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4. Das Geheimnis des Buches

Nach Viktors Genesung warben die neuen Freunde den Verleger, welcher in Gemeinschaft mit ihnen eine neue Zeitschrift begründen sollte. Durch gleichgesinnte Mitarbeiter gefördert, gewann ihr Blatt schnell Beistimmung und Leser, und beide fühlten hohe Befriedigung, daß sie das Beste, was sie wußten, mit regelmäßigem Fluß in die Seelen anderer hinüberleiten konnten.

Als nach einem Jahre das Blatt der Freunde fest begründet war, gedachten sie auch des eigenen Haushaltes und warben sich die Hausfrauen. An demselben Tage wurden zwei glückliche Paare verbunden, Käthe verfiel unrettbar dem Hause Ingersleben, und Viktor hob sein liebes Weib aus der Kutsche der Bellerwitze sich in die Arme. Denn diese Familie hatte längst allen Standesvorurteilen entsagt; außerdem war, wie ein hochverehrter, leider verstorbener Mitbürger und Ratmann zu sagen pflegte, gerade jetzt eine Konjunktion gekommen, wo derartige Vorurteile nicht zeitgemäß waren. Und der letzte Winterreif, welcher etwa noch an den Schilden ihres Stammbaumes hing, schwand dahin in der Elternfreude über das Glück des geliebten Kindes.

 

Als der Doktor an einem hellen Sommertage in die Stube seiner Frau kam, fand er diese in Betrachtung der Bilder an der Stubenwand; es waren die Erinnerungen an Luther, welche einst in der Arbeitsstube des Seniors gehangen hatten, darunter auf dem Ehrenplatze das erste Geschenk des Doktors. »Die Farben sind verblichen,« sagte Henriette, »aber sooft ich das Bild ansehe, fühle ich die frohe Erwartung, in der ich damals auspackte.«

»Für uns beide ist die Zeit gekommen,« sagte der Gatte, »wo die Gedanken oft die Vergangenheit suchen. Um die liebe Hausfrau ist es einsam geworden. Ich habe zuweilen daran gedacht, daß wir uns noch einmal in die Welt hinauswagen sollten. Ist dir's recht, so besuchen wir die Kinder.« Und als Henriette erfreut zustimmte, fuhr er fort: »Wir haben auch eine äußere Veranlassung erhalten; eine Verwandte meines Namens, die ich gar nicht persönlich gekannt habe, ist unverheiratet und hochbejahrt im Fränkischen gestorben und hat mir ein Legat hinterlassen. Sie hat zuletzt in einer kleinen Stadt bei Koburg gelebt. Wir machen mit den Kindern einen Ausflug nach Thüringen, Richard kann als Jurist an Ort und Stelle zusehen, ob wir die Summe annehmen dürfen, ohne andere Verwandte, die vielleicht bedürftig sind, zu beeinträchtigen.«

Einige Wochen darauf betrat eine Gesellschaft Reisender den Hof der alten Feste, welche sich mit ihrem doppelten Mauerringe über dem grünen Talgrunde des Itzbaches erhebt. Voran ein alter Herr mit grauem Haar, aber er schritt rüstig in gerader Haltung, und seine Augen blickten klar und heiter in die Runde; am Arme führte er eine Matrone, welcher die Jahre einzelne Silberfäden in das Haar gezogen und die Gestalt völliger gemacht hatten, doch auf ihren Wangen lag noch etwas von dem rosigen Schimmer der Jugend. Um die beiden bewegten sich zwei Männer und zwei Frauen in blühendem Alter. Der Kastellan öffnete der Gesellschaft die Räume, welche zu einem Museum eingerichtet waren. Sie betrachteten die schöngetäfelten Zimmer, die Stube, an welcher der Name Luthers haftet, die Rüstkammer mit Wagen und Geschützen, und blieben zuletzt vor dem Gallionbild eines dänischen Kriegsschiffes stehen, welches der Landesherr von seinem Kommando in Schleswig-Holstein mitgebracht hatte und das vor kurzem aufgestellt war. Da sagte der Alte erfreut: »Dies ist seit den Freiheitskriegen das erste Siegeszeichen der Deutschen; der Kriegsdienst meiner Söhne Viktor und Richard wird mit der Feder geleistet, aber die Enkel werden bei neuen Siegen helfen.« Als die Gesellschaft das Innere der Burg betrachtet hatte, saß sie auf der Plattform nieder und sah hinaus in die sonnige, lachende Landschaft, unten zur Seite die Stadt mit einem reichen Kranz von Villen umgeben, gegenüber die belaubten Hügel, in der Tiefe die grünen Wiesen des Itzgrundes, und südwärts in blauer Ferne die Berggipfel des Mains.

»Ein anmutiges Stück Erde!« rühmte der Vater. »Man fühlt sich heimisch, als hätte man's immer geschaut. Die Werke der Natur und die Arbeit des Menschen schicken sich hier gut zueinander.«

»Das ist die rechte Stimmung,« begann Henner, »damit ich dir überreiche, was ich aus der Hinterlassenschaft des verstorbenen Fräuleins für dich gerettet habe.« Er ließ sich von dem Kastellan ein Buch reichen mit altem, verstoßenem Einband und legte es vor dem Doktor auf den Tisch.

Der Doktor schlug neugierig das Buch auf. Auf dem ersten Vorsetzblatt stand in kräftigen Schriftzügen: »Meinem günstigen Freunde George König, Kaufherrn zu Frankfurt am Main«; darauf Verse aus dem Liede: Eine feste Burg, und als Unterschrift: Martinus Luther aus der Feste Koburg im Reich der Wolken 1530. – »Da haben wir den Band, von dem ich dir manchmal erzählte«, sagte der Doktor zu seiner Gattin. Hinter der Widmung waren mehrere Blätter für eine kurze Familienchronik benutzt. Die Besitzer des Buches hatten ihren Namen mit dem Geburtsjahr und zuweilen auch Frau und Kinder eingetragen.

Der Doktor blickte die Reihe herunter. »Hier steht ein Kriegsmann, Bernhard König, Fähnrich im Regiment Alt-Rosen, darunter seine Schwester Regine König, verehelichte Hermann. Damals muß das Buch in die Familie Hermann gekommen sein,« erklärte er, weiter blickend, »denn es sind einige dieses Namens eingetragen. Hier aber«, fuhr er mit neuem Interesse fort, »steht wieder mein Großvater Friedrich und sein Bruder August. Der Großvater hat also wahrscheinlich den Band in die Familie zurückgebracht. Das ist mir ein teures Geschenk, Richard, und ich bin dir von Herzen dankbar. Und hier kommt der älteste Sohn meines Großonkels August, welcher Pfarrer im Fränkischen war. Dieser hatte das Unglück, in seinen besten Jahren durch einen Sturz ins Wasser das Gehör zu verlieren und lebte längere Zeit als Privatmann mit Weib und Kind in Koburg. Daneben findet sich der Name seiner Frau, einer Geborenen von Sahl aus dem Dorfe Friemar im Gothaischen. Ich erinnere mich ganz gut auf sie, sie stammte aus einem reichen Bauerngeschlecht, von den sogenannten Herren von Friemar. In dem Dorfe nämlich bestanden aus alter Zeit freie Familien, welche ein adliges Wappenschild führten.« Er sah wieder in das Buch. »Hier also folgen die Kinder des Pastors: Beata König; dies ist die Kusine, aus deren Hinterlassenschaft Henner das Buch erworben hat, und als letzter Name der ihres Bruders; dieser ist in früher Jugend untergegangen –« Er las und hielt an. Die Kinder, deren Augen an dem würdigen Antlitz hingen, sahen erstaunt die Veränderung in seinen Zügen. Feierlich begann er wieder nach einer Weile, seine liebe Frau anblickend: »Und dieser letzte Name lautet August König, genannt Dessalle, – dahinter von der Hand der Tante: – gefallen 1815 als französischer Oberst in der Schlacht bei Belle-Alliance.« – Der Doktor legte das Buch vor sich hin. »Der Verstorbene hatte den Namen seiner Mutter angenommen; er war ein König und er war von meinem Blut.«

Da er die Bewegung im Gesichte seiner Frau erkannte, fuhr er zu den Kindern freundlich fort: »Laßt uns eine Weile allein, es sind alte Erinnerungen, die ich mit eurer Mutter besprechen will.« Die Kinder traten ehrerbietig beiseite und die Eltern saßen nebeneinander; Henriette legte ihre Hand auf die des Gatten. »Er hatte Augenblicke, wo er aussah wie du. Schon damals, als er zuerst in unsere Stube sprang. Daß der Fremde mich immer an dich erinnerte, wenn er mir in die Gedanken kam, das machte mich in der Stille so unglücklich. Als er später in unserem Hause weilte, erschien die Ähnlichkeit wieder, wenn er lebhaft erzählte oder lachte; und, Geliebter, mir war's, als müßte ich mich deshalb vor ihm in acht nehmen.« Sie blickte den Gatten flehend an, als hätte sie ihm etwas abzubitten.

»Die Ähnlichkeit kann nur im Ausdruck gelegen haben; er sah ganz aus wie ein Franzose und gefiel mir bei der ersten Begegnung überaus wohl.«

»Aber wie ist es möglich,« fragte Henriette, »daß er, der doch deinen Namen wußte, dich niemals als Verwandten begrüßt hat?«

»Wer kann das sagen? Bei der ersten Begrüßung war ich ihm ein gleichgültiger Fremder in einer Landschaft, wo er Anverwandte nicht erwartete, mit einem Namen, der nicht selten ist. Auch mag ihm in seiner Stellung die ganze Verwandtschaft, von der er wenig wußte, leidig gewesen sein. Als ich ihn nach Jahren wiedersah, hielt er mich für seinen Feind, und er hatte nicht unrecht. Dennoch meine ich, nach der letzten Begegnung im Felde muß er gewußt haben, daß ich sein Vetter bin. Er brach damals so hastig auf. Wahrscheinlich ging er in jener Zeit zu seiner Schwester und lebte dort verborgen, bis ihn sein Schicksal wieder unter die Adler des Kaisers trieb.«

»Darum stand er so oft vor den Bildern in der Stube des Vaters«, bestätigte Henriette. »Es war das Bild der Feste, welches er beschaute, denn immer flog sein Blick nach der Wand. In Koburg wuchs er auf bis zu seiner Flucht.« – Der Doktor schloß das Buch: »Kommt heran, Kinder, wir Alten haben die Sorgen um die Vergangenheit abgetan.«

»Ich aber noch nicht,« rief Henner, »und heut soll sogar Viktor mir folgen, wenn er mich auch als einen Altertümler verhöhnt. In diesem Hofe und an der Stelle, wo wir jetzt behaglich sitzen, verkehrte vor dreihundertvierundzwanzig Jahren einer eurer Vorfahren mit Luther. Das ist doch auch eine Erinnerung, die sich sehen lassen kann. Durch dies Tor kam Herr Georg König heran. Ich behaupte, er muß ein stattlicher Mann gewesen sein. Hier stand er und wartete, ob Doktor Luther in seiner Zurückgezogenheit den Besuch annehmen werde, und diese Holztreppe schritt der große Reformator hinab und fragte euren Ahnherrn wohlwollend nach seinem Begehr. Ist es nicht ein heiterer Gedanke, widerspenstiger Viktor, daß dies einst so war?«

Viktor sah nach dem alten Schloßbau und der Treppe: »Du sagst es, und das Buch macht es wahrscheinlich. Unsere Phantasie mag mühelos, auch wo die beglaubigte Kunde fehlt, noch weiter rückwärts in die Vergangenheit fliegen. Vielleicht suchte schon fünfhundert und tausend Jahre früher ein Ahnherr hier an derselben Stätte einen günstigen Freund oder seine Heimat. Ich will dir, du Verehrer alter Familienerinnerungen, sogar etwas anderes und Größeres zugeben. Vielleicht wirken die Taten und Leiden der Vorfahren noch in ganz anderer Weise auf unsere Gedanken und Werke ein, als wir Lebenden begreifen. Aber es ist eine weise Fügung der Weltordnung, daß wir nicht wissen, wie weit wir selbst das Leben vergangener Menschen fortsetzen, und daß wir nur zuweilen erstaunt merken, wie wir in unsern Kindern weiter leben. Vielleicht bin ich ein Stück von jenem Manne, welcher einst an dieser Stelle von dem Reformator gesegnet wurde, und vielleicht war ich es selbst in anderer Erscheinung, der schon auf diesem Berge lagerte, lange bevor die ehrwürdige Feste gebaut wurde. Aber meine Valerie hatte keiner von den alten Knaben, keiner saß meinem Henner am Arbeitstisch gegenüber, um liberale Artikel zu schreiben, und keiner sah wie wir von dieser Höhe hinab in die Landschaft eines großen deutschen Volkes, welches über der Arbeit ist, das Haus seines Staates zu zimmern. Was wir uns selbst gewinnen an Freude und Leid durch eigenes Wagen und eigene Werke, das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende neu. Und je länger das Leben einer Nation in den Jahrhunderten läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Taten des Ahnen auf das Schicksal des Enkels ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzen Volkes auf den einzelnen und größer die Freiheit, mit welcher der Mann sich selbst Glück und Unglück zu bereiten vermag. Dies aber ist das Höchste und Hoffnungsreichste in dem geheimnisvollen Wirken der Volkskraft.«

 


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