintreffen sollen aus Tetuan. Zurück dahin hat er nicht mögen. Konstantinopel hat ihm besser gefallen. Ich verstehs. Mir auch, sei Gott mein Zeuge. Nu, und das Papier, das hab ich ihm solang aufbewahrt in meiner eigenen Kasse und hab ihm gegeben eine Bescheinigung darüber. Hätts ihm nicht genommen, wär ihm sicher gewesen auch ohne den Tinnef von einem Zettel. Was soll man anfangen mit einer Schrift, die keiner lesen kann, und wenn darin gezeigt ist der Weg nach dem Lande Ophir? Es ist wie ein Testament über eine Million Dukaten, die ertrunken sind auf dem Grunde des Meeres oder eingemauert liegen in einem ewigen Grab. So war dem José Costa verbrieft sein taubstummes Papier, und so oft er hat wollen, hab ichs ihm vorgezeigt, und dann hat er immer wieder darüber gesonnen und geseufzt und es zurückgelegt in seinen eisernen Sarg.
»In dieser Zeit ist aber noch eine Veränderung geschehen mit dem Costa. Er ist unruhig gewesen wie – wie soll ich sagen – wie ein Hund, der spürt eine Leich im Hause, oder – – oder wie einer, der bald sterben soll und der Tod sitzt ihm schon im kranken Herzen, und er fühlts. Ich hab meine Arbeit im Geschäft gehabt, Gott: – war ich zum Wächter gesetzt über den José Costa aus Tetuan, den ich früher gar nicht gekannt? Ich hab nichts bemerkt, aber meine Frau, wie Frauen schon sind, sie haben ein Barometer in sich und verdunkeln von jedem Hauch wie ein Spiegel: den Costa sieh dir an, sagt sie, was ist mit ihm, dem geht etwas nach, hinter dem wachst ein Schatten … Was für ein Schatten? frag ich, Gott, was wird sein mit ihm, Sorgen hat er, Arbeit hat er, Sehnsucht nach seiner Familie hat er, was heißt: geht ihm nach? Das Geschäft geht ihm nach, der Handel um das Haus geht ihm nach, das geht ihm nach – – der Efendi will fragen?«
»Ja. Ihre Frau – hatte sie Kenntnis von dem Papier? Von der ganzen geheimnisvollen Goldgeschichte da?«
Efrus hob erschrocken abschwörend die Hände.
»Wofür hält mich der Efendi? Meine Frau wird Kenntnis haben? Von fremden Angelegenheiten, von solchen! Hat eine Frau Kenntnis, hat eine ganze Stadt Kenntnis, und ist sie groß wie Konstantinopel und die Frau verschwiegen wie ein Toter! … Wofür hält mich der Efendi? … Aber wahr hat sie gesprochen, meine Frau. Ganz verstört war der Costa manchmal, ganz verloren, wie einer im Fieber, wie einer im Wahnsinn. Und dabei hat er gerade erst eröffnet seine Wechselstube und endlich gekauft auch das Haus in der Jeni Dschami-Straße, für billiges Geld, mit mehr Glück als Dukaten. Hätt er froh sein dürfen und sich die Hände reiben; und ist herumgegangen mit Augen wie einer, der zu lange in den Büchern der Kabbala gelesen, der ein furchtbares Gespenst gesehen oder sich selbst. Und, glaubt mir der Efendi? – frag ich ihn eines Tages: hast jetzt dein Haus, wirst bald darin wohnen, willst nicht verwahren auch deine Schätze, soll ich dir zeigen, soll ich dir wiedergeben dein Papier? … Spricht er drauf: nein, nein und redet sogleich von etwas anderem, mit einem Blick – Gott, wie ein toller Hund. Denk ich, mach ich ihm eine Freude, sag: nu, hast billig gekauft, hast gekauft wie der Gläubiger vom Schuldner (schrickt er zusammen bei diesen Worten), war gleich der Kauf schon ein glänzendes Geschäft mit hundert Perzent Gewinn (zuckt er wieder wie von einer bloßen Wunde), kannst lachen … Antwort er nichts, bleibt lang still, starrt wie ins Finstre, kraut sich im Bart, spricht endlich: am liebsten rnöcht er gleich wieder verkaufen, oder rückgängig machen ums Reugeld, ob ich ihm Empfehlungen geben könnte für Odessa, Salonik, nein, nicht Salonik, Edirneh vielleicht, oder am liebsten gleich Triest? … Gott über die Welt! sag ich, bist du bei Verstand, bist du bei Verstand, bist du bei Vernunft? Hast getan einen Schenkkauf, hast dich eingerichtet hier, hast alles bereitet für deine Familie, hast gemacht einen guten Anfang, was ist dir? … Antwort er nichts auf das: am liebsten möcht er doch wieder verkaufen, heute noch, wenns ginge, ob ich Empfehlungen geben will für Odessa oder Triest? … Nu, sag ich bei mir, der Mensch ist krank, der ist um den Kopf gekommen durch das Papier und die Milliarden, wird vielleicht auch so stehen mit denen, eine Einbildung oder eine Geschichte … Empfehlungen nach Odessa und Triest könnt ich schon ausstellen, sprech ich laut, aber wie das wär mit dem Russischen und Italienischen? … Entgegnet er nichts drauf; geht auf und ab, reißt sich den Bart, krallt die Fäuste, horcht immer in die Nacht hinaus; man hätt selber in Angst fallen können davon … Sagt endlich nach solcher Weil mit einem Seufzer: Eins muß er verkaufen, Eins – – und starrt wieder ins Dunkle, und gibt sich dann wie einen Stoß und geht nach seiner Kammer schlafen. – Schlafen: weiß ich, ob er hat geschlafen?
»Nu und am anderen Tage geht er ins Geschäft nach seiner Wechselstube und kommt schon früh heim und sitzt und stiert … Und am dritten Tage wieder so; und alle folgenden Tage. Und fragt wieder nach Empfehlungsbriefen für Odessa oder auch Athen oder Korinth oder Nikosia auf Cypern: nur verkaufen, und fort von Konstantinopel! … Sag ich ihm: Cypern ja, Nikosia, da kommt man vielleicht aus mit Türkisch, Arabisch, Französisch, etwas Griechisch, das lernt man bald zur Not, dort weiß ich den Isaac Chrysodoulos, hat einen griechischen Namen, ist aber ein guter Spaniole, dem könnt ich ihn empfehlen … Da wird er ganz wach: gut, gut, nach Cypern, nach Nikosia, und wenns auch nur ein ganz kleines Geschäftchen ist … Und ich möchte den Brief ihm noch heute schreiben; und morgen will er sehen, daß er seine Wechselstube anbringt und das Haus im Reuverkauf, nur fort, fort von Konstantinopel! … Denk ich bei mir, dir wär ein Empfehlungsbrief zu geben am besten an ein Narrenhaus; sag aber: ja, ja, und setz mich hin und beginne an den Chrysodoulos; der soll dann weiter sehen, was er macht.
»Der Efendi ist bekannt mit dem Haus im Bazarviertel. Es sind Häuser wie dieses, in der Mitte der Hof für die Waren, unten die Keller und Magazine, oben von der Galerie aus die Zimmer. Das meine hat gesehen durch ein vergittertes Fenster auf die Straße; es ist notwendig, daß der Kaufmann wohnt im Auge seines Hauses.
»Auf einmal, ich habe gerade überlegt, ruft mich der Costa. Er steht am Fenster, stiert durchs Gitter; draußen über der Stadt ist gewesen schöner klarer Mondschein, wie heute hier in Tetuan über dem Dache da, wo wir sitzen und ich erzähle dem Efendi die Geschichte. Aber der Efendi weiß, im Herbste steht der Mond höher als im Sommer, und er leuchtet dann heller auch in die Tiefe der engen Gassen.
»Stiert also durchs Gitter, der Costa, und ruft mich: da! … ob ichs nicht auch sehe? … und zittert und schwitzt am ganzen Körper … Sehe? was? … Ich habe nichts gesehen … Da, da, da unten der Mensch! … Was für ein Mensch? Da ist kein Mensch! … Der im braunen Mantel! Da! Da unten steht er und schaut herauf! … Gott, glaubt mir der Efendi? Nicht heimlich ist mir gewesen zumute. Aber nicht wegen dem braunen Mantel. Da war kein brauner Mantel. Der Mondschein war da in schmalem Streif, und die Hunde haben geknurrt und genagt im Schatten, und irgendwo droben in Kara Gömrük oder Sarmadschyk hat es gebrannt und man hat gehört die eisernen Stöcke der Feuerwehr … Vor einem braunen Mantel ist mir nicht unheimlich gewesen, was soll mir ein brauner Mantel, was heißt brauner Mantel? … Aber vor dem José Costa selber, glaubt mir der Efendi, ist mir unheimlich gewesen, er war auf einmal gealtert um hundert Jahr, seine Nase spitz und wächsern bis in die Nüstern hinein und seine Augen voll Tod … Glaubt mir der Efendi, froh war ich, daß er hat weiter wollen, wegen meiner nach Sibirien oder ins Land, wo der Treffschlag wachst, ich hab nix gern Narren und Gespenster und lebendige Tote in meinem Haus … Sag ich zu ihm: wo ist da ein brauner Mantel, ich seh keinen braunen Mantel, was ist schon braun im Mondschein und in der Nacht? Die Hunde sind unten, fressen an einem Knochen oder an einem alten Schuh, die haben dir vorgemacht Einen im braunen Mantel! … Doch, doch! redt er heiser und wild und kann nicht wegschauen vom Fenster, als spräng ihm sonst etwas in Rücken – doch, dort hat er gestanden im hellen Mond und hat heraufgeblickt, hab ihn doch erkannt, seine Augen haben gefunkelt wie krumme Messer im Schatten der Kapuze … Kapuze, was für Kapuze? Was tust sprechen für Stuß? Von wem tust sprechen? Wer soll haben gestanden? … Der mir immer nachgeht! … Dir soll nachgehen Einer? Wer soll? … Geht mir nach in den Straßen und wartet auf mich auf der Brücke! … José, sag ich, was ist dir, du bist krank, wer soll warten auf der Brücke? … Reibt er sich die Stirn, die ist ganz naß: wollt, ich wär bloß krank! … José, frag ich, wer? Auf der Brücke, da stehen die Mauteinnehmer, warten auf jeden … Ja, Mauteinnehmer, lacht er auf, daß mir selber ganz kalt wird, der richtige Mauteinnehmer, der Mautner, will nehmen seinen Zoll! … Wer? frag ich noch einmal. Wartet? Geht nach? Siehst du Geister am lichten Tag? Wer? … Geister? lacht er auf und schaut mich an zum Fürchten, nein, ich bin noch nicht ganz meschugg! Der! – und deutet mit dem Kopf nach meinem Geldschrank; der! Der Andre! … José, sprech ich zu ihm, bist nicht meschugg, nein, aber ist dein Verstand gegangen in dein Herz, und dein Herz in ein gestorbenes Papier? Oder hast du Sorge darum? Soll ich dirs vorzeigen? … Nein, nein! und wehrt mit beiden Händen – so; laß liegen, laß eingesperrt, laß vergessen sein! … Und zieht sich wie einen Schleier oder wie Spinnweben vom Gesicht und hat andre Augen: es waren vielleicht doch die Hunde, hast recht, ich bin jetzt manchmal so aufgeregt, es ist vielleicht die große Stadt, ich bins nicht gewöhnt, will dir morgen erzählen. Aber schreib jetzt den Brief, werd sehn, daß ich loskomm von Haus und Kauf, es ist nichts für mich … Hab mich also wieder hingesetzt und war froh, glaubt mir der Efendi, sollte der Chrysodoulos itz einmal den Kunden haben, wo er mich betrogen damals beim Wein, waren zweihundertneunzig Okken statt dreihundert, der Rest Kolophonium und Satz, hat der Wein verloren an Gewicht dreiundhalb Perzent von Cypern bis Konstantinopel, alter Ganef.
»Nu, und der Brief war geschrieben und der Costa hat ihn genommen, und der nächste Tag war schon der Rüsttag zum Sukkeß, zum Laubhüttenfest, der Efendi wird wissen. Ich bin gewesen schon früh im Geschäft und am Hafen unten und Zoll, es ist Ware gekommen aus Smyrna und Beirut, Teppiche, Korinthen und Wolle von der Beka'a, und ist Ware kommen von Triest und Fiume, so hab ich mich nicht bekümmern können um den Costa, und war ich zum Hüter bestellt über ihn? Geh zu Mittag einmal nach Hause, erzählt mir meine Frau, er ist zeitig nach mir fortgegangen, aber ein Gesicht hat er gehabt wie einer, der seit einem Jahre nicht mehr geschlafen, und wie sie ihm durch das vergitterte Fenster nachgesehn, hätt er sich schon vom Tor und weiter immerfort umgeschaut wie ein Dieb. Nu, Gott, wenn einer um den Verstand gekommen ist, muß ich dann den eigenen auch noch verlieren? Wo nehm ich die Zeit für anderen ihre Verrücktheit? Wer zahlt dafür? … Wird der Costa in Cypern noch ausschlafen genug, denk ich mir und sag ich zu meiner Frau, und lauf wieder ins Geschäft, daß ich fertig werd mit all dem zum Abend und zum Schalet und zu meinem Frieden; war viel noch auszuladen und um, und zu wägen und zu verzollen und einzubringen in die Magazine, was weiß ich, ein Haufen Arbeit, dabei vergißt man auf solche Sachen. Und hab mich, soll Gott mich strafen, nicht eher erinnert an den Costa, als bis ich gewaschen war zum Feierabend und die Kerzen auf dem Leuchter waren angesteckt und der Schalet fertig und hat gewartet und unser Gast ist nicht da und kommt nicht, und es wird spät und immer mehr spät, was sollen wir tun? Wir waren daheim und er war in der Fremde, und morgen war Sukkeß, ein großes Fest; so haben auch wir auf ihn gewartet und geredet und noch gewartet, eine lange Zeit. Und haben schließlich das Gebet gesprochen und uns niedergesetzt zum Essen; aber, glaubt mir der Efendi, es hat mir nicht geschmeckt an diesem Rüstabend, keine Ruhe hab ich gehabt, es ist mir gewesen da drinnen, als rufet mich Einer von Weitem oder aus der Tiefe, eine Stimme war in meinem Herzen, daß ich hab müssen horchen, bin aufgestanden zum Fenster und wieder zurück, hat mir zusammengewürgt den Schlund und mich gebrannt unter den Sohlen, steh wieder auf, hör nichts, hin und her, und was da drinnen ruft und ruft und zieht an mir, und meiner Frau ists ergangen ebenso, die sieben Kerzen flackern wie von einem Wind, der in der Stub war und den man doch nicht gespürt hat, wie vom Atem Eines; da ist der leere Platz und der leere Teller, und sitzt doch Einer darauf und ist doch ein Gast zu Tisch … Und steck schließlich ein Licht an in der Laterne, in eben dieser da – und nehm sie und bin gegangen, müd wie ich war, zu suchen der mich ruft und bei uns am Tische sitzt nur als ein kalter Hauch … Ja, soll der Efendi lachen, wenn er will; man ist manchmal nicht der Herr über seine Wege.
»Finden einen Menschen in Konstantinopel zur Nacht, der Efendi kann sich denken! … Nu, ich bin zuerst hinuntergegangen durch die Usun Tscharschy bis zur Moschee des Rustem Pascha, dann hin und her durch das ganze Viertel Walide Sultan, wo es manchmal gefährlich ist wegen der Nähe des Hafens, dann wieder zurück hinauf durch die Tschakmadschylar bis zum Valide Han, der Efendi erinnert sich vielleicht. Aber da war nirgends etwas, was hätt sein sollen auch? Mondschein war, und die Hunde überall mit ihren Knochen und alten Schuhen und toten Katzen, und drunten im Hafenquartier das Volk, das da Weiber sucht in den Straßen mit den gelben Laternen. Beim Walide Han an der Ecke gegen das Bazarviertel bleib ich stehn und denk nach und horch: immer noch rufts da drin, und ich kehr um und geh zum zweitenmal hinunter nach dem goldenen Horn, diesmal gleich zur großen Brücke und hinüber nach Galata. Daß er auf der Brücke immer wartet, hat der Costa gesagt, der andere, der im braunen Mantel; mir ist selber nicht gut gewesen, wie ich mich an das erinner, aber da waren noch mehr Menschen, man ist in Gesellschaft, man verliert die Angst, so komm ich glücklich auf die andere Seite. Zum Wechslerladen: der ist geschlossen. Zum Haus in der Jeni Dschami – vielleicht, daß er gleich da bleibt, daß er sich nicht in der späten Nacht nach Stambul hinein getraut? … Aber da ist alles tot. Soll ich noch nehmen einen Kayk und hinüberfahren nach Skutari? Am Ende, daß sie dort verhandeln wegen des Rückkaufes? … Ich geh an die Brücke, will schon einen Kaykdschy rufen; besinn mich, da ist ein Mauteinnehmer, den ich kenne, ich frag ihn: hast du Einen gesehen, so und so? … Gott, er soll wissen? … Hast du Einen gesehen, siehst du hier manchmal Einen in braunem Mantel mit einer Kapuze? … Spricht er: ja, ist der ein Freund von dir, ein Bekannter? Der steht oft da und wartet; den hab ich jetzt jeden Tag gesehen … Heut auch? – mir wird ganz kalt aus dem Kaftan herauf – heut auch? … Ja, wie nicht, heut auch, jetzt zu Abend, da ist er von Galata her gekommen und hinüber … Hinüber; hat nicht gewartet? … Nein, hat heut nicht gewartet, ich weiß nicht, vielleicht am Mittag oder Nachmittag, da steht ein andrer hier; jetzt zu Abend, war schon dunkel und das Nachtgebet vorüber, ist er von Galata gekommen und gleich weiter … Gott! … Ich geb einen Piaster, ich lauf; was soll das bedeuten? … Ich renn, damals hab ich noch können, ich renn, ich komm zu spät, ruft noch immer in mir, aber anders, anders, ich weiß, ich komm zu spät, etwas geschieht … Gott! Bin ich zum Hüter bestellt über diesen Costa aus Tetuan? Soll er selber sehen! … Und lauf doch und renn, die Latern ist mir verloschen, hab keine Zeit zum Anzünden, lauf die lange Brück zu Ende, wieder in Stambul, vorüber an der Jeni Walide im Mondschein, wohin jetzt? … Den kürzesten Weg, sind aber zweie die kürzesten, durch die Bogtsche Kapu und die Aladscha Hammam … Nehm den zweiten, weiter, weiter, aber da wirds finster, muß doch die Laterne wieder anstecken … Steh dabei, ein Schwefelholz löscht mir aus, auch das zweite, auch das dritte, es hat geweht den Bosporus herunter und über Pera her und war schon kühl … Und da ist es auf einmal still geworden in mir, und ich hab gewußt: itz ist etwas geschehen … Er ist bei mir im Hause – oder es ist – – etwas anderes geschehen … Und seh, wie ich die Latern vor mich hochhalt, eine Gestalt verschwinden, verschwinden im Schatten und weg in Nacht … Eine Gestalt wie in einem Mantel mit einer Kapuze … Gott, bin ich auch schon meschugg? Hab ich das wirklich gesehen? … Es war nur einmal über den Mondschein weg, ein Streif, wie eine Hyäne, wie ein Tier, und doch ein Mantel mit einer Kapuze! … Hab jetzt endlich Sicht und geh weiter, nicht mehr so schnell, hab jetzt Zeit, was geschehen ist jetzt vorüber … Und komm wieder vorbei am Walide Han, ins Bazarviertel, seh schon das eigene Haus, Gott, und hell hinter den Gittern, hell von den sieben Kerzen! … Nu, ist er doch geborgen, sitzt schon oben zu Tisch, wird mit uns im Frieden essen den Schalet und morgen mit uns begehen Sukkeß das Fest! … Will schon die Latern auslöschen, Gott, wie ist töricht doch ein Mensch, war alles eine Einbildung, die Angst und die Gestalt, Einbildung auch von ihm, er selber ist schuld mit seinem Gerede … Und schau in meiner Freud mehr hinauf nach dem hellen Gitterfenster als vor mich – und hör auf einmal Hunde bös knurren und schnappen – und tret auf etwas – und leucht hinunter – und es ist der José Costa, und seine Augen sind gestockt und zurückgezogen und sein Bart starrt gegen mich, und dieser Sikkin da steckt aufrecht in seinem Herzen.«
* * *
René hatte sich eine frische Zigarette gerollt und zündete sie nachdenklich an.
»Ja – das klingt ja sehr romantisch, gewiß … Aber –«
»Der Efendi glaubt mir nicht?«
»Nicht glauben, lächerlich! … Wozu sollten Sie mir da etwas erzählen? … Nur dieser sehr bedauernswerte Monsieur Costa – – kurz, einiges ist mir unklar.«
»Wieso unklar? Ich hab gesagt, was ich weiß.«
»Gut. Dann wissen Sie eben nicht alles; nehmen wir an. Zum Beispiel: wenn dieser Monsieur Costa wirklich seine drei Jahre und einen Tag auf die Rückzahlung gewartet hat – –«
»Passen Sie auf. Der Schuldner ist vielleicht wirklich in Versäumnis geraten; schön. Nehmen wir meinetwegen auch an, daß er sich einfach anstatt mit Zahlung mit blutiger Gewalt in Besitz des Pfandes bringen wollte. Höchst naheliegend, nicht nur in Marokko. Das möchte im Grunde jeder am liebsten. Aber woher dann das schlechte Gewissen unseres bedauernswerten Monsieur Costa?«
»Schlechtes Gewissen, sagt der Efendi?«
»Ja. Was da durch die Fenster starrte und sich verfolgt und aufgelauert fühlte und mit Ihrem Empfehlungsbrief nach dem reizenden Cypern sich verflüchtigen wollte – Monsieur, das war ein schlechtes Gewissen.«
»Meint der Efendi? Gott, nu, es kann sein. Weiß ich? Was heißt schon schlechtes Gewissen? … Können wir dafür, daß unser Gewissen schlecht ist seit bald zweitausend Jahren?«
Wie Wallung tief eingekraterter Lava grollte es aus der Frage.
René nahm kühl einen Trunk vom korinthenbraunen Wein.
»Sie vergessen, Monsieur: ich bin hier weder Richter, noch Ankläger oder Anwalt. Ich bin durchaus bei der Sache selbst. Ich bin nicht Partei. Mich interessiert nur der Verlauf der Dinge. Sagen Sie mir doch: wenn dieser Mensch, der Pfandschuldner, der sogenannte Andre, wenn er die Quellen kannte, wenn er den Blutpreis aus dem Darlehn erstattet hatte – warum sollte er dann nicht auch sein Papier mit Zins und Zinseszins spielend leicht einlösen? Mir nicht recht verständlich. Ihnen?«
»Gott, weiß ich?« Efrem Efrus hob den Rücken. »Ich soll wissen und verstehen? Ich weiß nur, was ich gesehen hab mit meinen Augen und gehört mit meinen Ohren, und das, was ich weiß durch meine Augen und Ohren, das hab ich dem Efendi erzählt.«
»Ja, Monsieur, gewiß, gut. Aber Einiges haben Sie eben nicht gesehen und gehört, und das kann mir nur die Geschichte selbst erzählen. Es gibt da viele dunkle Winkel, Schatten darin, verschlossene Türen und Möglichkeiten. Aber lassen wirs. Der arme José Costa ist tot. – Und der Sikkin da, der Dolch steckte also ganz vorschriftsmäßig in seinem Herzen?«
»Es war wie ich sag. Aber ich hab dem Efendi noch nicht zu Ende erzählt. Da liegt er, und seine Augen sind gestockt und offen, der Blick ganz hineingezogen unter die Lider, und sein Bart starrt blutig gegen mich. So liegt er da vor meinem Hause, unterm hellen friedlichen Fenster; Gott! … Greif ihn an; ist noch ganz warm; aber keine Spur von Leben mehr an ihm. Hab ihn angerufen zuerst: Costa! hab ich ihm ins leere Gesicht geschrien, was machst du, was ist mit dir, bist du krank, bist du hin? … Gott nu, man ist nicht bei Verstand … Aber dann, wie ich ihn anrühr, da merk ich. Feierst du Sukkeß in einer anderen Welt!
»Und will die Leich beim Arm nehmen und hineinziehn ins Haus vor den Hunden. Und seh jetzt erst, wie seine eine Hand, die Linke, selber den Sikkin festhaltet, hier da in der Mitte, um Heft und Klinge, zwei Finger und der Ballen waren ganz zerschnitten. Und hat trotzdem nicht hergeben wollen das Messer, war wie festgefroren darum. So pack ich den Leichnam am rechten Arm und schleif ihn hinter meiner herein, daß die Hunde ihn nicht noch schänden auf das Fest. Gott, was ist schwer so ein Toter!
»Lauf dann hinauf; oben liegt meine Frau wie in Ohnmacht und zittert von den Lippen bis zu den Knien. Die sieben Kerzen auf dem Leuchter haben noch so schön und rein gebrannt. Gott, auch dieses noch! Nehm Essig und reib ihr das Gesicht, die Hände, die Sohlen, tropf ihrs auf die Lippen: da wacht sie auf. Kennt mich zuerst gar nicht; ist ganz verstört und verwildert. Und fangt dann an zu weinen, und weint und weint, man hätt bauen können eine Brücke drüber. Und erzählt dann. Sie ist gestanden am Fenster, hat geschaut und gewartet. Und sieht dann kommen eine Gestalt über den Mondschein, die verschwindet wieder in die Schattenseite. Und dann lange nichts, und sie wundert sich, weil sie gemeint hat, ich bins und hätt verlöscht die Laterne. Und dann auf einmal ein furchtbarer Schrei, wie von einem Tier, wie von einem Stier, aus der Nacht und Stille herauf. Wir waren später einmal in einer Menagerie, da hat der Löwe gebrüllt vor der Fütterung; meiner Frau ist der Atem stehn geblieben, und dann hat sie gesagt, so war es. – Da sind ihr die Sinne vergangen.
»Ist mir krank geworden davon, hat Schaden genommen und lange Zeit daniedergelegen, und – nu, was soll ichs dem Efendi nicht klagen? – der einzige Sohn, den Gott mir erweckt, ist auch daran verkommen. So bin ich nun alt ohne rechte Erben; aber soll ich meiner Frau den Scheidebrief schreiben deshalb? Noch heut darf man sie nicht erinnern. Der Efendi weiß ja, wie sie sind, die Frauen. Sie haben noch ein zweites Herz unterm Herzen. Ja, das war die Nacht auf Sukkeß vor nächstens sechsundzwanzig Jahren. Und itz – –«
Der Alte seufzte ab und ließ die erhobenen Hände hilflos verzichtend niederfallen. Stimmen der Nacht antworteten aus mondüberschauerter Bergferne, aus dem Tal der Gräber, von düster beglänzten Höhen. René warf den Zigarettenstumpf über die Brüstung hinaus; man vernahm seinen leichten Fall aus der Tiefe.
»Und jetzt? Und dann?«
Efrus erwachte.
»Ja, und dann? Der Efendi könnt es erraten. – Dann, ein paar Tag später, ist mir die Familie des Costa gekommen, arme Leut, finden statt einer Heimat Trauer und Tod und ein Grab. Was sollt ich tun mit ihnen? Eine Frau war es mit zwei Mädchen – Gott, hab von ihnen das Haus in der Jeni Dschami gekauft für das doppelte Geld, hab es dann für mich wieder losgeschlagen mit ganz kleinem Gewinn, mit einer Handvoll Piaster Nutzen. Arme Leut: – aber es war mir die eigene Frau krank genug, war selbst arm und geschlagen, hab sie dann nach Gallipoli empfohlen einem Freunde, haben mit seiner Vermittlung ein kleines Haus gekauft aus dem Erlös; sollt ich hüten auch noch diese?«
»Und dies da, das Papier?«
»Das Papier, diese Unglücksschrift?« Der Alte griff sich unruhig in den Bart »Wird mich der Efendi verstehen? Das Papier – Gott, es ist zuerst liegen geblieben in meinem Geldschrank, in seinem Fache, in seinem Umschlag – hab es noch eingesiegelt mit eigener Hand – hab es nicht mehr berühren wollen – hab es gescheut und gemieden wie Feuer und Gift – hab es angesehen für unrein – und dann, eines Tages, denk ich bei mir: wirst es übergeben der Witwe, mag sie es verbrennen, du hast kein Recht daran – hatt ihr zuerst nicht gesprochen davon, hab ihr gesagt: Straßenraubmord, war doch auch die Wahrheit – denk ich bei mir: wirst jetzt erzählen, hier ist noch ein Schriftstück, das hat der Costa bei mir hinterlegt, soll ein Pfand sein, weiß ich? – und nehm es heraus wie eine Schlange, vielleicht bringt es mir gar Unglück in Haus und Schrank – und brech das Siegel und seh es mir noch einmal an, einen ganzen stillen Rüstabend lang – –
»Und, glaubt mir der Efendi? … Wie ichs so anseh, sieht es mich an, und wie ichs anschau, schaut es mich an, und schaut in mich hinein mit seinen Zeichen, mit seinen Kreisen und Vierecken und Punkten und Strichen … Und sprech ich zu mir: morgen! … Und am anderen Tage schauen wir uns wieder an, es und ich, und sag ich wieder: morgen! … und legs noch einmal zurück … Und schauen uns den dritten Abend an, spricht es zu mir: du sollst an mich glauben! … Spricht am vierten Abend zu mir: wenn ich nichts wert wäre, hätte das geschehen können um mich? … Sagt am fünften Abend: nimm mich! … Am sechsten: behalt mich! … Am siebenten: bin ich nicht durch Vorsehung gekommen in deine Hand? … Am achten: ich bring dir das große Glück … Am neunten: ich bin das Gold, du sollst an mich glauben! … Am zehnten: folge mir nach! … Versteht der Efendi? … Es war wie ein Magnet. Es war wie eine Kraft. Es war wie ein Gebot. Ich hab müssen. Es war zuerst ein kleiner Beutel voll Gold. Es ist zuletzt gewachsen zu einem Berge. Ich habe diesen Berg gesehen bei Tag und bei Nacht, und er hat mich angesehn durch Wolken. Ich habe mir gedacht: vielleicht, daß es dir gelingt, und du findest einen, der die Schrift liest und dir übersetzt die Bedeutung … Habe mir weiter gedacht: wenn nicht in Konstantinopel, vielleicht in Tetuan? … Und habe so an jedem Abend gedacht ein Stück dazu … Kann der Efendi sich vorstellen? … Verliebt hab ich mich. Mein Herz ist gegangen in dieses Papier, und der Verstand ist gefolgt dem Herzen. Diese Schrift mit ihren Zeichen ist eingekrochen durch mein Herz in meinen Verstand und hat beide geführt weit fort über das Meer in ein Land Ophir. Es ist wie wenn eine Fliege in Fleisch ablegt ihre Eier; sie gehen auf und die Brut kriecht aus nach ihrer Zeit. So ists gewesen mit mir. Es hat mich gestochen, die Würmer sind ausgekrochen, und mein Blut war vergiftet und entzündet durch und durch. Was arbeitest hier, hab ich mir gesagt, und könntest wo anders ausruhen? … schöpfst hier mit dem Löffel, und könntest wo anders scheffeln? … So ist aus einem Korn langsam ausgewachsen ein Baum und aus einem Staub ein Gebirge. Es war zuerst nur ein Strich und war am Ende ein großes Königreich … Gott, und so bin ich dann eines Tages hingegangen zu der Witwe, hab ihr gegeben bare fünfzehntausend Franken, sag ihr, zwölfe hätt ich einmal geborgt vom seligen Costa, hätt es bald vergessen über all dem Unglück mit ihm und meiner eigenen Familie, hier wär nu das Geld, sie war froh und ich habe gehabt dieses Blatt Papier, diesen Wechsel auf Licht irgendwo in der Zukunft oder Ewigkeit … Bin ich ehrlich gewesen? Soll mir der Efendi sagen! Wer hätt sonst solchen Betrag freihändig gegeben auf einen Zettel mit Kreisen und Vierecken und Punkten, wo man nichts weiß? Bin ich ehrlich gewesen? … Ich habe bei mir gerechnet wie der selige Costa: besser gewinnen einen kleinen Verlust als verlieren einen großen Gewinn. Und so ists gekommen.
»Nu, und dann, wie meine Frau einmal gesund war von dem Schreck, hab ich alles schön langsam aufgelöst. Das Geschäft gut eingeführt, Käufer waren da zehne auf jeden Finger und haben sich überboten. Zum Schluß hab ichs gelassen unter Rückkaufbedingungen meinem Schwager, er war gerad am Heiraten, und es war eine Partie. Hab mir gedacht, ist nichts dort, findst du wieder ein Unterkommen da. Man muß sich sichern. Im Frühling dann bin ich verzogen her nach Tetuan. Meiner Frau hab ich gesagt, es ist wegen dem Ortswechsel und der schrecklichen Erinnerung und dem warmen Klima. Es war alles vorbereitet, hab mir Empfehlungen verschafft durch den Rosas in Tanger, hab dieses Haus hier gekauft als eine Ruine und mich eingerichtet.
»Nu, und das andere weiß der Efendi, hab angefangen wie überall mit einem kleinen Handel; hab dann gemerkt die Gelegenheit und angefangen mit den Gewehren; hab in den Jahren gelernt, wozu das gut ist und mehr und mehr gearbeitet mit dieser War und mit der anderen nur zugedeckt die eigentliche; hab dann noch aus einer Erbschaft gekauft die Gold- und Silberschmiederei und so erweitert und – Gott – verborgen mein Geschäft; hab erlebt Kriege und Revolutionen, Besetzungen und Aufstände, hab gezittert um den Djebel Hamam und ihn, was gegangen ist, verteidigt mit meinen Gewehren; hab gesonnen über der Schrift viele Nächte und Bücher durchgelesen und gewartet und Kinder aufwachsen sehn und ausgeheirat und weiter spekuliert und gehofft; nu, und steh heut noch ebendort, wo der unglückliche Costa gestanden hat vor sechsundzwanzig Jahren, vor einem verschlossenen Tor, vor einem versiegelten Grab, bin nicht weiter kommen um einen Schritt, hab ein ganzes Leben drangesetzt mit seiner Arbeit, und werd in die Grube dort oben im Tale fahren als das, was ich gewesen bin und was der Efendi mich jetzt ruhig nennen kann: als ein alter Narr.«
Efrem Efrus endete gleichsam mit einem Geständnis, senkte das magere graubärtige Haupt wie vor einem Richter; René schwieg, es knisterte die Kräuselglut seiner Zigarette, vom Meere her weht es morgenkühl.
»Ja, Monsieur – Narren, irgendwie Narren sind wir schließlich alle – und die es nicht sind, die müssen es dennoch sein um der Mehrheit willen. Jahrmarkt des Wahnes, danach muß man die Preise halten und zahlen. – Und was nun?«
Der Alte hob das verloschene Gesicht.
»Wie: was nun?«
»Was gedenken Sie nun zu tun?«
»Gedenken, ich? Ich soll gedenken? was gedenkt der Efendi, ist die Frage!«
René blies den Rauch aus und sah ernsthaft vor sich hin, in irgendeine Ferne.
»Ja – das hängt ganz von Ihnen ab, Verehrtester.«
»Von mir soll abhängen? Kann ich lesen Tuareq-Schrift? Ich hab mir nicht gemerkt den Nam. Es steht alles beim Efendi, er sieht.«
René schüttelte den Kopf.
»Lesen, Monsieur, ist nichts. Lesen, das ist Tisch und Papier, nicht Berg und Gold. Mit einem Fahrplan und Kursbuch allein macht man noch keine Reise.«
»Was meint der Efendi?«
»Ich meine – kurz und gut: gelesen werden muß nicht hier, sondern an Ort und Stelle.«
Efrus hob erschrocken die Hände.
»An Ort und Stelle, dort, wo –? … Gott über die Welt! … Weiß der Efendi nicht?«
»Ja, gut – aber wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Wenn der Berg auch Taubenberg heißt, deshalb fliegt er noch lange nicht.«
»Aber könnte man nicht hier – – und wenn einmal alles klar ist und man haltets in der Hand – –
»Und dann? … Wollen Sie es öffentlich haben? Soll halb Europa kommen? Soldaten vielleicht? … Und denken Sie etwa, daß auf solch einen Zettel hin, auf einen alten fetten Wisch Papier irgendeine Regierung oder dergleichen Sie unterstützt? … Beweise erst, greifbare Beweise! Eine ordentliche Faust voll! … Die an die Köpfe geschmissen, dann kann man weiter reden.
»Soll doch der Efendi zu Ende lesen, so hat er die Beweise. Der Efendi hat Zeit.«
»Beweise? Für uns vielleicht, und das noch fraglich. Wissen doch so gut wie gar nichts. Ein paar Namen, die zufällig stimmen. Kann ein Itinerar sein, eine Art Wegweiser, oder ein Verzeichnis von Fundstellen. Vielleicht alles miteinander Humbug, Irrlicht, Fata morgana. Und wenn uns dieses berühmte Schicksalspapier da bis an einen mathematischen Punkt führt, so sind das immer nur Worte, Versprechungen, Gerüchte. Bloße Landkarte. Ort und Stelle, sag ich Ihnen; finden, sehen, haben! Dann erst weiter beraten.«
»So mag der Efendi weiter lesen, daß wir wenigstens sehen.«
»Gewiß, das ist Vorbedingung. Gut; gern. Soweit ich eben kann.«
»Der Efendi kann. Er hat es doch gestern gezeigt, was er kann. Gott, kein Auge hab ich zugetan darnach, die ganze Zeit seither.«
»Ists am Ende gar nicht wert. Und was das Können betrifft: abwarten. Versuch wirds zeigen. – Aber, Monsieur, weil wir schon davon reden: Sie müssen mir auch vertrauen …«
»Vertrau ich ihm nicht? … Wann hätt ich so jemand vertraut? … Wie einem leiblichen Bruder!«
René zwinkerte.
»Na, na. Doch hat jemand gestern Nacht die Urkunde recht vorsorglich wieder an sich genommen.«
Der Jude zuckte mit Händen und Schultern auf.
»Gott, was der Efendi denkt! … Ist doch ohne Absicht geschehen! Bin es doch so gewohnt, Gott, seit fünfundzwanzig Jahren mit diesem Papier.«
»Na ja. Müssen sich eben klar machen, daß man Gelesenes, Entziffertes, Worte, Namen auch hier drinnen kopieren und aufbewahren kann, im Kopfe. Also, das hat keinen Zweck, Monsieur, wenn schon, denn schon.«
Efrus rang mit Bart und Gebärden.
»Gut. Der Efendi soll die Urkunde haben, so lange er will, so lange er sie braucht. Er soll sehen, daß ich ihm vertraue. Der Efendi hat recht.«
»Ja. Und eine recht große, genaue Karte, wenn dergleichen aufzutreiben ist.«
»Eine Karte, ich will mich bemühen.«
»Schön. Und jeden Abend erstatte ich Ihnen Rechenschaftsbericht.«
»Was spricht der Efendi von Rechenschaftsbericht. Der Efendi ist mir keine Rechenschaft schuldig. Er wird mir sagen: so und so, es ist etwas, es ist nichts. Und ich werde geduldig warten. Gott, wenn ich schon gewartet hab fünfundzwanzig Jahr!«
»Monsieur! ›es ist etwas‹ – das kann und werde ich Ihnen aus einem bloßen Papier nie sagen. Papier, Monsieur, ist nichts als Literatur. Befund an Ort und Stelle – – dann!«
»Der Efendi immer mit seinem Ort und Stelle!«
»Wie stellen Sie sichs sonst vor? … Ihr Juden – Entschuldigung, Monsieur – seid doch sonst wahrhaftig praktisch! … Wollt doch euer Geschäft immer erst greifbar sehen? … Nun?«
»Aber wer, Gott, soll sich begeben an Ort und Stelle?«
René zwinkerte den Alten durch den Zigarettenrauch scharf an.
»Wir!«
Efrus warf die mageren Hände erschrocken zum Himmel.
»Wir? … Gott soll bewahren!«
»Gut. – Ich!«
»Der Efendi!«
»Warum nicht?«
»Der Efendi will?«
»Ob das oder etwas andres, mir einerlei.«
»Aber die Gefahr? Bedenkt nicht der Efendi?«
»Pöh. Gefahr ist alles. Gefahr ist überall.«
»Der Efendi allein?«
»Wenn Sie mich nicht begleiten …? … Vielleicht mit drei Regimentern, damit es ja recht viel Lärm macht? … Und wenns dann bloßer Dunst war? … Wollen Sie eine Armee aufstellen und unterhalten?«
»Der Efendi kommt mir nicht mehr lebendig heraus!«
»Kann einem in jedem Theater, Schiff, Expreßzug passieren. Und wenn? – Liegt schon viel dran!«
»Wie spricht der Efendi? … Er hat keine Familie?«
»Danke, nein.«
»Keine Freunde?«
»Gibts das? … Was ist das? … Freunde?«
»Der Efendi ist ganz allein auf der Welt?«
»Leider nein. Zirka zwei Milliarden Menschen außer mir.«
»Der Efendi muß auch Schweres erlebt haben!«
»Rund zwei Jahrtausende Weltgeschichte. Sehen Sie: Sie sind der ewige Jude, ich bin der ewige Adam. – Vor zweitausend Jahren hieß ich Lucius Cornelius Sulla, nahm hier herum irgendwo den hochseligen Jugurtha gefangen, verachtete Menschen, Götter und das eigene Leben, liebte auf Stunden und Nächte auserlesene Töchter Aphroditens, ließ plebejisches Getier, sogenannte Bürger, massenhaft umbringen, warf dann aus Überdruß noch die Allmacht von mir und starb allbeweint von ein paar intelligenteren Individuen im Jahre achtundsiebzig vor der Geburt jenes Ihres Glaubensgenossen, der sich da einbildete, Juden und Christen bessern zu sollen, der Ärmste. – Ja, sehen Sie. Vielleicht erlöst mich nun irgend so ein barmherziger Ibn Uriachel, oder wie schon diese Lieblinge des Propheten heißen, von meinem Fluch.«
René warf hochmütig die halbverglühte Zigarette von sich und spülte den Rauchschmack in Griechenwein herunter. Aber der Alte schüttelte leise den hohlschattigen Kopf mit den dünnen Talmudlöckchen.
»Das kann ich nicht zugeben, daß der Efendi das tut. Das kann ich nicht verantworten.«
»Zugeben?« René lächelte auf. »Unternehm es dann eben auf eigene Faust, Monsieur. Ich bin frei.«
»Aber der Mensch soll doch auch nicht spielen mit der Gefahr.«
»Unser Leben ist ein Balanziergang auf hohem Seile, Monsieur. Was ist denn Jagd, was ist denn Krieg? … So führ ich denn den Krieg aller Kriege, den Urkrieg, den Grundkrieg, den Krieg ums Gold.«
»Ja, tollkühn ist der Efendi. Man sieht es ihm an. Gleich hab ichs ihm angesehn.«
»Sehr schmeichelhaft. Aber ich bin gar nicht tollkühn. Ich habe bloß nichts Besseres zu tun.«
»Und wie denkt sich das der Efendi? Er kann sich doch nicht allein wagen in die Berge?«
»Warum nicht? Und ich meine, Sie haben doch Geschäftsfreunde im Hinterland? Geben Sie mir Empfehlungen mit; gleich eine Basis gewonnen.«
Efrus kraute nachdenklich im knisternden Bart.
»Was heißt Empfehlungen? Ich habe Geschäftsfreunde, Gott nu ja. In Melilia, in Midder, in Tamrirt, in Meknessa fokani. Aber was soll man diesen sagen?«
»Sehr einfach; ein fränkischer Efendi, der Löwen, Panther, Mähnenschafe, ich weiß nicht was jagen will. Jagd gibt immer einen wunderschönen Vorwand.«
»Der Efendi hat sich alles gut ausgedacht. Aber meine Geschäftsfreunde, Gott, es sind Juden.«
»Natürlich, desto besser. Ich denke, die Juden sind wohlgelitten im Rif?«
»Was heißt wohlgelitten? Gott nu, sie betreiben den Handel, sie sind notwendig, wer sollte es tun an ihrer Stelle? Sie genießen sogar den Schutz einzelner Kbail, Stämme, dieser hier, der andere dort. Aber der Efendi ist doch kein Jude.«
René gähnte. »Darüber zerbrechen wir uns heute den Kopf noch nicht, Monsieur. Erst einmal wissen, wohin der Weg führt. Eins nach dem anderen. Fest steht vorderhand nur das: Ort und Stelle. Suchen, Finden, Sehen, Haben, Greifen, Halten. Beweise. Morgen dann mehr.«
Er stand auf und reckte und räkelte sich und trat die steifgekauerten Beine geschmeidig. Der Alte aus seinem Bart sah unsicher zu ihm empor.
»Aber hat der Efendi schon bedacht? Es kann doch – – nicht – nu, Gott, Geschäft ist Geschäft – so geschehen. – – Wie soll ich ihn – Gott, wie soll ich sagen – beteiligen?«
Aber René klopfte ihm mitleidig tröstlich auf die Schulter.
»Keine Angst. Ists nichts – das Wahrscheinliche – dann ists eben für beide nichts. Ists etwas – das Mögliche – dann ists für beide ein klein wenig. Ists viel – natürlich ausgeschlossen – na, dann geben Sie mir eben ein paar Groschen, daß ich nicht mehr nachzudenken brauche; über Menschen, Welt und Gold selbst lachen und drauf spucken kann. Nicht mehr. Ich will meine Ruh. Die Milliarden und die großen Sorgen laß ich schon Ihnen. Und wenn Sie gescheit sind und wollen ein gutes Werk tun, dann interessieren Sie Österreich, österreichisches Kapital, meinetwegen österreichische Juden. Das mach ich überhaupt zur Bedingung. Ah jaja, hoffentlich erscheint mir Ihr hochseliger José Costa nicht im Traum. Blutüberströmt, mit dem Dolch da vorschriftsmäßig im Herzen, Wiener Burgtheater, Sonnenthal … Da, hören Sie?«
Vom Gräbertal her in den erbleichenden Bergen lachte noch einmal die Hyäne; aus der Tiefe der mondblassen Stadt krähte schlaftrunken der Hahn.
* * *
Den ausgepackten Duveyrier aufgeschlagen zur Linken; zur Rechten den mächtigen Rottontopf voll des erlesenen Blondkrauts von Xanthi oder Kawala; unter der vergilbten, an den Bügen zerscheuerten Schrift das Blatt eines spanischen Kartographen, das der allmächtige Efrus irgendwo aufgetrieben: – so arbeitete René den ganzen heißen Tag, und die graue Asche der Vergänglichkeit häufte sich zu Bergen, und blaue Schwaden lagerten geheimnisvoll um ihn her.
Und wenn es zu nichts taugte – es machte ihm Spaß.
Er buchstabierte und fügte, suchte und verglich; es war ein nettes Geduldspiel, und langsam kam er doch vorwärts.
Vieles blieb ihm unklar, aber kein Zweifel, um den Djebel Hamam, den Berg des Hortes und der Tauben handelte sichs, und um Wege, die von allen Seiten her nach ihm hinführten, wie nach einem Wallfahrtsort, zum Grabe eines Heiligen.
Der größte Heilige und Wundertäter, der Herr der Heerscharen, der Fakir el Fukara ist eben am Ende doch das Gold.
Gold, ja, ist der Prophet über allen Propheten, und im Djebel Hamam also lag seiner eine heilmächtige Reliquie bestattet.
Warum gerade Tefinaq? … Geheimnis offenbar. Nicht jeder beliebige sollte diese Urkunde lesen können. Mit dieser Erklärung gab sich René zufrieden.
Der Text stellte, wie ers blindlings erraten, einen regelrechten Wegeweiser dar. Von Tetuan, von Fes, von Oran, von Melilia, von Figig herauf, aus allen Weltgegenden führte er den Leser nach dem gleichen Ziel. Alle Straßen knüpfte er im Gebirgsknoten des mystischen Hochlandes zusammen. Der Djebel Hamam war der Mittelpunkt des Erdkreises.
Stimmt. Der Verfasser dieses seltsamen alten Itinerars hatte Menschenkenntnis besessen. Gold und Weib. Die Hesperiden, jene drei vermutlich nackten Fräulein, und der Träger des Weltengewölbes wohnten Haus an Haus, Flur an Flur in derselben Sagenstraße. Herakles konnte alles miteinander in einem Botengange abmachen, Goldäpfel und Atlas. Die Geschichte war klar. Der Garten der Hesperiden, der Abendfräulein war gefunden. Nacktheit, Liebe, Gold und Ewigkeit. Nackte Wahrheit des Lebens, Wahrheit des nackten Lebens, lebendige Wahrheit der Nacktheit, nacktes Leben der Wahrheit. Gold, Weib, Macht, diese drei. In einem Worte: Lust, aus der allein das Leben quillt. Lust, durch die allein das Leben ist. Lust, die den Riesen gezeugt und empfangen, Atlas, den kosmostragenden.
Seltsam: griechische Mythologie in Tetuan! … Und René arbeitete weiter.
Hier: von einem Orte namens Udschda nach einem Orte namens Kasba el Aiun, Schloß der Quellen – stimmt – über einen Aghezer Har – wird hier der Uad Sah sein – nach einem Orte namens Tamrirt, unverfälschtes Temahak, heißt Treffpunkt – stimmt, hier – nach einer Kasba Merada – über einen Aghezer oder Uad Muluia – stimmt auffallend – nach einer Kasba Mesfun – nicht vorhanden, kann auch ein Lesefehler sein – weiter nach einem Orte namens Meknessa fokani – stimmt, scheint ein größerer Platz zu sein, Straßenkreuzung. Und dann offenbar nordwärts – hier kommt immer wieder ein Aghezer oder Uad Kert, das ist dieser Flußlauf da – was, Höhenknoten, zwölfhundert, zwölfhundertfünfzig Meter? … also beträchtliche Berge! … wer hat sie gemessen? – und dann ein namenloser Suk, heißt soviel wie Markt – und dann unser geliebter Diebel Hamam, da wären wir … Aber weiter auch nicht um einen Zoll. Denn jetzt laufen Namen durcheinander, die stehen auf keiner Landkarte. Bab ed Tint, Tor der Quelle? … Aghelad ed Dya, Paß des Blutgeldes? … Dar es Sidi Affer, Haus des gelben Herren? Eine Anspielung? … Mkabar esch Schörfa, Friedhof der Edlen? … Tanut el Jansar, Quellbrunn des Sieges? … Kubba es Slam, Grab des Friedens? … Waren das lauter Umschreibungen? War das noch Topographie oder schon Dichtung? … Und dann blitzte es dem Grübelnden plötzlich durchs Gedächtnis: Djebel Hamam, zu dumm! … Wenn einem einmal ein bestimmter Sinn aufgeschwatzt wird, suggeriert! Man starrt dann hin und vergißt alles andre! … Djebel Hamam, das hieß ja nicht »Berg der Tauben« allein! Das hieß außerdem – ja, direkt: Berg der Mineralquellen! … Also vielleicht auch: der mineralischen Quellen! Erzquellen! Übertragung, Verschleierung! … Nein, da war etwas dahinter. Da war schon etwas daran. Der alte selige José Costa hatte nicht umsonst geschwitzt und gezittert, war nicht umsonst an ein paar Zoll Eisen verstorben in jener Nacht auf das Laubhüttenfest … Nebenbei: natürlich war er seinem Schuldner ausgerückt mit der kostbaren Urkunde! Oder er hatte wider Vertrag unbillig hohes Lösegeld verlangt. Hatte vielleicht Gold gesehen und war von Sinnen und Ehren gekommen vor Gier. Irgend Schuld und Schatten war hinter ihm her auf seiner Spur. Gehörte auch von rechtswegen zur Tragödie eines Shylock. Der gute Efrus hatte an manchen Stellen viel zu glatt und flüchtig und gebärdenreich erzählt; an manchen Stellen, an den brüchigen. Aber was ging das hier noch an? Dessen waren es angeblich volle fünfundzwanzig Jahre. Genug zu einer orientalischen Verjährung.
Wie er gesagt hatte: Ort und Stelle! Mit Karte und Bleistift ließ sich da gar nichts machen. Hinreiten an Ort und Stelle, die Schrift in der Tasche, in der Hand, neben der lebendigen Landschaft. Das war keine Arbeit für den grünen Tisch. Eines nur erkannte er, daß der kürzeste Weg von Melilia oder von jenem Aschdir aus zu nehmen. Da wurde genannt ein Aghezer oder Uad Khis und ein Uad Nukhor, beide auf der Karte verzeichnet, und gleich in deren Nachbarschaft, zwischen Uad Nukhor und Kert erhob sich das schraffierte Faltendunkel des Djebel Hamam, des Berges der Erzquellen. Diente des redenden Namens anderer Sinn nur der Verhüllung? –
Efrem Efrus war heute schon anderer Meinung.
Gott, es ist nützlich, wenn zuerst, zunächst ein schöner Name vor einer Sache. Auch vor einem Kapital. Es ist wahr, ein Kapital macht einen Namen schön, soll er dann klingen wie er will; und wenn er lautet Nachtstuhl, und es sind dreißig Millionen Franken dahinter, so ist der Nachtstuhl kein Nachtstuhl mehr, und man redet von ihm wie vom Rothschild. Aber für den Anfang ist es gut, wenn man hat eine feine Verzierung am Firmenschild; Gott, und wenn es sollte wahr werden, und der ganze Gewinn blieb trotzdem in der Familie – –
Und wenn überhaupt Einer konnte die geheime Schrift lesen und den Schatz heben, so war es doch nur dieser Goj.
Und ist nicht besser, es liest und hebt ein Goj als es liest und hebt gar keiner, und man hat umsonst gelebt?
So ein Goj, der hat Mut und ist bescheiden. Zieht er von seinen Leuten einen ins Vertrauen und der verstehts, ist er der Betrogene. Der nimmt nicht die Hälfte, der nimmt fünf Viertel und sagt noch, er ist geschädigt. So ein Goj aber ist schon zufrieden, wenn er genug hat, und hat bald genug.
Allein kann er nichts machen, beteiligen müßte er jeden. Nu, und einen Mann mit so einem Namen und Auftreten zum Kompagnon, und so einen Kompagnon zum Schwiegersohn – – wenn die Efrusi auch alte Spaniolen sind, einmal muß es aufhören mit den Narrischkeiten.
Besser könnt es nicht treffen. –
Er hörte den Bericht seines Gastes ruhig an. Ja, also eine Möglichkeit gebe es; er habe nachgesonnen den ganzen Tag. Eine Möglichkeit gebe es – Gott nun, die der Maske … Der Geschäftsmaske, der Hausierermaske. Mit einem Esel und Waren könnte man von Melilia oder Aschdir aus – der Efendi hat ganz recht – vielleicht in das Gebiet des Djebel Hamam gelangen. Langsam eindringen, von Ort zu Ort, von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt. Mit ein paar Trageseln und Lasten von Ware; ganz neuartiger Ware am besten, daß sie über der Neugier das Mißtrauen vergessen. Das wäre der einzige Weg. Mit Gewalt ist da nichts zu erreichen, was sollen zweie gegen ein ganzes Volk in Waffen? Aber mit Honig fängt man auch einen Bären; mit Opium, Hanf oder Raky schmeißt man um den stärksten Mann; die Ware muß entweder neuartig sein oder billig sein oder ganz außergewöhnlich und bestechend sein; sie muß berauschen; man muß davon erzählen und darauf warten von Markt zu Markt, von Dorf zu Dorf; so kommt man weit … Er lächelte still in seinen talmudisch weisen Bart: – so ist ein Volk mit Geduld und Klugheit schließlich gekommen über die ganze Erde … Aber der Efendi? Wie soll der Efendi sich vermummen als Händler, als Hausierer? Wer wird es ihm glauben? Der Efendi trägt keinen Bart. Der Efendi ist braun, wie es eben die Franken sind. Der Efendi spricht arabisch wie einer aus Damaskus oder Bagdad, aber spricht er maghrebinisch? Der Efendi hat gesehen die Welt und die Menschen, aber kann er darstellen einen Jahudi aus Tetuan oder Melilia? Wer wird es ihm glauben?
»Ich gehe als Ihr Diener, Ihr Beschützer, Ihr Eselknecht.«
Efrem Efrus wehrte mit mitleidiger Gebärde.
»Wann hat noch je gehabt ein fahrender Jahudi einen Diener oder Knecht? Er wird beschützt von den einzelnen Stämmen und von seinem Gott. Er geht über die Berge in seinem Glauben und in seinem Geschäft. Wo jeder kennt die Sparsamkeit des Jahudi, wer wird ihm glauben einen Diener? Und der Efendi sehe seine Hände!«
»Gut. Ich will Löwen schießen, Leoparden, Panther, Mähnenschafe, Wildschweine, was immer an Wild in diesen Bergen lebt. Ich bin ein reisender Jäger und habe mich Ihnen angeschlossen.«
»Der Efendi vergißt die drei Ruafa von neulich, in der Nacht. Sie haben den Efendi gesehen in meiner Begleitung, sie werden ihn wiedererkennen und argwöhnen.«
»Waren denn das gerade welche vom Djebel Hamam?«
»Und wenn sie nicht waren vom Djebel Hamam, es spricht sich weiter. Sie halten alle zusammen, die Ruafa. Sie haben oft Rache und Feindschaft untereinander, aber sie stehen zusammen in der Gefahr, und eine Gefahr ist ihnen jeder Fremde.«
»Mächtig intelligente Leute eigentlich, diese Ruafa. Imponieren mir stark. In Europa – ganz Europa könnte von ihnen lernen.«
Der Alte lächelte wissend.
»Was heißt von ihnen? In Europa könnte man lernen auch von anderen Völkern. Aber es wär ein schlechtes Geschäft. – Nu, und denkt der Efendi nicht mehr daran, wie ich diesen Leuten gesagt habe, er wäre ein Bu Chamasia, ein Vater der Gewehre, einer, der Gewehre hat und vermitteln und verkaufen kann und will? Sie werden sich daran erinnern. So etwas vergessen sie nicht. Sie haben an nichts anderes zu denken als an Gewehre und Patronen. Sie leben davon.«
Sie saßen wieder zwischen Laternen- und Mondschein auf dem späten, nachtgekühlten Dache, fern das dumpfschimmernde Meer, vom Tal der Gräber her die schaurig lachenden Hyänen. René sprang auf und begann an der durchbrochenen Brüstung hin- und herzuwandern, in ringender Überlegung.
»Und sie leben auch von der Jagd,« begann Efrus von neuem; »Löwen, soviel ich weiß, gibt es nicht mehr, daß sie sich vor ihnen fürchteten und ein anderer ihnen beistehen müßte, und ihr eigenes Wild hüten sie und schützen sie wie eine Herde. Wird da ein Fremder willkommen sein, der ihnen das Eigentum verringert? Und nun gar ein Franke?«
Aber René winkte ab.
»Verstehe, verstehe, kein Wort mehr nötig; war nur ein vorübergehender Gedanke.« Er blieb stehen, überlegte, nahm seinen Gang wieder auf. Hielt dann plötzlich an, wie einer, der zum Aufschub eines klaren Entschlusses gekommen.
»Monsieur! … hätten Sie morgen einmal unter Tags eine Stunde frei für mich? Für uns beide?«
»Wie fragt der Efendi? So viele Stunden als er will! Es geht doch das große Geschäft über das kleine.«
»Gut.« René ergriff den Tabaktopf und faltete die Urkunde in seine Tasche. »Dann auf morgen, Monsieur. Ich bin jetzt müde. Morgen mehr. Das muß einmal bei Tageslicht, in der hellen Sonne besehen werden. Die Nacht brütet allzu abenteuerliche Gedanken.« – –
Aber der Gedanke erwies sich als keineswegs abenteuerlich. Er wies sich als höchst wirklich gut und gesund. Efrem Efrus staunte.
»Was sagen Sie zu dieser Büchse, Monsieur?«
Der Alte prüfte und betastete die Waffe mit vorsichtigen Händen.
»Gott – es ist doch nix geladen?«
»Nein, wohin denken Sie. Das kommt erst. Was sagen Sie also zu diesem Gewehr?«
»Gott nu, was werd ich sagen? Ich versteh nichts davon. Es ist ein feines Gewehrchen. Es ist eine Kavalierbüchse, wie sie paßt zum Efendi. Es ist ein feines Stück. Was kann es kosten?«
»Sechshundertfünfzig, siebenhundert Franken in dieser Ausführung, Ort Alexandria oder Kairo oder Port Said.«
»Gott, das ist billig. Geb ich doch ab den Mausiehr mit hundert Patronen das Stück zu dreihundert, dreihundertfünfzig Franken, und der ist nicht so ziseliert und zurechtgemacht wie für einen Grafen.« Er sah plötzlich erschrocken auf zum lächelnden René. »Der Efendi wird doch nicht daran denken und gehen wollen mit einem solchen Gewehr in die Berge? Wenn ein Rifi das sieht an ihm, er ist ein toter Mann.«
»Wer? Der Rifi? Das vielleicht. Gerade! Aber sehr! Mit diesem Gewehr da gehen wir miteinander in die Berge, Monsieur.«
»Soll Gott mich bewahren!« Efrus warf die Hände gen Himmel. »Ich hab Frau und Kind, die sind mir nicht feil um alles Gold.«
»Abwarten, Monsieur. Also, die Büchse gefällt Ihnen?«
»Wie wird sie mir nicht gefallen?« Allein der Alte, schwer beunruhigt, war gar nicht bei der Sache. »Aber das soll sich der Efendi aus dem Kopf schlagen! Mit einem solchen Gewehr in die Berge, unter die Kbail der Ruafa! Wir sind tote Leut!«
»Oder sehr lebendige Goldfische, Monsieur. Das ist nämlich kein Mausiehr oder Mauser; das ist erstklassiges österreichisches Fabrikat.«
»Nu ja, was kaufen wir uns schon davon? … Es ist der José Costa gestorben an dem Papier, es ist genug damit.«
René aber hörte nicht auf die verzweifelten Einwände. Behaglich stellte er eine goldblanke Patronenflasche vor den scheu blinzelnden Alten hin auf den kleinen Schemeltisch. »Das ist nun die Munition.«
Efrem Efrus sah abgewandten Gesichts hin. »Der Efendi solls lieber wegtun. Es könnt losgehn in der heißen Sonn.«
»Nicht sogleich. Das ist also die Munition. Da drin stecken etliche siebenhundert Sekundenmeter Stahlflug und etliche zweihundertachtzig, dreihundert Meterkilogramm lebendiger Tod. Über hundert Meter erhebt sich die Flugbahn um nicht mehr als einen halben Zoll. Die natürliche Streuung beträgt nicht mehr als einen Duro franßis, ein Fünffrankenstück. Zehn aufgebettete Schüsse hintereinander müssen über hundert Meter ein Fünffrankenstück unfehlbar treffen, Kugel für Kugel. Das Vollpanzergeschoß durchschlägt einen Fichtenstamm von vier Fuß Durchmesser glatt wie einen Block Schmalz; Sie können damit einen Menschen durch einen dicken Baum hindurch mausetotschießen. So. Das sind so einige ballistische Späße. Und jetzt lade ich.«
René öffnete nach Lösung der Geheimsperre den ölstill gleitenden Zylinder und setzte die Patronen, eine nach der anderen, auf die Speichenzähne der leisknackenden Exzentertrommel. Efrem Efrus stand von seinem Kissen auf und trat weit weg.
»Der Efendi solls lassen ungeladen, was hat man davon? Ich glaubs. Ich versteh doch nichts von der Sach.«
Allein René rückte ihm unerbittlich nach und blockierte ihn schließlich in einer Ecke der Gitterbrüstung.
»Ich denke, Sie handeln mit Gewehren? Büchsen und Patronen sind Ihr Hauptartikel? Sie haben doch selbst das ganze Hinterland sozusagen unter Pulver und Eisen gesetzt! … Also, sehen Sie: eins, zwei, drei, vier, fünf Patronen. Eine komplette nette Ladung. Und jetzt – es knallt nicht, keine Angst – passen Sie auf – –«
Er drückte auf den gerippten Federknopf, und die Patronen wurden in messingblinkendem Sprudel in seine hohl vorgehaltne Hand ausgespult.
»Gesehen? Verstanden? Das kann Ihr Mausiehr nicht!«
Der Alte atmete erleichtert auf.
»Schön, sehr schön. Aber der Efendi soll nicht wieder laden.«
»Sie haben nur zu befehlen, Monsieur. Diese Nummer unserer kleinen Vorführung ist ohnehin zu Ende.« Er zog den stählern schnappenden Schneller in die Rast und hielt das eingestochene Schloß dem gesträubt abwehrenden Efrus vor den Bart. »Nun drücken Sie ab. Sorglos, hier vorne.«
»Was heißt sorglos? Der Efendi kann leicht sein und sagen sorglos! … Ich geb mich nicht gerne ab mit solchen Dingen.«
»Ein Fachmann muß! Es ist nicht geladen.«
»Weiß ich? Der Efendi weiß. Ein Gewehr ist ein Gewehr.«
»Abdrücken!« befahl René unbarmherzig; »hier vorne!«
Zaghaft, mit langem Finger, rührte der Angstgenötigte an die blankpolierte Zunge. Sogleich sprang die Spannung mit scharfem Klange ab.
»Gott über die Welt!«
»Na also! hat es gebissen?«
»Was heißt gebissen? Da sieht man die Gefahr, in der man schwebt! Man kommt daran nur von weitem, man braucht bloß zu husten daneben, gleich gehts los.«
»Ja, Monsieur. Nun merken Sie, womit Sie Handel treiben schon seit ich weiß nicht wieviel Jahren. Pulver und Stahl, ein verdammtes Spielzeug. Aber das hier ist nur eine Spezialeinrichtung. Die hat Ihr gewöhnlicher Mausiehr nicht. Dient dem Feinschusse über außergewöhnliche Entfernungen. Und nun die Hauptsache.«
»Noch eine Hauptsach? Der Efendi wird doch nicht schießen hier vom Dache? Ich geh weg.«
»Nein, nein, bleiben Sie. Nichts wird geschossen. Nur noch ein paar kleine Schikanen.«
»Gott, es sind Schikanen. Soll doch der Efendi endlich wegtun das Schießgewehr. Was kann uns das nützen?«
»Sehr viel. Sie werden sehen. Nur abwarten. Das Schlimmste ist ja überstanden. – Hier: darf ich um die Ehre Ihrer werten Aufmerksamkeit bitten?«
Er wies dem mißtrauisch hinschielenden Efrus die auffedernde Kolbenklappe, das billardgrün gefütterte Magazin und den dreiteilig eingesenkten Putzstock. Dann aber langte er nach der steifen gelben Blanklederkapsel, entschnallte ihr vorsichtig das schwarze Zielrohr und pflanzte dieses mit geübtem Griff in die Riegelplatten auf Hülse und Brücke.
»So. Was sagen Sie dazu, Monsieur?«
»Gott, es sieht aus wie ein Teleskop. Schießt das auch?«
»Nein; aber zielt und trifft. Belieben durchzusehen.«
»Gott soll mich bewahren! Bin ich ein Astronom? Was tut ein Teleskop auf einem Schießgewehr?«
»Durchsehen!« kommandierte René nachdrücklich. »So. Näher heran mit dem Auge! Ich halte Sie schon fest. Wir fliegen zusammen in die Luft. Näher! Etwa auf acht Zentimeter. So! … Was sehen Sie?«
»Gott über die Welt!« Der Alte wurde nun doch neugierig und vertraut. »Es ist alles ganz nah! Drüben dort die Kasba, jedes Fensterloch in der weißen Mauer! Man könnt meinen, es wär auf fünfzig Schritt, man könnt sprechen dahin!«
»Nicht wahr? … Und jetzt?«
»Gott über die Welt! Der Gebetsturm! Wenn itzt herauskäm der Muezzin, man möcht die Läuse laufen sehn in seinem Bart!«
»Was!? … Das ist Optik, wie? … Fünffache Vergrößerung, Monsieur.«
»Gott über die Welt! … Dort die Geier auf der Mauer über dem Brunnen am Bab Tsuts! … Sieht man nicht jede Feder an ihnen? … Es ist dort der Schlachtplatz, da sitzen sie gerne … Und die Hunde, wie sie fressen! … Wie sie schlingen! … Man könnt meinen, man hört sie knurren um die Gedärme! … Man sieht das Blut an ihren Schnauzen! Und geht dorten nicht Smail el Madini, der zweite Schreiber des Kaid? … Gott über die Welt, er geht dort, man erkennt Menschen! … Und geht dort nicht – – dort geht der Isaac Pintos, soll der Schlag mich treffen, wenn er dort nicht geht, der Isaac Pintos, der mit Seide handelt in der Hararia: er wird doch nicht gekauft haben unkoscheres Fleisch auf dem Gurma, dem Schlachtplatz? … Aber was sind das für Sachen in dem Teleskop? Man sieht zwei Stacheln von beiden Seiten, und in der Mitte einen Faden und drauf einen Punkt. Es wird doch nichts sein zerbrochen?«
René lachte. »Im Gegenteil: ohne diesen wichtigen Punkt wäre der ganze Plunder nicht einen Groschen wert. Der Punkt, Monsieur, sehen Sie sich ihn genau an – das ist der Punkt auf unserem i. Das ist der Punkt, auf den es ankommt. Denn wohin dieser Punkt zeigt, dorthin trifft das Gewehr, dort sitzt die Kugel, dort gibt es ein Unglück. Bei den Geiern, unter den Hunden, im Kopfe jenes Smail el Madini oder in der Herzgrube Ihres Herrn Konkurrenten Isaac Pintos.«
»Der Efendi macht einen Scherz. Weil ich doch nichts versteh von der Sach! Mir kann er leicht sagen.«
»Ich sage nicht; es ist kein Scherz. Punkt und Treffer und Tod sind eins.«
»Der Efendi macht Spaß. Wo wär das möglich?«
»Es ist möglich. In Europa sind solche Gewehre fast schon alltäglicher Luxus, vielleicht nicht gerade in dieser Ausführung; das ist dann Sache der Finanzen und des Geschmackes. Sie glauben es noch immer nicht? Soll ich Ihnen einen blutigen Beweis liefern? Isaac Pintos den Konkurrenten Ihnen vom Halse schaffen? Ach, richtig, Seide sagten Sie; und unsre Hauptartikel sind ja Waffen, Patronen, Kork und Gold aus dem Djebel Hamam. Gut; also einen der Aasgeier dort, die so unverschämt wie kahle braune Bettler auf der Mauer hocken. Schätze dreihundert Meter; Spaß!«
Und René legte die Büchse allen Ernstes auf unterbettenden Arm über die Brüstung und visierte angehaltenen Atems nach den riesigen Totenvögeln. Efrus wich gesträubten Bartes zur Seite und bohrte sich die Ohren zu.
»Gott über die Welt! Der Efendi will schießen? Der Efendi soll nicht schießen! Ein Schuß aus dem Mellach, Gott über die Welt, was gibt das! … Die Machsen, die Behörde und die ganze Stadt kommt über uns! … Und die Geier! … Sie werden beschützt und heilig gehalten!«
Er zeterte. Der Stecher schnellte mit scharfem Zahnklang ab. René lachte eratmend auf.
»Der wäre hin! … Keine Sorge; ich will keine Judenverfolgung. Sie sollen nicht gemetzelt werden. – Also, Monsieur! Was meinen Sie dazu?«
»Was soll ich meinen? … hat der Efendi weggenommen das Gewehr?«
René lehnte die Büchse behutsam in die Ecke.
»Hier. Kalt und garantiert unschädlich. Und nun zum Geschäft. Sie selbst haben mich darauf gebracht, Monsieur. Sie haben mich für einen Bu Chamasia, für einen Vater, Erzeuger und Verkäufer von fünfschüssigen Gewehren ausgegeben. Ich will Sie nicht Lügen strafen. Sie sollen das nicht einmal umsonst gesagt haben, von heute an bin ich Konkurrenz: ein Bu Chamasia.«
Der Alte, sonst so klug und geschäftlich lächelnd überlegen, sah unsicher auf den seltsamen, unverständlichen Gast.
»Was meint der Efendi? Das hab ich doch nur so zu denen gesprochen. Damit sie Vertrauen haben.«
»Gut. Und dieses Vertrauen will ich mir durch Bestätigung erhalten. Was würde so ein Herr von Rif zu Marokko genannt Uriachel für Augen machen zu solch einer Büchse?«
»Was heißt: für Augen? … Lange Augen wird er machen und lange Finger, und der Efendi wird sein, eh ers verhofft, ein toter Mann.«
»Recht erfreuliche Aussicht. Aber ich bin anderer Meinung. Wir wollen doch neuartige, blendende, bestechende Ware einführen. Ich denke, diese Ruafa sind leidenschaftliche Menschenjäger und ausgezeichnete Schützen.«
»Wie meint der Efendi? Das sind sie, und der Efendi würde es an sich erfahren nur zu bald.«
»Abwarten. Jeder Mensch auf zwei Beinen sinnt auf seinen Vorteil; der Rifi vermutlich nicht anders. Was hätten diese guten Leute davon, wenn sie den Bu Chamasia, den ersten und einzigen Muster-Reisenden und Vorführer des neuen Typs umbringen und damit Ware und Gebrauchsanweisung auf ewig verlieren?«
Efrus wurde aufmerksam. »Was denkt der Efendi?«
»Ganz recht. Das hier ist die Ware, in der wir reisen.« René nickte gegen die fortgelehnte Waffe. »Sie: sind der eigentliche Lieferant, der Inhaber und Leiter der großen Efrus-Zentrale zu Tetuan, Postscheck-Konto Fes Numero soundsoviel, Fernsprech-Anschluß Amt Mellach Numero eins bis x. Schön. Und ich: bin der leidlich arabisch sprechende Vertreter der geschäftsbefreundeten fränkischen Fabrik, der Vorführer und Erklärer des neuen Modells, das eigens für die tapferen Söhne dieser Berge erfunden und konstruiert wurde und das Sie nun großzügig zur Verteidigung des Djebel Hamam gegen das ganze gierige Europa unter die rechtmäßigen Landesherren vertreiben wollen, verstanden?«
Der Alte horchte mit offenem Munde. »Wie sagt der Efendi?«
»Aber doch einfach wie das kleine Einmaleins, Monsieur. Wir nehmen bewußten Esel Bileams; einen Sack mit sonstiger Jahrmarktsware; Ihren Glauben und Ihren bewährten Gott und diese auserwählte Büchse da; und wandern also los. Sie: bringen den Ruafa die frohe Botschaft eines neuen Mordinstrumentes; ich: reite selbiges auf Wunsch in allen Gangarten vor. Sie: buchen die anschwärmenden Bestellungen und Vormerkungen; ich: mache die dazugehörige Reklame. Die Geschichte spricht sich von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt, wir machen reißendes Geschäft. Werden überall fürstlich bewirtet. Allenthalben mit offenen Armen empfangen. Die fettesten Hammel müssen für uns frühen Todes erbleichen. Man schickt uns meilenweit festlich nabelbekränzte Bauchtänzerinnen entgegen. Wir stehen dabei alle beide unter fünfschüssigem Schutz. Und bohren uns schließlich in das Geheimnis des Djebel Hamam ein. Was bekanntlich Zweck der ganzen Übung.«
Efrus starrte noch eine Weile; seine magere Hand tastete über die perlende Stirn.
»Aber was soll denn kosten solch ein Gewehr? Wie der Efendi sagt, kann es nicht zu haben sein unter sechshundert, siebenhundert Franken. Und dem gewöhnlichen Rifi, Gott, sind schon dreihundert Franken ein großmächtiges Geld.«
»Aber, Monsieur!« René sah dem Alten wie von unten herauf lachend in die zweifelnden Augen. »Monsieur, der Preis – was geht uns der Preis an?«
»Wie nicht?«
»Monsieur? Wollen wir denn liefern? Effektuieren? Doch lächerlich! Mit verpflichtenden Anzahlungen werden uns doch diese Herren nicht gleich überschütten! Nun also! Wir reisen in einem Schlager. Das sichert uns. Das bahnt uns die Wege. Wollen wir Gewehre verkaufen oder Gold suchen? Wir bieten das Stück an zu zweihundertfünfzig Franken; sollen Sie sehen, die Nachfrage! Erfüllen? Du lieber Gott!«
Efrem Efrus stand wie betäubt von einer blendenden Erkenntnis. Dann brach er los.
»Soll ich dem Efendi sagen? … Soll ich sagen dem Efendi? … Gescheiter ist er als wie zehn Juden! … Hundert von unseren Leuten kann er in die Tasche stecken!«
»Ah!«
»Aber ists nicht so? Der Efendi kann sich wehren, gut; aber – Gott!« Der Alte strahlte jetzt förmlich vor Begeisterung; er griff sich mit allen zehn Fingern in den Bart. »So, so ist es zu machen, anders nicht! … Gott!« Er schlug sich vor die Stirn. »Der Efendi ist da ein paar Tage – und weiß es. Ich bin da fünfundzwanzig Jahr und komm darauf nicht! … Der Efendi nimmt her eine fremde Schrift in Quadraten und Zirkeln und liests bald wie Wasser; ich häng schon drüber fünfundzwanzig Jahr, kauf mir teure Schiffsladungen von Büchern und krieg heraus nicht ein Wort! … Der Efendi ist noch nie gewesen im Rif und gleich erkennt er die Menschen, und den Weg; ich handel' itz fünfundzwanzig Jahr mit den Leuten, und mir fallt sowas nicht ein im Traum! … Gott! Hundert Juden kann der Efendi einwickeln und stecken in seine Tasche, soll der Schlag mich treffen!«
»Das ist eigentlich nicht mein höchster Ehrgeiz,« versetzte René gelassen; »glaube nicht, daß mich der Zufall dazu in Tetuan abgesetzt und« – er verbeugte sich leicht – »in Ihr gastliches Haus geführt hat. – Aber – wenn wir etwas anderes in die Tasche zu stecken kriegen: da hab ich nichts dagegen.« Er lächelte verächtlich und steckte die frischgerollte Zigarette an. »Ich bin ja auch nur ein Mensch.« – – –
Die Fahrt war beschlossen. Efrem Efrus hatte keine wesentlichen Bedenken mehr.
Aber René trug etwas wie einen bitteren Nachgeschmack in sich herum, Unbehagen eines schlechten Gewissens.
Wahrhaftig, da war er selbst in aller Unschuld zum Juden und Judas geworden. In Unschuld des Triebes, der so alt ist und unheilbar wie die Welt.
Oder hatten die zart durchnervten Membranen seines Bewußtseins, Bewußtwerdens Geist und Sprache dieses Hauses, dieser Welt allzugetreulich aufgenommen und weitergegeben an die Griffel und Schichtungen in seinem Innersten?
Auri sacra fames, dämonischer Wille zum Golde! … Aber das Gold gehört denen, die es zu verbrauchen wissen: – sei es zu furchtbar umgestaltender tragischer Gewalt, zu wohlmeinendem Torenwerk – – oder zu den kühlen, herablassenden Genüssen des müden Kenners, Zweiflers und Verächters. –
* * *
Der Engländer, der schmierige Franzose und ein noch schmierigerer Spanier hatten weit draußen vor der Schotterbarre des Uad Martil geankert, gequalmt und gewartet. Dann zogen sie unter rußender Fahne wieder in die Zukunft hinaus, nach der unruhigen europäischen Heimat oder nach dem fernen Mogador, in dessen melodischem Hamen die Wüste geheimnisvoll zusammenklingt mit dem Meer.
Und hinter ihnen, fünfviertel Meilen landein im unreinen Judenviertel einer harmlosen weißen Maurenstadt, im Herzen eines halbverfallenen Judenhauses blieb ungeahnt das Schicksal, nach dem bald vielleicht schon die Wege, Kurse und Gleichgewichte dieser Welt sich verlegen würden.
Aus dem Zufall eines goldenen Saatkornes erwuchs San Francisco, der Panama-Kanal, die pazifische Küste schlechtweg, erfolgte in Fieberkrisen eine ungeheure Umschaltung in Blutbahnen und Stoffwechsel der Menschheit. Aus den Schatzgräbern des alten Djebel Hamam stieg vielleicht eine neue mittelländische Zeit herauf, am Gestade des Hesperidengartens wimpelten Flaggen, schwärmten die Flotten aller Nationen, und herein zum Meerestore, das der vielgeplagte Gottmensch Herakles in schwerfälligem Zorne einst aufgerissen, sammelten sich wieder die Völker am getreuen, warmen, sonnenblauen Mutterhafen ihrer Kultur. – –
Ja: und Efrem Efrus wurde eine Großmacht. Die stolzen Ephrussis in Paris und Triest, Magnaten in Gold und Gewalt, würden sich beugen müssen vor ihrem kleinen verachteten Vetter, der mit Korinthen und ein wenig Seide und Südwein angefangen und dann von einem leidlichen Baum wieder auf einen dürren Ast zurückgekehrt. Er hatte es nicht besser haben wollen, er war ein Tor wie ein Goj, ein Chammer; und nun hatte er es am besten, und wenn er sich räusperte, erzitterten die Großbanken von Petersburg bis hinüber nach Newyork, erzitterten und erklirrten bis hinab in den Schoß ihrer Stahlkammern. –
René aber saß auf seidenen Kissen in irgendeinem schönen luftigen Landhause am zypressenumgrünten, platanenumschatteten Bosporus. Er kümmerte sich nicht um die großen Kinderkrankheiten der Welt. Er ließ Gott, Jahve, Allah und Brahma gute Männer sein und schaute in gesichertem Kef der stillen gelben Wolke zu, wie sie dort über Hügeln und Hainen, Ruinen und Hirtenhalden Asiens in Schönheit ruhte. Er würde nicht geheiratet haben; wozu? Seine Gattin und bequeme Geliebte war das schweigende Gold. Er träumte in Blauwolken der feinsten Tabaksblume von Makedonien; er ruhte auf Kissen von erlesenster syrischer Seide; das Rohr seines Tschibuk war aus gewähltem Jasmin, mit Goldstreifen, Türkisen und Perlmuttern verziert. Hie und da las er in einem erprobten Buche, Larochefoucauld, Gracian, Thomas von Kempis, Laotse, Horaz, Homer, Shakespeare, Machiavell oder Antichrist. Die hundert bösen klugen Schicksalsbücher der Menschheit, Handsatz auf van Geldern abgezogen und von Hand in sumptuöse Leder gebunden, bildeten seine Bibliothek. Zarte schmale Sklavinnen in koischen Byssusflören warteten ihm auf, räucherten ihm mit Myrrhen und Storax und dienten seinen gnädigen Launen. Bisweilen ließ er sich eine hektisch prickelnde Französin, eine warmzutrauliche kleine Wallonin von der deutschen Westgrenze, eine nordlichtwilde Schwedin mit feuerheißem Muspillihaar und vitriolblauen Augen, eine weltliteraturschwere dauerhafte Teutonin, eine dynamitgeladene Revolverrussin, irgendein grundhysterisches, aus Druckerschwärze, Ethos, Eros, Mode, Mannswut, Drachenblut und Kunst zusammenverdautes Weibsstück Europa kommen. Dann segelte er in gemächlicher Nacht den Pontus entlang gen Kolchis und schoß dort Hirsche, Bären und Sauen. Mitunter schlug er in Haiderabad oder Gwalior seine Winterresidenz auf; bisweilen beliebte ihm ein Frühling in den reizenden Osterwäldern um Paris oder ein Stimmungsherbst in Wien oder ein Karneval an der Riviera. Aber dann kehrte er doch wieder in den seidenen Kef seines Zypressenhauses am Bosporus zurück, wo ein gesetztes Frauenzimmer von Menschenkenntnis und bewährten Rezepten der Ordnung alltäglicher Dinge vorstand. Ihr brachte er einen vom Heiligen Vater geweihten Rosenkranz, eine Madonnenstatue aus Lourdes und siebzig Ellen Matronenseide, Sonntagstuch und Küchenleinen: seinen süßen schmalen Sklavinnen etliches Geschmeid aus Nizza, Flöre und Seifen aus Paris und Pralinés aus Wien mit. Und vorderhand hatte er gerade noch elfhundertsiebenundfünfzig Franken zweiundvierzig Centimes in bar, einige sechzehn- oder achtzehntausend Franken in Anweisungen, Wechseln, Krediten und Konten, und war das erschöpft, so hatte er noch die paar Pfund Erbsilber in Wien, und war das vermünzt und verdampft, so hatte er nur mehr den Djebel Hamam im Fernglast der Fata Morgana, und löste der sich auf in glutzitterndes Wüstenblau, so hatte er nichts mehr als sich selbst und das nackte Leben. – –
Efrem Efrus erhob keine wesentlichen Einwände mehr.
Er betrieb Unternehmung und Aufbruch mit bemerkenswerter Hast. Nur der Talisman der Reise selbst und seine vorgebliche Zauberkraft bereitete ihm einige Sorge.
»Kann das wahr sein, was der Efendi sagt? Ein Teleskop auf einem Gewehr, und es zielt und trifft von selber?«
»Das tut es nicht. Aber es erleichtert die Arbeit um die Hälfte, um zwei Drittel. Es bringt das Ziel auf ein Fünftel der wirklichen Entfernung heran und zeigt darin dem Schützen den Punkt des Treffers.«
»Gott, es wäre nicht zu glauben; aber wenn der Efendi sagt, muß es sein. Für solche Gewehre allein könnte man haben von den Stämmen alles Gold ihrer Berge.« –
Der Weg des Zuges war vom kundigen Efrus bald festgelegt. Nicht von Tetuan aus landein, aber auch nicht über Melilia. Dort saßen die Spanier und überwachten so gut sie konnten den Waffenhandel nach dem Inneren. Aschdir nahe der Mündung des Uad Chis, an der alten Küstenstraße von Oran nach Tanger, war der geeignete Ausgangspunkt. An Alhusemas, der Pfefferminzinsel, dem spanischen Presidio auf vorgelegenem Felseiland würde man leicht vorüberkommen. Geschäftsfreunde aus Aschdir oder Addus und Ruafa luden da oft unter den Augen des Wächternestes tausende von Mausiehr aus der Schmugglerbark in ihre Fischerboote um. Natürlich benutzte man nicht etwa den kleinen Regierungsdampfer der Hijosdalgo. Efrem Efrus stellte selbst eine Segelflukka mit verläßlicher Bemannung. Wo es um Handel mit Waffen ging, durfte man Rifleute unbedenklich im Dienst an Tau und Steuer lassen; sie wußten zu schweigen; alles, was gegen die Spanier half, war ihnen recht. Aber selbst über den vorgeblichen Zweck der Reise würde man wohlverständlich nichts näheres erzählen; auch den Geschäftsfreunden gegenüber nicht. Der Efendi war ein vornehmer Herr aus Österreich, der sich aus wissenschaftlichem Interesse der Marktfahrt anschloß. So begründete man seine Anwesenheit gegen die Konkurrenz in Aschdir oder Addus, da man ja ihrer als Stütze nicht ganz entraten konnte. Der insgeheime Kampf mit diesen eigenen Volksgenossen bereitete Efrus noch die meiste Sorge. Der Handel über das Land hin war ziemlich straff organisiert; jeder Jahudi hatte seinen Kundenkreis, sein genau umgrenztes Absatzgebiet, seine ihm zu Schutz und Geleit angeworbenen Stämme. Doch meinte der Alte die eifersüchtig gewahrte Ordnung der Verhältnisse unschwer durchbrechen zu können. Wo ist der Jahudi auf der Welt, der nicht eingeht auf ein gutes Geschäft? Der nicht sähe und griffe seinen Vorteil? Gott! … er wird beladen seine Flukka mit herabgesetzter Ware, und wenn er daran verliert fünf Perzent! … Er wird anbieten die Ware seinen Geschäftsfreunden weit unter dem Einkaufspreis und sie ihnen überlassen zum Handel. Er wird davon Muster zeigen auf den Märkten und sagen: das sind die englischen Kerzen, sie sind jetzt billiger das Paket um einen Billun, der Joan Palmas in Aschdir hält sie euch feil, geht hin und kauft, und dem Joan Palmas wird er nachgelassen haben drei Billein am Paket, Gott! … So wird der noch immer machen einen schönen Profit und schweigen und sich freuen. Gut. Und dem Joan Palmas wird er gesagt haben, es ist eine seltene Gelegenheit und er hat dabei an ihn gedacht, den ganzen Posten kann er allein nicht absetzen an das Hinterland von Tetuan, und der Konkurrenz dort und in Sipta und Tanger gönnt er nicht den Gewinn, und nebenher ist er auch gekommen wegen Korkrinde und Halfagras, er will sich einmal überzeugen wie es aussieht damit da oben in den Tälern, damit er weiß, wieviel er könnte anbieten und was für Abschlüsse in seine Rechnung setzen, und natürlich soll die ganze Lieferung gehen zuerst durch ihn, den Joan Palmas, acht bis zwölf vom Hundert Provision wird er ihm gerne bewilligen, aber schon darum ist es notwendig, daß er einmal selber sieht und sie reden dann miteinander – – und vielleicht (das wird er anbringen ganz zum Schluß, hinter vorgehaltener Hand ins Ohr und mit zwinkernden Augen) vielleicht ist zu machen demnächst eine große Sach in neuen Gewehren, ein ganz neuer Schlag: feine War! … spottbillige War! … Achtzig, hundert Perzent spielend dran zu verdienen! … Und dabei wird er blinzeln hin nach dem Efendi: das ist der Vermittler! … Gott, vielleicht der Vertreter! … Ein feines Sächel! … Nu, und der Joan Palmas: wird er dann nicht mehren wollen das Öl in seinen Krügen und die harten Duros in seinem Säckel? … Wird er solcher Chammer nicht sein und scheuchen die Fische aus dem Netz! … Efrem Efrus war ziemlich beruhigt und bestellte sein Haus für eine lange Abwesenheit.
Daran waren die Frauen schon gewöhnt. Er schloß den Betrieb auf mehrere Tage oder Wochen und kehrte zurück mit neuer Ware, neuen Verbindungen und Schlüssen, die den kleinen Verlust an täglichem Handel reichlich deckten. So machte ers auch diesmal. An Mitteln aller Art fehlte es dem Hause nicht. Nachbarn waren im Falle des Bedarfs zur Hand. Binnen der Mauer des Mellach ruhten die Frauen geborgen wie in den Vorhöfen des Herrn, wie in Abrahams Schoß. So war denn alles gerüstet und klar zur Ausfahrt. –
Vieles wohl hatte der umsichtige Efrus bedacht und berechnet; Eines nur nicht – die zarten Sinne der sogenannten Frauenseele. Der Seele unter der Seele, des Herzens unterm Herzen, wie er selbst es ahnend genannt.
Madame wurde still und schwermütig, ihr müd entsagendes Lächeln zur Maske.
René beobachtete das, und er fühlte tagelang das Nahen einer Frage. Der schläfrige Blick dieses überreifen Weibes ruhte oft sorgenvoll auf seiner Stirne. Es war ein schwüles Suchen und Warten.
Er selbst hatte nichts weiter vorzubereiten. Seine geliebte, jetzt zehnfach wertvolle Zauberbüchse harrte längst wohlgesalbt in gelbledernem Futteral des Aufbruchs. Einen Gürtel für sechzig Patronen hatte Efrus von einem der geschickten Taschner dieser Stadt anfertigen lassen. Fünfhundertvierzig weitere Ladungen Feueratem und Stahlblitz barg ein geräumiger Lederbeutel, vorbestimmt der Traglast des unentbehrlichen Geduldtieres. Das reichte nachgerade zu einem kleinen lustigen Räuberkrieg. Anderweitige Ausrüstung hatte der Gastfreund aus seinen Vorräten gestellt: Haik, Schkara, dauerhafte Pantoffel. Von beschwerlicher Mitnahme auffälliger europäischer Luxurien konnte freilich nicht die Rede sein. Seife nur, Spiegel und Schermesser mochte René auch in den Bergen der Hesperiden nicht missen. Es war nicht ausgeschlossen, daß man diesen unsterblichen Fräulein in ihrer ewig jungen Nacktheit irgendwo hinter unvermutlicher Talbiegung begegnete, und für solche Fälle mußte man wenigstens mit Glätte, Reinlichkeit und Wohlgeruch gewappnet sein. Zwei erprobte Schabklingen von Kayser Ellison & Co. in Sheffield – feine War! … nu, wie soll man sagen: Kavaliermesser! – ein frischer Seifenstock von Colgate, der gute altgetreue Dachspinsel, der ledergerahmte Rundholzspiegel und eine mächtige cremefarbne Rundseife von Roger et Gallet fanden Aufnahme im zuständigen Ledergehäuse, und dieses erhielt Unterkunft in der landesüblichen riemengeflochtenen Schkara. Nein, nein, zur Vorführung einer hochmodernen Zielfernrohrbüchse gehörte auch das Arom abendländischer Kultur – und ein angenehm nach Lavendel duftender, sauber rasierter Franke erschien den Barbaren da hinten vielleicht harmloser als ein unbedenklich mitstinkender, mitkratzender Israelit.
Nicht ohne philosophische Wehmut betrachtete René die bunte Flaggengala seiner Halsbinden, die Stapel feiner und allerfeinster Hemden, die leichten steifgebügelten Weißflanellhosen, die seidenen Gürtel und Anzüge, diskret bunten Socken und lieblich durchblüteten Taschentücher: – was war all der liebe unerläßliche Tand ihm nun noch nütze, da es ums Ganze ging, um den Vater der Dinge, um das allmächtige Gold? … Ja, man kann um das metallische Urlicht, man kann um Gold kämpfen auch mit Krawatten und Frackwesten, mit polierten Nagelkrallen und Lackschuhen, im Tanzschritt oder mit klirrendem Silberbesteck, mit der Knopflochgardenie und mit dem blondperlenden Sektglas. Aber es sind doch nur mehr die Neben- und Unternebenflüsse des mystischen Sonnenelements, die jene Welten durchströmen, die man dort in Staubecken sammelt und in kleine Mühlfluder als treibend Gefälle abzapft. Der starke Mutterquell aber birgt sich immer irgendwo in tiefer harter Wildnis, und dem allein erschließt sich der Born, der mit der Übermacht einer Armee von tausend gierenden Teilhabern – oder als schlichter, allen Bedürfnissen und Genüssen abgetöteter Pilger zu ihm kommt.
Wer teilen, verlieren und erschlagen werden mag, der rüste sich mit Legionen, mit Dampf, Benzin und Korundbohrstahl; wer aber schweigend heben, besitzen und behalten will, der nehme die alte Spitzharke, die alte Pfanne, den alten Waschtrog, und lasse Krawattenfahnen und Bügelhosen und das ganze übrige Europa zu Hause …
Wann würde er sie wiedersehen, all diese Vermeintlichen und Eingebildeten? … Es haftete Erinnerung an manchem Stück, Stimmung, ein Nachklang, ein letzter zarter Aushauch. Hier, dieser rührende Halsbindenschlauch, aus schwerer altgoldner Seide gestrickt – oder gehäkelt? … Diese Funktionen konnte er nie verläßlich unterscheiden. Er legte ihn weiß Gott niemals an, ein einzigesmal, einen halben Nachmittag lang, hatte er ihn schamhaft getragen: aber er führte ihn getreulich mit wie einen freundlichen Talisman, und so oft er ihn ansah, gedachte er dankbar der kleinen hübschen Hände, die das irgendwie gewebt, insgeheim aus zusammengesparten Groschen … Catherine Flandrin, die zierliche Wallonin aus Malmedy, eigentlich war sie besser gewesen als irgend eine andre, so anfröstelnd warm wie ein bunter Herbstkamin und in ihren reizenden Sünden fromm wie eine hostienblasse Heilige … Da, und dieser glücklicherweise ausgegilbte Fleck im überzähligen Piqueehemd, er hatte seine Geschichte – ja ja, schwarze diamantne Janie, Millionenfrau dort drüben irgendwo überm Ozean, er hat eine kleine Geschichte, dieser Fleck da: die deine! … Was, das Ding da lebte auch noch? Falbseiden Taschentuch, blaßblau bordiert, blaßbläulich Monogramm in liebesmühsäligem – na, wie hieß das Zeug schon? – Stielstich oder Stillstich oder Stilstich oder Blattstich oder Plattstich, oder hieß es überhaupt ganz anders, egal! Ellinor, unüberwindliche Jugendliebe du, mit deinen enggerückten Augen und deinem weithinleuchtenden Sonnenschirm und dem Wäscheschrank deiner wohltuend sauber in vollzählige Blaubanddutzende geordneten Gefühle und deinem merkwürdig heißen, tiefeindurchflammenden Kuß! … Schau, diese längst totgeglaubte Weste, diese ausgewaschene Sommermorgenweste mit den kaum noch sichtbaren Sprühspuren über der linken Herztasche! Tullia Feodorowna, ob sie dich inzwischen nach Sibirien geschickt oder ins Narrenhaus gesperrt haben, ob du irgendwo irgendwie mit in die Luft geflogen oder in der Gosse ersoffen oder die mangelshalber tugendsame Ehefrau eines kleinen Beamten in Archangelsk geworden bist? Wähle: das Lysol oder die Kugel! Keins von beiden, Herzenstullia, das Lysol, siehst du, ist eine unbehagliche Säure, da hast du die Scherben, und die Teppichecke wird ziemlich kaputt und das Parkett kaum aufzubohnern sein, und das Stück Revolvereisen nehme ich vorläufig an mich, soo – – und ich lebe noch und bin nächstens ein steinreicher Goldkönig, und du sitzt hoffnungslos hinterm Ural oder hinter grauer Mauer oder die roten oder weißen Wölfe deiner lieben Heimat haben dich aufgefressen! … Ah, Hemd Nummer dreizehn, Fahne des Rittertums und der Ehre! Einmal, eines taukühlen Herbstmorgens, als die Krähen über bunten Parkgehölzen schwärmten und schrien, warst du ja wohl ein bißchen blutgetränkt, du trautes Stück Leinewand; aber das Löchlein hat eine kundige Jungfrauenhand so wundersam fleißig verstichelt, und so viele heiße Eisen sind über die Narbe hinweggegangen, daß nur ein mißtrauisch Weiberauge sie noch erkennt. Gern geschehen, meine liebe Freundin, nicht der Rede wert! Der Andere war ja nicht mehr zu flicken und aufzubügeln; du bist frei; und ich habe mich höflichst bedankt! … Gott nein, diese gelbatlassne Geschmacksverirrung von Behältnis, dieser Zwitter mit dem liebesglutroten Monogramm! Wer war denn das eigentlich, und wozu dient das? Für Halsbinden zu kurz, für Schnupftücher zu schmal, ein Lückenbüßer in bedenklichen Hohlräumen der Kofferpackung. Dazu wahrscheinlich schleppt man das mit sich herum in der weiten Welt, neben und bei und zwischen all seinem vornehmen, herrischen Leder. Oder doch aus irgendeiner Art von Mitleid, von herablassender Anhänglichkeit? Hanna, nein, du kannst das nicht gewesen sein; du hast mich stets geliebt, aber so tief bist du nie gesunken. Du schenktest selbstverfertigte Bilder und ein ganzes großes Herz und gebarst mir niemals einen gelbatlassnen langbebänderten Bastard. Ada oder Adelaide, du in deinem hundertsiebenundsechzig Zentimeter langen kastanienroten Haar? Nein, du warst größer; du löstest Haar und Gürtel und gabst dich selbst. Lotte mit den heißfeuchten haselgrünen Augen und unwahrscheinlich langen Wimperstrahlen und dem hochschwebenden leichten Jünglingsschritt? Nein, du warst immer praktisch; du gabst das hübsche saubere Döschen aus schöngemasertem, beinahe echtem Tschinar-Holz mit gar nicht üblem Tabak darin, du gabst einen unvergeßlichen Sommernachtkuß, der schmeckte nach Jasmin und Kastanienblüte und reichte hinein bis ins Herz, und von dir stammt doch das ausgezeichnete Rezept zu einem besonders raffinierten welschen Salat, und du schriebst die entzückendsten Kinderbriefe der Weltliteratur, und du weißt, deine leichtfaßliche Liebe ging mir über alle Kunst und Weisheit der Erde, ich habe deine süße Häuslichkeit und deine Schmalheit immer bewundert, deine zweite Zehe war um das klassische Maß länger als die große, und ich glaube, du warst auch die mit dem bräunlichen Mal irgendwo unter der linken Brust … Marette mit dem großen, verführerisch bettelnden blaugrauen Unschuldsblick und dem kleinbißchen Bitterkeit im ausgelassensten Lachen? Nein, Marette. Du gabst mal eine Schokolade zum Mitabbeißen oder deine Versatzscheine zum Einlösen, gabst im Tanze Stück für Stück preis von deiner Scham und deinem Körper und zum Schlusse diesen selbst in seiner ganzen schlanken filigranen Nacktheit, gabst gelegentlich wohl eine Nacht, nie die volle Wahrheit, manchem ehrlichen Narren Korb und Abschied, manchem Schuft und manchem Portemonnaie die Restchen deiner Ehre, aber bis zu solch unverzeihlichem Atlasflicken hast du dich nicht vergeben … Regine, du großmächtig blonde, mit der tiefgründlichen Altstimme und dem gesammelten deutschen Weltenleid im Herzen? Nein, auch du nicht, Regine. Du bist und bleibst mir teuer; deine Liebe war solid und lückenlos wie ein teutonisches Kompendium in Halbfranz und vierundzwanzig Bänden, mit hundertneunundsiebzig Seiten Vorwort, zwei Bänden Einleitung, ein paar Tausend Seiten Fußnoten und drei Bänden Inhaltsverzeichnis; du liebtest außer mir noch Frühlingsabende in der Natur und darin befindliche langwierige Gespräche über Seele, Kunst, Schönheit, Wahrheit und ähnlichen Mondschein; du liebtest außer mir noch Hugo Wolf, die minnigliche Romantik, den Hamlet, sehnsüchtige Selbstverträumungen in das dreizehnte, das sechzehnte, das achtzehnte Jahrhundert, ins Goethesche Weimar, in Arme und Bett des alten olympischen Geheimerats, na und so ähnlichen Kitsch: – aber diesen Kitsch, nein, den will ich dir nicht zutrauen, den kannst du mir nicht angetan haben, wenn ich dich auch verriet und aus dem cheruskischen Schreckenswald deiner Gefühle angstgesträubt flüchtete in sonnigeres Mittagsgeländ … Bleibst also nur noch du, Anny, kleine unersättliche Anny aus der schönen Stadt Winchester in Engelland, wo alle Dinge ein furchtbares Maß haben, die Sonntage, das Geläut, die Tuberkulose, der Sport, der Nebel, die Zeitungen, die Falschheit, die Frauenzähne und die Geschmacklosigkeit. Ja, es hilft nichts, Anny, du bists gewesen, bei euch da droben im Nebel ist selbst die Gotik krank geworden, die Musik ist bei euch gestorben, bei euch haben die Könige sechs Frauen, euere jungfräulichen Königinnen ganz stramme und recht veranlagte Söhne, die Prinzen von Wales bis zu siebenzig Geliebte und siebentausend Westen, der Genius euerer Historie watet bis unters Kinn in einem Sumpf von Blut, und du hast unterm Herzen dies Mißgeschöpf ausgetragen, das ich weiß Gott nicht gezeuget! Blutrache! … heißt es im europäischen Zeitungsgezeter, wenn einmal zwei Albanesen, freie Beduinen oder Ruafa wegen eines runden Mordes einander totschießen … Wo aber ist grausigere, unerbittlichere Blutrache daheim als im hochgesitteten Engelland? … Fahr hin!
Ja, ihr alle müsset nun für eine Weile dahinfahren, ihr Mahner, Warner, Ankläger und Zeugen; über ein Kleines werdet ihr mich nicht sehen und aber über ein Kleines werdet ihr mich wieder sehen, und dann wird meiner Mutter Sohn mit des Allerbarmers Willen daherkommen in Kraft und Herrlichkeit, insch' Allah! … René warf noch einen letzten Blick in dies Novellenbuch seines Lebens, diesen Dekameron in Leiden und Battist und Linnen. Oft schon hatten sie sich getrennt; diesmal aber wars ein rechter Abschied, denn nun ging es hinein in das große eigentliche Schicksal, in die Entscheidung. Entweder er kehrte geschlagen, klein und häßlich zurück, und dann, ihr Lavendelduftenden, gehet ihr ein zum Trödeljuden, und der euch so sehr geliebet, legt an euerer Statt an eine braunzerlumpte Dschelabba, hegt die Flöhe darunter an seiner Brust und setzt sich als Bettler gleich hier ans Bab Tsuts oder Bab Aukla und macht den Aasgeiern und Straßenhunden Konkurrenz. Oder der Schatzberg Sesam öffnete seine blendenden Pforten, und dann gibt es fürs Erste keine Zeit und auch keinen Anlaß mehr, jedes Einzelne unter euch zu pflegen, zu betrachten, zu erwählen oder überhaupt zu erkennen. Abschied also auf alle Fälle; das stimmt weich und nachdenklich; jeden Faden möchte man teilhaben lassen am kommenden Glück oder hinüberretten ins kommende Elend … vorbei, vorbei! … Ein neuer Anfang! … René schloß die Koffer. –
Auch die Bücher mußten auf Wiedersehen oder Verderb zurückbleiben. Aus dem unschätzbaren Duveyrier hatte René ein paar Blätter voll ausgezogen. Mit der geheimnisvollen Schrift war er überhaupt noch lange nicht zu Ende. Weiß Allah, vielleicht fingen die Schwierigkeiten jetzt erst regelrecht an.
Da gab es nicht nur ein »Haus des gelben Herrn« und einen »Paß des Blutgeldes«, ein »Tor der Quelle« und ein »Grab des Friedens«, sondern auch einen Gur Abba, einen »Berg des Vaters«, und ein Uad Omra, ein »Tal der Mütter«, einen Uld Nur, Sohn des Lichtes, und einen »Fels der Inschriften«. Waren das noch wirkliche Ortsnamen – oder Gleichnisse, mystifizierende Anspielungen, Symbole, Begriffe von geheimem Sinn? René erinnerte sich, zu seiner eigenen Beunruhigung, des unentknäuelbaren Systems der Kabbala, der tiefsinnigen Spekulationen der Hurufia-Sekte, der Zahlenwerte einzelner Buchstaben und demgemäß ganzer Worte, ja Schriftsätze, der astronomischen und astrologischen Bedeutung solcher Zahlengruppen und daraus sich ergebenden Quersummen.
Er hatte unter den Büchern gestöbert, die Efrus im Laufe der Wartejahre sich vergebens angeschafft, und ein aus dem Englischen übersetztes französisches Werk gefunden. Nein, glauben mußte man den düsteren Unsinn natürlich nicht, der da in zusammenhanglosem Geschwätz sich häufte – aber welche Mittel der Verschleierung standen Kennern der Kabbala, standen hurufischen Sektierern, standen allen diesen Freimaurern des Morgenlandes nicht zu Gebot! Und gerade um Goldes Sonne, um Goldmachen, Goldfinden, Golderweckung kreiste doch in verschlungenen Irrbahnen diese schwärmende Geisterwelt.
Da hieß es, die Sonne sei alchymistisches Gold, der Mond alchymistisches Silber. Da hieß es weiter, das griechische Chrysos sei nichts anderes als das griechische Chrystos, dasselbe Mort für »Heiland«, für die höchste Vervollkommnung, die geläutertste Form der irdischen Natur. Da wurde gelehrt, alle anderen Metalle seien nur Krankheitsstadien des göttlichen Goldes selbst, dessen kindliche, unreine Vorstufen. Da hieß es ferner nicht ohne Tiefsinn, alles metallische Element bestände letzten Endes aus Quecksilber als einer gemeinsamen und beweglichen Basis, und mit des Menschen quecksilbernem Wesen strebe es zur Rettung und Reinigung im unsichtbaren Lichte, im Abgrund der Barmherzigkeit, in der himmlischen Glorie, darin alle Masken sinnlicher Materie vergehen. Da stand geschrieben, Gott habe allen Metallen ein lebenskräftiges, rastloses Prinzip des Wachstums eingepflanzt, das angestrengt Kämpfe wider die Krankheiten des Stoffes, gleichwie des Menschen Seele, Gottes Gnadengeschenk an die Gefallenen, die fleischlichen Lüste meistert und mehr und mehr hinter sich läßt auf dem Pilgerwege nach dem neuen Jerusalem. Da ward gezeigt, wie das Gold, von magischem Lichte gesättigt, das Ziel im Sichtbaren, selbst aber schon in die Dämmerung dieser Welt hereinstrahlende Ewigkeit sei, das Medium des Zusammenhanges, der diesseitige Bogen und Kopf einer Brücke aus Glanz und Glorie, die hinüberführt über den Abgrund nach dem Sonnquell des Seins, zum JHVH, zur mystischen Dreiheit, ins höchste Geheimnis. So werde das Gold und das Urlicht als Seine Ausstrahlung durch fromme Kunst erweckt und zu Frucht und Wachstum gesteigert und könne alle Materie inspirieren und vervielfältigen und schließlich aufnehmen in seine geläuterte Natur …
René griff sich an den Kopf: heilloser Blödsinn, aus dem allenfalls ein paar vernünftige Gleichnisse herauszuschmelzen – eine wüste Schlackenhalde von durcheinandergeworfenem Erz, taubem und tiegelwürdigem. Und nun beschworen sie gar noch den alten verrückten Van Helmont:
Die Metalle bestehen durchaus aus heißem oder kaltem Schwefel. (Schwefel, jawohl!) … Sie sind zusammengesetzt aus heißem Männlichen und kaltem Weiblichen. (Wenns nur im Leben nicht grad umgekehrt wäre!) … Je inniger sich diese Naturen vereinen und durchdringen, desto näher steht ihre Verbindung dem Golde. (Ah! … daher also der Goldwert einer guten Ehe, einer restlosen Liebe, und so weiter!) … Das Salz aber, zu dem der Überschuß an Bindungsschwefel herauskalziniert werden kann, diente von vornherein der metallisch-ehlichen Legierung der beiden verschieden temperierten Schwefelgatten. (Dank dem Barmherzigen, daß es nicht bei diesem Van Helmont stehen blieb, daß nachher noch ein Helmholtz kam, ein Lavoisier, ein Berthollet, ein Berzelius!) … Nun ist aber das Gold der Sonnenvater aller Dinge und das bleiche Silber die Mondmutter – endlich ein Körnchen Wahrheit! … In unserer irdischen Wirklichkeit indessen ist das gewöhnliche Gold doch nichts anderes als feuerfarbenes, männlich tingiertes Silber, weiblicher kalter Schwefel; dahero auch in Johannis Offenbarung die Rede von der »Frau«, die da sei »mit der Sonne bekleidet« und eben an diesem geheiligten Orte der mystische Rat erteilt wird, sich »feuergeläutertes Gold« zu kaufen und daran reich zu sein und der Sonne ähnlich, daß nicht das irdisch-weibliche Silbergold durch arsenige Säure zu Schlacke verbrannt werde und wir den Sieg gewinnen über den Mond und das sublunare Monatsblut in unserem Fleisch und unseren Gedanken … Und von da ging es über roten und weißen Arsenik, über Auripigment und Realgar in die Tiefen der letzten Dinge, des Kosmos, Mikro- und Makrokosmos, durch die Fluchten von Topheth und Scheol bis hinab in den Krater der Nacht, den Abgrund der Gerechtigkeit; durch die blendenden Perspektiven und Chöre von Hod und Tiphereth, Gebhurah und Chochmah hinauf bis zum Aziluth und Hyperaziluth, bis zum Feuer des Logos und Logos des Feuers, bis ans allerletzte Tor, bis vor den allerinnersten Altar, bis hinein nach En Soph, den Abgrund der lichtbarmherzigen Lebensmajestät; und bei einer an diesem allbarmherzigen Logoszentralurgrundfeuer entzündeten Zigarette dachte René eratmend daran, wie wohltuend es doch eigentlich sei, sich unter Gold, Aurum, Au der Chemie, eine Härte von 2/3, eine Dichte von 12/13, ein Atomgewicht von 196, einen Schmelzpunkt von 1200 Graden, Löslichkeit in Königswasser und Chlor entwickelnden Säuren, tesserale Krystallisation, gediegenes Vorkommen in Staub, Sand, Gries, Erbsen, Bohnen, Nüssen, Drahten, Blechen – und im übrigen ganz solide, natürliche, gesunde Erdendukaten vorzustellen, Friedrichs-, Louis-, Napoleonsd'or, britische Sovereigns, österreichische und deutsche Goldzwanziger, österreichische Goldgroßtaler, und alles, was es dafür hienieden zu kaufen gab, Schmuck, Weiber, Schlösser, Kunstwerke, Länder, Armeen und Gesinnungen … Ach ja, es ist doch etwas Schönes um die ruhige, stahlkühle, sauber scharfkantige Wissenschaft.
Aber was konnte nicht alles an irreführender Kabbalistik verborgen sein unter den Zeichen, Worten, Wortfügungen, Wortspielen, geheimen Zahlwerten dieser schicksalsgetränkten Schrift!
René hatte sich in einsamen sonnenheißen Dachstunden dieser Tage eine Übertragung ausgezogen. Da standen nun Namen, ja; wirkliche, wissenschaftlich beglaubigte Namen. Aber dann kamen andere, dunklere, rätselhafte, die keine Karte auswies. Namen, Worte, Begriffe, Gleichnisse: – und was hehlten diese für Sinn?
Das Ganze nichts als eine mystische Spekulation? … Solcher Befürchtung standen blutige Tatsachen gegenüber.
Oder gab es vielleicht eine Schrift unter der Schrift, war es etwas wie ein geistiges Palimpsest, um dessen Entzifferung er sich mühte? Bedurfte es eines besonderen Schlüssels zu den innersten Toren dieser Welt? Konnte ein Wissender nur aus diesen Zeichen und ihrer scheinbaren Bedeutung den Weg zum Herzen des geheimnisvollen Berges, zum Hort erkennen? Das war keineswegs unmöglich. Derartige Vermächtnisse pflegen nicht in platter, gemeinverständlicher Alltagssprache ausgestellt zu werden. Und gerade der üppige Blütentrieb morgenländischer Ausdrucksweise begünstigte die Verwendung undurchdringlicher, mehrsinniger, dabei unauffälliger Decknamen. René nahm seine Übertragung noch einmal vor und verglich ihren Text Satz für Satz mit dem bräunlichen Original:
»Es führt einen Suchenden der Weg von Fes nach der Kasba bei Kadur und nach dem Markt der Marnissa hinüber in das Tal Kert und nach den Märkten der Beni Uriachel und Beni Tussin und nach dem Berg der Erze. Es führt den Holenden ein anderer Weg von Titaun nach dem Markt der Beni Said, über das Tal Lahu, vorüber am Ras Saba, der Küste entlang über den Fluß Tikisas, die Flüsse Uringa und Titula nach Mastassa, und von hier aufwärts im Tal des Talembades nach Snada und Taffah und dem Uad Nukhor und also vom Maghrib her zu dem Berg der Erze. Es führt ein dritter Weg den Wanderer von Figig her nach Debdu und Tamrirt, von Tamrirt nach der Kasba Merada, von der Kasba Merada nach der Kasba Messun, von der Kasba Messun nach Meknessa fokhani, von Meknessa fokhani nach dem Markte der Marnissa und vom Markt der Marnissa mit der ersten Straße nach dem Erzberg. Es kommt ein vierter Weg von Oran über Udschda und die Kasba el Aiun nach Tamrirt, wo die Straßen sich vereinigen. Es kommt dem Bedürftigen ein fünfter aus der Gelaia von Ras Uark über Kasba Seluan und Midder und geht über das Tal Kert nach dem Gebirg der Erze. Es zieht der sechste von Al Ksar im Maghrib mit dem Tal des Adur und dem Uad Sbu nach der Kasba Hadschra und nach Schrifa und wendet sich dann beim Markte der Messiat nach Mitternacht gegen Mshru und wieder nach Aufgang gegen Schörfa Tafrut und gelangt also in das hohe Land, das sich erhebt zwischen dem Uad Nukhor und dem Uad Kert, an sein Ziel. – Der aber schöpfen will aus dem Quell des Goldes im Berg, woher auch sein Pfad und sein Bedarf, aus Gharb oder Scherg oder Gebla oder Dahra, dieser muß steigen hoch und rauh hinan von einer Stelle, wo zwei Wege des Wassers sich scheiden aufwärts, sich vereinen abwärts. Er muß gehn entgegen dem Uad Soda zur Linken und zur Rechten lassen den Uad Mellen, dessen Bach sanfter strömt und geboren wird in Ghaba es Slam, dem Hain des Friedens, in den Triften. Er aber, der sich das linke Tal zu dem seinen erwählt, derselbige wird vorüberkommen zuerst an dem Fels der Inschriften, am Grab des Friedens sodann, und wird endlich erreichen das schmale Tor der Quelle und auf der Höhe den Paß des Blutgeldes, hat er diesen überwunden, so wird er eintreten in ein hohes Land, wo starke Winde wehen und die Wolken bisweilen Gipfel ihm und Pfade und ihn selbst verhüllen. Dort kann er seinen Durst stillen und seine Schläuche füllen aus dem Brunnen des Sieges, der hier seiner harrt und dessen Wasser kühl und köstlich wie der Tau auf reifen Pfirsichen der späten Nacht. Er wird dann weiterziehen und schauen Mkabar esch Schörfa, den Friedhof der Edlen, die hier im Kampfe gegen die Feinde gefallen. Er wird sodann erblicken einen einsamen Berg, den Vater, und zu seinen Füßen aufgetan eine Schlucht, die Mutter. Mitten innen aber zwischen beiden, an einem Rinnsal im Hange stehet ein Haus, dieses ist das Haus des gelben Herrn, und wenn er anpocht an dessen Türe, wird sich ihm zeigen der da genannt wird Uld en Nur, der Sohn des Lichts, und bei diesem zu Gaste ist er am Ziel und mag ausruhn und sich erlaben und getrösten der überstandenen Gefahr. – Es gehe aber keiner zu oft hinan den irdischen Weg zum Hang zwischen Vater und Mutter. Denn dreimal nur wird aufgetan von Uld en Nur dem, der das Zeichen kennt, und viertem Pochen bleibt verschlossen die Türe des gelben Herrn. Und wer zum vierten Male trinkt aus dem Quellbrunn des Sieges im Hochland, der wird trunken und immer durstiger nur und vergiftet, und findet nimmermehr zurück, und die Geier der Berge werden zerreißen ihn und verschlingen.«
Ja, das war es nun, zur Not zusammengedeutet und halb erraten aus helldunklem Temahak und eingesprengten verderbt arabischen Satzsplittern. Leidlich nüchtern noch für morgenländischen Geschmack und Schriftgelehrtenwitz; ein guter Kabbalist würde solcher Kindlichkeit lächeln. Zwei oder drei Lesarten aber gab es immerhin, und selbst die recht unverhüllte Warnung des Schlusses war aus dem unscheinbaren Wörtlein »irdisch« zwiefach auszulegen. Naturnotwendige Geheimnistuerei, die sich mit Spielerei verschränkt: so tröstete sich René auch diesmal über hereindämmernde Zweifel hinweg. Nein, nein. Zwei Spannen hoch über einem orientalischen Herzen trug er noch einen ziemlich europäischen, kalten Kopf, und dieser unverbesserliche Kopf entschied ganz sachlich: Ort und Stelle! An Ort und Stelle würde sich ja alles zeigen. An Ort und Stelle würde sichs auch ergeben, was von diesen Herren Geiern der Berge zu halten und zu fürchten. An Ort und Stelle würde sichs erweisen, wie dieser vielversprechende »Paß des Blutgeldes« bei Tageslicht eigentlich aussah. Vielleicht hatten die Herren Ruafa sich da oben irgendwo einmal über den Wert eines erschossenen Gevatters verständigt, und das Grab des Friedens war nichts anderes als eine der zahllosen kreideweißen Kuppelkapellen mit dem Halbmond auf dem Wölbungspol. Und der liebe Uld en Nur, dieser freundliche Knabe war natürlich niemand anderer als das Gold selbst. Und selbstredend wachte irgendein Stamm eifersüchtig darüber, daß der Herr Nachbar seinen Arm nicht allzu tief in das angenehme Loch stecke und nicht allzu fette Vögel mit herausziehe. Das war menschlich. Und auf dem berühmten Friedhof der Edlen da schliefen eben unterschiedliche durchlöcherte Schädel, denen man das Flackerflämmchen Leben mittels der sogenannten Kopfwelle schnellrotierender Geschosse ausgeblasen. Er war ein kleines anziehendes Kalifornien oder Alaska, dieser Djebel Hamam. Die Ruafa hatten unter den Völkern, eine Company hatte unter ihnen den besten und ältesten Claim. Geschossen wurde hier wie drüben – und wie überall, wo Goldsaat aus der alten Erde sprießt. Schon diese erboste Wehrhaftigkeit, diese Waffensucht der Herren Ruafa war dringend goldverdächtig. Man konnte eigentlich ganz ruhig sagen: wo viel geschossen wird, da ist sicherlich Gold zu sieben. Denn geschossen wird immer irgendwie um Goldes willen; auch Brot, auch Fleisch ist Gold. Um Goldes wegen sind Waffen auf der Welt. Alle Waffen kommen vom Golde. Dort Smith & Wesson, hier Mausiehr; das ist der ganze Unterschied. Auch wohltuend, solche Erwägung. Kugeln haben so etwas angenehm Gegenständliches: sie überzeugen. Wo blaue Bienen brummen, braucht man nicht tiefsinnig zu spekulieren. Und was die ehrwürdige Schrift da anlangt: cui prodest, wem nützt der Sulphur? Mit dieser menschenkundigen, gutmütig boshaften Römerfrage traf man die Kabbala samt Zubehör aller Zeiten und Völker mitten ins Herz. Wollen uns doch nichts vormachen, mein Lieber, sind doch Auguren unter uns, kennen uns aus, lebt doch alles von gegenseitigem Begaunern: – also, im Vertrauen, unter vier Augen – – –
Cui prodest, wem nützte das? Denen natürlich, die diesen Wisch da unter sich umlaufen gelassen. Jedem Einzelnen von ihnen, wie kommt der Herr Nachbar dazu? Das ist unstatthaft. Darum Verbände, Aktiengesellschaften und Staaten. Darum die schönen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Darum der Brustton der Überzeugung und der liebe Gott. Aus Liebe nicht zur Ordnung, sondern aus kerngesundem Haß gegen des Nächsten Nutzen von der Unordnung. Sich selbst beschneidet nur ein Narr. So beschneidet einer hübsch den anderen. Hinz den Kunz, Franzos den Briten, Targi den Araber, Rifi den Mauren, Jud den Goi, im Namen des allbarmherzigen Gottes. Lieber selbst arm und mühselig als den Gevatter gebläht im Reichtum sehn, heißt Ethik und noch andersherum. –
René faltete die Blätter wieder zusammen. So mußte man das lesen: mit dem Brennglas. Jeder Titel hat seine Mittel. Gold gab es da oben in den Bergen, ganze Nester, Labyrinthe voll Gold. Expertis crede: woher sonst kamen die sparsamen Beutel, gespannt von metallischem Edelkies? Die Ruafa zogen es auch nicht aus der Luft. Konnten es auch nicht aus Ziegenmilch buttern. Gold hagelt nicht aus den Wolken, wächst leider nicht auf Eichen und Kirschbäumen. Also. An die harten, wägbaren, kühl greifbaren Tatsachen gehalten. An Härte 2/3, Dichte 12/13, Atomgewicht 196 oder so herum. Was da ist, kommt irgendwoher. Substanz war vorhanden. Seinen kleinen Nebenverdacht würde er dem alten Efrus weislich verschweigen. Der war sonst imstande und hob die Belagerung auf. Und das Zypressenlandhaus in Büjükdere muß einen Innenhof haben, mit marmornen Arkaden rings und einem Springbrunn in der Mitte. Kitsch eigentlich, diese Vorstellung. Aber beim Melos solch schlanktanzender Wassersäule hielt sichs am köstlichsten Sommermittagskef und Sommernachtshalbschlummer im Schein der drüberhinkreisenden alten Gestirne. Übrigens, zwei oder drei Pferde würden auch zu seinem Hofstaat gehören, Kochlanis aus dem Nedjd, zwei kluge Schimmelstuten, ein feuerstrahlender Fuchshengst. Weiteinsame Ritte am Bosporus hin, durch den Belgrader Wald an den Pontus. Ritte durch türkischen Krokusfrühling, unter stillen Sommerplatanen, gegen den taurischen Wind der Herbstabende. Dann war er in besserem Jahrhundert, dann war er allein mit dem warmen nackten Leben, dann war er Herr der Welt, dann war er selbst Landschaft. Dann kehrte er heim und ließ sich nach gnädiger Laune pflegen, ohne gleich Ewigkeiten und ein bleischweres Pflichtherz dafür geben zu müssen. Eine Liebesfreundin hatte er für den adonislichten Safranlenz; eine für wetterleuchtende Rosenölnächte des Sommers; eine für den goldblauen, taufruchtschweren Herbst; eine für rauschendes Regendunkel des Winters. Und zwischen und unter und neben ihnen allen behielt er doch sein eigentlichstes und wahrstes Gemahl, sich selbst. Und eine schlanke Gelbsegelyacht lag drunten in der Bucht und harrte seiner Wünsche. Im Spätsommer brach er auf, ließ drei oder vier recht große gelbrote Zuckermelonen hälften, des Kernschleims enthöhlen, mit Weinbeeren, Pfirsichscheiben und letzten Gartenerdbeeren füllen, Krystallstaub und ein paar Löffel feinsten Rums daransetzen, die Früchte wieder schließen und wärmedicht in Eis verpacken. Eine mittlere Korbflasche pechherbsüßen Rotweins, ein Laib flaumweißen Brotes, ein Rundblock von salzdurchschwitztem Käse wurden mitverladen. So trieb er langsam durch Propontis und die alte Zypressenburgenstraße der Dardanellen in die Aegaeis hinaus, gab sich den Wellen hin und den blauen Winden, ließ Zeus und Poseidon und die Himmlischen alle herzensgute Leute sein und schlürfte in glücklicher Meeresstille Odyssee aus genarbtem Rotmaroquin und handgeschöpftem Van Geldern. – Das Gold des Djebel Hamam mußte unbedingt gefunden werden.
Inzwischen wollte er sich mit einem Haik, gelben Pantoffeln und freundlichen Bildern begnügen. Aber der Schrein des Djebel Hamam mußte unfehlbar erbrochen werden. Denen gehört das Gold, die es durch Genuß zu vergöttern verstehn. – –
Schwerer fiel René ein anderes Verschweigen.
Madame bemühte sich in diesen letzten Tagen auffallend stark um die Gesellschaft des Gastes.
Sie saß da und sah ihn aus traurigklugen müden Augen an. An ihr war etwas vom Verstand kranker ahnungsvoller Tiere, die den Aufbruch ihres Herrn, Brand, Tod oder Erdbeben wittern.
René gab sich Mühe zu leichtplaudernder Unbefangenheit. Er machte Biancha von ferne den Hof und fing in Ermangelung von Besserem immer wieder von Worth und Poiret an.
Am liebsten hätte er ja seinen Kef droben in der freien Sonnenhitze des Daches gepflogen, allein mit seinen Gedanken und Plänen, allein in der Landschaft seiner Fata Morgana. Aber wie das nun einmal lag, mußte er den Damen doch irgendwie von Zeit zu Zeit Prästanda prästieren. Dies Haus gehörte nicht ihm; droben schlug ihm der kochende Mittagsstank manchmal überm Kopfe zusammen; in der schönen Stadt, wo er einmal das berühmte Kaffeehaus des Hadsch Mansur aufgesucht, war der Vater des Sprunges gar zu allgegenwärtig. Er lebte als Gefangener in Teppichen und Weiberdüften. Efrus hatte mit Abrüstung und tausenderlei abschließenden Geschäften zu schaffen. Für ihn selbst aber gab es keine zerstreuenden und befreienden Vorbereitungen. Er war fertig. Auch sollte er sich als Franke unbegründbaren Reisezweckes nicht allzu freigebig zeigen. Man hatte ihn am Hafen gesehen, man wußte vielleicht doch um seine Unterkunft und seinen Verkehr, vorauseilende Gerüchte vergifteten die Brunnen. Man war im Rif mißtrauischer geworden, seit Franzosen, Spanier und etliche Deutsche aus dem Reich um die Erze des Hochlandes warben und spionierten. René verstand das und hielt aus. In wenigen Tagen, übermorgen schon, war er ja wieder ein freier Mann, draußen in der Sonnenbrise des ehern schimmernden Mittagsmeeres …
Madame hatte ihn früher viel mit Biancha allein gelassen; nun setzte sie sich hinzu und hörte mit schläfrig schwermütigen Augen auf das gedankenlos herablassende Geplauder des Gastes.
Es war schwüler Nachmittag; die Zeit stand still zwischen den schweren Teppichen und dämmernden Gittern. René langweilte sich zum Erbrechen, was sollte er mit den Frauenzimmern noch beginnen? Er hatte kein Teil an ihnen, und wo das der Fall, bleibt nichts übrig als der Gemeinplatz der Liebe, die stumme Weltsprache des Körpers und seiner Wünsche.
Biancha war fortgegangen. Mühsam spann er an einem schlaffen Faden. Endlich riß auch der. Die Frau sah ihn immerfort schwermütig wissend, in schläfrig lächelnder Entsagung an. Nun begann sie.
»Monsieur …«
Und René wußte im Augenblick, was nun kommen würde.
»Madame?«
» Dites-moi, Monsieur – – sagen Sie mir die Wahrheit, wollen Sie? – – wohin gehen Sie mit Efrem Efrus?«
Er machte in leichtstaunender Gleichgültigkeit.
»Dahinein irgendwo in die Berge, Madame; weiß selbst nicht, bin doch hier fremd. Warum?«
»Monsieur, haben Sie nicht etwas vor mit Efrem Efrus« – sie nannte ihn immer bei vollem Namen – »haben Sie nicht etwas Gefährliches vor mit ihm? Bedenken Sie!«
»Ich mit ihm, Madame? Wir sind doch die besten Freunde der Welt!«
»Oh, ich weiß, ich glaube! Nicht gegen ihn, nein – mit ihm, mit ihm zusammen! Können Sie mir nicht die Wahrheit sagen, Monsieur?«
»Ich kenne doch die Wahrheit selbst nicht, Madame. Ihr Herr Gemahl hat keine Ursache, mir Einblick in alle seine Geschäfte zu gewähren.«
»Nicht in alle, Monsieur, aber in eines. In ein großes Geschäft.«
»Ich verstehe nicht recht, Madame.«
»Oh, Sie verstehen wohl. Aber Sie wollen nicht reden, Monsieur. Wenn Sie wüßten, was ich durchgemacht habe, Monsieur!«
»Ich möchte eben Land und Leute ein wenig kennen lernen, Madame,« begann René; »und Ihr Herr Gemahl ist so freundlich – –«
Sie unterbrach ihn mit einem zweiten schweraufwogenden Seufzer.
»Monsieur, wenn Sie wüßten, was ich durchgemacht habe! … Das war vor bald sechsundzwanzig Jahren, in Konstantinopel. Wir waren glücklich, wir waren gesund, wir hatten ein schönes Haus und ein aufblühendes Geschäft. Und dann … Monsieur, seither lebe ich als Gefangene in diesem Tetuan, in diesem – – Mellach hier, lebe ich als Gefangene, so wie Sie mich da sehen! … Monsieur, ich will nicht davon sprechen, ich verstehe – – aber um Ihretwillen, Monsieur! … Es ist Unglück daran, glauben Sie mir; es ist – – Blut daran … Und – – Sie kennen ihn nicht.«
René horchte auf.
»Kenne nicht – wen, Madame?«
»Ihn. Efrem Efrus. Sie kennen ihn nicht, Monsieur … Ich will nichts sagen. Nein, Monsieur. Ich darf nicht. Aber – ich habe viel erduldet.«
»Sie meinen, Madame – –«
»Monsieur, Sie wollen nicht sprechen, ich verstehe. Sie können nicht, Sie wünschen es nicht, gut. Aber – ich – – nein, Monsieur, ich darf es auch nicht. Nein, nein. Nicht einmal daran denken.«
René sah nun mit anderen Augen auf diese gleichmütige, wie in sorglosem Behagen schwer, überreif und mehlig gewordene Frau. Sie redete zu ihm ohne alle Leidenschaft, in sanfter, hilflos matter Trauer. Aber aus ihrem Blicke glänzte doch eine dunkle ehrliche Herzensangst, und ihr schlaffer Mund zuckte. War hier ein Schuldbuch flüchtig aufgeschlagen worden, eine alte offene Rechnung? Oder war das Erinnerung an jene Nacht des Schreckens auf den Sukkeß, jene Nacht, die diesem Weibe fast das Leben und dem Kinde unter ihrem Herzen das Dasein genommen? René drang auf Gewißheit.
»Was soll ich also tun, Madame?«
»Nichts, Monsieur. Tun Sie, was Sie beschlossen haben. Sie sind ein Mann, Sie werden es selbst am besten wissen. Nur – es war auch um Ihretwillen, Monsieur.«
Er lachte, nicht recht aus freier Seele.
»Ich habe mir das Fürchten abgewöhnt, Madame. Gefahr ist überall auf der Welt.«
»Ich weiß, ich weiß, Monsieur. Oh, ich kenne Sie! Und doch – – aber, Monsieur, nein, Sie dürfen nichts Unrechtes denken. Wenn man eben so fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahre an einem Orte wie diesem lebt, eine Gefangene – –«
»Eine Gefangene, Madame! Sie lieben Ihr Heim nicht?«
Sie lächelte trüb.
»Monsieur, verstehen Sie recht. Ich darf mich nicht beklagen. So weit es möglich war, sind mir alle Wünsche erfüllt worden. Nur – wenn man ahnt, wozu man eigentlich auf so vieles verzichtet hat – durch Sie ist mir das wieder klar geworden, Monsieur – –«
»Das bedauere ich sehr, Madame; hätte ich geahnt –«
»Lassen Sie, Monsieur; es ist nicht Ihre Schuld. Aber wenn man es so bedenkt, diese Verbannung, nicht wahr – dieses, ich weiß nicht, kennen Sie unser hebräisches Wort: Gohles? – wenn man so überlegt und sieht, wie man in seinen besten und gesündesten Jahren nichts gehabt hat als – ja, das nackte Leben … Und wofür? … Sie werden vielleicht sagen: Gott, eine Jüdin – – was kann die noch viel verlangen und erwarten? … Sie hat doch ihr schönes jüdisches Familienleben mit dem siebenarmigen Schabbesleuchter …«
Er verbeugte sich ernsthaft.
»Madame, Vorurteile dieser Art kenne ich nicht. Und Frauen Ihres Volkes – darf ich vielleicht sagen: der reinen, noch reinen Stämme Ihrer Rasse – gegenüber nun schon gar nicht.«
Wieder lächelte sie mit bittermüdem Munde.
»Ich glaube es Ihnen, Monsieur. Sie sind ein Mann der großen Welt. Immerhin. Ich würde es verstehen, wenn Sie so dächten, viele Juden denken so, Monsieur. Und ich selbst – wenn eben dieses einfache Verlangen wenigstens – dieses schöne Familienleben – –« Sie brach ab, spielte unschlüssig mit dem fortgelegten gelben Romanbuch … »Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen darf, Monsieur. Sie sind gewiß der erste und letzte Mensch; wen hätte ich auch sonst? … hier in Tetuan? … Aber gerade zu Ihnen … Sehen Sie, Monsieur – – wenn man weiß, wenn man ahnt, wozu diese Entsagung, diese Verbannung, diese Beschränkung aufs nackte Leben … Dazu die blutige Vorgeschichte, mein Gott! … Monsieur, er hat es Ihnen doch erzählt – – zum Teil wenigstens … Wenn man sich das so überlegt, mit jedem Jahr genauer, wird man älter, Kinder wachsen heran, heiraten aus, man bleibt allein … Der Mann in seinem Geschäft, das ist immer so, darüber klage ich nicht, das muß so sein … Aber wenn er dann auch in seinem eigenen Hause, am Familientische, am Feierabend nicht daheim ist, nie daheim mit seinen Gedanken, mit seinem Sinnen und Trachten immer irgendwoanders – – dort! … Dort, ja, Monsieur! … Und wenn dann gar noch etwas geschieht, wenn ihm etwas zustößt, und man hätte zum Schluß alles an die Sache verloren, der man schon so viel geopfert, die Welt, die Heimat, den Frieden, den Wohlstand, in der Verbannung selbst das Letzte, das Familienglück! … Sie können sich das vielleicht nicht recht vorstellen, Monsieur … Aber es ist schwer. Monsieur, es ist hart! … Es würde mir, uns vielleicht nicht an Mitteln fehlen – darf ich sagen: er hat redlich gesorgt nach bestem Gewissen, er hat gearbeitet und gespart … Aber doch: man hätte alles hingegeben, alles stillschweigend dargebracht, allem entsagt für diesen Einen Gott – und umsonst!« Sie brach ab.
René rollte gedankenvoll seine Zigarette. Diese arme Frau da machte ihm Eindruck. Er hatte ihr Unrecht getan. Sie sprach erstens ein gar nicht übles Französisch, Schülerin guter älterer Erzähler. Sie war zweitens gar nicht so dumm, und sie war drittens von ganz achtenswerter Gesinnung. Alles in allem ein beinahe schätzbares Frauenzimmer, vom alten Goldgeier Efrus ungebührlich vernachlässigt. Aber war es nur das, zusamt dem bißchen Sorge, was ihr Herz beschwerte? Wie immer, irgend etwas mußte gesagt werden.
»Ich begreife und würdige Ihre Gefühle, Madame. Aber glauben Sie mir, soweit ich Ihren Herrn Gemahl kenne – soweit eben ich ihn kenne, ich! – hat er sein ganzes Leben lang – – und auch jetzt alles für Sie eingesetzt. Für Ihr Wohl, für Ihre Zukunft – vielleicht sogar für Ihre Heimkehr …«
Das arme Lächeln auf ihrem gealterten Munde war stehengeblieben.
»Sie haben recht, Monsieur, ich danke Ihnen. Um seinetwillen ist mir ja Ihre Begleitung eine Beruhigung. Aber, Monsieur – – ich wäre auch mit weniger zufrieden gewesen. Nicht, daß ich klagte. Nur, dieses Blut – – ich fürchte, es bringt kein Glück, wie es auch bisher keines gebracht hat. Das ist, was mich unruhig macht.«
»Wenn es wirklich nur das wäre, Madame! Aber vielleicht verschweigen Sie mir mehr als ich Ihnen?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur. Und wenn: – wie könnten wir einander helfen? Ich will nicht in Sie dringen, ich darf nicht – und Sie, Monsieur, bedürfen wahrlich nicht der Klugheiten und der Beratung einer törichten Frau, die von Welt und Menschen sehr wenig gesehen hat und die Sie insgeheim doch gewiß auslachen …«
»Aber ich bitte sehr, Madame! Dem muß ich mit allem Nachdruck widersprechen …«
»Nein, nein, Monsieur. Es ist doch so. Lassen wirs. Jeder weiß das Seine und behält es für sich. Ich bin beruhigt, daß Sie Efrem Efrus begleiten. Meine Dankbarkeit wird Ihnen folgen, Monsieur. Möge sie Ihnen ein wenig Glück bringen. Denn sehen Sie – wenn auch nicht alles Frieden war – wenn, wie soll ich es sagen, wenn ich oft eifersüchtig sein mußte auf – – etwas anderes, etwas Drittes, einen fremden Gast, der immer zwischen uns am Tische gesessen hat: – sehen Sie, Monsieur, man möchte dann doch nicht auch den Rest noch verlieren … Ihnen vertraue ich, Monsieur; Sie sehen es ja. Ich möchte nur, daß nicht etwa Sie Schaden nehmen – um seinetwillen … Daß nicht Sie auch noch zum Opfer fallen …« Sie zögerte und sah zur Seite auf das zitrongelbe Buch herab, damit ihre großen, fetten, alabasternen Hände spielten … »Efrem Efrus – – ich weiß nicht, ob ich ihm unrecht tue – – ob ich Ihnen das sagen darf – ich fühle mich verpflichtet dazu, es läßt mir keine Ruhe – ich trage es schon all die Tage schwer in mir herum – es liegt mir auf der Brust, auf der Seele, ich finde keinen ruhigen Schlaf – es ist vielleicht doch meine Pflicht … Efrem Efrus, sehen Sie, Monsieur …« Sie rang mit den Worten, mit Seufzern, mit ihrer Scham … »Sehen Sie, Monsieur, das sollten Sie nie vergessen – – Efrem Efrus: (Er hat, er kennt nur Einen Gott – und dieser ist – – nicht der Gott unserer Väter.«
René lachte versöhnlich auf. »Der Gott, dem wir alle irgendwie dienen, Madame! Offen oder insgeheim: – unser aller Gott!«
Sie sah ihn schwermütig an; ihre müden Augen waren umflort.
»Oh, sagen Sie das nicht, Monsieur! Es gibt Unterschiede … Und von Ihnen glaube ich das nicht. Nein, nein. Sie sind von anderem Volk.«
Er schüttelte den Kopf, streifte die Tabaksasche mit gezierter, nachdenklicher Sorgfalt ab.
»Täuschen Sie sich, bitte, nicht, Madame. Wir möchten auch so – – wenn wir nur könnten … Unser ganzer Haß – Sie entschuldigen, Madame – unsere ganze Verachtung, ich kenne dergleichen Kinderkrankheiten nicht – – ist im Grunde nichts anderes als – Neid. Wir opfern mit dem Herzen demselben Gotte; haben es nur in dieser Hingabe – nicht so weit gebracht. Das ist der ganze Unterschied, Madame.«
Sie betrachtete ihn in gutmütigem Zweifel; ihr leeres Entsagungslächeln schwamm wie später Glanz trüb auf ihren Lippen.
»Ich glaube doch nicht, Monsieur. Man sagt das so; Sie sagen es so. Sie sind ein Mann von Welt und üben höfliche Nachsicht. Aber im Stillen, Monsieur, verachten Sie uns doch – uns Juden. Ich kenne Ihre Verhältnisse nicht. Aber ich stelle mir vor, Sie hätten zum Beispiel ein schönes großes Haus und ein sicheres Auskommen irgendwo, in Konstantinopel vielleicht, würden Sie das alles aufgeben und auflösen und sich nach einem Platz wie dieses Tetuan in Verbannung, in schmutzige Armseligkeit setzen, ganz aus Ihrer gewohnten Welt, aus Ihrer Heimat hinausgehen um dieses Einen – anderen – – Gottes willen? … Nein, Monsieur. Sie nicht. Sie würden weite Reisen unternehmen, ja. Sie würden die großen Städte besuchen, soweit es Ihnen Zeit und Mittel erlauben. Aber allen Genüssen entsagen, sich ganz und gar umkleiden, von Neuem anfangen, dort abreißen und hier aus Schutt und Ruinen mühsam aufbauen – – alles nur für jenen eifersüchtigen Gott – – nein, Monsieur, das würden Sie nicht. Das könnten Sie nicht. Solche Opfer könnten Sie jenem – – Gotte nicht bringen. Das traue ich Ihnen nicht zu. Und weil ich es Ihnen nicht zutraue, eben darum habe ich – ja, Vertrauen zu Ihnen, Monsieur. Mögen Sie mich auslachen: die dumme Frau, die Jüdin, die das Leben und die Welt nur aus ein paar Romanen kennt! … Aber es ist so, Monsieur. Und wie Sie uns im Grunde doch verachten – so bewundere ich das.«
René hörte gesenkten Kopfes höflich zu. Es überkam ihn sogar etwas wie Rührung. In diesem Weibe, in dieser vernachlässigten, vereinsamten, scheidenden Seele wohnte eine tiefe kranke Sehnsucht: die dunkle, unstillbare, uneingestandene Sehnsucht des Judentums nach dem Licht, der Thora nach einem neuen reinen Testament, des brennendscharfen Talmud nach freier, frühlingsheller Einfalt, dumpfrot von giftschwelenden Ampelgluten durchdämmerter Kabbala nach dem offenen, göttlich holden Geheimnis der Natur, nach dem verlorenen Paradies … Er kannte sie, diese Stimmen aus Topheth und Scheol, den Gruben und Tiefen und Finsternissen und Rächten der unerlösten Vorhölle; mehr als einmal schon hatte er sie vernommen, aus gequälten Herzen, aus den Abgründen der Kunst, aus schlagwettergeladenen Kohlenschächten einer verzweifelt nach innersten Schätzen teufenden Wissenschaft. Aber er, was sollte er sagen? Er, der launische Zweifler – er, der jenen anderen Gott wirklich nur als allmächtigen Mittler liebte, als den kyklopischen Goldschmied im Dienste höherer Olympier? … Er nahm sich zusammen.
»Wer, Madame – noch einmal – gibt Ihnen das Recht zu denken, daß ich – verachte? … wer sagt Ihnen, daß nicht gerade ich es bin, der am meisten bewundert? Man bewundert eben, was man nicht kann, nicht hat – gleichen wir uns aus, Madame! … Sie bewundern die Mängel meines Volkes, ich bewundere die Vorzüge des Ihren – wir können es auch umkehren, Bewunderung sieht den Mangel als Vorzug und so weiter – – aber auf alle Fälle finde ich einen Überschuß zugunsten jenes – Gottes, den auf meine Weise bescheiden mitanbeten zu dürfen« – er verbeugte sich ritterlich – »ich bei Gefahr selbst Ihrer Huld ersucht haben möchte, Madame.«
Sie lächelte schwermütig, wie parfümiert zu den elegant geschlungenen Satzschleifen und Wendungen seiner Ausflucht.
»Ja, wenn diese Gefahr die größte wäre, Monsieur.«
»Keine empfindlicher als die des Verlustes Ihrer Gunst und Nachsicht.«
»Ja, Sie spielen und scherzen! Mir aber ist es Ernst.«
»Auch mir, Madame. Aber wer immerfort in den Abgrund starrt, der fällt sicher hinein.«
»Monsieur …« Sie seufzte. »Alles haben Sie vielleicht doch noch nicht bedacht und vorgesehn.«
»Ja – alles … wer könnte das, Madame? Wir sind nur kurzsichtige Menschen.«
»Ja; und jener – andere Gott blendet den Blick gegen die nächste Wahrheit. Sehen Sie, Monsieur, das ist es auch, worunter ich in meinem Leben schwer gelitten habe. Daß der wahre Gott – hier für mich, in diesem Hause, im Mellach, der treue Gott unserer Väter – ich will Ihnen nicht nahetreten, Monsieur: nennen Sie Ihn für sich mit Ihrem eigenen Namen – daß der wahre eigentliche Gott doch immer nur angerufen wird um – – jenes anderen willen … Daß Er immer nur Mittler sein soll zwischen dem Menschen und einem Götzen … Doch verzeihen Sie, Monsieur: ich langweile Sie, ich höre auf.«
»Durchaus nicht, Madame, weder langweilen Sie mich, noch sollen und dürfen Sie jetzt aufhören. Ich wollte nur, wir hätten in allen diesen Tagen manches derartige Gespräch in Ruhe geführt.«
»Ich wußte doch nicht, Monsieur …«
»Und ich ahnte nicht, Madame, daß Sie in der Stille Ihrer, wie Sie sagen: Verbannung sich insgeheim solch schwere Gedanken machten …«
»Oh – man liest, Monsieur – man liest dies und das und man denkt dann doch nach …«
»Verstehe, Madame. Ganz recht. Ja, es ist gewiß betrüblich. Aber, Madame: bei allen Völkern und in allen Religionen ist es dasselbe, glauben Sie mir. Der Menschen sind viele, sie alle wollen essen, sich kleiden und bedachen, je kälter, desto mehr … Und die meisten Götter, Madame, darf ich es aussprechen? … die meisten Götter stammen doch mehr oder weniger von – – jenem anderen Herrn Gott in gerader Linie ab. Es sind eben Götter der Not, Nothelfer – Götter nicht des vorhandenen, sondern eines ersehnten Überflusses … Man bittet und betet um Regen in aller Gestalt: Wasser den Fluren, Dukaten den Taschen … Madame, wir sind arme nackte Menschen; ein geiziger Gott wird uns bald zum Teufel.«
Sie seufzte auf.
»Ja, Monsieur, Sie haben die Welt und ihre Menschen kennen gelernt. Sie sehen freilich alles mit noch ganz anderen Augen an. Sie haben vielleicht auch nicht diesen Einen Gott, der Ihnen – Heimat bedeutet. Aber was sonst bleibt uns in der Fremde? Nein, Monsieur: Romane und Modejournale sind nicht genug. Und wenn man so vereinsamt dahinlebt: neben – – diesem anderen, dem Götzen … Monsieur, Sie sind der erste Mensch, zu dem ich von solchen Dingen spreche. Zu wem sonst? … Sie sind auch der erste Mensch, der einen Hauch von Welt hier hereingebracht hat … Der erste Gast seit sechsundzwanzig Jahren, der etwas anderes, der mehr ist als – Geschäftsfreund.« Sie stockte, zauderte, spielte mit der getriebenen Messingschale auf dem Taburett. »Monsieur: – darf ich noch etwas sagen?«
»Ich bitte darum.«
»Sie an eine Gefahr erinnern?«
»Ich danke zum voraus.«
»Monsieur, Sie werden mich verlachen. Sie können dann sagen: was bildet sie sich ein, die Kalle? … Und doch, Monsieur. – Biancha!«
»Sie sehen mich neugierig.«
»Monsieur – mir ist es Ernst. Ja, Biancha, Bianchetta, das arme Kind: – Sie sind der erste wirkliche Mann ihres Lebens. Und gleich solch ein Mann von Welt, von glänzenden Gaben, in den schönsten Jahren – nicht um Ihnen zu schmeicheln, Monsieur! – und solch ein Mann findet Zeit und Laune, sich geduldig zu ihr herabzulassen! … Monsieur: Sie können sich denken …«
René griff entschlossen ein. »Keine Sorge, Madame.«
»Nicht von Ihrer Seite her, Monsieur, was kann das Kind einem Manne wie Ihnen bedeuten? …«
»Nun, Madame: – nicht zu voreilig! … Gerade das: Kind – dem: Manne.«
»Monsieur! Eine kleine gnädige Laune! Eine Frucht für den Durst! Weiter nichts.«
»Ich erlaubte mir auch zu versichern, Madame: keine Sorge.«
»Gewiß nicht von Ihnen her, Monsieur. Aber – Sie mögen mich auslachen – eine Frau, eine Mutter: sie fühlt die noch unsichtbaren Fäden, die sich spinnen. Spinnen könnten, Monsieur. Biancha, Gott, sie hat ja keinen eigenen Willen. Sie weiß nicht, was das ist: Liebe, die berühmte Liebe, wissen wir es überhaupt? Wir gehorchen; gehorchen jenem – – andern Gott, und unseren Vätern, die ihm dienen … Biancha: – gewiß, sie hat einige Bücher gelesen, in denen das vorkommt, Liebe, die große Liebe, die berühmte Liebe. Aber wissen? … Sie staunt an Ihnen hinauf, sie bewundert Sie, sie träumt wahrscheinlich von Ihnen, Sie sind für sie eine Welt, Monsieur! Aber wirklich darum Bescheid wissen? Sich auskennen? Nein. Nur das kann sie wissen, daß auch sie einmal dem Vater zu gehorchen hat – und – – dem Anderen. Für den wir – Jüdinnen zu willigen Schlachtopfern erzogen werden … Und das, Monsieur, wenn wir nun schon davon sprechen: – Efrem Efrus ist jetzt Ihr Freund; er wird, weiß ich, vielleicht Ihr Geschäftsfreund werden; er wird dann vielleicht wünschen, noch mehr zu sein als nur Ihr Geschäftsfreund … Sie verstehen, Monsieur. Der – – andre Gott! Ich kenne ihn, Efrem Efrus, ich kenne ihn wohl, Monsieur. Er hat große Gewalt über ihn, der – Andere! … Und dann, Monsieur: dann seien Sie taub von Herz und Seele! Hören Sie nicht, horchen Sie nicht, lieber – verachten Sie! … Denn, Monsieur: sich selbst dürfen Sie dem – – Anderen nicht auch noch zum Opfer bringen! … Sich selbst nicht! Ich meine es gut, Monsieur.«
René sah ernsthaft auf seine glimmende Zigarette hinab. Also doch und dennoch! Die ehrliche Frau da tat ihm leid.
»Kein Zweifel, Madame, an Ihrem Wohlwollen. Aber, da wir einander schon so viel Vertrauen schenken: hat Ihnen Efrem Efrus etwa von dergleichen gesprochen?«
»Mit keinem Worte, Monsieur. Ich würde schwören, wenn leichte Schwüre nicht gegen die Furcht Gottes wären. Bei dem, was mir heilig ist, Monsieur; sonst wüßte ich wahrscheinlich weit mehr. Man fühlt eben. Man ahnt. Man spürt es weben. Man ist Frau und Mutter. Ist Ihnen das verständlich?«
»Ganz recht, Madame. Aber: angenommen – – wäre das gar so schlimm?«
»Ja, Monsieur. Es wäre schlimm. Es wäre schlimm für beide.«
»Darf ich sagen, Madame, daß Ihre Gründe mich aufs lebhafteste interessieren?«
»Im Ernst, Monsieur?«
»Im vollsten Ernst, Madame. Wobei ich vorauserwähne, daß Ihre Besorgnisse vollkommen grundlos sind. Ich bin verbürgt keimfrei, Madame. Rein sachlich also.«
»Monsieur – es ist meine Überzeugung, daß es zwischen Ihrem Volke und dem unsrigen wohl Freundschaft, vielleicht auch Leidenschaft, niemals aber eheliche Liebe geben kann.«
»So halten Sie die eheliche Liebe nicht für eine Mischung aus Freundschaft und Leidenschaft, Madame?«
»Nein, Monsieur. Nicht in diesem Falle. Es fehlt die Schätzung, das gegenseitige Vertrauen.«
»Madame haben über diese Frage sehr klar und scharf nachgedacht.«
»Monsieur, man liest, man hat Zeit, man hofft für seine Kinder. Sehen Sie, Monsieur – Biancha: würde ich es ihr nicht wünschen! … Ihr sogar wünschen, daß sie an der Hand eines solchen Mannes herausträte aus diesem – – Tempel des anderen Gottes? … Aber, Monsieur, selbst Sie, der Sie alle Vorurteile überwunden haben: könnten Sie in ihr etwas anderes sehen als die – Jüdin? … Und immer wieder die – Jüdin? … Die Braut jenes anderen Gottes? … Gerade Sie, Monsieur, mit Ihrem verfeinerten Geschmack! … Und würde sie das nicht fühlen? Könnte sie selbst Zutrauen haben in Ihr Zutrauen? Was soll dann daraus werden? … Sie ist ein hübsches Kind; sie ist wohlgeraten; ein Mann kann finden sein Gefallen an ihr. Aber eines Tages wäre alles vorüber, der Frühling verblüht, und dann bleibt von der – Geliebten nur noch die Jüdin übrig, ein verhaßter Fremdkörper im Fleisch.«
»Madame, ich bewundere Ihr Urteil. Ich kann es nicht bestätigen; ich kenne den Fall noch nicht aus eigener Erfahrung.«
»Ich habe einmal in einer Zeitung gelesen, daß unter den geschiedenen Ehen die meisten solche sind, die man, glaube ich, Mischehen nennt. Das hat mir damals starken Eindruck gemacht.«
»Ich widerspreche nicht; es kann wohl stimmen, Madame.«
»Nun, sehen Sie!«
»Ich teile selbst Ihre Meinung und Ihre Befürchtungen, Madame. Aber es darf nicht vergessen werden, daß in weitaus den meisten Fällen solche Ehen nicht weit jenseits aller Vorurteile, sondern gewaltsam über solche Vorurteile hinweg geschlossen werden. Das Ende ist leicht zu sehen.«
»Und Sie selbst, Monsieur? Wären Sie imstande?«
»Jenseits – ja; drüber hinweg, dagegen – nie.«
»Monsieur, dieses Jenseits gibt es nicht.«
»Nein?«
»Nein, Monsieur. Ich kann es mir nicht vorstellen. Biancha zum Beispiel! Wo haben Sie sie gefunden? Im Mellach, auf unreinem Boden. Könnten Sie das jemals vergessen? Nie.«
»Ein Mann vergißt unter Umständen Schlimmeres, Madame.«
»Auf wie lange? So lange, als er sich selbst vergißt.«
»Ausgezeichnet.«
»Es ist wahr, Monsieur. Woher ich das weiß? vielleicht nur aus Büchern und Gedanken, vielleicht auch aus irgendeiner Erinnerung … Und dann, Monsieur, es gibt für Sie, für Männer Ihrer Art noch ein zweites Mellach einen anderen unreinen Boden. Den unreinen Boden des – – anderen Tempels.«
»Sehr gut. Stimmt, Madame. Aber – in diesem anderen Tempel werden eben doch die allermeisten Ehen geschlossen.«
»Das darf nicht sein. Sie dürfen sich damit nicht abfinden. Wir – wir sind ja daran gewöhnt. Für uns gibt es kaum einen anderen Altar. Aber Sie: Sie würden dann dem anderen, dem Unschuldigen nie verzeihen, was Sie sich selbst nicht verzeihen können.«
»Madame, Sie hatten vorhin die Huld, mich wesentlich zu überschätzen; und jetzt, Madame, unterschätzen Sie mich.«
»Nein, Monsieur. Sehen Sie, ich habe einmal ein merkwürdiges französisches Buch gelesen. Es hieß » Les amours d'un Dieu«, und es erzählte wie ein Roman die Liebschaften eines griechischen Gottes. Es waren eben bloß Liebschaften, Monsieur, keine Ehen. Der Gott kehrte immer wieder in seinen Olymp zurück. So würde es bei Ihnen auch sein.«
»Sehr schmeichelhaft, Madame, aber ich fühle mich nicht Gott.«
»Doch, Monsieur. Sie sind es; gegenüber dem armen Judenmädchen aus dem Mellach von Tetuan sind Sie ein Gott. Sie haben Ihren eigenen heimischen Olymp, und in diesen würden Sie bald wieder hinaufsteigen.«
»Ein hübsches Bild, Madame; aber bleiben wir aus der wirklichen Erde …«
»Gut, Monsieur. Sehen Sie, ich habe doch all diese Tage darüber nachgedacht; die Wahrheit zu sagen, vom ersten Abende an. Da gefiel Ihnen Biancha; sie war Ihnen etwas Neues, sie hat Sie überrascht, Sie spielten mit einer Laune – – oder ists nicht so?«
»Madame, Sie sind eine hervorragende Menschenkennerin,« gestand René in gelassenem Erstaunen; »ich gebe es zu. Unverhoffter Dattelgarten in der Wüste, nicht wahr?«
»Ich habe gehört, daß den Dürstenden in der Hammada selbst brackiges Wasser berauscht, Monsieur. Gut: und am anderen Tage waren Sie schon etwas abgekühlt, gesättigt und ermüdet, und am dritten erst recht, und schließlich wurden Ihnen andere Dinge viel wichtiger. Eine Mutter fühlt alles unter – ihrem Herzen, Monsieur; man spürt alles durch das eigene Kind hindurch.«
»Madame: man kann nicht immerzu Rahatlokum kauen.«
»Das wollte ich auch sagen, Monsieur: ein zufälliger Leckerbissen ist Biancha vielleicht auch nur hier, in diesem weltvergessenen Tetuan.«
»Madame, auch die schönste Ehe hat ihre weiten stilleren Niederungen und ganz seltene Gipfel darüber. Man kann auch mit der liebsten Frau nicht immer auf den berühmten Höhen der Menschheit wandeln.«
»Ja, Monsieur, ganz recht. Aber eine Ehe wie diese wäre zum Schlusse nur noch eine traurige Wüste. Was könnten Sie dem Kinde geben? Ihre eigene Heimat? Niemals. Sie Ihnen? Ihr Mellach? Noch weit weniger. Nie könnten Sie zusammen eingehen in Ein Reich. Sie bleiben der Gott in Ihrem Olymp, sie bleibt die Jüdin in ihrem Mellach.« Sie lächelte trübsinnig. »Ich glaube nicht, daß es Vorurteile sind, die uns trennen, Monsieur; ich glaube es sind – wie soll ich sagen? – Gesetze, Erkenntnisse.«
»Madame, Gesetze sind auf der Welt, um revidiert, Erkenntnisse, um vertieft oder überwunden zu werden. Aber ich will Ihnen für diesmal recht geben. Und – ich hätte nicht gedacht, daß ich in diesem Tetuan zuguterletzt ein solches Gespräch führen würde.«
»Es kam von selbst, Monsieur; es sind die Worte und Gedanken vieler, vieler Jahre. Sie sind der Erste. – So darf ich also wirklich ohne Sorge sein, Monsieur? Es ist mein letztes Kind!«
»Ohne Sorge, Madame. Mademoiselle Biancha wird einen wackeren Nahon Ben Zusan in Beirut oder Schimeon Ben Jochai in Port Said heiraten und glücklich sein.«
»Dennoch glücklicher, Monsieur, wenn Sie auch spotten; denn keine Höhe, kein Fall – kein Traum, kein Erwachen.«
»Dann also doch ein Ehebund vor dem Antlitz jenes – anderen Herrn Gottes?«
»Monsieur, wir sind ja daran gewöhnt, wir kennen und erwarten nichts anderes. Und was wäre es mit Ihnen? Dasselbe. Efrem Efrus« – sie horchte auf – »glauben Sie mir, er tut nichts ohne Rat und Befehl dieses seines Abgotts.«
»Es fragt sich nicht, was er tut, Madame: sondern was ich täte.«
»Monsieur, ein – Geschäft wäre es auf alle Fälle. Auch dann, wenn Sie es nicht wissen. Und erkennen Sie das erst, so ist ohnehin alles verdorben. Dann ist die Jüdin gar noch eine unerwünschte Zuwage zu – etwas Wertvollerem. Dann wird sie Ihnen erst recht: die Jüdin. – So aber: sie weiß von vornherein, was sie erwartet. Es ist eine Partie, ein Tausch, ein ruhiger Ausgleich; sie geht still in ihre Pflicht hinein, trägt ihr Schicksal, gebiert ihrem Manne Kinder, altert und stirbt. Wie ich; wie wir alle. Kein Traum, aus dem sie erwachen könnte; keine Wolke, aus der sie doch eines Tages herunterfallen muß. Was soll sie mit einem Gotte, den sie nicht behalten darf? Für uns, Monsieur, sind die Juden, der Gehorsam, die ruhige Vernunft, der alte Gott unserer Väter, der heilige Sabbath und der Tod. Es ist nicht gut, diesen einfachen Weg zu verlassen.«
»Madame, Ihre Stammesschwestern in den großen Städten der Welt denken wesentlich anders.«
»Ich habe davon gehört und darüber gelesen, ja. Aber, Monsieur, das sind auch keine Jüdinnen mehr. Wir Spaniolen sehen es mit Verachtung und Scham. Das sind nicht mehr Jüdinnen, sie können etwas anderes auch nicht werden, sie sind herrenlos wie die Hunde auf der Straße, sie sind unrein und haben keine Heimat. Wer Gemeinschaft hat mit allen und allem, der hat keine Gemeinschaft mehr mit sich selbst.«
Sie sprach heiß; in ihren Augen blitzte es flüchtig aus wie vorüberleuchtender Zorn. Rene verbeugte sich anerkennend.
»Ihr Urteil verdient, wie man zu sagen pflegt, weitgehende Beachtung, Madame. Aber« – er stand seufzend auf und stäubte sich Tabak und Asche aus dem Haik – »es ist einmal der Lauf der Menschheit so, und wir beide werden ihn nicht aufhalten. Alles strömt und schlammt durcheinander, es gibt keine festen Ufer mehr, und in zweihundert Jahren schon wird man gar nicht mehr wissen, was für Tiere das einst gewesen, Jude oder Christ, das heißt Jude oder Nichtjude. – Sie haben mein gutes Wort, Madame. Erstens, daß es so kommt; zweitens, daß es diesmal, in unserem kleinen Sonderfalle, nicht so kommt. Aber hätten Sie dieses mein gutes Wort nicht, fast könnte es mich gelüsten, Ihnen zum Gegenbeweis – –«
Er sah den Schweigefinger auf ihrem horchenden Munde und stockte; ein Lufthauch bewegte den Kilim, schlurfende Schritte, Efrus schlug den Vorhang zurück, seine klugen Augen glitzerten.
»Nu, was sagt der Efendi? Drunten im Martil liegt die Flukka, eine Mannschaft ist gemietet, ein schöner Wind hat sich aufgemacht von Spanien her, der wird so wehen eine vier, fünf Tage, ich kenns am Himmel, wir werden haben eine schnelle und gute Fahrt, und in vierzehn Tagen, was sag ich, in zehn, in acht Tagen kann der Efendi schießen seine Löwen und Panther und wilden Schweine und was weiß ich droben in den Bergen! … Hu, Gesche, güwerdschinim, tschitschekim, meine Taube, meine Blume, was sitzt du da und redst gar nix? … Wo ist das Kind, die Biancha? Soll sie kommen und dem Efendi bringen einen frischen heißen Kaffee! Heut hat sie noch die Ehre und morgen; und übermorgen, da kann sie denken, es war alles ein Traum, und wo werden wir dann schon sein weit draußen auf dem Meere? … Nu, was sagt der Efendi?«
* * *
Wirklich, sie war gar nicht so dumm, diese träge, pomadenfettliche, schläfrig sinnliche, im Unterlauf ihres Lebens gleichsam aus den Ufern getretene Levantefrau. Sie war gar nicht so stumpfvertalgt, und nun blieb noch Biancha selbst, und morgen war also, insch' Allah, dieser parfümierten Gefangenschaft letzter Tag. –
René war früh erwacht. Die dämmerige Dumpfheit des vergitterten Zimmers, die leuchtenden Hesperidengärten der Zukunft, das Jahreszeitenhaus unter den Zypressen des Bosporus, die drei Kochlanis aus dem Nedjd, wie sie drunten aus marmorner Krippe ihre Frühgerste mahlten und ungeduldig zum Ritte durch lenzsonnengoldnen Narzissenwind und lichte Krokuswiesen stampften! … Hatte René von Biancha geträumt? War sie eine von den vier Liebesgenien des Jahres? Die der schwülwetterleuchtenden Rosenölnächte? … Er sprang auf und wusch sich herzhaft, zum vorletzten Male vielleicht für lange Zeit. Dann hüllte er sich frischduftend in den luftighellen Haik. Das Haus schien noch zu schlafen. Er wollte Tetuan in aller Stille seinen Abschiedsbesuch machen; die weiße Stadt an dunkler Berge Flanken in bräutlichem Morgenglanze sehn. Er trat vorsichtig auf. Übernächtig roch das leere Nebengelaß nach Tabak und Ambra. Er schlich weiter von Vorhang zu Vorhang. Nun schlug er den Kilim von der Treppentüre zurück und stieg behutsam – denn es war früh und dies schlummernde Haus nicht sein eigenes – zum Dache empor.
Diesem Dache, in dessen Mondnächten er soviel Schicksal erlebt, eignes und fremdes. Diesem Dache, auf dessen kleinem Zufallsgeviert sein Leben eine neue, ganz unahnbare Wendung genommen. Zum Guten, zum Bösen, ins Ungewisse? Ungewiß ist alles; auch das Gute, auch das Böse, das Glück, das Elend. Denn die Welt ist rund und bevölkert mit Antipoden, die alle aufrecht stehn.
In den Weltraum hinaus fällt keiner: außer er verlöre den geheimnisvollen Zusammenhang mit dem alten glutschrumpfenden Eisenkern seiner vielortigen Sternheimat.
Ja, da lag Tetuan, die weiße Stadt seines Ungefähr, seiner Odyssee, seines Kismet: da lag es, mit dem morgenflächigen Kreideblock der alten Zitadelle überm Eingang zum Gräbertal, mit den braunen Geiern auf krenelierter Mauer, mit den zinnenkragten Gebetstürmen in erwärmender Felsensonne, mit den Schattenschluchten seiner überwölbten Krämerstraßen, mit dem Treiben und Sammeln auf den Märkten, mit dem verschachtelten Kassettenwerk seiner Dächer und drüben der hell hinanweidenden Kleinhüttenherde des verrufenen Viertels … Das war Tetuan, die Insel, an deren Strand der Wille des Allerbarmers ihn abgesetzt; auf deren Gräbern er weltverachtende Vorsätze gefaßt; vor deren nächtigem Lemurenspuk er sich geekelt; wo ihm der Zufall oder die Vorsehung den Hammer zu einem neuen Glücke in die Hände gelegt; wo er wieder einmal eine kleine Laune seines Lebens überwunden und unvermutlich in die Gasse eines anderen Geschickes eingetreten … Seltsam, all das zusammen: vom Kauf des krummen Almoravidendolches bis zum versäumten Dampfer, bis zur Erscheinung des ewigen Juden im grauen Abend des Gräbertales, bis zur Mondnacht im Dirnenquartier, bis zum mystisch hervorstrahlenden Herzworte jener alten Blutschrift, bis zu dieser Stunde … Und am seltsamsten vielleicht: dort lag die Nausikaa dieser Odyssee, dort im Schatten durchgitterter Brüstung lag sie auf aneinandergereihten Kissen, mit einem Flor aus Nichts und Hauch nur war sie bekleidet, und schlief.
René stand still in ruhiger Betrachtung, war das der Abschied – oder die Verführung? … Ja, schön war sie, die Tochter Juda! … Schön bist du, Tochter Juda und Israel, du Rose von Saron, die da köstlich duftet vor ihrem Volke; schön bist du, untadlig und wohlgestalt, daß ein gesunder Mann ohne Wank dein begehren möchte, sich stillete in deinem Born und namhaften Unsinn beginge um deinetwillen, wie manch ein Templer vorzeiten und andere Ritter von heiligem Vorsatz und fehlbarem Fleisch! … Schön bist du wahrhaft, du Lilie von Jezreel, deine Brüste gleichen zwar nicht zwo jungen Rehen, als welches Bild nämlich blödsinnig schlecht und dem alten Sünder Schalom ben Dovid wenig gereichlich zu dichterischer Ehr; aber zween schlummernden Knospen der Wasserrose aus traumatmender Flut mögen sie vielleicht gleichen, und deine schlanken Lenden sind wie lichterblühte Höhen unterm Frühlingswind, und die Lauchgärtlein deiner warmen Achselhöhlen sind wie zwei Vorhöfe des Paradieses, und der Schatten deines Schoßes ist lieblicher fürwahr zu ahnen als alle Täler Josaphat und Hinnom um die Tempelstadt, und siehe deine Füße sind klar gefesselt wie einer Vollblutstute aus dem Nedjd und morgenländisch gehöhlt, was deinen Schwestern im Abendlande ziemlich abhanden gekommen, und deine Zweitzehe ist um die klassischen drei Linien länger als die große, und ein rüstiger Mann möchte wohl mit Fug nach dir schreien wie der Hirsch nach frischem Wasser, was eine besondere Liebhaberei der Hirsche deiner und des Psalmisten verlorenen Heimat sein muß.
Aber siehe, du Turteltaube von den Gefilden Isaschar: nicht schreie ich nach dir wie der merkwürdige Hirsch des Psalmisten noch auch werde ich dem Templer gleich einen Unsinn begehen um deine Lauchgärtlein und sonstigen Fluren deines gelobten Landes. Denn nicht bin ich ein heiliger Ritter von dramatischen Konflikten noch sonst ein gesunder und rüstiger Held: krank vielmehr bin ich an einem gewissen Überschuß der Vernunft, und diese spricht zu mir, daß ich nimmer, mit keiner Gewalt des Herzens und anderer Organe dich erlösen könnte aus deinem mehrtausendjährigen Judendornröschenschlaf. Und deine Frau Mamme, siehe, sie gibt mir recht, eine kluge Frau, alle Achtung; und ich, siehe, gebe ihr recht, ein vielgehäuteter vielbefahrener Mann. Denn eine Tochter Juda, siehe, bleibst du, und eines Tages würde ich mich erschaudernd abwenden von dir und dich verraten, und wärst doch unschuldig daran; eines Tages, wenn ich deine neuen Reize bis zur Verbrennung dritten Grades ausprobiert und dich gründlich verdorben, würde ich hingehn und dich ganz schauerlich betrügen, weil wir einander doch nichts Dauerndes zu sagen haben: du, die arme hübsche kleine Judenpsyche aus dem etwas übelriechenden Mellach – und ich, der, na meinetwegen: Halbgott, niederträchtig eingebildete, hoffärtige Halbgott vom abendländischen Olymp. Ja, du Narzisse vom Tabor: etliche Großfoliobände Weltgeschichte lang schon werben wir umeinander, du und ich, Moria und Olymp, hassen uns, bespeien uns, verbrennen uns, bewuchern uns, üben uns in allen Künsten zorniger Liebelei, und können doch zu einer bürgerlichen Ehe nicht kommen, und kämen wir je zusammen, so gibt es ein flagrantes Unglück oder eine unheilbare Schweinerei. Du trägst eine bittre Sehnsucht nach mir tief im verschwiegenen Herzen; ich habe von Zeit zu Zeit eine wohlwollende Laune für dich übrig. Allein was hilft uns das? … Nein, du Tochter des anderen Gottes – hiermit nehme ich Abschied von dir, so sehr dein Anblick mich erfreuet und zu Dank verpflichtet. Als eine köstliche Wegzehrung will ich ihn mit hinaufnehmen in die Berge des Goldes, deinem Herrn Vater und seinen Politiken werde ich düster widerstehen, und in meinem Zypressenhause am blauen Bosporus werde ich mich deiner und deiner süßen roten Pantoffel und deiner schlankgegürteten Hüften oft noch und gerne erinnern. Vielleicht besuchst du mich dann einmal; wir trinken zusammen meinen besten Kaffee, essen prachtvolle Baklawa dazu und fahren dann in meiner Yacht in die selige Propontis hinunter, völlig in Ehren, wenn es sein muß … Aber nein, du wirst ja gekauft werden von Schimeon Ben Jochai, dem strebsamen Öl- und Olivengroßhändler aus Beirut; ihm wirst du verkauft werden im Zeichen des anderen Gottes, er wird dich entknospen und bei deiner Jugend sich betten, und in zehn Jahren wirst du ihm fünf Kinder geboren haben und bist eine stattliche, fette alte Frau! … Mögen dir ehliche Plattfüße wenigstens erspart bleiben und Schlimmeres; und daß dein strebsamer Ben Jochai in den Waschungen nicht das Gesetz nur sieht! … Leb wohl, Biancha, du Rose von Tetuan, in deinem süßen goldwarmen Inkarnat; ave vale, du nacktes liebes Leben! … Muß in die Wildnis, bin arm, muß Gold finden und graben, um deinesgleichen zu kaufen! …
Eine kleine Weile noch stand René in stillächelnder Anschauung; da regte sichs im morgenkühlen Schlummer des jungen Körpers, und der Lauscher, nach scheidendem Blick über das seltne Bild, den schönen Zufall von Landschaft, Stadt, Stunde und Mensch, zog sich schonend und behutsam zurück.
* * *
Aber der Abend, der letzte Abend gab ihm noch ein letztes Wort.
Er war mit Biancha allein geblieben. Efrus pflog letzter Geschäfte und Anordnungen da und dort; die Hausfrau mit irgendwelchem Gesind rüstete am Vorrat zur Reise. Es war dämmerschwül. Draußen sank in Gluten der Tag. Blaue Tabaksschwaden in stillen Schichten schwammen unter den getriebenen Ampeln.
Sie saß stumm in den seidenen Kissen, den schattigen Blick gesenkt. Ihre wachsbräunlichen Hände spielten mit bunten Quasten, mit dem fortgelegten Journal. Sie sprach kein Wort; sie atmete nur; sie war einfach da, gegenwärtig. René rauchte dumpf vor sich hin. Er hatte ihr nichts zu sagen. Dieser schöne Körper, den er im taukühlen Morgenglanzdunst geschaut, gehörte einem anderen: dem anderen Gotte, dem strebsam krummbeinigen Schimeon Ben Jochai aus Beirut, Öl, Südfrüchte, Wolle, geschnittene Karneole, Knoppern, Galläpfel und Straßenhundekot zum Weißglacé der abendländischen Menschheit.
Aber dann begann er:
»Mademoiselle?«
»Ja …«
»Sagen Sie: haben Sie eigentlich schon einmal einen Roman gelesen?«
»Oh ja.«
»Einen guten Roman?«
»Ich weiß nicht.«
»Schönen Roman?«
»Oh ja.«
»Kam ein Kuß darin vor?«
Sie verdunkelte sich; sie hauchte. »Ja.«
»So. War das schön?«
Sie schwieg zur Seite; ihre Hände spielten unstet.
Da nahm er sie, da hob er ihr Gesicht zu sich empor, da drückte er ihr sanft das warme Siegel des Abschieds auf die blaßrosenbräunlichen Lippen.
Ein paar Herzschläge, ein Anhalten des Atems, ein kleines keusches Geben, Empfangen und Ausfühlen lang hielt er in seinen Armen, was er zu dieser Frühe in seiner holden Blüte gesehn: Juda und sein hohes Lied, das Buch seiner Weisheit, das Buch seiner Könige, das Buch Esther und das Buch Ruth, all seine Psalmen, Abgöttereien, Gesetze und Propheten und seine ganze messianische Sehnsucht.
Dann strich er ihr lind übers Haar, zeichnete ihre schamhafte Stirne lächelnd wie mit einem Mal und ging gelassen hinaus. –
Dies wenigstens wollte er haben, mitnehmen und behalten vom Eintagsfrühling einer olympischen Laune.
* * *