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Nichts Modernes ist mit etwas Antikem vergleichbar; mit Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch. ( Wilhelm von Humboldt) Der Griechen Weisheit ist gar viehisch. ( Luther)
Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe. ( Herder) Humanität ist etwas so sehr Ungriechisches, daß die Sprache nicht einmal ein Wort dafür hat. ( Wilamowitz)
Griechheit, was war sie? Verstand und Maß und Klarheit! ( Schiller) In den Griechen »schöne Seelen«, »goldene Mitten« und andere Vollkommenheiten auszuwittern, vor dieser niaiserie allemande war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. ( Nietzsche)
An Seel' und Leib gesund sind durchaus nur die Griechen. Dagegen unsre Welt ein großes Haus der Siechen. ( Rückert) Die ganze Kultur der Griechen war rings von Hysterie beschlichen und umstellt. Die Griechen sind toll gewesen. ( Bahr)
Die Stiftung der Wissenschaft wird für immer der Ruhm der Griechen bleiben. ( Lotze) Ihrem Geist fehlt die geduldige Besonnenheit, um von besonderen, fest umschriebenen Tatsachen zu allgemeinen Wahrheiten den einzig sicheren Pfad emporzusteigen. ( Dubois-Reymond)
Die Alten lebten für das Diesseits, den Griechen ist die irdische Wirksamkeit alles. ( Curtius) Seltsames Gerede: die Griechen mit ihren Gedanken nur aufs Diesseits gerichtet! Im Gegenteil: wohl kein Volk, das an das jenseits so viel, so bang gedacht hätte! ( Rohde)
Ihre Geistesveranlagung führte die Griechen dazu, das Leben als einen Lustwandel aufzufassen. ( Taine) Man hat es vor allem zu tun mit einem Volk, welches in höchstem Grade seine Leiden empfinden und derselben bewußt werden mußte. ( Burckhardt)
Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte, vorzüglich sich selbst. ( Friedrich Schlegel)
Mittwoch, den 24. September 1755, bestieg ein hochgewachsener, schon ein wenig ältlich aussehender Herr von olivenfarbigem Teint, hastigen und schwerfälligen Bewegungen und gelehrtem Gesichtsausdruck in Dresden die Extrapost, um sich über Bayern und Tirol nach Italien zu begeben. Am 18. November fuhr er durch die porta del popolo in Rom ein und nahm damit gewissermaßen die ewige Stadt in Besitz. Dieser Herr war der preußische Literator Johann Joachim Winckelmann, Verfasser einer in Fachkreisen sehr beifällig aufgenommenen kleinen Kunstabhandlung über die Nachahmung der griechischen Werke, und dieser Alpenübergang und Einzug in Rom war eine der denkwürdigsten Tatsachen der neueren Kulturhistorie, ebenso bedeutsam für die Geschichte der deutschen Kunst und Literatur, wie es die Romfahrten der Staufer für die Geschichte der deutschen Politik und Religion gewesen waren, und zugleich der Ausgangspunkt einer der verhängnisvollsten Verirrungen des deutschen Geistes, die diesen viele Jahrzehnte lang beherrscht und in höchst eigentümlicher Weise von seiner normalen Entwicklungsbahn abgelenkt hat.
Winckelmann war von Beruf Archäolog, Historiker und Philolog, Ästhetiker, Kritiker und Philosoph, Museumsdirektor, Archivar und Bibliothekar, Dragoman, Cicerone und Connoisseur, in Wirklichkeit aber nie etwas anderes als das, womit er seine wissenschaftliche Laufbahn begonnen hatte: nämlich Rektor und Pädagog. Er ist einer der gewaltigsten Schulmeister gewesen, die das deutsche Volk und die Welt gehabt hat, und einer der verschrobensten: wie alle geborenen Magister sehr nützlich durch die Fülle und Eindringlichkeit seiner Belehrung und sehr schädlich durch ihre verfälschende Einseitigkeit und eigensinnige Dogmatik.
Kein Volk hat eine so breite und wechselvolle Geschichte gehabt wie die Griechen. Der Grund hierfür liegt in ihrer einzigartigen Genialität, die es ermöglicht hat, daß man aus ihnen buchstäblich alles machen konnte. Einer der Hauptunterschiede zwischen dem Genie und dem Talent besteht darin, daß dieses eindeutig, jenes aber vieldeutig ist: vieldeutig wie die Welt, die es komplett in sich abspiegelt. Wie es Dutzende von Hamletauffassungen gibt, so sind auch vom wandelbaren Bewußtsein der genießenden Nachwelt die verschiedenartigsten Auslegungen und Wertungen an das Griechentum herangetragen worden: alle sind falsch und alle sind richtig. Die unschätzbare Bedeutung der hellenischen Kultur für die Menschheit besteht darin, daß sie stets die bereitwillige Form, das schöne Gefäß zu bilden vermochte, worein jedes Zeitalter und jeder Mensch sein eigenes Ideal gießen konnte.
Was ist nun ein »Ideal«? Das, was man gleichzeitig ist und nicht ist. Niemand wird etwas, das er nicht latent in sich trägt, zu seinem Ideal erheben. Aber ebensowenig etwas, das er bereits verwirklicht hat, ja auch nur verwirklichen kann. Das Ideal ist unser Ich und zugleich unser Nicht-Ich, unser ergänzender Gegenpol, die platonische andere Hälfte, die wir auf unserem ganzen Erdenweg ebenso vergeblich wie unermüdlich suchen. Diese beiden entgegengesetzten Tendenzen, im Ideal ebensowohl sich selbst als auch sein zweites und höheres Selbst, sein komplementäres Gegen-Ich wiederzufinden, vermischen sich ununterbrochen miteinander und machen die Psychologie aller »Idealismen« zu einem fast unentwirrbaren Problem, umsomehr als diese Zwiespältigkeit meist nur dem Betrachter zum Bewußtsein kommt. Die Aufklärung zum Beispiel erblickte in den Alten zwar einerseits lauter rationalistische Popularphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts, aber rühmte doch auch andrerseits an ihnen ihre Natürlichkeit und Kraft, Einheit und Einfachheit als Widerspiel der verstandesmäßigen Verkünstelung und Zerstückelung der Gegenwart; die Burckhardtschule, die in Nietzsche gipfelt, sah die Griechen als tragisches und romantisches Volk, aber zugleich als Meister des Lebens, als Virtuosen des Willens zur Macht und ihre gesamte Kultur als den gelungenen Versuch einer Selbstheilung von der Romantik.
Die erste große »Wiederbelebung der Antike« fand noch innerhalb der Antike statt: im »goldenen Zeitalter« des Kaisers Augustus. Damals wurde zum erstenmal an die Kunst die seither oft wiederholte Forderung erhoben, durch Nachahmung anerkannter griechischer Meisterschöpfungen selber zur Meisterschaft zu gelangen. Infolgedessen kopierte Virgil Homer, Horaz Archilochos und Anakreon, Ovid Theokrit und Livius Thukydides; und gerade dadurch, daß in diesen Werken alles aus zweiter Hand, artistisch angequält und errechnet war, erlangten sie jene wachsfigurenhafte Modellkorrektheit, die ihre Schöpfer schon bei Lebzeiten zu Schulautoren gemacht hat. Obgleich nun die Römer die griechische Literatur aller Epochen ziemlich wahllos ausschrieben und persönlich in ihrer Kulturstufe den Alexandrinern weitaus am nächsten standen, gewöhnten sie sich doch schon bald daran, das perikleische Schrifttum als das ausschließlich maßgebende anzusehen. Gleichzeitig wurde von ihnen in Baukunst und Plastik ein bis zur Leere gereinigter Stil als der allein klassische dekretiert, was wiederum nur dadurch ermöglicht wurde, daß er bloß rezipiert war; denn ein lebendiger, aus der Zeit geborener Stil ist niemals klassisch.
Diese Traditionen haben, unter gewissen Abwandlungen, die gesamte römische Kaiserzeit beherrscht. Dann kam das Chaos, und als es sich einigermaßen zu klären begann, erfolgte gegen Ende des achten Jahrhunderts als zweite große Renaissance die karolingische, in der Karl der Große mit dem römischen Kaisertum auch die alte römische Kultur zu erneuern suchte. Sein Wunsch war, aus Aachen ein »christliches Athen« zu machen; aber man las an seinem Hofe fast ausschließlich Römer: Ovid und Virgil, Sallust und Sueton, Terenz und Martial, Caesar und Cicero. Für die Söhne der Adeligen war der Besuch der Lateinschule obligatorisch, ja der Kaiser dachte sogar eine Zeitlang daran, das Lateinische zur Volkssprache zu machen. Einen etwas abweichenden Charakter trug die ottonische Renaissance, die in die zweite Hälfte des zehnten Jahrhunderts fällt. Der Sohn Ottos des Großen, Otto der Zweite, vermählte sich mit der griechischen Prinzessin Theophano, und diesem Bunde zwischen Germanien und Hellas entsproß Otto der Dritte, der von einer römischen Welttheokratie der deutschen Kaiser träumte und, schon mit zweiundzwanzig Jahren verstorben, in seiner Abstammung und ikarischen Laufbahn in der Tat an Euphorion erinnert. Er konnte perfekt Griechisch, bevorzugte die byzantinische Tracht und Etikette und war, wie sein Lehrer Gerbert, die gelehrte Leuchte des Jahrhunderts, von ihm rühmte, mehr ein Grieche und Römer als ein Deutscher. Indes hat die ottonische Renaissance ebensowenig wie die karolingische die griechische Literatur und Kunst in den mitteleuropäischen Gesichtskreis gebracht; die namhaften Autoren befinden sich in beiden Zeitaltern gänzlich unter lateinischem Einfluß: Ekkehards Waltharilied steht im Schatten Virgils, die Dramen der Nonne Roswitha haben die terenzischen Komödien zum Vorbild und Einhards »Vita Caroli Magni« schließt sich bis in die Einzelheiten an Sueton an. Die Griechen las man bestenfalls in lateinischen Übersetzungen; nur die irischen Gelehrten verstanden ein wenig Griechisch und im Kloster von Sankt Gallen gab es eine Zeitlang als Kuriosität » Ellinici fratres«; das hellenische Schrifttum ist fast ausschließlich durch die Byzantiner in die Neuzeit herübergerettet worden.
Was die italienische Rinascita anlangt, so haben wir bereits im ersten Buch darauf hingewiesen, daß sie ebenfalls vorwiegend eine Wiedererweckung der altrömischen Kultur war, der Versuch einer Rückkehr zur Kunst und Weltanschauung der heimischen Vorfahren; daß der erste große Propagandist der Antike, Petrarca, kein Griechisch verstand und dieses auch später nur auf der platonischen Akademie in Florenz getrieben wurde und daß man überhaupt aus dem ganzen antiken Erbe nur einen Fundus von äußerlichen und noch dazu mißverstandenen Dekorationselementen übernahm: allerlei untergeordnete und aufgesetzte Bauteile, mechanisch angeeignete Redefloskeln und pompöse, aber billige Allegorien. Man erklärte häufig und mit Nachdruck, daß Italien immer höher gestanden habe als Griechenland, und hatte gegen griechische Studien einen betonten Widerwillen. Das Ideal der Humanisten war der »gebildete« Römer der späten Republik, dessen Kultur sich auf staatsmännischer, militärischer und landwirtschaftlicher Tüchtigkeit und einer affektierten Epigonenleidenschaft für gelehrte Poetasterei, Rhetorik und Philosophasterei aufbaute: ein bereits abgeschwächtes, zersetztes, verschobenes Römertum, das mit seiner eigenen Vergangenheit schauspielerte. Das Griechentum aber, das die Renaissance konzipierte, war, ganz ebenso wie im Mittelalter, ein durch die Römer und dann noch einmal durch die eigene Zeit hindurchgegangenes, also ein Griechentum dritten Grades.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Repristination der Antike unter Ludwig dem Vierzehnten. Sie ist rein lateinisch, und die Hellenen Racines, Pugets und Poussins sind Römer mit griechischen Spitznamen.
Auch die scavi, die Ausgrabungen der verschütteten Ruinen von Herculaneum, seit 1737, und Pompeji, seit 1748, und die ungefähr um dieselbe Zeit entdeckten Baureste von Paestum und Agrigent, die, in schützender Wildnis durch Jahrtausende erhalten, dem modernen Auge zum erstenmal die vollkommene Form eines altgriechischen Tempels enthüllten, sah man zunächst noch, unter dem Einfluß des italienischen Fundorts, mit römischen Augen an. In Deutschland war noch in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Hellenistik eine theologische Disziplin: das Griechische, soweit man es überhaupt betrieb, wurde nur erlernt, damit man das Neue Testament lesen könne, und es wurde denn auch unter die orientalischen Sprachen gerechnet. Homer und Herodot, Aischylos und Sophokles las man hie und da, aber nie im Urtext, und viele Gelehrte kannten sie kaum dem Namen nach. Die griechische Literatur, sagte Winckelmann, ist aus Deutschland fast ausgestoßen.
Durch den Genius dieses einen Mannes taucht nun das Phänomen Hellas wie eine verzauberte Insel aus dem Meer der Vergangenheit, freilich nur als täuschende Luftspiegelung, aber gleichwohl in einem reinen und scharfen Glanz, der die Zeitgenossen beglückte.
Gegen Winckelmanns berühmten Programmsatz, der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn möglich, unnachahmlich zu werden, sei die Nachahmung der Griechen, richtete Klopstock die Verse: »Nachahmen soll ich nicht und dennoch nennet dein ewig Lob nur immer Griechenland. Wem Genius in seinem Busen brennet, der ahm' den Griechen nach! Der Griech' erfand!« In der Tat: womit könnte ein Denker oder Künstler sich und seiner Zeit ein größeres Armutszeugnis ausstellen als durch den Rat, irgend etwas, wie groß es auch sei, nachzuahmen? Und doch war Winckelmann nichts weniger als ein ideenloser und phantasiearmer Kopf, vielmehr ein Genie der Invention so gut wie der Grieche; denn auch er hat etwas erfunden: nämlich den Griechen.
Wir wissen heute, daß das Altertum nicht antik war. Wer die griechischen Schriften naiv und unphilologisch liest, der wird finden, daß in Plato und Demosthenes weniger Altertümliches war als in Mendelssohn und Professor Unrat und daß die Gebärde der euripideischen Medea weniger klassisch gewesen sein muß als die Geste der Charlotte Wolter. Was den sogenannten humanistisch Gebildeten vom Altertum zurückgeblieben ist, sind einige tote Kostümstücke: Leier, Peplos, Lorbeer, Myrthe, Olivenkranz. Es geht ihnen wie Faust, der von der griechischen Helena nur ein leeres Kleid in der Hand behält: der Rest ist Wolke. Wir wissen heute, daß es den Griechen mit dem Sonnenauge und den Römer mit der Erzstirn niemals gegeben hat, aus dem sehr einfachen Grunde, weil es ganz unmöglich ist, daß es solche Menschen zu irgendeiner Zeit und an irgendeinem Ort gegeben haben kann. Wir wissen heute auch, woher die Ästhetik und Geschichtsauffassung der deutschen Klassiker ihren Ursprung genommen hat: aus Lehre und Vorbild der Generation, die ihnen vorherging, einer Generation von physisch und seelisch unterernährten Magistern, verkümmerten Bücherwürmern und schiefgewachsenen Kunstpedanten, aus der staubigen Enge der Bibliotheken und Schreibstuben, der lichtarmen Stickluft der kleinen Provinzgassen, der Lebensschwere der verwinkelten und verkräuselten Miniaturwelt der deutschen Barocke. Wir empfinden heute nicht die Antike, sondern diese Welt als eine historische: in ihrer Alterswurmstichigkeit, ihrem Geruch von Holzpflaster und Tranlampe, ihrer Anämie aus eiweißarmer Kost und ihrem rührend-skurrilen Bemühen, sich durch steifen Wissensprunk, prätentiös aufgehäufte Eigennamen und Büchertitel Tiefgang und Gravität zu geben. Überall kommt, trotz dem Willen zur Schmucklosigkeit und dem Lob der klassischen Simplizität, das Ornament, die Passementerie hervor. Und was verstand man denn überhaupt unter der vielgerühmten und als leuchtendes Vorbild promulgierten »Einfachheit der Alten«? Nichts anderes als die notgedrungene geistige und körperliche Bedürfnislosigkeit des deutschen Hauslehrers, Prorektors und Reisebegleiters! Sie waren glücklicherweise nicht »einfach«, diese Griechen und Römer, sondern sehr verwickelt, sehr unberechenbar, sehr anspruchsvoll und vor allem späte Menschen. Dagegen verwechseln diese Männer einer eben erst wieder zu geistigem Leben erwachten Anfangszeit einige schlechte Gipsabgüsse und verdorbene Scholientexte mit den Griechen und dann verwechseln sie die Karikatur und Marionette von Hellenentum, die sie sich daraus konstruiert haben, mit sich selbst! Ein Volk, dessen hervorstechendste Eigenschaft in der reizbarsten, beweglichsten Fähigkeit des Aufnehmens, in einer hypertrophisch entwickelten Gabe des Sehens bestand: neu entdeckt und »verstanden« von einer Menschengruppe, die überhaupt noch nicht gewöhnt war, von ihren Augen Gebrauch zu machen, die ihr ganzes Weltbild aus Beschreibungen, Buchexzerpten und Urteilen über Urteile anderer hatte!
Das Groteskeste aber war die Wirkung. Sie war etwa so, wie wenn ein monomanischer, aber ungemein tüchtiger Gymnasiallehrer in eine Klasse tritt, die aus lauter sehr lebhaften, begabten und wißbegierigen Schülern besteht, und nun durch seinen Unterricht deren Geist ein für allemal in eine schiefe und rückläufige Bewegungsrichtung zwingt. Die ganze klassische Dichtung wurde zur Atelierdichtung: die Dramen, Romane, Gedichte, Abhandlungen der Klassiker haben kleine Fenster, Zimmeratmosphäre, künstliche oder höchstens Interieurbeleuchtung, starke Linien, aber blasse Farben. Alles ist eng, notdürftig ventiliert, verhängt, halbdunkel, alkovenhaft. Und dies alles als Nachahmung der Griechen, die ihre Schaustücke, Bildsäulen und Gemälde im Freien sowohl herstellten wie aufstellten, ihren künstlerischen Sport, ihre Philosophie, ihre Rhetorik auf der Straße betrieben, ihre politischen Versammlungen und Gerichtsverhandlungen, Götterkulte und Theatervorstellungen niemals in geschlossenen Räumen abhielten und überhaupt die Pleinairmenschen par excellence waren!
Schiller, eines der stärksten deutschen Temperamente, Goethe, dessen ganzes Leben, Denken und Gestalten im organisierten Schauen bestand, ganze Generationen der deutschen Bildnerei und Malerei, die ihrer innersten Anlage nach von jeher zum Naturalismus bestimmt war, ja sogar die Führer der angeblich antiklassizistischen romantischen Schule: sie alle übernahmen das klassizistische Pensum; und Napoleon, der wilde tausendäugige Sohn der Tatsachen, hatte als Empereur nichts Eiligeres zu tun als den leeren lackierten Empirestil über Europa zu verbreiten.
Wenn wir dieser Auffassung des Altertums glauben wollten, so hätte die Hauptbeschäftigung der Griechen und Römer offenbar darin bestanden, fleißig Winckelmann zu lesen, wie ja auch die Naturkinder Rousseaus zweifellos den »Contrat social« auswendig kannten. Diese sonderbare »Rückkehr zur Antike« ist nur zu verstehen aus einem tiefen Bedürfnis und letzten Versuch, in einer Welt der reinen Maße und Proportionen, der lichten Ordnung und leichten Überschaubarkeit, Selbstbegrenzung und Unkompliziertheit Erholung und Ausruhen von der eigenen Problematik, schweifenden Formlosigkeit und verwirrenden Vielfältigkeit der Bestrebungen, Beziehungen, Aspekte zu finden. Der Klassizismus ist aus der Angst des modernen Menschen geboren.
Dabei ist es aber andrerseits höchst merkwürdig und eine Art unfreiwillige Selbstironie, daß man das Ideal der Antike im Alexandrinismus fand, der süßlich, schwülstig und literarisch gewordenen Bildnerkunst der griechischen Barocke: man suchte sich eben doch instinktiv das heraus, womit man noch am ehesten verwandt war. Die griechische Décadence als das antike Ideal, ein Griechentum, das schon keines mehr war, als stärkste Zusammenfassung hellenischen Wesens: das eigentlich ist der unbewußte Kern der klassizistischen Theorie. Als die »Blüte« der griechischen Kunst erschienen Winckelmann Werke wie der Apoll von Belvedere, der Herkules von Belvedere, die Niobiden, die in Wahrheit überreife, welke und sogar schon ein wenig angefaulte Früchte des hellenischen Schaffens waren. Und vor allem dachte damals jedermann, wenn das Wort »griechische Kunst« ausgesprochen wurde, sofort fast zwangsläufig an den Laokoon, dieses ebenso prachtvolle wie herzlose Virtuosenstück einer schauspielernden Verstandeskunst, wie sie in dieser Mischung aus Brutalität und Sensitivität, ernüchternder Berechnung und überwältigendem Raffinement nur in glänzenden Niedergangszeiten hervorzutreten pflegt.
Gleichwohl abstrahierte man von diesen Werken in glückseliger Ahnungslosigkeit das Ideal der »edeln Einfalt und stillen Größe«, für das übrigens im griechischen Leben auch sonst nirgends Platz ist. Denn bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts hat die griechische Kultur noch etwas durchaus Steifes, Gebundenes, Hieratisches, ja, wenn das Wort erlaubt ist, Gotisches: die Kunst und Dichtung ist fromm, eckig, archaisch, die Männer tragen steife golddurchwirkte Gewänder und barbarischen Schmuck, Zöpfe und geflochtene Bärte, die Frauen Chignons und Korkzieherlocken; am Ende des Jahrhunderts aber, so schnell ist das Tempo der griechischen Entwicklung, herrscht bereits der vollste Naturalismus in Staat, Gesellschaft, Tracht, Philosophie, Theater, und im nächsten Säkulum setzt bereits der Alexandrinismus ein; wo ist da Raum für den »klassischen Griechen«? Die Gründe, aus denen dieses Phantom überhaupt zustande kommen konnte, werden wir noch näher zu erörtern haben: sie bestehen für die Architektur und Skulptur in der irrigen Annahme der Achromie, der toten Farblosigkeit der Gebäude und Bildwerke, für die Dichtung in dem Verlust der begleitenden Musik, die hier eine ähnliche Rolle gespielt haben muß wie die Bemalung bei der Plastik, selbst für die Prosa in dem Untergang des charakteristischen Tonfalls, des Tempos, des »Jargons«; und, allgemein gesprochen, war diese Fiktion erstens ein Phänomen der verklärenden, steigernden, konzentrierenden und perspektivisch verkürzenden Distanz, zweitens ein Resultat der Eintragung eigener Züge in eine fremde Wesenheit und drittens eine Folge der Verwechslung des Lebens mit dem Kunstwerk, dessen Funktion gerade auf seiner höchsten Stufe Widerlegung, Kompensation, Umkehrung des Lebens ist. Trotzdem bleibt es immer noch ein Rätsel, wie diese Vorstellung vom Griechen entstehen konnte, dessen so ganz anders geartetes Wesen jedem Unbefangenen aus tausend Zügen in die Augen springen mußte: man denke bloß an die platonischen Dialoge, an die Philosophenbiographien, an die Redner, an die »Charaktere« des Theophrast, an die gesamte alte, mittlere und neuere Komödie und an die ganze griechische Geschichte, die die turbulenteste, chaotischste und skandalöseste der Welt gewesen ist.
Man wird natürlich niemals genau angeben können, wie das alte Hellas in Wirklichkeit ausgesehen hat, aber man kann ziemlich genau sagen, wie es nicht war: nämlich nicht so, wie das achtzehnte Jahrhundert es sich vorstellte. Sondern: bunt und gebrochen, nervös und irisierend, unbeherrscht und tumultuös und ganz und gar nicht abgeklärt; sein Zentrum Athen ein Farbenkasten, mitten in eine grell pittoreske Natur gesetzt, mit der deutlichen Absicht, sie noch zu überschreien, eine charmante Spielzeugschachtel von Stadt, wie man sie in nachantiken Zeiten niemals wieder gesehen und leider nicht einmal nachzuahmen versucht hat, angefüllt mit geschmackvoll und amüsant kolorierten lebensgroßen Stein- und Tonpuppen, prachtvoll und lärmend vergoldeten Kolossalfiguren, schillernden Fayencen, koketten Nippes und zierlichen Terrakotten; und dazwischen Menschen, die mit allem und jeglichem spielten: nicht nur mit ihren Leibes- und Redeübungen, ihrer Kunst und Erotik, sondern auch mit ihrer Wissenschaft und Philosophie, ihrer Justiz und Volkswirtschaft, ihren Staaten und Kriegen und sogar mit ihren Göttern, immer in Motion und Emotion, ungeheuer viel und schnell sprechend, was allein schon die Vorstellung der Klassizität aufhebt, jedoch trotzdem in Betonung und Aussprache, Wortstellung und Satzgefüge die letzten Feinheiten beobachtend; ihr Theater eine Mischung aus Ballett, Marionettenspiel und Volkskonzert, ihr eigentliches Theater aber ihr tägliches Parlament, ihre Frauen Schmuckattrappen für die Zimmerdekoration, ihre Philosophen originelle Tagediebe und Buffoni und ihre Religion ein organisierter Karneval und Vorwand für Ringkämpfe und Wettläufe, Aufzüge und Gelage.
Durch seine große Phantasie, seine Kardinaleigenschaft, war der Hellene in besonders hervorragendem Maße zum Lügen und zum Leiden prädestiniert. Man darf geradezu von einer endemischen Verlogenheit des griechischen Volkes sprechen, gegen die ein paar Ausnahmsmenschen immer vergeblich und übrigens ziemlich schüchtern angekämpft haben. Überhaupt war eine individuelle und soziale Ethik nur bei einigen weitabgewandten Philosophen, bei allen übrigen aber nicht einmal im Ansatz vorhanden, und wenn man nicht ganz bestimmt wüßte, daß die Gymnasiasten von den griechischen Schriftstellern nicht ein Wort verstehen, so müßte man ihre Lektüre nicht nur aus dem Schulunterricht streichen, sondern auch privatim als höchst unmoralisch verbieten. Auf den Erwachsenen aber wirken die Griechen wie schöne Raubtiere, die man rein ästhetisch wertet, oder wie gewisse Theaterfiguren, deren geniale Charakteristik man bewundert, ohne mit den Charakteren selbst einverstanden zu sein. Und im übrigen bestand die versunkene griechische Kultur auch zur Zeit des Perikles im Gehirn eines Durchschnittsatheners aus demagogischem Geschwätz, strategischen Kannegießereien, sportlicher Fachsimpelei und Zwiebelpreisen.
Von Goethe stammt der bekannte Ausspruch, das Romantische sei das Kranke, das Klassische das Gesunde. Ohne auf die Richtigkeit dieser These einzugehen, könnte man vielleicht sagen: die Griechen waren romantisch und krank in ihrem Leben und allen seinen Äußerungen und Institutionen, klassisch und gesund aber bloß in ihrem Dichten und Denken. Sie waren dazu geradezu gezwungen: sie hätten sich den Luxus einer romantischen Kunst und Philosophie, die ihren sofortigen Untergang bedeutet hätte, gar nicht leisten können. Überhaupt verhält sich ja, wie wir bereits vorhin angedeutet haben, die Produktion zum Leben zumeist wie das Positiv zum Negativ. Es ist kein Zufall, daß der stets kränkliche, extrem sensible und weichherzige Nietzsche das Ideal des Übermenschen aufstellte und umgekehrt der gesunde, glückliche und sehr egoistische Schopenhauer eine Philosophie des Pessimismus und der Willensverneinung lehrte, daß ein starker Sinnenmensch wie Richard Wagner den Spiritualismus predigte und Rousseau fürs Primitive, Idyllische, »Gute« schwärmte. Und wer etwa das Fin de siècle nur nach seiner Kunst beurteilen wollte, würde aus Ibsen und Maeterlinck, Altenberg und George, Khnopff und Klimt wohl kaum auf ein Zeitalter der Technokratie und Börsenherrschaft, des Imperialismus und Militarismus schließen. Ebenso verhält es sich mit dem griechischen Ideal der Sophrosyne: der maßvollen Weisheit, klaren Besonnenheit und beherrschten Leidenschaft. Sie sprachen so viel von ihr, weil sie sie nicht hatten. Von ihrem Geschmack hingegen, wovon sie so viel besaßen wie alle alten und neuen Völker zusammengenommen, haben sie nie geredet.
Im Mittelpunkt der griechischen Geschichte, chronologisch und geistig, steht die geheimnisvolle Gestalt des Sokrates, der seinen Landsleuten über diese Angelegenheit einiges zu sagen hatte. Nietzsche hat bekanntlich in ihm den typischen Décadent, ja Verbrecher und in seiner Dialektik den Sieg des Pöbelressentiments erblickt; und schon vor neunzig Jahren hat Carlyle ohne genauere Sachkenntnisse, lediglich von seinem genialen Instinkt geleitet, die Ansicht ausgesprochen, in dem ewig logisierenden Sokrates verkündige sich der Verfall des echten Griechentums. Und Alexander Moszkowski hat ihn in einer sehr amüsanten kleinen Studie »Sokrates der Idiot« sogar als »braven Trottel« hingestellt, als albernen Sprachpedanten und Wortakrobaten, der an einer Art logischer Echolalie litt. Das achtzehnte Jahrhundert hinwiederum hat aus ihm einen perorierenden Quäker gemacht, der ununterbrochen Weisheit und Edelmut ausdampfte, und sogar gewagt, ihn mit Christus zu vergleichen. Andere haben ihn mit Kant in Parallele gestellt, was ebenso unsinnig ist, denn während die Vernunftkritik die umwälzende Tat eines übermächtigen Geistes ist, der alles Bisherige verwirft, weil er alles Bisherige unter sich erblickt, bedeutet der Sokratismus gegenüber den grandiosen kosmischen Phantasien der ionischen Naturphilosophie bloß den Triumph der praktischen Alltagsverständlichkeit über den unklaren Tiefsinn. Gleichwohl lassen sich alle diese so heterogenen Auffassungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen, den Nietzsche bereits andeutete, als er sagte: »Man hatte nur eine Wahl: entweder zugrunde zu gehen oder absurd-vernünftig zu sein.« Was Sokrates versuchte, war nicht mehr und nicht weniger als die Rettung Griechenlands durch die Predigt der Vernunft und der Tugend, zweier ganz ungriechischer Eigenschaften, wobei er aber immer noch soweit Grieche blieb, als er den guten Geschmack hatte, seine Moraltraktate in die Form einer exquisiten Ironie zu kleiden. Dies ist der Sinn des sokratischen »erkenne dich selbst!«: erkenne, was dir fehlt, nämlich: Maß und Bescheidung, Selbstzügelung und Selbstkritik, und strebe danach als deinem rettenden Gegenpol! Aber Sokrates war Athen, Athen war Griechenland und Griechenland die Welt. Daher bedeutet der Sokratismus die Selbsterkenntnis der antiken Kultur. In ihm blickt diese sich ins Auge. Und sie erschauert. Und es ist nur zu begreiflich, daß die Griechen diesen Spiegel zerbrachen, weil sie ihn nicht ertrugen.
Gleich dem Sokratismus war auch die griechische Kunst, der in besonderem Maße nachgerühmt wird, daß sie ein Bild der ruhevollen Klarheit und edeln Selbstläuterung darstelle, ein Kontrastphänomen, obschon lange nicht in dem Grade, wie wir es uns vorzustellen lieben. Das ganze Dunstbild von der griechischen Klassizität wäre vermutlich niemals entstanden, wenn man von allem Anfang an von der Polychromie gewußt hätte; als man sie aber endlich entdeckte, hatten die vermeintlich farblosen Tempel und Statuen, die man jahrhundertelang begeistert kopiert hatte, sich schon so im modernen Vorstellungsleben eingenistet, daß wir, obgleich wir jetzt von der Bemalung wissen, doch nicht von ihr wissen, weil noch heute in jeder größeren Stadt Dutzende von Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die der irrigen Annahme der antiken Achromie ihr Dasein verdanken, die neue Erkenntnis durch den täglichen Augenschein widerlegen. Diese Befangenheit in ebenso unrichtigen wie unnatürlichen Anschauungen geht sogar so weit, daß man die weiße Plastik, die sich doch nur von einer mangelhaften Kenntnis der griechischen Kunst herleitet, gegen die wirkliche Plastik der Griechen ausspielte und diese wegen ihrer Polychromie entschuldigen zu müssen glaubte. So sagt zum Beispiel Friedrich Theodor Vischer in seiner »Ästhetik«, einem bis heute unübertroffenen Fundamentalwerk von gigantischen Ausmaßen und unerschöpflichem Inhalt: »Jede Zutat von Farbe zu der Nachbildung der festen Form, welche sich nicht mit gewissen Andeutungen begnügt, ist durch den reinen Begriff der Bildnerkunst an sich ausgeschlossen. ... Hat nun eine Kunst, die im übrigen hoch stand, vollständig, das heißt: mit Durchführung aller Farbenverhältnisse, wie sie der lebendige Körper zeigt ... ihre Bildwerke bemalt, so muß dies seine Erklärung in besonderen kunstgeschichtlichen Verhältnissen finden«; bei den Griechen habe die polychromische Behandlung den Spielraum überschritten, der durch die Zulassung »gewisser Andeutungen« offengelassen sei. »Wir können selbst angesichts der einzig reinen Begabung des griechischen Auges für die Erfassung der festen Form als solcher und der herrlichen Vollendung der Kunst, die auf dieses Auge sich gründete, dieses Urteil nicht opfern. ... Wir suchen einen andern Ausweg, die Vergleichung mit dem griechischen Drama. Die Dichtung und die reine Mimik war hier mit Musik, Gesang, Tanz in einer Weise vermählt, welche uns unmöglich als Muster dienen kann. ... Die großen Tragiker bleiben uns gleich groß, obwohl wir sie darin, daß sie im Sinne dieser Kunstverbindung dichteten, nimmermehr nachahmen können, und wie wir von Aischylos und Sophokles das Bleibende, rein dichterisch Schöne ohne das Rezitativ und Gesang und marschartigen Tanz des Chors genießen und unserer Poesie aneignen, so streifen wir den Werken der großen Bildhauer die Farbe ab, die ihnen als vergänglichen, nur in einem besonderen Moment der Kunstgeschichte begründeten Anflug ohnedies die Luft und der Regen ebenso abgestreift hat wie dem griechischen Tempel.« Ganz abgesehen von der sonderbaren Deduktion, daß die Farbe ein vergänglicher Bestandteil der griechischen Plastik gewesen sei, weil Luft und Regen imstande waren, sie ihr abzustreifen, enthält diese Darlegung auch sonst eine sehr instruktive Selbstcharakteristik der verhängnisvollen Verunstaltung und Verfälschung, Blutabzapfung und Verlangweilung, die der Klassizismus an der griechischen Kunst vorgenommen hat: er hat ihr in der Tat die Farbe abgestreift, und zwar auch der Dichtung, von der man, da man den allein übriggebliebenen Gesangstext unzulässigerweise als etwas Selbständiges auffaßte und behandelte, ebenfalls nur einen blassen leblosen Marmorrest in der Hand behielt.
Die Griechen waren aber eben weit entfernt von der modernen Barbarei, Holz und Stein unbemalt zu lassen; sie haben, aus einer sehr natürlichen und sehr künstlerischen Empfindung heraus, alles bunt angetüncht, was ihnen unter die Hände kam, und unsere weiße Plastik und Architektur wäre ihnen wie eine Kunst für Farbenblinde vorgekommen. Selbstverständlich haben sie auch die Augen sorgfältig aufgepinselt oder noch lieber durch eingesetzte Edelsteine, Kristalle und dergleichen wiedergegeben; und wie weit man in der völlig kritiklosen Nachahmung der griechischen Denkmäler ging, zeigt die groteske Tatsache, daß man, weil auch hiervon die Spuren sich nicht sogleich fanden, die bizarre Sitte annahm, das Organ des höchsten seelischen Ausdrucks überhaupt wegzulassen! Der »griechische Kopf« mit der bleichen Gipswange, ohne Augenstern, ohne Blick in die Welt ist das sprechendste Symbol des neudeutschen Humanismus.
Eine solche antike Statue muß einen ganz prachtvollen Eindruck gemacht haben. Der Marmor wurde zunächst mit einer rosigen oder braunen Beize aus Öl und Wachs eingerieben, wodurch er einen warmen lebendigen Fleischton erhielt. Der Vorwurf der Kunsthistoriker, daß man dadurch das herrliche Material verdorben habe, verdient wenig Beachtung; die Griechen wußten, was sie an ihrem Marmor hatten, und haben ihn durch diese Behandlung sicher nur gehoben: in diesen Fragen wird man sich wohl auf sie verlassen dürfen. Die Lippen wurden rot, die Haare schwarz, gelb oder auch durch Metallzusatz goldblond gefärbt; das Gewand wurde entweder weiß gelassen, wobei aber mindestens die Säume farbig waren, oder ebenfalls koloriert, die Innenseite und die Außenseite in verschiedenen Tinten. Die Helme und Helmklappen, Waffen und Schilde, Schmuckstücke und Sandalen waren aus Metall, mit Vorliebe vergoldet. Der Maler war nicht immer dieselbe Person wie der Bildhauer: für die Statuen des Praxiteles zum Beispiel wird Nikias genannt, der eine fast ebenso große Berühmtheit war wie jener. Auch die Werke der Goldelfenbeintechnik, wie der untergegangene Zeus des Phidias, eine Kolossalstatue im Tempel von Olympia, waren ungeheuer bunt: der Kern bestand aus Holz, die Elfenbeinmasse wurde durch virtuose Behandlung so dünn und elastisch gemacht, daß sie, fast wie ein Lacküberzug wirkend, sich der Unterlage eng anschmiegte: sie näherte sich schon durch ihre natürliche Farbe dem Inkarnat und wurde vielleicht ebenfalls noch leicht imprägniert; die Gewänder und Insignien waren aus reich bemaltem Goldblech, Haar und Bart aus verschieden getöntem Gold, die Augen aus glänzenden Juwelen. An den Tempeln waren die Figuren der Friese und der Giebelfelder reizend koloriert wie Zinnsoldaten, auf einem Grund von leuchtendem Blau oder Rot, die »Tropfen« und ähnliches Beiwerk vergoldet, die »Wülste« der Säulen und die Traufrinnen der Dächer mehrfarbig ornamentiert, etwa in der Art unserer heutigen Emailmalerei. Auf dem Hekatompedon, dem alten, aus porösem Kalkstein erbauten Athenatempel der Akropolis, der 480 von den Persern zerstört wurde und erst in den achtziger Jahren als sogenannter »Perserschutt« wieder ans Licht kam, hatten die Männer sogar noch grellblaue Haare und Bärte, grasgrüne Augen und rote Körper. Das stets bemalte Relief aber galt im Altertum zu allen Zeiten überhaupt nur für eine Abart des Gemäldes.
Im Angesicht einer grellen Sonne, eines knallblauen Himmels, zinnoberroter Berge, schwefelgelber Felsen, giftgrüner Bäume und eines in hundert wechselnden Nuancen funkelnden Meers waren die Griechen ja schon von vornherein darauf angelegt, eines der farbenfreudigsten, ja farbentrunkensten Völker zu werden. Auch ihre poetische und philosophische Phantasie lebte stets in einer Atmosphäre des reichen und starken Kolorits und in ihrem Kostüm liebten sie ebenfalls voyante, laut kontrastierende Farben: purpurviolett und himmelblau, safrangelb und scharlachrot; selbst das glänzende Weiß hatte bei ihnen den Charakter einer Farbe.
Ihre Malerei, über die wir nur sehr ungenau unterrichtet sind man kann sagen: glücklicherweise, denn es ist nicht abzusehen, was ihr Vorbild in der Kunst des neueren Europa angerichtet hätte , scheint bis tief ins fünfte Jahrhundert hinein einen streng stilisierenden Charakter getragen zu haben und, wenn das Relief eine Art Gemälde in erhabener Arbeit war, umgekehrt eine Art zweidimensionale farbige Plastik gewesen zu sein. Ganz wie beim Drama lagen die Hauptgründe für diese Gebundenheit teils in der Unentwickeltheit und Konservativität der Technik, teils in der Orientierung auf den religiösen Kult. Die Fresken Polygnots, dessen Blütezeit etwa das zweite Viertel des fünften Jahrhunderts umfaßte, kannten noch keine Schlagschatten, kein Helldunkel, keine Modellierung und boten nichts als kolorierte Umrißzeichnungen; er wußte auch noch nichts von Perspektive und gab das Hintereinander als ein Übereinander. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zu Anfang des Peloponnesischen Krieges, erfand Agatharchos die »Skenographie«, die perspektivische Kulissenmalerei, die durch Alkibiades, der sein Haus mit solchen Bildern schmücken ließ, zur großen Mode erhoben wurde. Ungefähr um dieselbe Zeit wirkte Apollodoros, genannt der »Schattenmaler«, weil er als erster die Lichtverhältnisse richtig beobachtete und auf seinen Gemälden zur Darstellung brachte. Und Zeuxis und Parrhasios, die jüngeren Zeitgenossen Apollodors, waren offenbar schon Illusionsmaler, denn auch wenn die bekannte Erzählung, daß Zeuxis mit seinen gemalten Früchten die Vögel, Parrhasios aber mit einem gemalten Vorhang den Zeuxis getäuscht habe, erfunden sein sollte, so zeigt sie doch deutlich, was man diesen beiden Künsdern zutraute. Bei Zeuxis erscheint auch zum erstenmal das nackte Weib, das erst ein Menschenalter später in der Plastik auftaucht. Wir stoßen hier wiederum auf das schon mehrfach hervorgehobene Gesetz, daß die Malerei der Skulptur in der Entwicklung voranzugehen pflegt; die griechische Plastik ist daher auf der Höhe ihrer Ausdrucksfähigkeit das posthume Kind der perikleischen Zeit, und der Sophistik und Euripides entsprechen nicht Phidias, Myron und Polyklet, sondern Skopas, Praxiteles und Lysipp. Zu Anfang des vierten Jahrhunderts ging man von der Temperamalerei zur »Enkaustik« über, die durch Anwendung von Wachsfarben eine größere Brillanz und Feinheit erzielte und in der antiken Kunstentwicklung ungefähr dieselbe Rolle gespielt hat wie die Ölmalerei in der neueren. Und am Ende des Jahrhunderts gelangen bereits ganz moderne Richtungen zur Geltung: in Alexandrien gibt es die Schulen der Rhopographen und der Rhyparographen, der Kleinkrammaler und der Schmutzmaler.
Der Alexandrinismus ist überhaupt im höchsten Grade geeignet, das gesamte traditionelle Bild vom Hellenentum umzukehren. Da man immerzu wie hypnotisiert auf das perikleische Zeitalter starrte, ist man zwei Jahrtausende lang an dieser Entwicklungsstufe der griechischen Kultur vorübergegangen, indem man sie entweder als »Verfall« oder als überhaupt nicht existent behandelte. Man gewöhnte sich sogar daran, das Wort »Alexandrinertum« zum beschimpfenden Gattungsbegriff zu depossedieren: wenn ein Professor oder Literat diese Vokabel in den Mund nahm, so wollte er damit sagen, daß es sich um eine geistige oder künstlerische Richtung handle, die blutleer und anempfunden, mechanisch und künstlich, professoral und unschöpferisch, kurz, so wie er selber sei. Nun verhält es sich aber mit diesem Begriff wie mit so vielen anderen: ein Merkmal, und nicht einmal das wesentlichste, hat alle übrigen überwuchert.
Eigentlich gelangt in der alexandrinischen Periode, die die drei letzten Jahrhunderte (genauer: das dritte Jahrhundert) vor Christus umfaßt, die hellenische Volksbegabung erst zu ihrer feinsten und reichsten Entfaltung. Die griechische Kultur wird zur Weltkultur: sie verbreitet sich über das gesamte antike Zivilisationsgebiet und sie entwickelt erst in diesem Zeitraum jenen behenden und scharfen, freien und allseitigen Geist, den wir als spezifisch hellenisch zu betrachten pflegen, in seiner ganzen Fülle. Wenn erst seit wenigen Jahrzehnten ein stärkeres Interesse für die Alexandrinerzeit erwacht ist, so hat das einen sehr naheliegenden, man möchte fast sagen, egoistischen Grund: sie hat nämlich eine große Ähnlichkeit mit der unserigen.
Die ursprüngliche griechische Anschauung kannte überhaupt keine Berufe, sondern nur eine ideale Einheit aller und die Forderung der »Kalokagathie«, alle zu verkörpern. Das Spezialistentum galt als banausisch; der Grieche haßte es schon deshalb, weil es häßlich macht, Leib und Seele verkrüppelt, indem es einen Zug unkünstlerisch heraushebt. Um die Wende des vierten Jahrhunderts beginnen aber plötzlich innerhalb des antiken Kulturkreises eine Reihe neuer, im bisherigen Sinne ungriechischer Typen zu dominieren: der Virtuose, der ein Berufskünstler, der Athlet, der ein Berufsgymnast, der Offizier, der ein Berufssoldat, der Bürokrat, der ein Berufsbeamter, der Diplomat, der ein Berufspolitiker, der Professor, der ein Berufsgelehrter, und der Literat, der ein Berufsschriftsteller ist, indem er, im Gegensatz zur früheren Objektivität, ja Anonymität, als »Autor« sein Ich zeigt. Während die Darstellung der tragischen und komischen Dichtungen bisher, wie bei den mittelalterlichen Passionsspielen, Sache der gesamten Bürgerschaft war, entstehen jetzt allenthalben Theaterfachschulen, die sogenannten »Vereine der dionysischen Künstler«. Auf politischem Gebiet gelangt man zum Imperialismus und zu dessen Komplement: dem Kosmopolitismus. Die bevorzugte Regierungsform ist der Absolutismus, aber der aufgeklärte: Antigonos Gonatas bezeichnete das Königtum als , ruhmreichen Knechtsdienst, was ganz friderizianisch klingt, und die Diadochenfürsten gaben sich gern den Beinamen Euergetes, Wohltäter, oder Soter, Retter, Heiland, mit dem man übrigens auch die Häupter der Philosophenschulen, zum Beispiel Epikur, zu ehren liebte. Die äußere Herrschaftsform umfaßt den typischen Apparat großdynastischer Regierungsweise: Staatsrat, Hofetikette, Audienzen, Dekrete, Edikte, stehendes Heer, Heiligkeit der Majestät, Schwur bei der Tyche des Königs. Es entstehen die neuen Begriffe des »Untertans« und des »Privatmenschen«, der aber, wie dies fast immer der Fall zu sein pflegt, unter der unbeschränkten Monarchie mehr persönliche Freiheit und Sekurität genießt als unter der unberechenbaren Demokratie. Vollkommen neu ist auch das Heraufdämmern eines gewissen Humanitätsgefühls. Man beginnt in der Kriegführung eine Art primitives Völkerrecht anzuerkennen, ja nicht selten eine fast romantische Ritterlichkeit zu beobachten und über das Los der Sklaverei und sogar über deren Berechtigung nachzudenken, wozu die Entwicklung eines arbeitenden freien Massenproletariats das Gegenstück bildet. In der Polis hatte sich der Einzelne nur als Teil, Glied und Organ seines engen Sondergemeinwesens empfunden, das ihm alles war; jetzt erklärt man im Sinne der Stoa, der wahre Staat sei der Kosmos, und beginnt die Pflichten des Bürgers und Familienvaters mit den Augen des kynischen Philosophen anzusehen, dessen Bild Epiktet einige Jahrhunderte später am eindringlichsten gezeichnet hat: »Das Königtum des Kynikers ist es wert, daß man seinetwegen auf Weib und Kinder verzichtet. Alle Menschen sieht er als seine Kinder an. Ist es wirklich die größte Wohltat für die Menschheit, ein paar rotzige Kinder in die Welt zu setzen? Wer hat mehr für die Gesamtheit geleistet: Priamos, der fünfzig Taugenichtse erzeugte, oder Homer? Du fragst mich, ob der Kyniker sich am politischen Leben beteiligen wird? Du Narr, kann es eine größere politische Aufgabe geben als die seinige? Soll einer vielleicht vor den Athenern Reden über Steuern und Einkünfte halten, wenn er verpflichtet ist, sich mit allen Menschen zu unterreden, gleichviel ob sie Athener, Korinther oder Römer sind, und nicht über Steuern und Einkünfte, über Krieg und Frieden, sondern über Seligkeit und Unseligkeit, Glück und Unglück, Knechtschaft und Freiheit?«
Zugleich Ursache und Folge des Kosmopolitismus ist die gefräßige Ausbreitung einer Weltwirtschaft, wie sie die alte Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Die Eroberungen Alexanders des Großen hatten den Orienthandel eröffnet; aus Indien, Persien, China kam eine Fülle bisher unbekannter Luxusartikel. Man begann sich aufs offene Meer hinauszuwagen, statt wie bisher ängstlich an der Küste zu kleben. Nach persischem Vorbild wurden Reichsstraßen gebaut, die den Landverkehr für die ungeheuern Karawanenzüge vermittelten. Das Hotelwesen, dem bisherigen Altertum unbekannt, begann zu florieren. Zahlreiche Banken, an der Spitze die allmächtige Zentralbank von Alexandria, ausgedehnte Kartelle von Großkaufleuten, Schiffsreedern, Spediteuren wurden gegründet; es gab sogar schon Weltausstellungen. Ein raffiniertes Steuersystem, für das Ägypten seine jahrtausendelangen Erfahrungen herlieh, zog sein Netz über die bestürzte Menschheit; es gab Stempel und Gebühren und Taxen für alles. Ein außerordentlich spezialisiertes Zunftwesen entwickelt sich: es gibt Bäcker für grobes und für feines Gebäck, Schweineschlächter und Rindermetzger, Korbflechter und Mattenflechter. Der Ingenieur beginnt im Kriege eine bedeutende Rolle zu spielen: man verwendet allenthalben Ballisten, Katapulten, wandelnde Batterien, und König Demetrios, genannt Poliorketes, der Städtebestürmer, baut seine berühmte »Stadteroberin«, eine fünfzig Meter hohe Maschine von neun Stockwerken, die, auf Rädern laufend, tankartig gepanzert und mit vielen hundert Mann und zahllosen Steinblöcken, Balken, Bleigeschossen und Brandpfeilen armiert, genau auf jedes Ziel eingestellt werden konnte. Enorme Schiffe für Krieg und Handel wurden gebaut und es entwickelte sich derselbe Wetteifer im Steigern der Tonnage wie heutzutage. Das Riesenpassagierschiff »Syrakosia« des Königs Hieron enthielt dreihundert Seesoldaten und sechshundert Matrosen und eine dementsprechende Anzahl von Salons und Badezimmern, Türmen und Geschützen. Eine Art Artillerie bildeten auch die Elefanten, von denen zum Beispiel Seleukos der Erste auf Apamea ein Depot von fünfhundert Stück besaß. Die neuen Residenzen und Metropolen, alle von der gleichen Physiognomie, rationell in gradlinigen, rechtwinklig sich schneidenden Straßen angelegt, entwickelten sich rasch zu den Ausmaßen unserer modernen Großstädte, auch in der Mammuthaftigkeit ihrer öffentlichen Bauten: der Koloß von Rhodos war 32, das Grabmal des Königs Mausolos zu Halikarnass 44, der achtstöckige Leuchtturm auf der Insel Pharos 160 Meter hoch, während sein modernes Analogon, die New Yorker Freiheitsstatue, mit dem Sockel nur 93 Meter mißt.
Auch in der Literatur kommt es zur Massenproduktion, aber bei den einzelnen Werken bevorzugt man in fast übertriebener Weise die geringen Dimensionen: »ein großes Buch, ein großes Übel« sagte Kallimachos, einer der namhaftesten alexandrinischen Dichter. Eine ausgesprochene l'art pour l'art-Kunst entsteht, die das Sensationelle und Raffinierte, das Esoterische und Komplizierte, das »Kuriöse« und künstlich Archaische bevorzugt und eine Art Rokoko des Gefühls zu Wort kommen läßt: die lyrische Dichtung schwärmt rousseauartig für Bukolik, die Malerei entdeckt die Landschaft, doch bleiben beide darin noch völlig antik, daß sie durchaus des modernen Subjektivismus entbehren, der die eigene Stimmung in die tote Natur einträgt, und daher noch nicht imstande sind, »Atmosphäre« zu schaffen. Hingegen herrscht bereits der ausgesprochenste Naturalismus. Auf dem Theater triumphiert Menander, der, in seinem Dialog ebenso elegant wie in seiner Toilette, den Typus des Sittenstücks geschaffen hat, jenes Gemisch aus Pikanterie und Sentimentalität, worin im vorigen Jahrhundert die Franzosen brillierten. Auch bei ihm steht zumeist die edle Hetäre im Mittelpunkt, und ein Goldregen von glitzernden Bonmots verhüllt die Leere der kalt konstruierten Handlung. Eine gewisse rhetorische Manier, die vor allem blenden will, bemächtigt sich nicht nur der Bühne, sondern auch der Geschichtschreibung und der bildenden Kunst und dringt sogar ins tägliche Leben. Die Architektur will in erster Linie repräsentieren, die Plastik ist genrehaft und höchst wirklichkeitstreu und glänzt durch virtuose Technik. Der sogenannte neuere attische Dithyrambus betritt schon den Weg der Programmusik, ebenso angefeindet wie in unseren Tagen. Es gibt bereits Varietékünstler und Herondas aus Kos schreibt seine »Mimiamben«, parodistische und realistische Kabarettszenen aus dem jonischen Volksleben. Die beliebteste literarische Form aber war die Diatribe, die ungefähr unserem Feuilleton entspricht.
Den höchsten Ruhm des hellenistischen Zeitalters bildet seine Wissenschaft. Die Konzeption des »szientifischen Menschen« stammt von Aristoteles, den sein Lehrer Plato, nicht ohne eine gewisse Geringschätzung, den »Leser« genannt hat. Wie in der Kunst der »Artist« und der »Kenner«, so taucht in der Literatur der »Gebildete« auf, der mit seinesgleichen eine Art Sekte bildet und eine Art Geheimsprache und Geheimwissen gemeinsam hat. Eine ganze Reihe von Disziplinen wurde in jener Zeit überhaupt erst geschaffen: Aristarch von Samothrake begründete die kritische Philologie, Dikaiarch aus Messene in seinem die Kulturgeschichte, Duris aus Samos die Kunstgeschichte, Polybios die pragmatische Geschichte, Theophrast die Physiologie der Pflanzen, Apollonios von Perge die Trigonometrie und die Lehre von den irrationalen Größen. Euklid schuf nicht nur in seinen »Elementen« das klassische Lehrbuch der Geometrie, sondern lieferte auch die erste systematische Darstellung der Optik als der Lehre von der Fortpflanzung des Lichts und der Katoptrik als der Lehre von der Zurückwerfung des Lichts, während Archimedes die Formeln für den Kreisumfang und den Kugelinhalt aufstellte, eine Theorie der Hebelwirkung gab, auf Grund deren er Flaschenzüge konstruierte, und das fundamentale archimedische Prinzip fand, das ihm die Berechnung des spezifischen Gewichts ermöglichte. Auch die Chirurgie, die Pharmakologie und die Anatomie, unterstützt durch Vivisektionen an Verbrechern, erhielten damals ihre wissenschaftliche Gestalt, zoologische Gärten, Antiquitätensammlungen, Enzyklopädien, riesige Bibliotheken wurden angelegt, kurz, damals hat jenes geheimnisvolle Etwas, das wir Bildung nennen, den Charakter von Elephantiasis bekommen, den es bis zum heutigen Tage besitzt. Es gab auch bereits ziemlich genaue Sternkarten und Berechnungen von Sonnen- und Mondfinsternissen, und um 250 lehrte Aristarch von Samos, die Erde drehe sich um ihre eigene Achse und um die Sonne, die sich unbeweglich im Mittelpunkt des Weltalls befinde. Ungefähr um dieselbe Zeit erklärte der Geograph Eratosthenes, dem die Kugelgestalt der Erde sehr wohl bekannt war, es sei möglich, von Iberien (Spanien) aus Indien zu erreichen. Die Entdeckung des Luftdrucks brachte Ktesibios auf den Gedanken, aus kleinen Geschützen durch komprimierte Luft Wurfgeschosse zu entsenden. Heron von Alexandrien erfand nicht nur einen Weihwasserautomaten, einen mechanischen Türöffner und einen Taxameterwagen, sondern auch Schraubenpressen, Schöpfwerke und Seilbahnen, bei denen der Dampfdruck die treibende Kraft bildete. Die antike Menschheit stand also damals dicht vor der Annahme des heliozentrischen Systems, der Entdeckung Amerikas und der Erfindung der Dampfmaschine.
Und noch etwas kam damals zur Welt: die Frauenemanzipation. Königinnen machten Geschichte, Philosophinnen und Romanschriftstellerinnen Literatur, und umgekehrt beginnen die Dichter für die Frauen zu schreiben. Die Frauenseele wurde entdeckt und mit ihr die sentimentale Liebe. Damals ist die »Dame« erfunden worden: sie beginnt sich frei zu bewegen, an allem Anteil zu nehmen, Sport zu treiben. Was »Koketterie«, »Galanterie« und »Mode« ist, hat erst jene Zeit erfahren; man küßt den Damen die Hand und denkt allen Ernstes daran, sich aus unglücklicher Liebe umzubringen. Und noch eine zweite Großmacht kam damals empor: das Papier. Man gewöhnt sich daran, alles schriftlich und möglichst umständlich schriftlich zu sagen. Ein gewisser femininer überzivilisierter Zug zeigt sich auch in der Bartlosigkeit, die damals allgemein wird. Einer der Seleukiden, der diese Mode nicht mitmachte, fiel dadurch bereits so auf, daß er den Beinamen , der Mann mit dem Bart, erhielt.
Man bezog die ausgesuchtesten kulinarischen und geistigen Leckerbissen aus allen Weltgegenden und verfiel durch die Überfülle und Überschmackhaftigkeit dieser Genüsse in Blasiertheit, Lebensmüdigkeit und Übersättigung. Über dieser feinnervigen, betriebsamen und allwissenden Menschheit brütete ein ungeheurer bleierner Nihilismus. »Wenn der Mensch keinen Schmerz und keine Freude mehr empfindet, wird der Winter der Seele gelöst«: in diesen Worten Epikurs war die Formel für die Stimmung der Zeit gefunden. Und die drei herrschenden philosophischen Systeme, so sehr sie sich untereinander bekämpften, mündeten alle in dieselbe, nur verschieden eingekleidete Pointe: die epikureische Anpreisung der Ataraxie, der Unerschütterlichkeit, das stoische Ideal der Apathie, der Fühllosigkeit, und die skeptische Forderung der , der Enthaltung vom Urteil, intendieren im Grunde das gleiche. Und so kam es zu dem grandiosen Schauspiel eines allgemeinen Weltekels, der die antike Kulturmenschheit wie eine Epidemie ergriff, bis eines Tages in einer fernen verachteten Provinz ein neuartiger Heros geboren wurde, nicht der Sohn Jupiters und nicht Jehovahs, sondern des wahren Gottes; der verstand von der Philosophie mehr als Plato und vom Erobern mehr als Alexander und erlöste diese Menschheit.
Nur weil die Alexandrinerzeit in ihrer ungeheuern Erwartung des neuen Gottes bereits eine Art Vorhalle des Christentums bildet, steht sie unserem Verständnis etwas näher; aber darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben die vorchristlichen Völker sind für uns in ihren letzten Seelengründen unverständlich. Herman Grimm sagt in seiner prachtvollen Goethebiographie: »Das Fremde im griechischen Wesen überwinden wir niemals. Es wird erzählt, daß als letztes Kennzeichen der übrigens völlig weiß gewordenen Negerabkömmlinge in Amerika, der Quarterons, der Mond am Fingernagel dunkel bleibt. So: wenn uns Homer und Plato, selbst Aristoteles und Thukydides noch so verwandt erscheinen: ein kleiner Mond im Nagel erinnert uns an etwas wie Ichor, das Blut der Götter, von dem ein letzter Tropfen in die Adern der Griechen mit hineingeflossen war.« Die Griechen sind für uns das exotische Volk par excellence. Daß wir auch heute noch über diese Tatsache nicht genügend im klaren sind, liegt an der gutmütig-linkischen Selbstgefälligkeit und Leichtgläubigkeit unseres Schulbetriebs, der seit Jahrhunderten in den Händen trostlos undifferenzierter und psychologisch extrem unbegabter Silbenzähler ruht. Immerhin muß ein grundstürzendes Werk wie Spenglers »Untergang des Abendlandes« über die hoffnungslose Kluft, die uns vom Altertum trennt, vielen die Augen geöffnet haben.
Wenn man versuchen will, sich von dieser prinzipiellen Verschiedenartigkeit der griechischen Kultur ein flüchtiges Bild zu machen, wird man, glauben wir, zunächst von ihrer eminenten Musikalität ausgehen müssen. Nicht die bildende Kunst stand im Mittelpunkt des hellenischen Lebens, sondern die Musik. Der Sänger galt als unmittelbar von Gott inspiriert, wie umgekehrt jedes Gebet ein Gesang war; sogar das Kriegswesen ruhte auf der Musik, die als das stärkste Mittel des taktischen Zusammenhalts angesehen wurde: der Pfeifer war die wichtigste Person sowohl beim InfanterieangrifF wie auf der Galeere. Die Hermen, die dem Wanderer den Weg angaben, trugen ihre Orientierungsdaten in Hexametern: wir würden in der Erneuerung dieser Sitte mit gutem Grund einen lästigen und lächerlichen Snobismus erblicken; aber der Grieche empfand eben selbst in Dingen der banalen Lebenspraxis metrisch. Die Musik besaß eine solche Macht über die griechische Seele, daß man sie zu therapeutischen Zwecken verwendete: Pythagoras heilte Kranke durch Gesang und Plutarch erzählt von einem leidenden Mädchen aus Argos, das vom Orakel ein Mittel zur Genesung erfragte und den Bescheid erhielt, sie möge sich dem Dienst der Musen weihen: sie folgte dem Rat und kam so zu Kräften, daß sie eine Art peloponnesische Jeanne d'Arc wurde, die an der Spitze eines weiblichen Korps einen Einfall der Spartaner zurückschlug. Man glaubte, daß die Töne selbst über die Verstorbenen noch Gewalt hätten: auf den Salbgefäßen, die ins Grab mitgegeben wurden, suchten die Hinterbliebenen den Schatten des Toten durch Flötenspiel zu erfreuen. Im Leben aber hatte die Musik für die Psyche dieselbe pädagogische Bedeutung wie die Gymnastik für den Körper, die im Grunde ja auch nur eine Art rhythmische Schulung des Leibes ist; der Grieche war aufs tiefste überzeugt, nur eine musikalische Seele könne gesund, stark, weise und schön sein. Plato sagt in seiner Schrift über den Staat, daß Häßlichkeit und schlechte Sitte mit Mangel an Rhythmus und Harmonie verwandt seien. Der körperlich und sittlich schöne Mensch, in dem das Ideal der Kalokagathie verwirklicht ist, der wohlgeordnete Staat, der ganze Kosmos wurde unter dem Bilde der Symphonie vorgestellt. Nomos heißt sowohl Gesetz wie Melodie; jede Polis war zumindest gedacht als ein Stück Kammermusik. Musikalische Neuerer wurden als politische Revolutionäre angesehen. Die Gliederung des Tempels und aller seiner Teile: der Säule, des Architravs, des Dachs ist streng rhythmisch, die Giebelfelder sind metrisch-symmetrisch gebaut wie Verse, die sich heben und senken, dieselbe musikalische Geometrie herrscht im Bau der Tragödie, in ihrer gleichmäßig emporstrebenden und herabfallenden Handlung und ihren genau korrespondierenden Wechselreden, und auch die Gemälde waren aller Wahrscheinlichkeit nach auf- und absteigend um einen Mittelpunkt komponiert. Man darf auch nicht vergessen, daß alle Dichter in erster Linie Komponisten waren. Lied war wirklich Lied. Tyrtäos und Pindar, Alkäos und Sappho haben gesungen. Ein neuer Lyriker war vor allem der Erfinder eines neuen Tonfalls, das Wort im buchstäblichen Sinne genommen. Auch die Epen wurden ursprünglich gesungen, später zumindest melodramisch rezitiert. Selbst die Rhetoren haben in einer Weise, die uns aufs höchste befremdet hätte, psalmodiert, etwa in der Art des Sekkorezitativs, und zwar noch zur Römerzeit. Die drei großen Tragiker waren vor allem als Tondichter berühmt und Euripides hat, als kühner Umgestalter des Musikdramas ebenso leidenschaftlich angefeindet wie begeistert gepriesen und kopiert, eine ähnliche Rolle gespielt wie Richard Wagner. Die Tragödie war eine Art »Gesamtkunstwerk« aus Bühnenbild, Text, Mimik, Gesang und Tanz, zusammengehalten durch die Musik, wobei wir jedoch nicht wie bei der modernen Oper an ein übermächtiges Riesenorchester zu denken haben, sondern an eine Art inneren Rhythmus, da die Instrumentation für unsere Begriffe sehr einfach und fast dürftig war. Die griechische Tonkunst kannte keine Streichinstrumente, die Trompete nur für Signalzwecke und war überhaupt im wesentlichen bloße Vokalmusik, indem sie die Instrumente fast nur zur Begleitung und nur selten und in sehr bescheidenem Ausmaß zum Solospiel verwendete: das ganze Tragödienorchester bestand aus einem Kitharisten und einem oder zwei Flötenspielern. Vor allem aber verwarf sie die Mehrstimmigkeit: der Chor sang immer nur unisono. Der Vortrag der Solisten bewegte sich zwischen Rhapsodien, Wechselgesängen mit dem Chor, Duetten und monologischen Arien. Erst in der hellenistischen Zeit, in der auf allen Gebieten ein neuer, ungriechischer Geist zur Herrschaft gelangt, singen die Schauspieler nicht mehr und der Chor wird in den Zwischenakt verwiesen, wohin er in diesem Falle gehört; ihn als »Sprechchor« unisono reden zu lassen, wie es von Schiller in der »Braut von Messina« und bis zum heutigen Tage immer wieder gelegentlich versucht wurde, ist ein künstlerischer und psychologischer Nonsens. Die Musik läßt sich eben, wie gesagt, von den poetischen Werken der Griechen ebensowenig ablösen wie die Farbe von ihren architektonischen und plastischen Werken; tut man es dennoch, so gelangt man zu der Monstrosität, das gesprochene Libretto zum dramatischen Ideal zu erheben.
Eine eminente, ja einzigartige Musikalität äußert sich auch in der griechischen Sprache: in ihrer Lebendigkeit und Feinheit, Modulationskraft und Melodik, Farbigkeit und Fülle, Wucht und Biegsamkeit und nicht zuletzt (was man in gewissem Sinne auch als ein musikalisches Element ansehen kann, da die Welt der Töne jedermann unmittelbar verständlich ist) in ihrer edeln Popularität. Das Griechische, obgleich es zuerst die höchsten wissenschaftlichen und philosophischen Probleme erörtert hat, besitzt fast gar keine Fremdwörter, und zugleich verfügt es über die unbegreifliche Fähigkeit, das Abstrakteste noch immer plastisch, die reinsten Begriffe in sinnlicher Faßbarkeit auszudrücken, sich im vollsten platonischen Sinne des Wortes in geschauten Ideen zu bewegen. Dazu kommt sein ungeheurer Reichtum an Formen, von denen nicht wenige nur ihm eigentümlich sind, wie der Optativ, der Aorist, das doppelte Verbaladjektiv, das Medium, der Dual: besonders die beiden letzteren sind von bewundernswerter Subtilität; denn was man für sich tut, ist sowohl von dem, was man für andere tut, wie von dem, was andere mit einem tun, sehr wesentlich verschieden, und was man zu zweit tut, trägt einen entschieden anderen Charakter als das, was man mit mehreren oder allein tut: für diese Bildung, die durch alle Tempora und Modi hindurchgeht, dürfte vielleicht die große Rolle bestimmend gewesen sein, die die Erotik im griechischen Leben gespielt hat. Ferner wird der Rede durch die ebenfalls nirgends so zahlreichen Partikeln gleichzeitig Zusammenhang und Nüancierung, Bestimmtheit und Stimmung und außerdem ein undefinierbares Element von spielerischer schwebender Ironie verliehen. Freilich sind diese zarten Tinktionen des Ausdrucks meist gar nicht oder doch nur durch schärfstes Nachdenken und empfindlichstes Sprachgefühl zu übersetzen, und die landläufigen Philologenverdeutschungen, die sich damit begnügen, alle Satzteile einfach wörtlich und noch dazu möglichst plump und altfränkisch wiederzugeben, in Satzungetümen wie etwa: »Fürwahr, du zwar magst füglich hierin jetzt ja wohl in etwas recht haben«, treffen nicht ganz das Richtige.
Daß die Griechen überhaupt die Sprache als ein musikalisches Phänomen ansahen, zeigte sich in ihrer ungeheuern Empfindlichkeit gegen falsche Aussprache, Betonung oder Wortstellung, die in zahlreichen Anekdoten überliefert ist und nur in der Feinhörigkeit des italienischen Publikums für Gesangsfehler ihr Analogon findet. Und dies war überhaupt das Geheimnis des griechischen »Stils«: sie waren ganz einfach durch jahrhundertelanges organisiertes Hören und Sehen zur höchsten Empfänglichkeit und Unterscheidungsfähigkeit geschult.
Wir erwähnten soeben die zentrale Rolle, die die Erotik im griechischen Dasein gespielt hat. Wir dürfen aber dabei keineswegs an die Formen der modernen oder der mittelalterlichen Liebesempfindung denken. Denn es bestanden zwei kardinale Unterschiede. Der erste war der Mangel an Sentimentalität; ob freilich dieses Unsentimentale dem Naiven gleichzusetzen sei, läßt sich bezweifeln. Freud sagt in seiner Abhandlung über die »sexuellen Abirrungen«: »Der eingreifendste Unterschied zwischen dem Liebesleben der alten Welt und dem unserigen liegt wohl darin, daß die Antike den Akzent auf den Trieb selbst, wir aber auf dessen Objekt legen. Die Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein minderwertiges Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetätigung an sich geringschätzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts entschuldigen lassen.« Dies ist auch der Grund, warum es im Altertum »unglückliche Liebe« nur als pathologisches Phänomen geben konnte (die Griechen betrachteten die seltenen Fälle, in denen sie vorkam, so wie wir eine Infektionskrankheit), da diese sich notwendig auf ein bestimmtes Objekt beziehen muß, während der »Trieb« sich nie versagt und nie enttäuscht, so daß die beiden Hauptquellen, aus denen der Komplex »unglückliche Liebe« gespeist wird, nicht vorhanden waren.
Noch viel wichtiger aber ist die Tatsache, daß die Erotik der Griechen sich fast ausschließlich auf dem Gebiet der Homosexualität bewegt hat. Hierfür hat man mit Vorliebe ihre sehr edle, aber zweifellos bis zur Manie getriebene Pflege des Leibes durch stete Turnübungen, Ritte, Ringkämpfe, Wettläufe, Wurfspiele verantwortlich gemacht. Auch ihre starke Beeinflussung durch den Orient dürfte ins Gewicht fallen. Jedenfalls hat die Päderastie bei ihnen eine beispiellose Extensität und Intensität erreicht. Bei den Dorern: in Sparta und Kreta bildete sie geradezu einen Bestandteil der öffentlichen Erziehung; in Athen wurde sie mit der Strafe der Atimie, der Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte, nur dann belegt, wenn es sich um Notzucht oder Kinderschändung handelte, also in jenen Fällen, wo auch die normale Geschlechtsbetätigung verpönt ist; auch gab es dort öffentliche, und zwar besteuerte männliche Prostituierte. Seit der Ermordung des athenischen Tyrannen Hipparch durch die beiden Jünglinge Harmodios und Aristogeiton, die in einem Liebesverhältnis standen, bekam sie einen geradezu heroischen Glanz; poesieumflossen sah man auch das Verhältnis Alexanders zu seinem früh dahingerafften Liebling Hephästion. An den Diadochenhöfen wurde sie nicht gern gesehen, aber nicht aus moralischen Gründen, sondern weil man hinter Männerbünden immer Verschwörungen argwöhnte. In den Schlachten hatten die Liebespaare den höchsten Gefechtswert: sie bildeten sozusagen die kleinste taktische Einheit; die berühmte »heilige Schar« von Theben, die für die beste griechische Truppe galt, bestand aus lauter Homosexuellen. Nicht nur fast alle prominenten Griechen von Solon bis Alkibiades waren Päderasten, sondern auch viele Götter und Heroen, wie Apollon und Poseidon, Herakles und Ganymed, wurden dafür angesehen. Am entscheidendsten aber ist die Tatsache, daß die hellenische Kunst und Philosophie ihre wunderbaren Kreise so oft um dieses Phänomen ziehen läßt. »Man muß zur rechten Zeit von der Liebe pflücken«, singt Pindar als resignierender Alter, »in der Jugend! Aber wer des Theoxenos strahlende Augen gesehen und nicht aufwogt in Sehnsucht, dem ist an kalter Flamme aus Stahl und Eisen geschmiedet sein schwarzes Herz, Aphrodite aber verachtet ihn! Oder er müht sich mit aller Macht um Geld oder, der Gier nach dem Weibe sein Herz opfernd, schwankt er haltlos umher ( ). Ich aber schmelze um der Göttin willen ( ) dahin wie Wachs der heiligen Bienen unter dem Biß der Hitze, wenn ich auf des Knaben jugendschöne Glieder blicke.« Man beachte, daß hier die Weiberliebe mit der (für den Griechen und zumal den aristokratischen Altthebaner besonders verächtlichen) Geldgier auf eine Stufe gestellt wird und Aphrodite als die Göttin der Knabenliebe gilt! Das weibliche Gegenstück aber zu Pindar ist Sappho. Auch sie betet zu Aphrodite um Beistand im Gram ihrer uneingestandenen Liebe zum Mädchen und schildert der Geliebten die kühle Leidenschaftslosigkeit des Mannes, wenn er die süße Stimme und das liebliche Lachen der Braut hört, im Kontrast zu ihrer eigenen Ergriffenheit: »Das Herz schlägt, die Stimme versagt, Feuer läuft unter der Haut hin, die Augen sehen nicht, die Ohren sausen, Schweiß rinnt herab, Zittern befällt mich und fahl wie welkes Gras gleiche ich einer Toten.« Auch die berühmte »platonische Liebe« ist zwar eine übersinnliche, sublimierte, wie der Sprachgebrauch richtig annimmt, aber eine ausschließlich homosexuelle. »Es gibt zwei Göttinnen der Liebe«, sagt Pausanias im »Symposion«, »und darum auch zwei Formen des Eros. Der Eros der irdischen Aphrodite ist irdisch und überall und gemein und zufällig. Und alles Gemeine bekennt sich zu ihm ... An der Zeugung und Geburt der irdischen Aphrodite hatten beide Geschlechter, der Mann und das Weib, Anteil. Die hohe Liebe stammt von der himmlischen Aphrodite, und die himmlische Aphrodite ist eine freie Schöpfung des Mannes. Und darum streben alle Jünglinge und Männer, die diese Liebe begeistert, voll Sehnsucht zum Männlichen, zum eigenen Geschlechte hin: sie lieben die stärkere Natur und den höheren Sinn.« Die Stoiker zählten unter die zahlreichen Adiaphora, die Gleichgültigkeiten des Daseins, auch den Unterschied des Geschlechts. Dies war aber eigentlich noch zu wenig gesagt: er war kein Adiaphoron, vielmehr für den Griechen das eigene Geschlecht viel bedeutsamer als das weibliche. Die Erotik mit allen ihren Begleiterscheinungen: der Ekstase, der Eifersucht, der Hörigkeit, der Verklärung des geliebten Gegenstandes hat er nur unter der Form der Knabenliebe gekannt. Die Gattin hingegen ist nichts als Gebärerin oder Mitgiftbringerin, die Hetäre bloßer Sexualgegenstand. Erst Euripides entdeckt die Frau als psychologisches Problem, aber auch er schildert sie fast immer nur als das Subjekt, nicht das Objekt der Liebesleidenschaft. Wer sich aber in ein Weib unter ähnlichen Symptomen verliebte wie in einen Geschlechtsgenossen, galt selbst noch in der alexandrinischen Zeit, die, wie wir hörten, das Geschlechtsleben bereits mit ganz anderen Augen ansah, für einen , einen von der Gottheit zu seinem Unheil verblendeten Liebhaber.
Wird nun schon diese im griechischen Wesen tief verwurzelte Perversion von den meisten modernen Kritikern als »Laster« angesehen, so kann es vollends keinem Zweifel unterliegen, daß der hellenische Volkscharakter auch sonst eine wahre Musterkarte fast aller übeln und in unserem Sinne unmoralischen Eigenschaften darstellte. Am korrektesten wäre es vielleicht, von einer konstitutionellen Amoralität der Griechen zu reden. »Die Frömmigkeit«, sagt Oedipus bei Sophokles zu Theseus, »habe ich auf der Welt nirgends wie bei euch gefunden und die milde Denkart und das Meiden der Lüge«; ob damit nur alte Zustände gemeint sein sollen oder die Gegenwart: jedenfalls enthalten diese Worte eine vollendete Anticharakteristik der Athener und der Griechen überhaupt und zugleich eine unfreiwillige Selbstcharakteristik, indem sie zeigen, wie sehr es ihnen an Erkenntnis des eigenen Wesens und Unwesens gefehlt hat. Im ganzen Altertum, das in diesen Dingen nicht sehr rigoros war, war ihre Streitsucht und Schmähsucht, Habgier und Bestechlichkeit, Eitelkeit und Ruhmredigkeit, Faulheit und Leichtfertigkeit, Rachsucht und Perfidie, Scheelsucht und Schadenfreude berüchtigt und sprichwörtlich. Besonders stark entwickelt aber war ihre Lügenhaftigkeit und ihre Grausamkeit. »Ich fürchte mich nicht vor Menschen«, sagte schon Cyrus der Ältere über die Griechen der guten alten Zeit, »die in der Mitte ihrer Städte einen Platz haben, wo sie zusammenkommen, um einander mit falschen Eiden zu betrügen.« Plato klagt, daß bei jedem Prozeß mindestens ein Meineid geleistet werde, da beide Parteien bereit seien zu schwören, und selbst Zeus, der erhabenste der Götter, schwört zahlreiche Meineide. Eine griechische Humanität hat es niemals gegeben: ihre ersten schwachen Regungen bezeichnen die Auflösung des Hellenentums, und es ist eine pikante Ironie der Kulturgeschichte, daß die ersten Modernen, die wieder bewußt auf die Antike zurückgriffen, sich Humanisten nannten und man noch bis zum heutigen Tage die Studien, die sich mit dem Altertum befassen, humaniora, die menschlicheren nennt. In Wahrheit aber herrschten in Griechenland Sitten von so teuflischer Unmenschlichkeit, daß sie sogar nicht selten den Abscheu der Barbarenvölker erregten: man denke bloß an das Schicksal eroberter Städte, und zwar auch rein griechischer, das in der Regel darin bestand, daß die ganzen Ländereien in der bestialischsten Weise verwüstet, alle Häuser niedergebrannt, die Männer getötet, die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft oder auch der gesamten Einwohnerschaft die Hände abgehauen wurden; an die Behandlung der Sklaven, die oft lebenslänglich angekettet in Steinbrüchen und Bergwerken arbeiten mußten und als Zeugen vor Gericht gefoltert wurden, wozu jeder Besitzer sie anbieten konnte; an die spartanischen Bartholomäusnächte, die berüchtigte Krypteia, die in einer regelmäßig wiederkehrenden Ausmordung eines Teils der unterworfenen Urbevölkerung bestand. Für die moral insanity des Hellenen ist es bezeichnend, daß er kein besonderes Wort für das sittlich Verwerfliche besitzt, denn bedeutet sowohl das Böse wie das Übel, sowohl pravus wie miser und sowohl den Lasterhaften wie den Unglücklichen. Er unterschied nicht zwischen einem, der schlecht ist, und einem, dem es schlecht geht, sondern rechnete ethische Verfehlungen ganz einfach unter die übrigen zahlreichen Kalamitäten des Lebens. Auch der Frevel ist bloße Schickung, Heimarmene: der Götter in ihrer launischen Parteilichkeit und neidischen Ranküne; der ehernen Ananke, die blind waltet; der teilnahmslosen Moira, die längst alles vorherbestimmt hat; des Alastor, des Sühnegeistes, der die Taten der Ahnen rächt, oder irgendeines unbekannten Agos, einer Schuld, die Fluch im Gefolge hat; in der höchsten Auffassung Wirkung des gegebenen Charakters, der so sein muß, oder der übermächtigen Leidenschaft, die ein Unglück ist wie jede andere Krankheit. Die Göttin des hellenistischen Menschen aber ist Tyche, die wahllos die Chancen verteilt, die fortune des Spielers, der Zufall.
Nietzsche hat die Griechen »die Staatsnarren der alten Geschichte« genannt. Und in der Tat ist fast jede mögliche Form der menschlichen Gemeinschaft, bis zur äußersten »Folgerichtigkeit« karikiert, von diesen Staatsnarren durchlebt und damit widerlegt worden. Zuerst die Aristokratie: bei Homer gibt es nur »Edle«, das Volk ist nichts als stumme Staffage und leerer Hintergrund; dann die Tyrannis, ein l'état cest moi-Absolutismus, der nicht wie der bourbonische als letzte Schranken der Omnipotenz eine allgegenwärtige Etikette und einen unüberwindlichen Klerus zu respektieren hatte; in Sparta der militaristische Kommunismus mit streng uniformer Lebensweise, rationierten Mahlzeiten, exklusiver Verstaatlichung der Erziehung, völliger Gleichstellung der Frau, Verbot des Alkohols und der Ausreise, eisernem »Notgeld« und Bedrohung des Silberbesitzes mit Todesstrafe; und schließlich die extreme Demokratie, die keinen Parlamentarismus, kein noch so gleiches und noch so allgemeines Wahlrecht kennt, sondern nur lärmende Massenabstimmungen der ganzen Bevölkerung, nicht bloß über die Gesetze, sondern auch über deren jeweilige Ausführung, die das Geschworenengericht, zumindest in der Theorie, aus der gesamten Volksversammlung bestehen läßt, die Beamten durchs Los bestimmt und die Kriegführung zehn jährlich gewählten, täglich im Oberkommando abwechselnden Strategen überläßt! Man kann sich denken, wie es in diesem irrsinnig gewordenen Bienenstock von Polis zugegangen sein muß, der von allem Anfang an und in steigendem Maße ein bloßer Vorwand für alle Arten von Klassenjustiz, Minoritätenvergewaltigung, Parteischiebungen und »patriotischen« Erpressungen war. Der Denkfehler aller Demokratien, den schon Herodot klar erkannte, als er sagte, in ihnen werde die Mehrheit für das Ganze gehalten, hatte sich in Griechenland zu einer alles zerfressenden nationalen Wahnidee gesteigert. Die Entwicklung ist in dem Bedeutungswandel des Wortes Demagog charakterisiert, der im Sprachbewußtsein aus einem Volksführer den mit allen Mitteln niedrigster Pöbelbeeinflussung arbeitenden Volksverführer gemacht hat. Da dem Griechen die Wahrheitsliebe, die wir doch wenigstens als ideales Postulat anerkennen, ebenso fehlte wie das moderne Ehrgefühl und es daher Begriffe wie »Ehrenbeleidigung« und »Wahrheitsbeweis« überhaupt nicht gab, war ein Mensch, der die Unvorsichtigkeit beging, öffentlich aufzutreten oder sich sonstwie bemerkbar zu machen, schon einfach durch diese Tatsache, einerlei ob er Gutes oder Zweifelhaftes wirkte, das natürliche und selbstverständliche Opfer der infamsten Beschimpfungen, Indiskretionen, Verleumdungen, zudem jeglicher Art privater und offizieller Schikane ausgesetzt und vor allem der raffinierten Beschmutzungstechnik der Komödie wehrlos preisgegeben, neben der unsere heutigen Pamphletschreiber, Revolverjournalisten und Schlüsseldichter völlig harmlos erscheinen. Der Ostrakismos, der jeden beliebigen Bürger durch Plebiszit verbannen konnte, war ausdrücklich nicht bloß gegen Staatsverbrecher und Gottesleugner (an sich schon zwei sehr dehnbare Begriffe), sondern ganz allgemein gegen »Hervorragende« gerichtet. Er hat denn auch eine sehr große Anzahl prominenter Griechen getroffen oder zur präventiven Flucht gezwungen, ob es nun siegreiche Lebensmenschen waren wie Alkibiades oder fruchtreiche Buchmenschen wie Aristoteles, glänzende Modedenker wie Protagoras oder stille Forschergrößen wie Anaxagoras. Goethe sagt einmal: »Nichts hat die Menschheit nötiger als Tüchtigkeit, und nichts vermag sie weniger zu ertragen.« Die Griechen, die in ihrer Kunst ein für allemal den Kanon des menschlichen Körpers aufgestellt haben, sind auch in dieser Frage des Kanons der menschlichen Seele vorbildlich gewesen. Sie haben auch diese Elementartatsache der menschlichen Natur klassisch ausgedrückt, die Stellung, die die Menschen zu jeder geistigen Überlegenheit einnehmen: »Wir brauchen dich, Genie, aber du bist uns lästig. Wir möchten deine Bildsäulen um keinen Preis entbehren, Phidias, aber eigentlich ist es eine Frechheit von dir, ein so großer Künstler zu sein, und von dir, Themistokles, ein so großer Feldherr zu sein, und von dir, Aristides, so gerecht zu sein, und von dir, Sokrates, so weise zu sein, denn das alles sind wir nicht, und wir, das Volk, die Masse, der Durchschnitt, die Gewöhnlichen sind doch eigentlich diejenigen, auf die es ankommt. Jede eurer Taten ist für uns eine Beleidigung, denn jede beweist uns aufs neue, daß in euch mehr Schönheit, Edelmut und Verstand ist als in uns allen zusammengenommen. Wir wissen recht wohl, daß wir ohne euch nicht auskommen könnten, aber das hindert uns nicht, daß wir in euch nichts anderes erblicken als ein notwendiges Übel, das wir nur genau so lange ertragen werden, als wir es ertragen müssen.« So dachten die Griechen, und so haben, wenn auch weniger klar und plastisch, alle Zeiten und alle Völker gedacht, insonderheit aber alle Demokratien.
Das Leben im griechischen Staat muß für moderne Begriffe schlechtweg unerträglich gewesen sein; der Terror unter den Jakobinern oder im heutigen Rußland kann nur eine sehr abgeschwächte Vorstellung davon geben. Zunächst muß man bedenken, daß die Möglichkeit, durch Raub, Kriegsunglück oder Verschuldung Sklave zu werden, für jedermann bestand, wie es ja auch zwei so exzeptionellen Menschen wie Plato und Diogenes tatsächlich passiert ist. Aber auch der Freie war nichts weniger als frei, sondern befand sich unter der latenten Bedrohung eines launischen Pöbels und eines gierigen Sykophantentums sozusagen in einem andauernden Zustand der »Bewährungsfrist«. Was das Geistesleben anlangt, so gab es zwar keine staatliche Zensur, was vor allem den Niederträchtigkeiten der Komödie zugute kam, wohl aber eine unterirdische, die viel drückender und lähmender war: die Tradition, die sowohl dem Dichter wie dem bildenden Künstler in der Wahl der Formen und Stoffe die lästigsten Hemmungen auferlegte. Über dem Philosophen und Forscher aber schwebte die stete Gefahr der Anklage wegen Gottlosigkeit. Die drei bedeutendsten Denker des perikleischen Zeitalters, Sokrates, Protagoras und Anaxagoras, sind solchen Asebieprozessen zum Opfer gefallen, letzterer, weil er gelehrt hatte, die Sonne sei ein glühender Stein. Ein Berufspriestertum, das die Verfolgung derartiger Ketzereien zu seiner Lebensaufgabe gemacht hätte, bestand allerdings nicht, war aber auch nicht notwendig, weil ja der Staat, als eine durch und durch religiöse Institution, diese Funktion ausübte. Weshalb das Gerühme liberaler Historiker, daß die glücklichen Griechen keine Staatskirche gehabt hätten, sehr deplaciert ist: ihre Kirche, und zwar eine der abergläubischsten, unduldsamsten und herrschsüchtigsten, war ja der Staat; und übrigens besaßen sie im delphischen Orakel eine Einrichtung, die der Kirche sehr nahe kam.
Ja sie haben sogar, freilich nur als anonyme Neben- und Unterströmung, eine Theologie besessen: die orphische, dionysische oder chthonische Religion, die lange Zeit nicht genügend beachtet worden ist, weil sie eben nicht orthodox war; sie muß, obschon ganz anders geartet, als eine der tiefsten Lebensäußerungen der griechischen Seele eine ähnliche Rolle gespielt haben wie die Mystik im Katholizismus, der Pietismus im Luthertum, die Prophetenreligion im israelitischen Glauben. Um 600 kam der thrakische Bakchos als »fremder Gott«, , zu den Griechen, die ihn Dionysos nannten; um 550 entstanden die orphischen Sekten, die sich von dem thrakischen Sänger Orpheus herleiteten; um 500 verkündete Pythagoras die orphische Weisheit, die über Heraklit und Empedokles bis zu Platon und Plotin das gesamte griechische Denken wie ein dunkler Schatten begleitet hat. Allen diesen Lehren ist ein asketischer und spiritualistischer Zug gemeinsam: der Gedanke, daß der Körper das Grab der Seele, die Erde nur die Vorbereitung auf ein höheres Leben sei und der Mensch durch »Vergottung«, die mystische Vereinigung mit der Gottheit, erlöst werden könne. Nur entfernt verwandt mit diesen Richtungen waren die eleusinischen Mysterien, die ihren Adepten bedeutend kompaktere Vorteile in Aussicht stellten: nämlich im Leben Reichtum und im Tode Befreiung vom Hades, der den Griechen, die an ihn glaubten und nicht glaubten wie an alles, was ihre Religion lehrte, besonders unangenehm war wegen seiner Finsternis und Stille und ja auch in der Tat zu ihrem irdischen Dasein in prallem Sonnenlicht und exzessivem Skandal einen sehr betrüblichen Kontrast bildete.
In der orphischen Bewegung zeigen sich gewisse Ansätze zu einer echten Religiosität, obgleich ihre esoterische Lehre sicher nur auf eine kleine Elite beschränkt war. Was aber die olympische Religion anlangt, so war sie nichts als oberflächliches Fabulieren, leeres kultisches Zeremoniell, kindische Dämonen- und Gespensterfurcht und überhaupt au fond atheistisch. Es ist unbegreiflich, wie man den Griechen so oft und emphatisch eine besondere »Frömmigkeit« nachrühmen konnte. Allerdings ruhte das ganze Leben auf einer religiösen Basis, aber einer sehr dünnen und schwankenden. Die Verwaltung, die Justiz, der Krieg, der Handel, sogar die Erotik und die Geselligkeit, der Sport und das Theater: alles stand unter der Patronanz der Götter und hatte die Form einer Art permanenten Liturgie. Aber eben dies machte den Glauben bereits zu etwas Unernstem, Weltlichen und Irreligiösen. Und dazu kam, daß man an die eigenen Karikaturen von Göttern, die alle schon von Anfang an von Offenbach waren, gar nicht recht glaubte. Man hatte sehr deutlich das Gefühl, daß man sie selber erfunden hatte. Der berühmte Ausspruch Herodots, daß Homer und Hesiod den Griechen »erst gestern oder vorgestern« ihre Theogonie geschaffen und den Göttern »ihre Namen, Ämter und Würden so gut wie ihre Gestalt« verliehen hätten, ist in unserem Sinne atheistisch. Die Pythagoräer hingegen lehrten, Homer müsse in der Unterwelt büßen für die leichtfertigen Fabeln, die er verbreitet habe. Heraklit sagte von seinen Landsleuten: »sie beten zu Bildern, als ob jemand mit Häusern reden könnte.« Der Philosoph Xenophanes dichtete die Verse: »Wenn die Rinder und Löwen wie Menschen Hände besäßen malen könnten und Statuen bilden, so würden die Tiere Götter nach ihrem Bilde schaffen, die Götter der Pferde wären wie Pferde, die Götter der Ochsen wie Ochsen.« Dies sind drei Stimmen aus dem griechischen »Mittelalter«; seit Perikles aber wurde der Hohn auf die Götter oder der Zweifel an ihrem Dasein geradezu zur geistigen Mode. Protagoras stellte an die Spitze seiner Schrift » « den Satz: »Von den Göttern vermag ich nicht zu erforschen, ob sie sind oder ob sie nicht sind.« Als man Diogenes fragte, was im Himmel vorgehe, antwortete er: »ich war nicht oben.« Epikur tat über die Götter den vielkolportierten Ausspruch: »sie kümmern sich nicht um die Menschen, sonst wären sie nicht selig«; er leugnete jedoch, wie man schon aus dieser Bemerkung ersieht, ihre Existenz nicht und opferte ihnen sogar in den hergebrachten Formen, was um so merkwürdiger ist, als er einer der markantesten Vertreter des antiken Materialismus war. Eine ähnliche Auffassung vertrat die platonische Schule der sogenannten »neueren Akademie«: es sei ebensogut möglich, daß Götter seien als daß sie nicht seien, man solle daher beim Herkommen verharren und sie weiter verehren. Und dies war denn auch der spezifisch griechische Standpunkt der Gebildeten und eigentlich auch des Volks: weder ihr Dasein noch ihre Wirksamkeit ist erwiesen, aber »man kann nicht wissen«; es war ungefähr dieselbe Position, die heutzutage vielfach gegenüber den spiritistischen Phänomenen eingenommen wird. In der hellenistischen Zeit jedoch nahm der theologische Rationalismus zum Teil bereits Formen an, wie sie erst das neunzehnte Jahrhundert wieder zutage gefördert hat. Der David Friedrich Strauß des Altertums war Euhemeros, der lehrte, die Olympier seien verdiente Menschen der Urzeit gewesen, die man später vergöttlicht habe; und die Stoiker erklärten die gesamten Vorstellungen der Mythologie als Allegorisierungen von Naturkräften. Nur die Kehrseite des Euhemerismus war es, daß die Diadochen damit begannen, sich selber als Götter zu proklamieren; bereits Demetrios dem Städtebezwinger sangen die Athener ein Festlied, bei dem man nicht recht weiß, ob es ein Produkt des raffinierten Byzantinismus oder des naiven Zynismus ist: »Wie schön, daß die größten und liebsten Götter in der Stadt weilen! Jetzt bringt uns das Fest zugleich die Demeter und den Demetrios: sie kommt, um zu begehen die erhabenen Mysterien der Kore, und er ist da, fröhlich und schön und lachend, wie es dem Gotte geziemt! Heil dir, Sohn des gewaltigen Poseidon und der Aphrodite! Denn die übrigen Götter sind entweder weit fort oder haben keine Ohren oder sind nicht vorhanden oder kümmern sich keinen Pfifferling um uns, dich aber sehen wir, nicht von Holz oder Stein, sondern wirklich und bringen dir Verehrung!«
Die Kritik der Dichter beschränkte sich zumeist auf den Vorwurf an die Götter, daß sie den ungerechten Weltlauf untätig mitansähen. Schon um die Mitte des sechsten Jahrhunderts fragt Theognis: »Wer wird noch Achtung vor den Göttern haben, wenn er sieht, wie der Frevler sich im Reichtum mästet, indes der Gerechte darbt und verdirbt?« Auch bei Aischylos, der noch von echtem Glauben erfüllt war, sagt Prometheus dem allmächtigen Zeus, der ihm ein ungerechter Tyrann ist, die furchtbarsten Dinge. Und warum muß der Titane so schrecklich leiden? Nur weil er »die Menschen allzusehr geliebt«. Was in dieser Tragödie zur erschütterndsten Darstellung gelangt, ist, bei aller konservativen Grundgesinnung, doch der Neid der Götter, der die Menschen gar nicht glücklich haben will. Noch deutlicher wird Sophokles, wenn er im »Ödipus« den Chor singen läßt: »Wie soll der Mensch in solcher Zeit die eigne Brust vor Frevelmut bewahren? Wenn solches Handeln Ehre bringt, was tanzen wir noch vor den Göttern?« Euripides aber ist bereits Sophist. Für ihn ist das Schicksal weder der Zorn noch die Liebe der Götter, weder Moira noch Familiendämon, sondern der Mensch selbst. Wollte man seine Weltanschauung in einen einzigen Satz zusammenfassen, so könnte man dafür den lapidaren Ausspruch wählen, der seinem Zeitgenossen Hippokrates, dem größten Arzt des Altertums, zugeschrieben wird: »Alles ist göttlich und alles ist menschlich.« Und im übrigen ist seine Ansicht: »Wenn Götter Sünde tun, so sind die Götter nicht.« Indem er aber auf die vom Menschen geschaffene und beherrschte Welt blickt, erfaßt ihn eine tiefe Resignation: »Wie es kommt, gleichen Sinns, nehm' ich die Gaben des Heute, nehm' ich die Gaben des Morgen hin. Glauben und Hoffen ist tot und verdüstert ist mir die Seele.«
Dies führt uns zur Frage des griechischen »Pessimismus«. Es finden sich im hellenischen Volkscharakter zwei scheinbar ganz disparate Elemente: das eine ist eine »Heiterkeit«, spielerische Leichtfertigkeit und sinnentrunkene Diesseitigkeit, die bereits den Völkern des Altertums auffiel (sie findet schon in der Grußform »chaire«, freue dich, ihren Ausdruck, während dem Römer, der »vale« und »salve« sagte, offenbar Stärke und Gesundheit das Wichtigste waren); das andere ist eine herbe Melancholie und Skepsis, die sich nicht bloß dialektisch und poetisch äußerte, sondern von ihnen gelebt wurde, indem sie ihr ganzes Dasein wie eine zarte Farbe oder Essenz imprägnierte. Beides hatte seine Wurzel in ihrem resoluten Wirklichkeitssinn. Sie lebten fast ganz in dieser Welt (das Jenseits ist für sie ein verschwommenes und im Grunde unwirkliches Schattenreich, und die orphische Predigt von der Fleischabtötung und Seelenwanderung wirkt innerhalb der griechischen Gesamtkultur mehr wie eine artfremde Pikanterie) und daher genossen sie mit vollen Zügen die gegebene Realität; aber als scharfe praktische Beobachter durchschauten sie auch die Leiden und Unvollkommenheiten des Daseins mit völlig illusionslosen Blicken. Sie waren Empiriker und daher Pessimisten. Sie wußten, was das Leben ist: eine sehr strapaziöse, unberechenbare, wenig dankbare Angelegenheit. Außerdem aber waren sie gänzlich unernste, nämlich künstlerische Menschen, und daher hatte weder ihr weltbejahender Realismus jene brutale Kompaktheit, langweilige Gegenständlichkeit und bleierne Banalität, die er später bei den Römern erhielt, noch ihr weltanklagender Pessimismus jene metaphysische, die Seele in ihrem Letzten und Tiefsten ergreifende Gewalt, die er bei den Indern besaß.
Die traurige Weisheit, daß das » «, das Niemalsgeborenwerden das beste sei, geht in zahlreichen geistvollen Variationen durch das ganze griechische Denken. Schon in der Ilias wird gesagt, daß es unter allem, was atmet und sich bewegt, nichts Elenderes gebe als den Menschen; Heraklit sagt tiefsinnig von der Zeit, sie sei ein spielendes, sich im Brettspiel übendes Kind; »und dieses Kind hat die Königsgewalt«; Thales erklärte, er bleibe unverehelicht »aus Kinderliebe«. Selbst dem überlegen lächelnden Sokrates entringt sich im »Gorgias« der Ausruf: » , das Leben ist schrecklich!« Mehr naturwissenschaftlich drückt sich Aristoteles aus: »Was ist der Mensch? Ein Denkmal der Schwäche, eine Beute des Augenblicks, ein Spiel des Zufalls; der Rest ist Schleim und Galle.« Menander sagt: »Am glücklichsten ist, wer früh den Jahrmarkt des Lebens verläßt«, und ein andermal: »Wenn ein Gott dir nach dem Tode ein neues Leben verspräche, so solltest du dir wünschen, lieber alles andere, selbst ein Esel zu werden, nur nicht wieder ein Mensch.« Sein Zeitgenosse war der Philosoph Hegesias, der durch seine Vorträge zahlreiche Menschen zum Selbstmord überredet haben soll, weshalb er den Beinamen erhielt. Es gab von ihm über diesen Gegenstand auch eine Schrift, die den Titel » « führte; und es ist sehr bezeichnend, daß dieses Wort ein allgemein geläufiger griechischer Fachausdruck war, der sich im Deutschen nur durch einen ganzen Satz wiedergeben läßt: »der das Leben nicht mehr aushält und sich daher durch Hunger tötet«.
Aber schon bei Homer findet sich auch das Gegengewicht genannt, das der Grieche in die Schicksalswaage zu werfen hatte. Zu Odysseus sagt Alkinoos: »Sag uns doch, warum du so weinst und im Herzen so trauerst, wenn du vernimmst, welch Los die Argeier in Troja betroffen. Denn es war ja das Werk der Götter; sie spannen den Menschen dieses Verderben, damit es lebe im Liede der Nachwelt.« Und Anaxagoras sagt, das Geborenwerden sei dem Nichtgeborenwerden vorzuziehen, schon damit man den Himmel erblicke und die ganze Ordnung des Weltgebäudes. Die Lust des Gestaltens und Betrachtens, des Singens und Erkennens, die die Griechen besser kannten als irgendein anderes Volk, wiegt alle Leiden des Daseins auf. Ein Verderben, das zum Lied werden kann, ist keines mehr; und eine Welt, die sich schauen läßt, kann nicht schlecht sein.
Ja, die Griechen waren »Idealisten«, aber in einem ganz besonderen, vom modernen sehr verschiedenen Sinne, den vielleicht nur Goethe verstand und doch auch wieder mißverstand, indem er diesen Zug zum alleinherrschenden machte. Wir haben in einem der früheren Kapitel darzulegen versucht, daß jeder Franzose ein geborener Cartesianer ist; in demselben Sinne könnte man sagen, daß jeder Grieche ein geborener Platoniker war. In der platonischen Anschauung sind die Ideen die unsterblichen , die Urbilder und Musterbilder, nach denen die irdischen Erscheinungen als , als Nachahmungen und Abbilder geformt sind. Was uns als die »Schönheit« eines Gegenstandes so sehr ergreift, ist die , die dunkle Erinnerung unserer Seele an sein ewiges Urbild, das sie vor ihrer Geburt erschaut hat. Die Ideen sind also etwas ganz anderes als die Begriffe: zu ihrer Erkenntnis oder vielmehr Ahnung gelangen wir nicht durch Abstraktion, sondern durch Intuition. Etwas abweichend, aber im Wesen doch ähnlich faßt der zweiteinflußreichste griechische Denker, Aristoteles, den Sachverhalt auf. Für ihn ist die Form, , im wesentlichen identisch mit dem Eidos, der Idee, und die Hyle oder Materie die , die Möglichkeit der Form, die Form die , die Verwirklichung der Materie. Hyle heißt eigentlich Bauholz, Rohstoff, und an der Tätigkeit des Zimmermanns erläutert auch Aristoteles die Bedeutung des Eidos: dieses ist der Begriff des Hauses. Die Form ist also früher da; sie erzeugt das Haus. Aristoteles erklärt ganz ausdrücklich, die Idee, das Allgemeine sei , in Wirklichkeit das Erste, das Einzelne nur , für uns das Erste. Gemeinsam ist Plato und Aristoteles die Überzeugung von der Priorität der Idee. Sie ist das klassische Modell jedes Dings, das, was die Natur eigentlich will, aber nie vollkommen erreicht; sie ist, zumal bei Plato, etwas vollkommen Konkretes. Wir erinnern uns aus dem vorigen Kapitel, daß Goethe bei der »Urpflanze« eine ähnliche Konzeption vorschwebte. Der Kanon des schönen Menschen, wie ihn die Griechen in ihrer Skulptur gestalteten, entsprach gewissermaßen der Urpflanze. Ganz ebenso empfanden sie in ihrer tragischen Kunst. Nietzsche sagt in der »Geburt der Tragödie«: »es hat ich weiß nicht wer behauptet, daß alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre, daß die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen konnten«. Eine Theaterkunst, die individualisiert, die mehr gestaltet als die Idee, die Maske in jederlei Sinn, wäre ihnen nicht als eine höhere, sondern als eine lächerliche, unwürdige und blasphemische erschienen. Denn hierzu kam noch die religiöse Grundlage, auf der die Bühne ruhte. Alfred Baeumler sagt in seiner außerordentlich tief dringenden, vielfach ganz neuartige Aspekte eröffnenden Einleitung zur Auswahl aus Bachofen: »Jeder Gedanke an die Erscheinungen des täglichen Lebens muß versunken sein, wenn man Agamemnon, Orest, Oedipus, Ajas, Antigone wirklich verstehen will. Es sind in der Tat Schatten, die auf der tragischen Bühne vor uns aufsteigen. Diese Helden sind nicht von der Gasse geholt, sondern aus dem Grabe beschworen. ... Alle Empirie, jeder Gedanke an Realismus liegt unendlich fern. Die Darstellungsform der griechischen Tragödie ist nicht allein durch die gewiß vorhandene Vorstellung einer wirklichen Überlebensgröße der Helden der Vorzeit zu erklären, sondern in noch höherem Maße durch die heilige Scheu vor den Toten bestimmt.« Wir verstehen nun: da die tragischen Helden aus dem Grabe kamen, konnten sie nicht nach moderner Art »lebendig geschildert« sein, da sie den Inhalt einer religiösen Zeremonie bildeten, konnten sie nur als allgemeine Symbole gefaßt sein. Und in diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Abkehr von der alten Typenkunst zur »Psychologie« und Charakterzeichnung, wie sie in Euripides zutage tritt, als Phänomen der Irreligiosität und dramatisches Gegenstück zur zersetzenden Dialektik des Protagoras und zur Mysterienverhöhnung des Alkibiades.
Die Griechen besaßen, was sowohl mit ihrem Platonismus wie mit ihrer Musikalität zusammenhängt, einen angeborenen Blick für die Geometrie der Dinge, ihre Einteilung, Gliederung, Proportion, eine außergewöhnhche Gabe, in allem sogleich den geheimen Aufriß, Grundplan und Baustil, das innere Skelett, Schema und Diagramm zu erkennen. Sie waren eminent zeichnerisch veranlagt und, bei aller ihrer Nervosität, das Gegenteil von Impressionisten. Graphein heißt sowohl schreiben wie malen. Für Halbtöne, gedeckte Beleuchtung, allmähliche Farbenübergänge, feinere Schattenwirkungen hatten sie gar kein Auge und die Luftperspektive war ihnen vollkommen unbekannt, wie sich aus den erhaltenen Gemäldebeschreibungen und den poetischen Naturschilderungen mit Sicherheit schließen läßt. Sie waren schon durch die ganze Natur ihres Landes: die kristallene Helle und Klarheit seiner Luft, die scharfe Profilierung seiner Gebirge, die reiche und kräftige Gliederung seiner Küsten auf diesen ausgeprägten Konturismus hingewiesen. In Athen ist die Sonne nur an durchschnittlich 25 Tagen im Jahre umwölkt. Bei Homer vollzieht sich alles im hellsten Tagesglanz. Die Nacht aber war dem Griechen das Verhaßteste, was er kannte. Für die Poesie des Nebeltags, der Herbststimmung, der Abenddämmerung, des Mondscheins, die im modernen Gefühlsleben eine so große Rolle spielt, hatte er kein Organ. Und zudem verlebte er den ganzen Tag im Freien. Die griechische Landschaft muß man zu allem, was er tat und schuf, stillschweigend hinzuaddieren: zu seinen Dramen und Tempeln, Gefäßen und Bildwerken, Reden und Liedern, Symposien und Agonen, wie auch er sie stets dazunahm, instinktiv oder bewußt, und alles stilvoll in sie hineinkomponierte.
Dazu kam nun noch, daß bei den Griechen alle Verhältnisse und Dimensionen etwas Einfaches, Übersichtliches und Faßbares und darum Begrenztes, Klares und Gefaßtes hatten. Die vorhandene Kultur ließ sich noch als Ganzes überschauen, zusammenschauen. Die künstlerische und wissenschaftliche Tradition war nicht alt und nicht umfangreich. Der Kreis der Erfahrung umspannte kaum ein Dutzend Generationen; zwei Gegenküsten und ein dazwischenliegendes Meer, das, von Inselbrücken durchsetzt und im Süden durch Kreta abgeriegelt, fast den Charakter eines großen Binnensees besaß; einen einheitlichen Vegetations- und Tierkreis. Auf der heimatlichen Halbinsel hatten die Landengen und starken Bergzüge noch kleinere Zentren geschaffen; und überhaupt bedingte die Langsamkeit, Schwierigkeit und Gefährlichkeit des Reisens und die mißtrauische Abgeschlossenheit der antiken Völker von vornherein eine gewisse Beschränktheit des Horizonts. Es war bei ihnen alles konkret im eigentlichen Sinne des Wortes: zusammengewachsen, auf den geringsten Raum konzentriert, in die kleinstmögliche Form gepreßt; und dies ermöglichte ihnen, in allen ihren Lebensäußerungen plastisch, anschaulich, künstlerisch zu sein. Umgekehrt ist es heute fast unmöglich, Künstler zu sein. Es ist kein Zufall, daß die stärksten poetischen Emanationen der letzten fünfzig Jahre aus der physischen Enge Skandinaviens und der geistigen Enge Rußlands hervorgegangen sind. Auch der griechische Staatsbegriff war weder eine vage philosophische Idee, wie sie dem achtzehnten Jahrhundert vorschwebte, noch ein mit Riesenvölkern und ganzen Erdteilen operierender Pannationalismus und Imperialismus, wie ihn unsere Zeit propagiert, überhaupt kein Gegenstand komplizierter juristischer Raisonnements, wie sie die ganze Neuzeit und schon das Mittelalter und die römische Kaiserzeit liebte, sondern bedeutete ganz einfach die jeweilige Polis, ein sehr greifbares, handliches, gegenständliches Gebilde, nämlich eine kleine Stadt; eine fest umzirkte menschliche Niederlassung mit einem militärischen, einem religiösen, einem politischen und einem wirtschaftlichen Zentrum: einer Festung, einem Heiligtum, einer Agora, einem Hafen. An modernen Dimensionen gemessen, war Athen ein mäßig bedeutender Handelsplatz, Sparta ein Gebirgsdorf, Theben ein größerer Flecken und Olympia ein kleines Oberammergau. Diese Orte waren noch gerade ausgedehnt genug, um alle sozialen und geistigen Differenzierungen hervorbringen zu können, und klein genug, um die intimste Reibung und Wechselwirkung unter allen ihren Insassen entstehen zu lassen. Die Halbinsel, soweit sie griechisch war, hatte ungefähr den Flächenumfang des österreichischen Bundesstaats und die Einwohnerzahl Berlins. Die Entfernung des nördlichsten Punkts, des Olymp, vom südlichsten, dem Vorgebirge Tänaron, entsprach in der Luftlinie etwa der zwischen Berlin und Wien und kann heute mit dem Flugzeug in drei bis vier Stunden zurückgelegt werden. Auch die Griechen haben einen »Weltkrieg« gehabt: den Peloponnesischen, der aber, obgleich er fast ebenso lang gedauert hat wie der dreißigjährige, in Gang und Ziel sehr einfach und durchsichtig ist: Athen und Sparta in wechselvollem Kampf um die Halbinsel, während dieser, wie wir gesehen haben, einen unentwirrbaren Knäuel von überspitzter Diplomatie, verzwickten Truppenoperationen und hoffnungslos unverständlicher Territorialpolitik bildet: er ist keine religiöse, keine soziale, keine politische Bewegung, er ist ganz einfach das Chaos. Die Griechen waren auch in ihrer äußeren Erscheinung, an den nordischen Völkern gemessen, eher klein, dafür aber äußerst proportioniert, und zwar infolge einer langen, mit größter Zähigkeit und Bewußtheit geübten Tradition der Körperkultur: auch ihre Leiber waren gewissermaßen Produkte einer höchstentwickelten kunstgewerblichen Technik, es war eben alles bei ihnen gut gebaut. Ihre Lebensweise war einfach, fast dürftig. Ein paar geschmackvolle Tongefäße und feingeschnitzte Holztruhen genügten ihrem Luxusbedürfnis; einige Fische und Salzkuchen, Feigen und Oliven bildeten ihre normale Mahlzeit; auf drei Teile Wasser zwei Teile Wein zu mischen, galt schon als Exzeß. Es waltete in diesen Dingen dieselbe, nicht aus moralischen, sondern aus ästhetischen Motiven fließende Sparsamkeit, die sich auch in der Verwendung ihrer Architekturformen und poetischen Motive, ihres Begriffsschatzes und Bildervorrats offenbart. Es findet sich bei ihnen nirgends die moderne Undeutlichkeit und Überdeutlichkeit, die aus dem Zuviel stammt. Auch ihre panhellenischen Feste und Spiele, die keine Monstreproduktionen und zudem selten waren, hatten nicht den unkünstlerischen und plebejischen Plakatstil, den heutzutage jede öffentliche Veranstaltung mit Notwendigkeit trägt. Diese eigentümliche Sobrietät ist vielleicht das Zentralphänomen der griechischen Kultur, und ein seither nie wieder erschienenes. Die griechische Einfachheit, im achtzehnten Jahrhundert als »Einfalt«, Würde, Seelenreinheit mißverstanden, in Wirklichkeit nichts andres als geringere Differenziertheit des Lebensgefühls und sichere Umgrenztheit des Gesichtskreises, erzeugte die starken, klaren, ungebrochenen Linien der griechischen Lebensform. Sie waren recht eigentlich das Volk der Mitte. Und so reduziert sich ihre vielgerühmte Besonnenheit, Selbstzucht und Maßliebe einfach darauf, daß sie in allem von wohltuend mittlerem Format, angemessener und natürlicher Lebensgröße waren.
Daß aber Winckelmann mit seiner Erfindung des harmonischen Griechen einen so ungeheuern Erfolg hatte, kam daher, daß, wie dies für große historische Wirkungen immer die notwendige Voraussetzung ist, eine starke Persönlichkeit und ein starkes Zeitbedürfnis zusammentrafen. Im übrigen haben wir schon im ersten Buch, im Kapitel über die Reformation, kurz darauf hingewiesen, daß er, weit entfernt, der Initiator einer neuen Zeit zu sein, vielmehr der abschließende Typus einer dahinsinkenden war: nämlich der letzte große Humanist, wie Luther der letzte große Mönch und Bismarck der letzte große Junker gewesen ist.
Winckelmann ist schon allein dadurch merkwürdig, daß er einer der fertigsten Menschen war, die jemals produktiv geworden sind, während man doch für gewöhnlich unter einer schöpferischen Persönlichkeit eine in steter Entwicklung begriffene, nie zum Abschluß gelangende, immer nur auf Widerruf sprechende zu verstehen pflegt. Er steht von Anfang an da wie eine seiner geliebten weißen Marmorstatuen: in kalten, reinen, eindeutigen Linien. Man kann sagen: er wußte alles, was er schließlich als letzte volle Frucht eines tiefdringenden, weitgespannten und wohlgeordneten Denkerlebens hervorbrachte, schon von vornherein, sozusagen ehe er es wirklich wußte, zu wissen ein wissenschaftliches Recht hatte. Man könnte vielleicht die These aufstellen, daß jede prononcierte Individualität immer nur eine einzige Altersstufe verkörpert, die sie ihr ganzes Leben hindurch festhält. Das große Publikum folgt einem ganz richtigen Instinkt, wenn es sich Schiller als ewigen Jüngling, Ludwig den Vierzehnten immer als Mann auf der Sonnenhöhe, Schopenhauer nur als alten Herrn vorzustellen pflegt. Der junge Schopenhauer, der alternde Schiller, der greise Louis Quatorze existieren eigentlich nicht in unserem Bewußtsein. Was nun Winckelmann anlangt, so war er sein ganzes Leben lang etwa fünfzig Jahre alt.
Die Art, wie Winckelmann an die Kunst und ihre Geschichte herantrat, ist uns heute so vertraut (auch wenn wir nie eine Zeile von ihm gelesen haben), daß wir zumeist ganz vergessen, wie originell sie zu ihrer Zeit war. Winckelmann war, um es mit einem Wort zu sagen, der erste Archäolog in der legitimen Bedeutung des Begriffes: ein liebevoller Erforscher und Kenner des Altertums, dem sein ungeheures Wissen nicht Selbstzweck war, sondern ein Organ, in die Vergangenheit einzudringen. Kein Detail entging seinem Blick, wenn er es auch nicht immer richtig deutete, und er hielt sich auch nicht für zu gut, den Fragen der Handwerkstradition und Technik, die in der Kunst eine so große Rolle spielen, sein Interesse zuzuwenden. Wie er einerseits einer der ersten war, die in den alten Autoren den Schlüssel zum Verständnis der alten Bildwerke suchten, so war er andrerseits der überhaupt erste, der sich daran gewöhnte, ein antikes Kunstdenkmal zu lesen wie einen antiken Text: mit den Augen des mikroskopisch genauen, umsichtig prüfenden, vorsichtig kombinierenden Philologen. Darüber vergaß er aber niemals die großen Zusammenhänge: er betrachtet die Kunst als ein Gewächs, dessen Charakter von Boden, Klima, Pflege, Umgebung bestimmt wird, fast schon im Sinne der Taineschen Milieutheorie, und faßt ihre Geschichte als Ablauf einer typischen Entwicklungsreihe, die sich vom »älteren« Stil, der noch hart und eckig ist, über den »großen«, den eigentlich idealen und den »schönen«, fließenden und graziösen zum Stil des »Verfalls«, der Nachahmung und Künstelei bewegt. Dies alles brachte er in einer gesalzenen körnigen Sprache vor, die in ihrer edeln Schmucklosigkeit und markigen Bedeutungsschwere in der Tat an attische Prosa erinnerte und gegenüber der federnden Impulsivität und reizbaren Sprunghaftigkeit des nur um etwa ein Jahrzehnt jüngeren Lessing klassisch, nämlich völlig unimpressionistisch wirkt.
Sein Hauptwerk, die »Geschichte der Kunst des Altertums«, ist ihrer äußeren Gestalt nach ein historisches Werk, in Wirklichkeit aber eine Ästhetik, die an der Hand der alten Bildwerke die moderne Kunst verwirft und die bedingungslose Rückkehr zur Antike fordert. Es gibt für Winckelmann eigentlich nur eine einzige Kunst: die Plastik, denn die Malerei läßt er nur gelten, soweit sie eine Art Bildhauerei ist, nämlich Umrißzeichnung, Kontur; diese ist die »Hauptabsicht des Künstlers«, »die Zeichnung bleibt beim Maler das erste, zweite und dritte Ding« und »Colorit, Licht und Schatten machen ein Gemälde nicht so schätzbar als der edle Contour«. Auch in der historischen Entwicklung bilden das wichtigste Moment die »Veränderungen in der Zeichnung«. Man muß allerdings diesen Kunstspartanismus, diese, wie man damals glaubte, dorische Vergötterung der reinen Linie, des reinen Weiß und des sparsamen Ornaments auch als zeitgemäßen Rückschlag gegen den entarteten und ausgelebten Barockstil begreifen. Im achtzehnten Jahrhundert erhoben nur sehr wenige ihre Stimme gegen diesen reaktionären und im Grunde unkünstlerischen Purismus, vor allem Herder, der empört fragte: »Ein Maler, und soll kein Maler sein? Bildsäulen drechseln soll er mit seinem Pinsel?« und Heinse, der dezidiert erklärte: »Das Zeichnen ist bloß ein notwendiges Übel, die Proportionen leicht zu finden, die Farbe ist das Ziel, Anfang und Ende der Kunst.« Lessing hingegen sprach sogar den Wunsch aus, die Kunst, mit Ölfarben zu malen, möchte lieber gar nicht erfunden sein, und Georg Forster formulierte in den »Ansichten vom Niederrhein« die allgemeine Meinung, als er ausrief: »Was ist Farbe gegen Form?«
Aber selbst in der Bildhauerei läßt Winckelmann nur die Darstellung der menschlichen Schönheit gelten, genauer gesagt: der männlichen. Wenn er von der Schönheit im allgemeinen redet, denkt er, bewußt oder unbewußt, immer nur an die männliche. Spricht er einmal von weiblicher, so sind es wiederum die knabenhaften Merkmale am weiblichen Körper, die er hervorhebt. Die Niederländer sind ihm schrecklich, zunächst wegen ihres Kolorismus, wahrscheinlich aber auch, weil eine so prononcierte Heterosexualität aus ihren Bildern spricht. Spezifisch weibliche Geschlechtscharaktere wie Busen oder Becken hebt er nie als schön hervor. Seine Veranlagung war nämlich offenbar homosexuell. Die Freundschaftsverhältnisse zu schön gestalteten jungen Männern, die er sein ganzes Leben lang pflegte, trugen einen ausgesprochenen Charakter von Verliebtheit; doch scheint er diese Beziehungen gleich Sokrates stets zu rein geistigen veredelt zu haben. Diese Anormalität seines Empfindens war höchstwahrscheinlich auch die Ursache seines tragischen Endes; denn nur durch sie läßt es sich erklären, daß er jenes ordinäre und ungebildete Subjekt, das ihn in Triest wegen einiger Schaumünzen ermordete, eines näheren Umgangs würdigte. Er machte übrigens aus seiner Eigenheit mit jener großartigen Freimütigkeit, die er von den Griechen gelernt hatte, niemals ein Geheimnis. So schrieb er zum Beispiel an einen Bekannten: »Sollten Sie glauben, daß ich könnte in ein Mädchen verliebt werden? Ich bin es in eine Tänzerin von zwölf Jahren, die ich auf dem Theater gesehen habe ... allein ich will nicht ungetreu werden« und ein andermal: »Ich habe niemals so hohe Schönheiten in dem schwachen Geschlecht als in dem unserigen gesehen. Was hat denn das Weib Schönes, was wir nicht auch haben? ... Hätte ich anders gedacht, wäre meine Abhandlung von der Schönheit nicht ausgefallen, wie sie gerathen ist.« Noch deutlicher äußert er sich über den Zusammenhang zwischen seiner Kunstanschauung und seiner Sexualität in den Worten: »Ich habe bemerkt, daß diejenigen, welche nur allein auf Schönheiten des weiblichen Geschlechts aufmerksam sind und durch Schönheiten in unserem Geschlecht wenig oder gar nicht gerührt werden, die Empfindung des Schönen in der Kunst nicht leicht eingeboren, allgemein und lebhaft haben.« Dies ist der psychologische Schlüssel für Winckelmanns Ästhetik, von ihm selbst gegeben. Das homosexuelle Auge sieht vorwiegend Kontur, Raumausfüllung, Umriß, Linienschönheit, Plastik. Das homosexuelle Auge ist ohne Empfindung für aufgelöste Form, verschwimmende Valeurs, rein malerische Eindrücke. Und so geht, bei Licht betrachtet, jene ganze fixe Idee des »Klassizismus« zurück auf die sexuelle Perversion eines deutschen Provinzantiquars.
Wie Winckelmann über die gesamte moderne Kunst dachte, hat er an vielen Stellen seiner Schriften, am unmißverständlichsten aber in einem Brief an seinen Freund Uden ausgesprochen: »Die Neueren sind Esel gegen die Alten, von denen wir gleichwohl das Allerschönste nicht haben, und Bernini ist der größte Esel unter den Neueren.« Eine Ausnahme machte er nur mit seinem Freund Mengs, von dem er in seiner Kunstgeschichte sagt: »Der Inbegriff aller beschriebenen Schönheiten in den Figuren der Alten findet sich in den unsterblichen Werken des Herrn Anton Raphael Mengs, ersten Hofmalers der Könige von Spanien und Polen, des größten Künstlers seiner und vielleicht auch der folgenden Zeit. Er ist als ein Phönix gleichsam aus der Asche des ersten Raphael erweckt worden, um der Welt in der Kunst die Schönheit zu lehren und den höchsten Flug menschlicher Kräfte in derselben zu erreichen.« Mengs, der sich mit seiner Kunst auch in theoretischen Schriften eingehend befaßte, hieß der »Malerphilosoph« und wurde der Vater jener verstandesmäßigen, akademischen, »gebildeten« Malerei der Galeriekopisten, die jahrzehntelang in Europa geherrscht hat. Seine Doktrin bestand im wesentlichen darin, daß die Kunst der Natur überlegen sei, da sie sich ihre Materialien frei wählen könne und in ihren Hervorbringungen keinen Zufällen unterworfen sei, und daß sie daher alle Vollkommenheiten auf eine Gestalt vereinigen müsse: Einförmigkeit im Umrisse, Größe in der Gestalt, Freiheit in der Stellung, Schönheit in den Gliedern, Macht in der Brust, Leichtigkeit in den Beinen, Stärke in den Schultern und Armen, Aufrichtigkeit in Stirne und Augenbrauen, Vernunft zwischen den Augen, Gesundheit in den Backen, Lieblichkeit im Munde: »so haben die Alten gehandelt.« Der Maler hat also nichts andres zu tun als das Beste und Teuerste an Details zusammenzusuchen und auf einer Musterkarte zusammenzustellen. Wir haben im ersten Buch gesehen, daß bereits Raffael Santi eine ähnliche Theorie hatte wie sein Namensvetter, aber er war vor ihren verderblichsten Folgen durch sein Genie und seine Rasse geschützt; bei Raphael Mengs fielen jedoch diese beiden Hemmungen weg, um so mehr als er auch in der technischen Ausführung den leersten Eklektizismus für das Ideal erklärte, indem er die Vereinigung von Raffaels Linie, Tizians Farbe und Correggios Anmut mit der Einfachheit der Antike forderte, und so erstanden unter seinem Pinsel jene trostlos gelehrten und tödlich langweiligen Gruppengemälde, die, auch in der Komposition ganz äußerlich und unwahr nach der Art lebender Bilder behandelt, an Stelle menschlicher Wesen mittelmäßige Reproduktionen antiker Statuen vorführten. Das höchste aber war ihm die Allegorie, und auch darin war er nur der gelehrige Schüler Winckelmanns, der gesagt hatte: »die Wahrheit, so liebenswürdig sie an sich selbst ist, gefällt und macht einen stärkeren Eindruck, wenn sie in eine Fabel eingekleidet ist: was bei Kindern die Fabel im engsten Verstand, das ist die Allegorie im reiferen Alter ... je mehr Unerwartetes man in einem Gemälde entdeckt, desto rührender wird es, und beides erhält es durch die Allegorie« und vom Pinsel des Malers verlangte, er müsse »in Verstand getunkt« sein. Dieses Rezept hat Mengs denn auch in ausgiebigster Weise befolgt.
Die Gräkomanie setzte ungefähr mit den sechziger Jahren ein, erreichte aber erst nach einem Menschenalter den Charakter einer allgemein europäischen Epidemie. In England erzielten die beiden Maler James Stuart und Nicolas Revett mit ihrer Prachtpublikation der »antiquities of Athens« eine außerordentliche Wirkung. In Deutschland las der verdiente Göttinger Philologe Christian Gottlob Heyne seit 1767 über »Archäologie der Kunst des Altertums, insbesondere der Griechen und Römer«. Und ungefähr um dieselbe Zeit begann Wieland seine lange Serie von Romanen aus dem alten Hellas, von denen er selbst sagte, ihre Farben seien von Winckelmann geborgt: Lessing erklärte den »Agathon« für den ersten deutschen Roman von klassischem Geschmacke und Goethe erzählt in »Dichtung und Wahrheit«, im »Musarion« habe er das Antike lebendig und wieder neu zu sehen geglaubt. Auch Gluck ist ein Schüler Winckelmanns, nicht bloß in seiner Auffassung des Hellenentums, sondern auch in seiner Ornamentfeindlichkeit und seinem Konturismus: »ich beabsichtigte«, sagt er in der Vorrede zur »Alceste«, »die Musik ihrer wahren Aufgabe wiederzugeben: sie soll durch ihren Ausdruck der Poesie dienen, ohne die Handlung durch unnützen Überfluß an Ornamentik zu unterbrechen und abzuschwächen, und ich glaubte, daß sie ähnlich wie bei einer richtigen, gut angelegten Zeichnung die Farbe und der Gegensatz von Licht und Schatten die Gestalten zu beleben habe, ohne die Konturen zu verändern«. Unter der Hypnose der Winckelmannschen Theorien kam der junge hochbegabte Asmus Carstens auf den Gedanken, den Pinsel überhaupt fortzuwerfen und Gemälde ohne Farben zu malen, wie man sie bisher nur als Vorarbeiten verwendet hatte, »Kartons«, die, bloß mit Bleistift, Feder oder schwarzer Kreide angefertigt und höchstens leicht getönt, die vermeintliche Achromie der hellenischen Skulptur auch auf die zweidimensionale Bildnerkunst zu übertragen suchten und sich in der Tat ausnahmen wie in Papier ausgeführte Weißplastiken, wie er denn auch mit Vorliebe die Figuren, die er zu zeichnen beabsichtigte, vorher modellierte. Das Denkwürdige dieses Experiments besteht darin, daß Carstens und seine Zeitgenossen es nicht etwa als eine technische Spielerei oder Künstlerbizarrerie ansahen, sondern als einen legitimen und vollwertigen Ersatz des Gemäldes, der dazu bestimmt sei, dieses zu übertreffen und zu verdrängen. Im Porträt konnte man nicht so weit gehen, und die hochgefeierte Angelika Kauffmann, die anerkannt erste Künstlerin dieses Fachs, begnügte sich damit, ihre Auftraggeberinnen als Sibyllen, Bacchantinnen und Musen zu verkleiden. In Frankreich gelangte in den letzten Jahrzehnten des ancien régime ein streng antikisierender, gesucht einfacher, gradlinig mißvergnügter Stil zur Herrschaft, der dort Louis Seize hieß (obgleich er schon um 1760 aufkam) und sich über die anderen Länder als »Zopf« verbreitete. Ein Menschenalter lang arbeitete der Abbé Barthélémy an seinem Werk »Voyage du jeune Anacharsis en Grèce«, das 1788 erschien und zum erstenmal ein Gesamtbild des hellenischen Lebens entwarf. An die Stelle der turmhohen Coiffüren trat die Frisur » à la Diane«; das Meublement, der Schmuck, die Geräte, sogar die Schnupftabaksdosen: alles mußte » à la grecque« sein. Marie Antoinette spielte in Trianon Harfe, lorbeerbekränzt und in griechische Gewänder gehüllt. Bei den Soupers, die die berühmte Malerin Vigée-Lebrun gab, erschien sie selbst als Aspasia im Peplos, der Abbé Barthélémy als Rhapsode im Chiton, ein Herr von Cubières als Memnon mit goldener Leier; man lagerte auf Ruhebetten, trank aus Vasen und ließ sich von Knaben, die als Sklaven verkleidet waren, die Speisen servieren, die, wie ein Augenzeuge berichtet, »alle echt griechisch waren«. In den Gärten erblickte man allenthalben antike Toteninseln und Mausoleen, Aschenurnen und Opfergefäße, Tränenkrüge und Leichentücher. In dieser Hinneigung zu den Symbolen der Trauer und des Sterbens zeigt sich zugleich, daß in vielen eine dunkle Vorahnung der Zukunft lebte.
Ludwig der Sechzehnte, ein subalterner phlegmatischer Geist von kindlichem Umfang und Inhalt, gehörte nicht unter diese. Er interessierte sich nur für seine Schlosserarbeiten und die Jagd. Am 14. Juli 1789 hatte er nichts geschossen. Er schrieb daher in sein Tagebuch, das er mit großer Regelmäßigkeit führte: Rien. Diese Eintragung war einer von den vielen ebenso unschuldigen wie verhängnisvollen Irrtümern, aus denen sein ganzes Leben zusammengesetzt war. Denn an diesem Tage hatte der Pariser Pöbel die Bastille gestürmt, die sieben Gefangenen, von denen einer wegen Blödsinns, einer auf Ansuchen seiner Familie und vier wegen Fälschungen interniert waren, im Triumph befreit, die Köpfe der ermordeten Wachen auf Piken durch die Stadt getragen und die »Herrschaft des Volkes« proklamiert. Zum Herzog von Liancourt, der ihm noch in später Nacht diese Vorgänge meldete, bemerkte der König bestürzt und schlaftrunken: »Aber mein Gott, das ist ja eine Revolte!« »Nein, Sire«, erwiderte der Herzog, »das ist die Revolution.«