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Und ich hatte Plato gelesen, und ich verstand nichts davon, und zur Kurzweil las ich einen Mathematiker, und ich sank in tiefen Schlaf, und ein Geist erschien mir und sprach zu mir: »Erhebe deine Seele!« Und ich fragte ihn: »Habe ich eine?« Und er antwortete: »Tu, als hättest du eine.« Und ich erhob mich, und mich deuchte, Dinge zu sehen, die noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und kein Geist sich erdacht hat.
Als meine Verzückung wich, erblickte ich eine große Stadt. Die war, wie mich deuchte, mit Menschen bevölkert, die aus der Drachensaat des Kadmus entsprossen waren; denn sie verfolgten sich alle. Und ich fragte nach dem Namen der Stadt. Und sie antworteten mir, getauft ist sie Zion, aber eigentlich heißt sie die Verruchte.
Und der Stoff, daraus sie gebaut war, glich mitnichten dem, daraus wir unsere Städte errichten. Und ich fragte den Geist: »Was ist das?« Und der Irrwisch antwortete: »Die Grundmauern bestehen aus Hirngespinsten, der Kitt aus Wundern, diese Quadersteine stammen aus dem Steinbruch des Fegefeuers und jene glänzenderen aus den Ablässen.« Ich, der ich nichts von diesem Kauderwelsch verstand, betrachtete den Bau der Stadt. Sie war befestigt, wie es im Altertum Brauch war, etwa so, wie man Babel darstellt. Ringsum liefen starke und hohe Mauern mit vorspringenden Türmen, die hießen: Turm der Dummheit, Turm der Vorurteile, Turm des Aberglaubens, Turm des Fanatismus und schließlich Turm des Teufels. Der sollte der größte sein.
Und ich fragte: »Wozu dient das alles?« Und der Geist antwortete: »Das sind Sinnbilder.« – »Und was sind Sinnbilder?« fragte ich weiter. Der Kobold erwiderte: »Dinge, von denen du nichts verstehen kannst. Du bist in dem Lande, da die Einbildungskraft alles vermag, und es gibt einträgliche Einbildungen.«
Da zerteilte sich eine Wolke vor meinen Blicken, und ich sah alles, was je war, ist und sein wird. Die Stadt schien mir voller Aufruhr. Ströme von Blut flossen, und jeder Aufstand endigte mit Vertreibung etlicher Familien. Der Geist nannte mir die Namen der Verbannten. Die einen heißen Nestorianer, die andern Arianer, wieder andere Manichäer. Bei diesen einschläfernden Namen fielen mir die Augen zu. »Aber warum vertreibt man sie denn?« fragte ich. – »Sie sehen nicht wie die übrigen, sondern anders.« – »Sehen sie besser?« fragte ich. – »Nein«, erwiderte der Geist, »sie sind schielend, einäugig oder blind. Aber auf andere Weise als die Einwohner der Verruchten.«
Da erblickte ich Kriegsleute mit verbrämten Mützen; sie waren gerüstet und gewappnet mit Argumenten und zogen Ballisten und Katapulte hinter sich her. Die hießen in barbara, dario, celarent und in ferio. Und ich fragte: »Was ist das?« Und der Geist antwortete: »Große Kämpfe stehen bevor. O Verruchte, wieviel Feinde hast du! Du verdienst sie! Die auf dich eindringen, sind die Vorposten der Vernunft. Sie haben kein Heer hinter sich, sie werden nur gegen dich plänkeln, und du wirst sie verdammen! Siehst du jenen Helden? Das ist Gottschalk. Du wirst sehen, wie sie ihn behandeln. Der dort nennt sich Valla. Dies ist Berengar, der dort ist Waldus; er reißt eine kleine Bresche in die Mauer. Der dort, der stolzer Gekleidete, das ist der berühmte De Vinea. Ihn wird man fälschlich beschuldigen, Pfeile geschossen zu haben. Der dort heißt Gerson und wird seine Tapferkeit beweisen. Dies ist der berühmte Sarpi, auch Fra Paolo genannt, der Feind der Herrschaft und des Herrschers der Verruchten. Siehst du, wie er sie angreift?« Nachdem das Geplänkel vorüber war, sah ich Scheiterhaufen errichten, und ich wandte den Blick ab; denn die Verruchte hatte eine starke Prätorianergarde von Henkersknechten; und wer die Gewalt in Händen hat, der besitzt von jeher und bis ans Ende der Zeiten eins der bündigsten Argumente, um Recht zu behalten.
Da kam ein anderer Held daher. »O, den glaube ich zu kennen«, sprach ich. »Ich sah ihn in Rotterdam. Ist's nicht Erasmus?« – »Ganz recht«, antwortete der Geist. »Doch er plänkelt nur in der frommen Vorstadt der Pediculosi. Man schont ihn; denn er könnte sich mit Stärkeren verbünden, und er weiß im Innern der Veste zu gut Bescheid.«
Dann aber deuchte mich, als rückte ein ganzes Heer gegen die Verruchte an. Ich war erstaunt ob seiner Stärke und fragte nach dem Namen des Volkes. Der Geist antwortete: »Es sind mehrere Völker. Die einen nennen sich Waldenser die anderen Wycliffiten, wieder andere Taboriten. Das da sind die Utraquisten, und die letzten sind die Socinianer und Anabaptisten und alle Isten der Welt.«
»Wie?« rief ich, »diese Leute wollen Krieg führen? Haben sie denn die Enzyklopädie und die Enzyklopädisten nicht gelesen?« – »Ihre Werke«, erwiderte der Geist, »waren damals noch nicht geschrieben. Aber die Enzyklopädisten kommen auch noch dran. Gedulde dich nur, und du wirst sie kämpfen sehen.« Indes nahm die Belagerung ihren Anfang. Das Blut floß in großen Strömen, und die Vorstädte wurden erobert. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Eine finstere, wilde Wut beseelte die Kämpfer. Sie schlugen sich im Dunkeln herum, doch die Stadt ward nicht erobert.
Die Belagerung ward aufgehoben, und abermals erschien ein Schwarm von Plänklern. Sie waren unverwundbar und von unbezwinglicher Kraft. »Der eine«, sagte der Geist, »heißt Galilei, der Sonnenritter. Er will, daß die Erde sich dreht, aber die Verruchte will sich nicht drehen. Der andere da ist der Ritter Gassendi. Er möchte, daß die Verruchte ihren Unrat ausräumt, aber die Verruchte liebt ihren Unrat. Der wackere Kämpe, der nach ihm kommt, das ist Bayle, der Ritter Pyrrhons, ein großer Ingenieur. Er würde die Stadt wohl erobern, wenn er Truppen hätte. Toland und Woolston sind seine Knappen.« – »Und warum«, fragte ich, »hat er keine Truppen?« – »Weil er nicht das rechte Geld hat, um sie zu besolden«, antwortete der Geist. – »Und welches Geld ist das?« – »Es sind Guineen, die mit dem Stempel des gesunden Menschenverstandes geprägt sind. Das Publikum kennt diese Münze nicht. Sie hat weder in Paris, noch in Madrid, noch in Genua, noch in Rom, Wien usw. Kurs und Geltung.« – »Trotzdem«, versetzte ich, »gehen diese Leute geschickt mit ihrem Sturmbock um. Würden sie unterstützt, so wäre es um die Verruchte geschehen.« Gleichwohl leistete die Mauer Widerstand. Die Einwohner und der Despot spotteten dieses Krieges. Das tonsurierte Volk schrie, die Prätorianer wetzten ihre Messer, und die Kämpfer verschwanden.
Dann folgte eine neue Szene, Ein lichtstrahlender Ritter in funkelnder Rüstung erschien am Horizont. Die Leute liefen auf seinen Ruf herbei. Die aus der Stadt entwichen und kamen zu ihm, und bald hatte er ein Heer beisammen. »Was ist das?« fragte ich. »Welcher Wundermann tritt mir vor Augen?« – »Ein himmlischer Geist gleich mir«, antwortete der Kobold, »und ein größerer Kriegsmann als Alexander, Cäsar, Dschingiskhan und Mohammed. Er wird sie alle durch seine Eroberungen übertreffen; denn man erobert leichter Persien, das Reich des Großmoguls und das Römische Reich als die Verruchte. Zur Besoldung seiner Truppen hat er das Geld seiner Vorgänger umgeprägt. Er hat die Legierung des guten Witzes und das Salz des Epigramms hinzugesetzt, und er bringt viele Truppen auf; denn jedermann will lachen, und nur wenige verstehen sich aufs Denken.« Und das Heer rückte vor die Stadt, und ich sah eine große Belagerungsmaschine, von den Enzyklopädisten gezogen. Die rückte gegen die Mauer, und ich fragte, wie sie hieße, und der dienstfertige Geist erklärte es mir. »Sie heißt Helepolis«, sagte er. – »Ach, die kenne ich«, rief ich. »Sie diente in der Diadochenzeit zur Belagerung von Seleukia.« – »So ist es«, nickte der Geist. Und ich sah, wie sie sich bewegte. Sie stieß mit wunderbarer Kraft gegen die Mauer, also daß ein Teil davon einstürzte. Und der Krieg war unblutig, und alle Welt lachte, und ich lachte mit.
Da plötzlich – o welch ein Schauspiel! Die Haare stehen mir noch zu Berge, wenn ich daran denke! – fliegen zwei Ungeheuer aus der Verruchten auf, schwingen sich empor, schweben über der Stadt und verbreiten Finsternis. Das eine war männlichen, das andere weiblichen Geschlechts. Sie hatten riesige Fledermausflügel, scheußliche Leiber und rote, funkelnde Augen. Wut und Raserei standen auf ihrer Stirn. Das eine schwang brennende Fackeln, das andere hatte die Hände und den Gürtel voller Dolche. Und sie schrieen mit furchtbarer Stimme: »Es ist aus! Wir entfleuchen! Dies ist dein letzter Tag, unselige, bejammernswerte Stadt! Du siegst, Held des Lichtes! Fanatismus und Unduldsamkeit kehren in die höllische Finsternis heim. Lebe wohl, Verruchte, lebe wohl für immer!« Schatten umhüllte sie, und sie verschwanden gleich einer sich zerteilenden Wolke.
Eine Weile blieb ich verblüfft und verzückt stehen, so verwundert war ich. Der Geist beruhigte mich und brachte mich wieder zu mir, und ich sah: zur Verteidigung der Stadt blieben nur noch alte, abgelebte Weiblein und der ärgste Pöbel zurück. Die Türme der Dummheit und des Teufels standen zwar noch, aber die gelockerten Steine fielen allenthalben herab, und ein Stoß der siegreichen Helepolis hätte alle Bollwerke in Trümmer gelegt. Und ich war voll Bewunderung und fragte den Geist: »Wer ist der Held, der solche Wunder vollbringt?« – »Der Held, der deine Bewunderung so sehr verdient«, gab er zur Antwort, »heißt François Marie Arouet de Voltaire. Hätte er noch mehr Namen, er würde sie alle unsterblich machen.«
Das bewegte mich tief, und mein Geist war verwirrt und betroffen. Und ich erwachte und schrieb meinen Traum nieder und sandte ihn nach der Schweiz.