Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Alpenwald.

Von dem Hochthale aus, durch das der junge Fluß zwischen steinigen Ufern herabschäumt, öffnet sich seitwärts ein schmales Gebirgsthälchen. An den steilen Halden, die dasselbe auf beiden Längenseiten einschließen, klettern die weit aus einander liegenden Hütten eines Dörfchens hinan, wie eine zerstreute Heerde, die nach Willkür und Belieben ihre Weide sucht. Weiter aufwärts rücken diese Halden rasch näher zusammen und werden bald durch eine wohl an halb tausend Fuß hohe Felswand verbunden, die in jäher Flucht ansteigt und das Thälchen abschließt. Ueber diesem Felsen jedoch dehnt sich eine ziemlich ebene Trift, die sich in Länge und Breite mehr denn eine Viertelstunde erstreckt, bis sie weiter rückwärts von einem Gürtel dunkler Tannenwaldung abgegrenzt wird. Unmittelbar hinter dem Walde thürmen sich gewaltige Felshörner, deren Klüfte und Schründe drei Viertheile des Jahres oder noch länger mit Schnee und Eis angefüllt liegen.

Hinteralm heißt diese Alpentrift, eine jener Stellen, von denen das Volkslied kurz und gut singt: Im Sommer ist's lustig und im Winter ist's kalt. Lustig ist es wohl, im Schatten einer knorrigen Bergtanne nach dem grünen Thale hinabzuträumen, das sich zwischen wolkenhohen Bergstöcken durchwindet, bis es weitab in einen See zu versinken scheint, der wie ein vom Mondschein übergossenes Nebelfeld aus der Ferne zu uns heraufschaut; oder nach den Felswänden auf der gegenüberstehenden Thalseite zu blicken, von denen helle Sturzbäche wie weiße, luftbewegte Bänder in die Tiefe flattern. Zu diesem vergnüglichen Schauen klingt das Gebimmel einer nahen Heerdenglocke an's Ohr, oder das Kollern und Gurren eines sommerfrohen Gebirgsvogels. Manchmal weckt auch ein kräftiges Hallihoh die eindämmernde Beschaulichkeit.

Anders freilich sieht's im Winter aus da droben auf der Hinteralm und an einsamen Stunden mangelt es nicht, den schönen Sommertagen nachdenken zu können oder auf ihre Wiederkunft sich zu freuen. Zwar wäre es wohl noch vergnüglich, die wechselnden Lichter zu betrachten, welche die Sonne über die schneebedeckten Höhen und Thaltiefen ausstreut, bald golden und blendend, wie eine emporlodernde Feuersbrunst, bald weich und milde, wie ein verwehender Sternenschimmer; aber der eiskalte Wind, der fast vom Morgen bis zum Abend über die freigelegene Hochfläche fegt, bannt die Schaulust nur zu bald in die niedrige Stube, an den warmen Ofen zurück. Da läßt sich's freilich behaglich plaudern und noch behaglicher die den grünen Kacheln entströmende Wärme empfinden, wenn ein neuer Schneesturm über den Wald herab nach dem Thale braust; aber daß der Mensch nun einmal für den Menschen geboren ist und, wo nicht eigensüchtige Zwietracht ihn scheidet, nach seines Gleichen begehrt, zeigt sich freundlicher als in belebten Städten und Dörfern in solch winterlicher Bergeinsamkeit. –

Es standen nur zwei menschliche Wohnungen auf der Hinteralm. Die eine fast mitten auf der kleinen Hochebene, ziemlich geräumig mit mehrern Gaden und ansehnlichen Stallungen; die andere wohl an dreihundert Schritte seitwärts und näher an den Wald gerückt, klein und nur mit einem fast winzigen an das Häuschen angebauten Scheuerlein; aber Alles sauber und frisch, wie die darüber wehende Bergluft.

Wenn nun nach durchstürmter Winternacht am Morgen die Fensterladen nur mühsam konnten aufgestoßen werden und der draußen herangewehte Schnee manchmal bis zur Hälfte der kleinen Fenster hinaufreichte, trat der alte Steinberger, so wurde der Besitzer der größern Wohnung auf der Hinteralm genannt, mit einem Hüfthorne vor die Hausthüre. Hier ließ er drei kräftige Stöße erschallen, die weit über die todtstillen Schneelager dahinfuhren, und nicht lange, so wurde von der Richtung des kleinern Hauses her mit einem ähnlichen Hornrufe, manchmal, auch mit zwei rasch auf einander knallenden Schüssen Antwort gegeben. –

Nach eingenommener Morgensuppe machte sich der Steinberger mit seinen Knechten sofort an die rüstige Arbeit. Zuerst wurde der Schnee um einen Theil des Hauses herum weggeschaufelt, die Fenster frei gemacht und der Weg nach Brunnen und Ställen gebahnt. Dann ging es vorwärts in der Richtung nach dem kleinern Hause hinüber, wohin eine Reihe von Vogelbeerbäumen, die mit ihren nackten Kronen aus dem Schnee hervorragten, zur Weisung diente. Wie leicht auch die breiten Schaufeln in die weichen Schneemassen einstachen, war diese Wegbahn doch stets eine mannliche Arbeit, die frische Gelenkigkeit und kräftigen Muskelschwung verlangte. Die Männer waren bald bis an die Köpfe zwischen den zu beiden Seiten sich aufthürmenden weißen Wällen verschwunden und vom Hause sahen die nachschauenden Mägde nur noch die taktmäßig auffliegenden Schneewürfe. Hie und da ertönte dazwischen ein fröhliches Halliho, das von der andern Seite ebenso frisch erwidert wurde, gerade als hinge die Sommersonne mit ihrem hellsten Scheine über der Alp und lägen die Kühe mit wiederkäuendem Behagen am Schattenrande des Waldes umher; manchmal auch hielten die Männer ausschnaufend inne und besprachen, auf die Halme ihrer Schaufeln gestützt, den ungewöhnlich hohen Schneefall, wie sie seit diesem oder jenem Jahre oder Monate keinen erlebt haben. Jetzt endlich, nach wohl zweistündiger Arbeit, sind sie an die alte knorrästige Steinbuche gelangt, die etwa zwei Dritttheile des Weges nach dem Nachbarhause von der eigenen Wohnung entfernt steht. Sie halten einen Augenblick horchend inne. »Richtig,« sagt der alte Steinberger schmunzelnd, »sie sind wenigstens schon am Dornbusche; das Aenneli, die flinke Hexe, muß wieder tüchtig zugegriffen haben. – Guten Tag, Schneehühnchen!« ruft er lauter.

»Guten Tag, alter Schneemarder!« tönt's mit heller Stimme, die ganz in der Nähe unterm Boden hervorzukommen scheint, zurück, und lachend und neckend, nun schon unter gegenseitigem freundlichem und scherzendem Zurufe werden die Schaufeln auf's Neue geschwungen.

Noch wenige Minuten und der Schneestollen, der die sich unsichtbar mit einander Sprechenden trennt, sinkt zusammen und seine letzten Ueberreste fliegen mit einigen Schaufelwürfen auf die Seitenwälle empor.

»Gott willche, Nachbar Sepp,« sagt der alte Steinberger, seine Rechte einem hochgewachsenen Manne darreichend, der von der entgegengesetzten Seite aus dem Schneegrabe heraustritt, »heut' habt ihr euch wacker gehalten; mehr als ein Drittel.«

»Ja – die Kleine hat frisch zugegriffen,« erwidert der Angeredete, mit der Hand den Schweiß von der Stirne wischend.

»Aber wo ist denn der wilde Tannmarder?« ruft der Steinberger vergnügt und doch verwundert um sich schauend.

»Da ist er, alter Fuchs,« klingt's hell zurück und im nämlichen Augenblicke fliegt dem muntern Alten, von einer wohlgezielten Schneeballe getroffen, die weiße Zipfelmütze vom Kopfe, während aus einer in die Seitenwand des Schneegrabens gedrückten Vertiefung lachend und in die Hände klatschend ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen hervorspringt.

Der Steinberger zieht seine Zipfelmütze bedächtig wieder über die Ohren und betrachtet dann einen Augenblick wohlgefällig das Mädchen, das mit luftgerötheten Wangen und flinken braunen Blicken einen Angriff zu erwarten scheint.

»Nein, nein,« sagt der Alte lächelnd, »wir machen's im Frieden ab; du gibst mir ein Müntsche und wir sind quitt und gute Freunde.«

»Hoho,« erwidert das Mädchen, »du kommst so ein Dreißig Jährchen zu spät mit deiner Freundschaft, altes Vetterchen – lieber noch eine Schneeballe!«

»Wart', du kleine Hexe,« ruft der Geneckte und versucht, die Schaufel fallen lassend, seine Gegnerin einzuhaschen. Aber trotz des schmalen Schneeganges ist all sein Bemühen umsonst; das Mädchen schwingt sich um seinen mit ruhigem Lächeln dastehenden Vater herum, wie ein Eichhörnchen um den Eichenstamm, und neckt den unbehülflichern Verfolger fortwährend mit neuen Stichelworten. »Wart' nur,« ruft dieser endlich aufathmend, »aufgeschoben ist nicht aufgehoben – ich erwisch' dich schon ein andermal, du wilde Hummel!«

Das Mädchen schaut dem nun stillstehenden Alten mit schalkhafter Gutmüthigkeit in's Gesicht. »Nein, nein, Vetterchen,« lächelt es ihn an, »ich war unartig, da du doch so fleißig an einem Wege für dein Gottchen geschaufelt hast; du kannst dein Müntschle gleich haben.« Damit streckt es sich auf die Fußspitzen und hält dem Alten die lächelnden Kirschenlippen entgegen.

Diese heitere Begrüßung hatte die im Schnee begrabene Gesellschaft noch heiterer gestimmt und besonders war der alte Steinberger, wie übrigens gewöhnlich, gar munter gelaunt. »Weißt was, Sepp«, sagte er, seinem Nachbar die Hand auf die Schulter legend, »ihr kommt gleich mit uns hinüber, so bleiben wir den ganzen Tag bei einander. Zu Hause stiehlt euch heute gewiß Niemand, wenn du schon nicht riegelst, und nach den Gemsen wirst bei diesem Schnee wohl auch nicht gehen.«

»So wenig als du nach den Sommervögeln,« erwiderte Sepp heiter; »aber mir ist dein Vorschlag schon recht. Ich will blos noch meinen bärtigen Kühen Heu aufstecken und die Schnitzlerei holen, dann kommen wir. Sorg' nur für große Platten, du weißt, ich hab' gottlob gesunden Appetit.« –

Die Abrede wurde getreulich eingehalten. Nach kaum einer halben Stunde kamen Sepp und Aenneli die neueröffnete Schneebahn herüber zu Steinbergers gegangen. Aenneli brachte den Rocken mit; aber Sepp trug neben seiner Schnitzlerei noch einen umfangreichen Topf unter'm Arme. »Ich habe da noch so ungefähr ein Dutzend eingebeizter Schneehühner,« sagte er, denselben auf den Tisch stellend; »die Kleine kann sie den Mägden auf den Mittag braten helfen. In's Thal hinunter bring' ich sie bei dem Schnee doch nicht zum Verkauf.« –

Das war wieder einer der vielen stillfrohen Tage, wie die auf der Hinteralm oft wochenlang Eingeschneiten sie gemeinsam zu verbringen pflegten. Die Mägde mit Aenneli spannen; die Knechte lungerten, nachdem sie das Vieh besorgt, um den Ofen herum und hörten mit dem Meister und den Andern gerne dem Sepp zu, der, während er aus einem harten Stück Ahorn eine Gemse schnitzte, von den halsbrechenden Abenteuern erzählte, die er auf den Jagden nach dem klugen Thiere in seinem langen Jägerleben bestanden hatte. Als endlich bei einbrechender Nacht die Sorge um die bärtigen Kühe, wie Sepp seine Ziegen nannte, zur Heimkehr mahnte, meinte Jedes, heute sei wieder einmal der kürzeste Tag gewesen. Jedenfalls waren Alle mit sich selbst einverstanden, daß es ein recht kurzweiliger und vergnügter Tag war, wenn nicht etwa bei dem alten Mädi, das seit dem Tode der Meisterin das weibliche Regiment im Hause führte, einige Scrupel darüber obwalteten. Wenigstens sagte es beim Schlafengehen: »Mich nähm's nicht Wunder, wenn der Meister das Aenneli, die junge Gexnase, noch heirathen thäte – der alte Narr, so thut er.«

»Ach,« kicherte Gritli, »ich glaube, mit der Narrheit des Alten wär's nicht so weit her, wenn er dich nähme.«

»Du bist ein unverständiges, dummes Ding,« brummte Mädi, das gleichwohl nicht unterlassen konnte, sein Lämpchen etwas näher gegen den kleinen Spiegel zu halten, der in halbfingerbreitem Papprähmchen neben dem Bette hing.

»Nu, nu,« beschwichtigte das gutmüthige Gritli, »so ganz dumm bin ich doch nicht und weiß so gut als du, daß der Meister aus Aenneli und Christen ein Paar machen möchte. Eine brave und freundliche Meisterin gäb's gewiß.«

»Der Christen – ja der Christen,« erwiderte Mädi bedächtig, »da glaub' ich immer weniger, daß es etwas daraus gibt. Der wird drunten in der Stadt ein halber Herr und bringt uns am Ende auch so ein städtisches Kutt auf den Hals, das nicht einmal weiß, ob die Säue Schwänze haben. – Meinetwegen.«

Gritli konnte dem aufgeworfenen Zweifel seiner ältern Schlafgenossin nicht ganz widersprechen und statt des Nachtgebetes wurde die schon hundertmal wiederholte Thatsache noch einmal festgestellt, daß Christen, des Meisters einziger Sohn, bei seiner letzten Anwesenheit auf der Hinteralm ein gar herrscheliges Wesen gezeigt habe. –

Gritli war über diesem Werweisen kaum eingeschlafen, als es durch ein dumpfes Stöhnen, das aus der Tiefe zu kommen schien, wieder aufgeweckt wurde. Das Mädchen horchte einen Augenblick, um sich dann angstvoll unter der Decke zu verbergen, ohne den Muth zu haben, seine bereits festschlafende Genossin aufzuwecken. Das klang ja gerade so schaurig, wie der bange Mahnruf des Hauri, das den einsamen Gebirgswanderer vor verschüttenden Schneestürzen und hereinbrechenden Stürmen warnt. Sepp hatte den Nachmittag wieder einmal von dem geheimnißvollen Geiste erzählt, der in den verborgenen Schluchten wohnt, wohin sich nie ein Menschenfuß verirrt und dessen Mahnung nie ein Menschenohr unbeachtet lassen darf. Das war es hinwieder auch, was das Mädchen immer wieder von Neuem zum Horchen zwang. Das Stöhnen klang bald tiefer, bald vernehmlicher durch die nächtliche Stille und endlich schien es nur noch ein halberstickter Hülferuf zu sein. Horch – jetzt war's, als ob der Name Mädi mit lallender Zunge gerufen worden wäre – noch einmal – und jetzt ertönte ganz deutlich, wie mit erneuter Anstrengung, der Ruf Gritli. Das Mädchen warf die Decke zurück und sprang, seine Schlafkamerädin weckend, aus dem Bette; der Ruf war aus der Stube des Meisters gekommen. Die Mägde zogen eilfertig ihre Kleider an und eilten mit dem Lämpchen die kleine Treppe hinunter. Da lag der Meister mit todtbleichem, entstelltem Gesichte auf seinem Bette, über das die Arme wie gelähmt herabhingen, während aus dem Munde nur dann und wann ein unverständliches, dumpfes Stöhnen drang.

Das Geschrei der entsetzten Mägde hatte die Knechte schnell geweckt und alsbald war einer von ihnen die Schneebahn zu Sepp hinübergeeilt, der in allerlei solchen Nothfällen Rath wußte und selbst in seinem Leben noch nie einen Arzt gebraucht hatte. Als der aber nach kurzer Frist hereintrat und den nun stiller gewordenen Kranken ängstlich beschaut hatte, sagte er bedenklich: »Da kann ich nichts helfen, es muß sogleich ein Doktor herbei. Wer von euch wagt es, für den Meister nach dem Thal hinabzugehen?« – Die Knechte schauten sich verlegen an und es schien keiner Lust zu haben, das lebensgefährliche Wagestück auszuführen. Nacht war es, der Schnee lag nahe mannstief und drunten am Felsensteige konnte ein einziger Fehltritt dem plötzlichen Tode rufen. Sepp betrachtete die Bursche einen Augenblick, dann sagte er wie für sich: »Es ist auch besser so. Ihr geht nur gleich mit Schaufeln hinter mir drein und schafft bis neben den Felsen hinab eine nothdürftige Bahn, damit der Doktor herauf kann. Du Kleine,« fügte er, sich an Aenneli wendend hinzu, das stillweinend zu Häupten des Kranken stand, »bleibst da, bis ich wiederkomme.«

Unter diesen Worten hatte der Gemsjäger sein Wamms fester zugeknöpft und schritt nun rasch in die wolkendunkle Nacht hinaus.

Halb beschämt und doch innerlich froh, daß ein Anderer den halsbrechenden Gang unternommen, machten sich die Knechte an die befohlene Arbeit. Die Mägde saßen mit Aenneli drinnen am Bette des Kranken und horchten mit Schrecken und Mitleid auf das dumpfe Stöhnen, das manchmal durch die Brust des Bewußtlosen zog. Das war eine bange Nacht, die dem frohen Tage gefolgt, und es wurde dem Morgenlichte mancher Seufzer entgegengeschickt, bevor es hinter den fernen Schneehörnern emporstieg. Kaum war dasselbe indessen mit voller Klarheit angebrochen, als den Knechten, die noch immer rüstig den tief im Schnee versunkenen Tritten des verwegenen Nachtgängers nachschaufelten, vom Thale herauf auch schon der Doktor entgegengeschritten kam. Es war ein junger, kräftiger Mann, der die Mühseligkeiten seines Berufes in diesen Hochgegenden zu ertragen wußte; aber mit den Knechten bewunderte er nun die Sicherheit, mit welcher der Gemsjäger am Felsen hinabgeschritten war, wo ihm kein Strauch, kein hervorragendes Gestein die schmale Bahn zwischen Tod und Leben angedeutet hatte. »Das heiß' ich einen Freund und treues Zusammenhalten in der Noth,« sagte der Arzt, mit Verwunderung und Grauen von dem nun ausgeschaufelten Wege in die schreckliche Tiefe schauend; »solche Früchte wachsen nicht in jedem Herrengarten.«

»Aber wo ist denn der Sepp geblieben?« fragte einer der Knechte, der den Nachbar immer noch nicht nachkommen sah.

»Er ist nach dem Städtchen hinab,« bedeutete der Arzt, »er will den Christen holen; wie er gesagt hat, wird's wohl nöthig sein.« –

Gegen Mittag kam auch Sepp mit Christen auf der Hinteralm angelangt. Der Arzt war schon wieder fortgegangen, ohne den Bekümmerten eine Tröstung zurückgelassen zu haben. Er hatte versucht, dem Kranken eine Ader zu schlagen; aber das Blut war nur tropfenweise geflossen und das Bewußtsein trotz aller verordneten und angewendeten Mittel noch immer nicht zurückgekehrt. Der Sohn warf sich mit aufrichtigem Kindesschmerze auf das Leidensbett, er klagte sich selbst an, daß er so lange nicht mehr nach seinem alten Vater gesehen, und rief diesem die zärtlichsten Worte bekümmerter Liebe zu. Und in der That, es war, als ob die Stimme des Kindes durch den tödtlichen Schlaf bis an das Vaterherz gedrungen wäre. Der Kranke schlug die Augen auf und schaute mit verwirrten, unstäten Blicken um sich, wie ein Erwachender, der sich an fremdem Orte befindet und sich erst wieder erinnern muß, wie er dahin gekommen. Allmälig jedoch wurde das Auge ruhiger und als Christen rief: »Vater, mein armer Vater, kennst du mich nicht mehr?« glitt ein leiser Schimmer über die bleichen Züge, wie ein Wiederschein innerer Zufriedenheit, die farblosen Lippen bewegten sich, aber statt herzlicher Wiedersehensworte drang nur ein unverständliches Lallen über dieselben hervor, das die Umstehenden mit neuem Bangen und Mitleid erfüllte.

Eine Weile schien der Kranke mit sich selbst zu Rathe zu gehen und neue Kräfte zu sammeln. Dann nestelte er seine Rechte langsam von der Decke los und bemühte sich, sie seinem Sohne entgegenzustrecken. Dieser ergriff die zitternde Vaterhand, über die schon die Kälte des Todes gegangen zu sein schien, und drückte sein thränenbenetztes Gesicht auf dieselbe; aber der Kranke machte eine abwehrende Bewegung und deutete mit den Augen und leiser Kopfneigung nach Aenneli hin, das fortwährend mit stillem Weinen am Bette stand. »Was soll ich, Vetter?« fragte das Mädchen sich niederbeugend mit wehmüthiger Stimme, »was soll dein Gottchen thun?«

Um den Mund des Kranken ging ein seltsam heiteres Lächeln, als die beiden jugendlichen Gesichter sich so nah vereint auf ihn herabneigten; er schien die Hand mit Anstrengung nach Sepp ausstrecken zu wollen, aber sie sank kraftlos auf das Bett herab und die Augen begannen mit brechendem Flimmern zuzufallen.

Sepp schaute eine Weile schweigend auf das Antlitz, über das ein leises Zucken ging, dann sagte er, sich abwendend und die Augen mit der Hand verdeckend: »Jetzt hat er überwunden, der brave Mann.« – –

Es kamen nun recht trübe Tage auf der Hinteralm, die um so peinlicher waren, als sie nicht die Stille brachten, die sonst ein Todtenhaus zu umgeben pflegt und dem von frischer Trauer berührten Gemüthe so wohlthätig ist. Nach dem Dorfe hinunter mußte für das Leichenbegängniß ein weiterer und bequemerer Weg gebahnt werden, wodurch schon mancherlei äußerliche Unruhe und störendes Geräusch veranlaßt wurde. Zwar kamen die Dörfler freiwillig und unaufgefordert, wie es bei solchen Fällen die Sitte mit sich brachte, dieser Arbeit rüstig zu Hülfe, aber daraus schöpfte dann auch Mancher die Befugniß, im Trauerhause selbst einzusprechen, der früher nie oder durch seltenen Zufall darin gesehen worden. Man wußte wohl, daß sein jetziger Besuch weniger aus wirklicher Theilnahme an dem Unglücksfalle, als vielmehr aus der Absicht entsprang, sich von der bei solchen Anlässen herkömmlichen Freigebigkeit seinen Antheil zu sichern; Andere freilich dagegen kamen sogar von entfernten Höfen und entlegenen Seitenthälern, welche die unerwartete Trauerbotschaft mit Bestürzung und Mitleid erfüllt hatte. So war auf der sonst so stillen Hinteralm ein unruhiges Treiben entstanden und selbst bei der nächtlichen Leichenwacht saßen Leute, die bisher jahrelang nie da droben gesehen worden waren. –

Erst als der alte Steinberger zur letzten Ruhe gebracht war, fand sein Sohn und einziger Erbe die nöthige Stille, um sich in seine so plötzlich veränderte äußere Lage hineinzufinden und die Eindrücke der letzten Tage sich innerlich näher zu beschauen. Das erstere jedoch begann er auf eine Weise, die seinen Hausgenossen keineswegs behagen wollte und unter ihnen manches einverständnißvolle Kopfschütteln und geheime Zwiegespräch veranlassen mußte. –

Dem jungen Steinberger hatte, sobald er etwas herangewachsen war, das abgeschlossene Leben mit seiner einförmigen Thätigkeit auf der Hinteralm wenig zusagen wollen. Vielleicht war das ein Erbtheil seiner Mutter gewesen, die aus dem Unterlande stammte, d. h. aus jener breitern Thalschaft, wo der Fluß in stillerer Strömung aus dem See tritt, um nun an größern Dörfern und belebtern Geländen vorbeizufließen. Den Neigungen des einzigen Sohnes mochte der verständige Vater keinen allzugroßen Zwang anthun; er empfand selbst in seinem eigenen Handel und Wandel, daß die neue Zeit sogar von dem einsamen Gebirgsbewohner manches verlange, wenn er ohne Benachtheiligung durch das Leben kommen wolle, was der Vergangenheit unbekannt oder wenigstens nicht durchaus nothwendig gewesen war. Christen fand daher keine großen Schwierigkeiten, als er schon im angehenden Jünglingsalter noch die städtische Schule zu besuchen verlangte. So auf ein Jährchen oder zwei kann das nichts schaden, dachte der alte Steinberger; ich selbst kann die Sache da droben wohl noch einzig besorgen. Zwei Jährchen aber vergingen und auch noch eines dazu. Christen hatte nun allerdings keine Lust mehr, auf der Schulbank zu sitzen; aber ebenso wenig begehrte er auf die Hinteralm heimzukehren. »Was ich dort oben zu verstehen brauche,« sagte er, »habe ich schon als Kind gelernt; da drunten hingegen kann ich Vieles lernen, was ich noch nicht weiß und doch später vielleicht nothwendig habe.« Der Vater gab nach, wenn auch nicht ohne einige Widerrede und Christen trat in das Bureau eines Geschäftsagenten, der neben kleinen Rechtsgeschäften bedeutenden Holz- und Käsehandel trieb. Hier war er geblieben bis auf den heutigen Tag und der alte Steinberger hatte sich um so eher darein gefügt, als ihm allerdings durch die Vermittlung des Sohnes namentlich im Verkaufe der Käse mancher Vortheil erwuchs und die Sache daheim wie von jeher ihren geregelten Weg ging. –

Nach der angelernten Art des Geschäftsmannes, der die wahre Ordnung eines Haushaltes nur noch in einer geschriebenen Controlle zu finden glaubt, dagegen die in's Leben eingewöhnte Planmäßigkeit alles Thuns und Lassens für verderblichen Schlendrian hält, oder vielmehr diese Planmäßigkeit gar nicht mehr zu erkennen vermag, begann nun auch Christen seine neue häusliche Thätigkeit. Zuerst nahm er die Knechte in's Gebet. Sie mußten mit ihm in die Ställe, um Name und Alter jedes darin vorhandenen Hauptes festzustellen; das wurde nebst Farbe und Zeichnung des Thieres ausführlich aufgeschrieben; aber nicht das allein, sondern auch jedes Stück Stallgeräth, vom Melkkübel bis zur Mistgabel, mit ungefährer Werthangabe. Von den Ställen ging es in gleicher Weise auf die Heuboden, in die Käserei, wo das vorhandene Futter, die vorräthige Waare gemessen, gezählt, geschätzt und aufgeschrieben wurde. Die Knechte wunderten sich über dieses Thun und fragten endlich auf gehörigem Umwege, ob die Sache vielleicht verkauft werden solle? – Ihre Verwunderung wurde nicht geringer, als Christen kurz antwortete: »Warum nicht gar; aber Ordnung will ich haben.« – Ordnung sei auch vorher schon gewesen, dachten die Bursche, das habe der alte Steinberger so gut verstanden als Einer. Dabei waren sie nicht recht im Klaren, ob nicht auch ihnen der Vorwurf der Unordentlichkeit gemacht werden wolle. Der Zweifel dauerte nicht mehr lange, als Christen jeden fragte, was er bis auf den heutigen Tag an Löhnung zu gut habe. Der Meisterknecht antwortete trotzig, das wisse er nicht, seitdem er im Hause gewesen, sei ihm jedesmal der Lohn auf Jahr und Tag ausbezahlt worden; kleine Auslagen, die er in der Zwischenzeit in des Meisters Nutzen gemacht, habe er gewissenhaft zusammengerechnet und angegeben. – »In Zukunft will ich diese Ausgaben im Einzelnen verzeichnet und aufgeschrieben haben,« bemerkte Christen, nicht unfreundlich und ohne den gereizten Ton des Knechtes zu beachten. Dieser gab auch nur ein kurzes »schon recht« zur Antwort und ging. Drunten in der Küche erklärte er aber laut und vor allen Andern, daß er keine Stunde länger als bis nächstes Ziel in einem Hause bleiben werde, wo man seinem Worte keinen Glauben mehr zu schenken scheine.

Während auch die andern Knechte ähnliche Entschlüsse verlautbarten, konnte Mädi eine gewisse Schadenfreude nicht ganz unterdrücken. Den Knechten mochte es um so eher etwas gönnen, als es sich sicher hielt, daß ihm in sein Küchenregiment kein Meister etwas darein reden könne. Aber schon am folgenden Tage mußte es erfahren, daß es die Rechnung ohne den Wirth gemacht. In Küche und Keller, in Schrank und Laden wurde nachgezählt, ausgemessen und das Ergebniß in ein großes Buch eingeschrieben.

So hatte Christen in den ersten Tagen ohne Absicht ein dem Hause aufrichtig zugethanes Gesinde sich entfremdet und an die Stelle bisherigen Vertrauens und hergebrachter Ordnung waren augenblicklich Mißtrauen und Nachlässigkeit getreten.

Eine glücklichere Richtung nahm Denken und Thun des jungen Hinteralmbesitzers, wenn er Abends nach diesen Tagesgeschäften in seinem einsamen Stübchen saß. Der Einblick in Stand und Gang der Haushaltung machte ihn alsbald mit einem Gedanken vertraut, dem er in der Abgeschiedenheit von aller bisher gewohnten geselligen Zerstreuung nur mit um so größerer Ruhe nachhängen konnte. »Es geht nicht anders, ich muß eine Frau haben,« sagte er halblaut vor sich hin; »denn am Ende gibt es doch mancherlei Dinge in der Haushaltung, von denen ich zu wenig verstehe und die ich deshalb auch nicht gehörig überwachen kann.« Christen spürte recht deutlich, daß er über diesen selbst gesprochenen Worten leise erröthete, wie wenn sie ihm von einem fremden Menschen gesagt worden wären. Er hatte wohl auch schon an's Heirathen gedacht, schon dieses oder jenes Mädchen hatte sein Wohlgefallen erregt und sein Blut zu schnellerem Herzschlage getrieben; aber gleichwohl hatte er sich die Sache stets nur als einer fernen Zukunft vorbehalten vorgestellt, bis wohin sich noch manches Unerwartete zutragen, Manches anders sich gestalten konnte. Jetzt stand sie ihm plötzlich, als durch eine äußere Nothwendigkeit geboten, bestimmt und nahe vor Augen gerückt. Er durchging die Zahl der bekannten Mädchen drunten im Städtchen, er vergegenwärtigte sich die Vorzüge Dieser oder Jener, die sich dem hübschen und vermöglichen Sohne des alten Steinberger freundlich erzeigt; aber sonderbar, neben all' die geputzten Gestalten, die niedlichen Figuren und zierlichen Manieren der städtischen Bürgerstöchter drängte sich fortwährend ein demüthig bescheidenes Bild, das sich mit stillen Thränen über die Leiche des Vaters beugte. Christen machte anfänglich halb unwillig eine abwehrende Kopfbewegung, und unwillkürlich streckte er die Hand auf den Tisch, während Daumen und Zeigefinger sich rasch wie zum Geldzählen über einander hin und her bewegten. Der Gedanke jedoch, der in dieser Bewegung einen wortlosen Ausdruck fand, vermochte nicht das liebliche Bild zu verdunkeln; vielmehr stieg es bei jedem Versuche, sich von ihm abzuwenden, mit herzlicherer Freundlichkeit vor dem innern Auge empor. Der Nachdenkliche legte die Hand über's Gesicht, als ob er das Licht abwehren wollte; aber da kam es plötzlich wie eine das Gewissen bedrückende Frage über ihn, an die er bisher nicht näher gedacht hatte. Was wollte der Vater im letzten Augenblicke, da er ihn und Aenneli zu sich herangewinkt? Wie hätte sein letzter Wille gelautet, wenn er nicht dem sterbenden Munde entfallen wäre? –

Christen stand auf und ging mit unruhigen Schritten im Stübchen umher, als müsse er etwas suchen, was er nicht finden konnte. Es fiel ihm ein, daß seit dem Begräbniß des Vaters weder Sepp noch Aenneli herübergekommen waren, obwohl es seitdem nicht geschneit und der Weg offen und trocken stand. So lange die Leiche im Hause gelegen, war Aenneli nie heimgegangen, auch über Nacht nicht. Es hatte die zu- und abgehenden Leute bewirthet, ohne an Christen eine Frage zu stellen, ob es dieses oder jenes thun oder lassen müsse. Er selbst hatte im Schmerze und in der allgemeinen Verwirrung nicht einmal daran gedacht, auf wessen Geheiß Aenneli schalte, und walte, als ob es zum Hause gehöre. Er war froh, daß es geschah, ohne sich weiter über das Wie und Warum Rechenschaft zu geben. Aber mit den letzten leidtragenden Verwandten hatte auch Aenneli das Haus verlassen und war seitdem ebenso wenig als Sepp mehr hergekommen. Ob ihnen selbst etwas zugestoßen? – Christen löschte das Licht und ging den Weg nach dem Nachbarhause hinüber.

Durch die sternklare, windstille Nacht schimmerte ihm anheimelnder Lichtschein entgegen, in dem sich plötzlich die wiedererwachten Gestalten freundlicher Kindheitserinnerungen bewegten. Als er leisen Schrittes an das Häuschen herangetreten war, schaute er durch das Fenster hinein. Sepp saß rückwärts auf dem Ofensitze, Aenneli am Spinnrade, aber es hatte die Hände mit dem gezogenen Faden auf den Schooß sinken lassen, und drinnen war's so stille, daß das Picken der kleinen Wanduhr wie ein mächtiger Pendelschlag herausklang. Christen konnte das Auge nicht von dem Antlitze wenden, das bald vom röthlichen Lichtscheine übergossen, bald wieder vom leichten Schatten überstreift wehmüthig sinnend vor sich nieder schaute. Wie hatte er bei gelegentlicher Erinnerung an das Nachbarhaus sich das Mädchen so ganz anders gedacht, das in jüngern Jahren wie eine wilde Katze herumgesprungen und geklettert, und das ihm auch später bei seinen heimathlichen Besuchen scheu auswich, oder wo das nicht anging, stets mit einer übermüthigen Neckerei bei der Hand war! – Hatte wirklich nur die Theilnahme am Tode des Vaters eine augenblickliche Veränderung bewirkt, oder war mit der äußern Schönheit, die über das Mädchen gekommen, auch der milde, stille Sinn gereift, dessen Widerschein aus jedem Zuge des Antlitzes leuchtete und der Christen so mächtig anmuthete?

In diesen schnell vorübergleitenden Betrachtungen wurde er durch einen schweren Seufzer unterbrochen, der vom Ofensitze herkam. »Es ist mir immer,« sagte Sepp, »als hätte man mit dem Steinberger ein ganzes Stück von mir selbst fortgenommen. Ich bin froh, wenn ich bald wieder in die Berge kann. Der Christen paßt nicht mehr zu unser einem.« – »Es ist mir selbst auch so,« erwiderte Aenneli, mit der Hand über die Augen fahrend, »es wird mir halb bang, wenn ich mit ihm reden soll; aber vielleicht kommt das bald anders.«

»Nicht so leicht,« gab Sepp zurück; »ja, wenn er noch zu Lebzeiten des Vaters hergekommen wäre, möcht's eher gegangen sein; aber wenn er nun erst eine fremde, vielleicht vornehme Frau herbringt, dann ist's ganz vorbei – du wirst's sehen.«

Aenneli bog das Gesicht vor und das Spinnrad begann sich schnurrend umzudrehen. Christen stand eine Weile betroffen und ohne recht zu wissen, was er thun solle. Endlich sagte er halblaut: »Ich will ihnen zeigen, daß ich so freundlich sein kann, als der Vater,« und mit diesem Vorsatze öffnete er die kleine Hausthüre. – –

Als Christen spät in der Nacht heimkam, mußte er sich selbst wundern, wie schnell ihm die Zeit vergangen war. Am folgenden Tage machte er den nämlichen Weg, und als einige Nächte später die Bahn auf's Neue zugeschneit wurde, half er gleich am andern Morgen den Knechten selbst dieselbe wieder öffnen, ohne die Nachbarn mit dem gewohnten Zeichen um Mithülfe gemahnt zu haben. –

Der Schnee war noch lange nicht geschmolzen, als es schon im Dörfchen und das ganze Thal hinab hieß, des Gemsseppen Aenneli werde die Frau des jungen Steinberger, und als die Hinteralm endlich wieder grün geworden, zog von derselben ein froher Hochzeitszug zu Thal.

Einer aber befand sich in diesem Zuge, der trotz aller Mühe, die er sich dazu gab, innerlich nicht recht froh werden konnte; und doch, sollte man meinen, hätte gerade er rechten Grund zur Freude gehabt. Oder soll ein Vater sich nicht freuen, der sein Kind einem verständigen, wohlhabenden Manne verbunden weiß, der die geheimsten Herzenswünsche seiner Tochter in eine fast unerwartet glückliche Erfüllung gehen sieht? Das sagte sich Sepp selbst genugsam; er bedachte, daß der reichste Vater in weiter Umgehend mit Freude dem jungen Steinberger eine Tochter zum Weibe gegeben haben würde – warum sollte nun er, der unbemittelte, fast arme Mann sich nicht ebenfalls freuen? – Aber die Freude, zu der man sich überreden muß, ist eben schon nicht mehr die rechte Freude, und das mußte auch Sepp am Hochzeitstage seiner Tochter erfahren. Er schalt sich selbst darüber, wenn er das glückstrahlende Gesicht seines Kindes anschaute; aber er konnte nun einmal nicht anders und unaufhörlich rief es in ihm: Und der Christen paßt doch nicht recht zu uns.

Es hat eine gar eigenthümliche Bewandtniß um Ahnungen, die sich einmal des Gemüthes bemächtigt haben. Im Grunde genommen sind es doch nur Ueberzeugungen, die sich in ihren Gründen noch nicht klar geworden; aber gerade aus diesem Mangel an Klarheit schöpfen sie ihre zähe Lebensdauer. Die unbestimmte Empfindung, der unklare Eindruck ringt und strebt fortwährend nach Klarheit; drum heftet er sich an jedes Ereigniß, an jede Vorkommenheit, in der Hoffnung, darin das gesuchte Licht zu finden. Durch diese stete Thätigkeit aber bleibt er eben frisch und lebendig und greift so manchmal verwirrend in's Leben ein. Es war die ganze Zähigkeit solcher unklaren vorahnenden Eindrücke nothwendig, um bei Sepp über der freundlichen Gestaltung des Lebens eine fortwährende Unruhe und innere Beängstigung zu erhalten; denn wirklich schien das Glück des jungen Ehestandes mühelos und frisch aufzublühen wie eine Alpenrose. Das Mißbehagen und die drohende Unordnung, welche Christen durch seine äußerlich angewandte Ordnung bald in seinem Hauswesen heimisch gemacht hätte, verschwanden wieder vor der einfachen Thätigkeit und dem stets heitern, oft genug in helle Lustigkeit ausschlagenden Wesen der jungen Hausfrau, wie ein verspäteter Morgennebel vor dem Sonnenlichte. Das griff alles wieder so genau und geräuschlos in einander, wie die Räder einer Maschine, deren treibende Wasserkraft wir nicht sehen, deren lustiges Niederplätschern wir nur hie und da hören können. Christen selbst fühlte sich bei diesem bequemen Gange der Dinge anfänglich unendlich wohlbehaglich und oft sagte er scherzend zu seiner unablässig thätigen Frau: »Mir geht's lange gut; ich hab's wie die Schiffer drunten auf dem See bei günstigem Winde. Sie spannen das Segel, legen sich in's Schiff und lassen sich lustig vorwärts treiben.« – »Wenn nur keine Windstille oder gar ein Sturm kommt,« meinte Aenneli nachdenklich – »ausbleiben wird's wohl auch nicht.«

»Ach,« erwiderte Christen, sein blühendes Weibchen an sich ziehend, »mein Segel weiß sich von selbst nach jedem Luftzuge zu richten – das ist aus gutem Tuche.«

Christen sprach mit diesem Scherze gewiß seine volle Herzensmeinung aus. Er fühlte sich glücklich und glaubte dieses Glück auch auf eine lange Zukunft sicher gestellt. Er mußte oft über die Vorstellung lächeln, wie sich eine seiner ehemaligen städtischen Bekannten in dieser Bergwirthschaft ausgenommen haben würde. Das wäre wohl in doppeltem Sinne bergab gegangen, dachte er. Als aber erst die Hinteralm sich abermals begrünte und der erste Kukuk des neuen Jahres ein hübsches, munteres Büblein in's Haus brachte, da flüsterte Christen, sich auf die wehmüthig lächelnde Wöchnerin niederbeugend: »Ach, Aenneli, mir ist's, ich habe all' dies Glück nicht um meinen Vater verdient!«

Sepp hatte der Ankunft des jungen Hinteralmbewohners mit einer verschwiegenen Besorgniß entgegengesehen. Es ist nämlich ein altherkömmlicher, ländlicher Brauch, daß noch lebende Großältern dem ersten Enkelkinde zu Gevatter stehen. Ob Christen dieses Herkommen halten, ob der Großvater angesucht würde, den Kleinen in die Gemeinschaft einzuführen? – Sepp hatte durchaus keinen bestimmten Grund, daran zu zweifeln, behandelte ihn doch Christen stets, wie es einem wohlmeinenden, guten Schwiegersohne ansteht; aber vielleicht konnte sich gerade bei einem solchen Anlasse ein gewisser Stolz regen und einer der vielen städtischen Bekannten zu Gevatter gebeten, oder wenigstens dem Großvater ein solcher vornehmer Gefährte beigegeben werden. Der alte Gemsensepp jauchzte innerlich auf vor Glück und geheimem Stolz, als er einzig mit einer muntern Schwestertochter des alten Steinberger seinen Enkel zur Taufe tragen durfte.

Jetzt that er freiwillig und unangefragt, um was ihn Aenneli und Christen anfänglich vergeblich ersucht hatten. Er siedelte zu seinen Kindern über und half selbst, einen Theil der Wände, zwischen denen er so lange gelebt, niederreißen, um das Häuschen zur Aufbewahrung von mancherlei Vorräthen und Geräthschaften geeigneter zu machen.

Nun erst schienen Zufriedenheit und Glück der kleinen Familie auch äußerlich gegründet und festgestellt; aber das eben ist die dämonische Macht des Glückes, daß es den Menschen von den Wegen, auf denen er's gefunden, ablenkt und neue aufsuchen läßt. Manchmal liegt dahinter die wohlgemeinte und überdachte Absicht, das bereits Gewonnene durch einen neuen Erwerb zu mehren und zu sichern, manchmal ist's aber auch die ungenügsame Undankbarkeit, welche die freundlichen Geschenke des Lebens nicht zu schätzen weiß. Bei Christen war es wohl nur das erstere, bessere Theil, als das scharfe Liebesauge seines Weibes gar bald an ihm eine bisher ungekannte Unruhe bemerkte, über die er selbst keine rechte Auskunft zu geben wußte. Endlich mußte sie sich aber auch klar werden, diese Unruhe.

Der Vater saß in der Dämmerung am Fenster, den Kleinen auf den Knieen wiegend, dessen Lallen bereits nach verständlichern Lauten suchte. Die Mutter kam herbei und das Kind streckte ihr verlangend die Aermchen entgegen. Sie wollte es herzend aufnehmen, als Christen mit zärtlichem Schmollen sagte: »Ich komm' immer zu kurz; du magst mir das Bübchen auch gar nie gönnen.« Aenneli besann sich lächelnd einen Augenblick; dann flüsterte es, sich an das Ohr seines Mannes niederbeugend: »Wart' nur noch ein wenig; im Frühjahr kann Jedes von uns ein Kleines auf den Armen halten.«

Christen schaute, ohne eine Antwort zu geben, mit nachdenklichem, fast besorgtem Gesichte zu seiner Frau auf und blickte dann ebenso nachdenklich und schweigend in den dunkelnden Abend hinaus. Aenneli war darüber betroffen und es fühlte, wie über diesem Schweigen des Mannes ein unklares Bangen sich auf sein Herz legte. »Warum sagst du nichts, Christen?« fragte es nach einer Weile schüchtern.

»Ich habe an etwas gedacht,« erwiderte er langsam.

»Und an was denkst du denn, lieber Mann? Darf es dein Frauele nicht auch wissen?«

»Ei freilich – warum solltest du das nicht?« gab er zur Antwort, »geht's dich doch fast ebenso gut, wie mich selbst an. Aber sieh', ich habe schon lange gedacht, es könne nicht mehr so fortgehen, wie bisher, ich müsse noch etwas anderes anfangen und treiben.«

»Ich verstehe dich nicht recht,« sagte die junge Frau zweifelnd.

»Nun, das ist doch leicht zu verstehen. Sieh' nur, ich habe mir schon oft im Stillen Vorwürfe gemacht, daß ich die ganze Zeit hier oben eigentlich noch nie recht gearbeitet, und nur so in den Tag hinein gelebt habe.«

»Das kann ich immer weniger verstehen.«

»Aber so halte mich doch nicht für so blind und gedankenlos,« fuhr er fast unwillig fort; »oder meinst du, ich sehe nicht recht gut ein, daß das Hauswesen hier seinen ungestörten Gang fortgehen würde, auch wenn ich gar nicht da wäre? Glaubst du, ich bemerke nicht, daß alle Anordnung eigentlich von dir ausgehe und daß Jedes sich nicht an mich, sondern an dich wendet, wenn es etwas wissen oder thun will?«

»Aber mein Gott, wo willst du denn mit all' dem hinaus?« fragte Aenneli leise.

»Einfach da hinaus, daß ich arbeite, wie du auch, und wie du das treibe, was ich verstehe. Ich will irgend einen Handel anfangen, mit Vieh, Käse, oder noch am liebsten den Holzhandel.«

Aenneli mußte unwillkürlich über sich selbst und seine ausgestandene Bangigkeit lächeln. Das Vorhaben Christens war nun ja nichts, vor dem es sich besonders zu ängstigen brauchte; aber doch übersah es auch mit einem einzigen Blicke, daß durch die Ausführung desselben das freundlich-stille Leben auf der Hinteralm vielfach gestört und umgeändert werden müßte. Deshalb sagte es nach einigem Besinnen: »Ich kann dir nicht in dein Vorhaben reden, weil ich zu wenig davon verstehe, doch sehe ich nicht recht ein, warum du dir neue Plage und Unmuß machen solltest. Wir haben ja Gottlob zu leben an dem, was wir besitzen und täglich erwerben.«

Christen schüttelte den Kopf. »Ihr Weiber seid doch alle gleich,« entgegnete er, »und wollt nie über die nächste Stunde hinausblicken. Denk' nur auch, was du mir vorhin gesagt hast; wenn nun einst zwei oder wer weiß wie viele erben wollen, so fällt meine Sache, die ich einzig antreten konnte, schon in kleine Theile. Wo eben anfänglich nichts zugebracht wird, sind die Kinder später immer verkürzt, wenn die Aeltern die Lücke nicht auszufüllen suchen.«

Die junge Mutter zuckte über diesen Worten so heftig zusammen, daß das Kind, das auf ihren Armen eingeschlafen war, erwachte und zu weinen anfing. Sie sang ihm mit leiser Stimme ein Schlafliedchen, und bald auch zeigte das träumende Lallen des Kleinen, daß der Friede des Schlummers wieder bei ihm einkehrte; der Mutter aber ward kein Liedlein gesungen, das ihr plötzlich erwecktes Leid einschläfern konnte.

Christen hatte keine Ahnung davon, wie schmerzlich seine Frau von seinen Worten getroffen worden; war ihm ja nie auch nur im Traume eingefallen, ihre Armuth ihr vorzurücken, und die geäußerte Vorsorge für die Zukunft der Kinder war auch lediglich dem Bedürfnisse nach Bethätigung der eigenen Kraft und Befähigung entsprungen. Drum beachtete er, nun schon auf's Lebhafteste mit der Inswerksetzung seiner Pläne beschäftigt, auch gar nicht, wie Aenneli stiller und zurückhaltender geworden war, oder bemerkte er's irgend einmal, so gaben ihm ja die Umstände der jungen Frau genügenden Aufschluß dafür, ohne daß er weiter nachzufragen brauchte. Auch dem Schwiegervater theilte er seine Absichten mit der freudigen Zuversicht mit, die an keinen Widerspruch denkt, sondern vielmehr der anerkennenden Zustimmung Anderer versichert ist. Und in Wahrheit hätte Sepp auch keine gegründete Einwendung vorzubringen gewußt.

Christen ging mit der Hast, die eine bisherige Unterlassung meint gut machen zu wollen, an die Ausführung seines Vorhabens. Noch vor dem Eintritte des Winters wurde am jenseitigen Thalabhange ein bedeutendes Stück Waldung gekauft und der Schlag desselben auch alsbald mit zahlreichen Arbeitern begonnen. Die Witterung selbst schien das Unternehmen begünstigen zu wollen. Es kam ein so geringer Schneefall, wie man ihn seit Jahren in dieser Gegend nicht mehr erlebt hatte; dagegen herrschte fortwährend trockene Kälte, wodurch eine Schlittenbahn entstand, wie man sie nicht günstiger wünschen konnte. Noch vor Ablauf des Winters war der geschlagene Wald mit verhältnißmäßig geringen Kosten und wenig Mühe bis auf den letzten Stamm fünf Stunden weit das Thal hinabgeschafft und das Kleinholz zu ansehnlichen Preisen im Städtchen und den umgelegenen reichern Ortschaften abgesetzt. Die größern Stämme schwammen den See hinab, um an dessen Ausgange sich von dem breiter und regelmäßiger fließenden Strome noch weiter in's Land hinabtragen zu lassen. Natürlich mußte Christen die Reise ebenfalls machen, um an geeignetem Orte den Verkauf selbst bewerkstelligen zu können. So geschah es, daß er sich in weiter Ferne befand, als für sein Weib auf der stillen Hinteralm abermals die schwere Stunde kam, die einem muntern Mädchen das Leben gab. Das Glück der jungen Mutter war diesmal nicht so ungetrübt, wie vor einem Jahre, da ihr der besorgte Gatte die Schmerzensspuren von der Stirne gestreichelt hatte, und als ihr die Wehfrau das feine, zierliche Wesen in die Arme gab, mußte Aenneli unaufhaltsam weinen, als ob es eine Waise an die Brust legte. Sogar die Taufe mußte gegen herkömmlichen Brauch lange verzögert werden, da der Vater vor seiner Heimkehr noch sein Geschäft beendigen wollte.

Gleichwohl hatte die sorgliche und haushälterische Frau Ursache, sich aufrichtig mitzufreuen, als Christen endlich überglücklich heimkehrte. Er hatte durch die Arbeit des Winters, der in der Bergwirthschaft stets ohne namhaften Erwerb verfloß, mehr baares Geld gewonnen, als das ganze Besitzthum in Jahren zusammen abwarf.

Dafür wurde nun aber auch eine Taufe ausgerichtet, wie die Hinteralm sicherlich noch keine gesehen hatte. Die junge Mutter hätte gewünscht, daß die Pathenschaft wieder aus der Verwandtschaft genommen und besonders eine Bruderstochter ihres Vaters, die drunten im Dörfchen lebte und Aenneli während der letzten schweren Zeit getreulich beigestanden, Gotte werden möchte; aber der Wunsch war kaum ausgesprochen, als Christen denselben mit großer Entschiedenheit ablehnte. »Du mußt wissen, daß ich's meinem Geschäftsfreunde drunten in der Stadt schon lange, bevor das Kind da war, zugesagt habe. Er will wieder heirathen, die reiche Wittwe des ehemaligen Sternenwirthes, und das gibt nun eine prächtige Gelegenheit, die Beiden zusammenzubringen; drum muß sie auch Gotte werden.« – Aenneli fröstelte leise zusammen bei diesem Vorschlage. Es schnitt ihm tief in's Gemüth, daß über das Kind ohne sein Wissen gleichsam schon verfügt worden war, während es noch unter seinem Herzen lag; es kam ihm als Sünde vor, daß die Taufe als Mittel gebraucht werden sollte, um eine Ehe zu Stande zu bringen, die kein Bund der Herzen, sondern nur des schnöden Geldes sein konnte. Die junge Mutter scheute sich auch nicht, diesen Gedanken ihrem Manne mitzutheilen; der aber schüttelte verdrießlich den Kopf und meinte, von solcher überflüssigen Empfindsamkeit habe man nicht gelebt. Sein alter Geschäftsfreund habe ihm während des vergangenen Winters manche vortheilhafte Gefälligkeit erwiesen und er müsse sehen, wie er ihn auch für die Zukunft sich verbinden könne; das werde ihnen beiden noch manchen Vortheil bringen.

Aenneli schwieg und ließ geschehen, was es, ohne offenen Unfrieden zu stiften, nicht verhindern konnte; aber die goldenen Ketten und seiderauschenden Kleider der vornehmen Pathenschaft waren wenig geeignet, das verletzte Muttergefühl zu versöhnen, wurde doch all' dieser Prunk nicht aus theilnehmender Festfreude an dem jungen Täuflinge, sondern aus ganz andern, und eben nicht sehr reinen Absichten zur Schau gestellt. Auch die reichen Angebinde, die aus der Stadt mitgebracht wurden, legte Aenneli rasch bei Seite und verschloß sie im hintersten Schrankwinkel; sie kamen ihm vor, wie verrätherische Silberlinge, um die ein frommes Fest stiller Häuslichkeit, eine heilige Aelternpflicht dahingegeben worden war. Wie war das vor einem Jahre so ganz anders gewesen, als der Vater wieder einmal das Kleid anzog, in dem er vor eurem Vierteljahrhundert die Mutter zum Altäre geführt, und zwischen Scherz und thränennaher Rührung einen blühenden Strauß an seinen Hut steckte, als ob es nochmals zum Brauttanz ginge! –

Ein reines Herz empfindet in Dingen, die es nahe berühren, immer das Richtige und die Strafe erfolgt, wenn seine warnende Stimme überhört wird, oft gar bald auf Wegen, die kein berechnender Verstand voraussehen konnte. So geschah es auch auf der Hinteralm, wo der entweihte Tauftag den Samen zu bittern Früchten aus streute. –

Dem guten Sepp lag das immer schweigsamer werdende und bekümmerte Wesen seines früher so heitern Kindes schon lange schwer auf dem Herzen; gleichwohl hütete er sich, Klagen hervorzulocken, die nicht aus freien Stücken vor ihn gebracht wurden. Er war sogar froh, daß Aenneli seinen Kummer für sich trug. Ehestand – Wehestand, dachte er und wußte dabei recht gut, daß wo zwei durch diesen Stand verbundene Menschen ihre Mißverständnisse und gegenseitigen Bekümmernisse nicht unter sich selbst zu lösen suchen, ein Dritter auch mit dem besten Willen gar oft aus schlimm nur ärger macht. Die vornehme Gevatterschaft behagte ihm so wenig, als der Wöchnerin; aber er wollte nichts merken lassen und gab sich alle Mühe, ebenfalls seinen Tribut an dem bevorstehenden Festtage abzutragen. Als richtiger Jäger hätte er in dieser Jahreszeit kein Thier geschossen, aber seit dem Tage der Geburt war er um Auffindung einiger Berghühnernester besorgt, deren wohlgenährte Brut als Leckerbissen auf dem Pathentische erscheinen sollte. Ueber der Verzögerung des Festes waren jedoch die ausersehenen Opfer flügge geworden und hatten das Weite gesucht. Sepp kletterte über die hinter dem Walde emporsteigenden Felshörner, zwischen denen in unwegsamer Wildniß ein kleiner, aber tiefer Bergsee lag, in dessen reinem, gletscherkaltem Wasser schimmernde Goldforellen schwammen. Der alte Mann mußte, um diese Schätze zu heben, jäh versinkende Schründe übersteigen, deren mattwerdender Schnee jeden Schritt mit Todesgefahr bedrohte. Es gehörte drum neben der Waghalsigkeit auch seine ganze erprobte Geschicklichkeit dazu, um bei dieser Jahreszeit eine Tracht des köstlichen Fisches auf die Hinteralm herabzubringen; aber mit dem eingefangenen Flossenthiere war dem Jägersmann noch nicht genug, gethan und in seiner hingebenden Theilnahme entschloß er sich nun zu etwas, das er in seinem ganzen Leben vermieden hatte. Er wußte nämlich in dem Walde, der die Hinteralm von den rückwärts liegenden Flühen abgürtete, einige Wildtaubennester, und noch am Abend vor dem Tauftage kletterte er in die hohen Tannenwipfel, um deren junge Insassen herabzuholen. Das war ein schwerer Schritt für den alten Sepp, und noch als er schon in das erste wipfelhohe Nest hineinschaute, zog er die Hand wieder zurück und sagte kopfschüttelnd vor sich hin: »Ich sollt' es nicht thun – es ist eine Sünde.« Aber endlich that er's doch; was der Mann für sich und Andere noch nie gethan, that nun der Großvater für den Tauftag seiner Enkelin. In seinem ganzen Jägerleben hatte er in diesem Walde noch nie einen Schuß abgefeuert, noch nie eine Vogelbrut gestört, nicht einmal diejenige eines sonst ungebetenen Raubvogels. Das war so von Vater und Großvater herübergekommen – der Wald galt ihren Eigenthümern, den Hinteralmbewohnern, heilig und blieb drum selbst den Thieren eine sichere Freistatt; daher erklang er auch vom Frühling bis zum Herbste von unzähligen Vogelstimmen, zwischen die sich oft Jahre lang weder ein Schwirren der Säge, noch ein schallender Axthieb mischte. Den benöthigten Bedarf an Brennholz holten die Hinteralmer im Herbste von den Stämmen, welche im Vorsommer zuhinterst am Waldsaume am Fuße der Flühen von den niederstürzenden Lauenen zusammengebrochen worden waren. Nur in seltenen Fällen wurden etwa einige Stämme Bauholz gefällt; aber auch das geschah immer mit großer Vorsicht und einer Art geheimnißvoller Scheu, die von: Vater auf das Kind vererbt worden.

Diese wohlbewahrte Scheu war es, die dem Großvater Sepp das Wegnehmen der jungen Schlagtauben so schwer gemacht; aber die That fiel ihm erst recht drückend, als er für all' seine Mühe und Ueberwindung am Tauftage noch schlimmen Dank erntete. Er hatte das Braten der Wildtauben und das Backen der Forellen nicht einmal Aenneli anvertraut, geschweige den Mägden. »Habe ich so viele Mühe mit den Dingern gehabt, so will ich auch bis an's Ende dabei sein,« sagte er und stellte sich mit wohl erprobter Geschicklichkeit selbst an den Feuerherd. Beim Taufmahle zwar saß der alte Großvater schweigsam und bescheiden zu unterst am Tische; es war ihm auch ganz recht, dem großsprechenden Gevatter und der flunkernden Gevatterin nicht allzu nahe sein zu müssen; aber im Geheimen freute er sich doch auf das Erscheinen seiner Gerichte, die in der Stadt drunten selbst für gutes Geld nicht immer leicht zu erhalten waren.

Die schmeichelhafte Hoffnung des guten Alten wurde bitter getäuscht. Der vornehme Holzhändler erklärte, mit seiner breiten Hand über den Mund wischend: Er habe sein Lebtag nichts nach Fischen gefragt, unter Wahl sei ihm eine Leberwurst stets lieber gewesen; und die kochkundige Sternenwirthin meinte: Das beste Geflügel sei immer dasjenige, das man im Hühnerhof ziehe; da könne man's gerade so fett werden lassen, als es für nöthig erachtet werde.

Der alte Jäger, der nie nach etwas Anderm gefragt, so lange er ein Stück Schwarzbrod und Käse in der Waidtasche trug, aber gleichwohl die edlen Gottesgaben, die dem Menschen in Wald und Wasser geboten sind, richtig zu schätzen wußte, hätte auf diese vornehm verächtlichen Urtheile gerne den richtigen Trumpf ausgespielt. Er schluckte jedoch den Aerger hinunter, legte Messer und Gabel leise zusammen und ging hinauf in sein Stübchen.

Dort saß er lange, den Kopf in die Hand gestützt; dann öffnete er das Fenster und schaute, um das unheimliche Sinnen los zu werden, auf die sonnenbeschienene Alm hinaus.

Mit dem Anstandsgefühle, das dem einfachen, verständigen Menschen eigen ist, hatte Sepp seinen Verdruß bald verwunden und dachte eben wieder daran, hinunterzugehen, als er Christen mit der Gevatterschaft aus dem Hause treten sah. Sie gingen langsam und wie es schien unter heitern Gesprächen die Alm aufwärts dem Walde zu; ebenso langsam, oft stillestehend, schritten sie im Schatten seines Saumes dahin und traten endlich, an den schmalen Fußweg gekommen, in die Nacht der dunkeln Tannen hinein.

Mir ist's schon recht, noch ein wenig hier allein zu bleiben, dachte Sepp; aber kaum hatte er seinen Blick wieder auf die in lichtem Grün aufschwellende Alm gerichtet, als sich von hinten eine Hand leise auf seine Schulter legte. »Ach, bist du's?« sagte er fast erschrocken zurückschauend.

Aenneli blickte ihm bekümmert in die Augen und fragte dann leise: »Warum bist du drunten fortgegangen, Vater?«

»Ich wollte nur ein wenig frische Luft schöpfen da droben,« erwiderte Sepp, mit der Hand langsam über das Gesicht fahrend, »es war so heiß drunten. Ich komme gleich wieder, wenn sie zurück sind.«

Aenneli gab keine Antwort. Eine Weile stand es mit gesenktem Gesichte vor dem Vater; dann warf es sich mit beiden Armen um seinen Hals und fing bitterlich zu weinen an. Sepp hielt sein schluchzendes Kind lange schweigend an der Brust bis es sich von selbst wieder etwas beruhigt hatte. Dann sagte er weich: »Geh' jetzt hinunter und wasche dein Gesicht; ich denk', es braucht Niemand zu wissen, daß du geweint hast.« Aenneli ging, ohne ein Wort zu erwidern oder seinen Vater anzuschauen. Die Beiden hatten sich verstanden, obwohl es die erste Klage war, die zwischen ihnen laut geworden.

Als Sepp den Kopf wieder aus dem Fenster beugte, standen der Gevatter und Christen gerade vor der Hausthüre; die Gevatterin mußte schon hineingetreten sein. »Hört, Steinberger,« sagte der Gevatter mit erhobener Stimme, »Ihr könnt in dem Walde wenigstens zweitausend Stämme schlagen lassen; das ist ja eine wahre Goldgrube, an die dein Vater glücklicherweise für dich nicht gedacht hat.«

»Ich habe, sonderbar genug, selbst noch nie daran gedacht,« erwiderte Christen nachdenklich: »ich meinte immer, der Wald gehöre zur Hinteralm wie Grund und Boden, an dem nichts zu ändern sei.«

»Ihr seid eben erst wieder Anfänger im Geschäft,« sagte der Gevatter etwas vornehm; »aber wißt Ihr was, ich geb' Euch für den einzigen Schlag zwischen den beiden Fußwegen fünftausend Franken und hole das Holz vom Stock, ohne daß Ihr eine Hand zu rühren braucht.«

Christen besann sich einen Augenblick; dann erhob er rasch die Rechte und schlug sie mit lautem Klatschen in diejenige seines Gegenübers. »Ein Mann, ein Wort – Herr Gevatter.«

Die beiden Männer traten Hand in Hand in's Haus herein, während Sepp unbeweglich weit hervorgebeugt unter seinem Fensterchen liegen blieb. Er schaute unverwandten Auges nach dem Walde hinauf, über dessen dunkeln Wipfeln die Flühen noch mit sonnenbeglänzten Schneefeldern hereinragten. War er bei wachen Sinnen oder hatte er blos geträumt? War es Ernst, was die Beiden mit einander gesprochen, oder hatten sie blos Scherz getrieben? – »Ernst kann es Christen nicht sein,« sagte Sepp vor sich hin, indem er aufstand, »sie haben mich bemerkt und wollten mich necken.« Ist's aber anders, dachte er weiter, sich zum Hinuntergehen anschickend, nun ja – dann ist der Gemsensepp auch noch am Leben.

Drunten in der Wohnstube ging's laut und lebhaft her; die Gevatterschaft rüstete sich zum Aufbruche und es wurden auf glückliche Heimkehr und baldiges Wiedersehen noch rasch einige Gläser getrunken, die nicht ermangelten, die schon vorhandene Heiterkeit auf die rechte Höhe zu bringen. Sepp mußte ebenfalls mit anstoßen; aber es kam ein leichtes Frösteln über ihn, als sein Glas mit demjenigen des Gevatters zusammenklang; es gab auch einen so schrillen Laut, als ob eines der beiden Gläser gesprungen wäre. Gleichwohl ward dem alten Manne wieder leichter zu Muthe, als von dem Handel kein Wörtchen mehr gesprochen wurde. Es war also offenbarer Scherz gewesen. Endlich ward Abschied genommen; Christen begleitete die Gevatterschaft noch gegen das Dörfchen hinab und Sepp ging, da Aenneli mit den Mägden das Abräumen zu besorgen hatte, nach dem Walde hinauf.

Es war schon dunkel geworden, als er von seinem Streifzuge durch all' die schmalen verschlungenen Waldwege zurückkehrte. Aenneli saß mit Christen in der Stube und dieser erzählte hoch vergnügt von dem Handel, den er abgeschlossen und wie er dabei ein schönes Stück Geld gewinne, ohne nur einen einzigen Schritt über die Thürschwelle thun zu müssen. Blos die Arbeiter habe er zu bestellen versprochen, und das wolle er auch gleich morgen besorgen, damit der Schlag spätestens in acht Tagen beginnen könne.

Sepp hatte sich bei seinem Eintritte auf die nahe Ofenbank gesetzt, da ihm schon die ersten Worte Christens wie ein lähmender Schreck durch die Glieder gefahren waren. Er war froh, daß es dunkel war in der Stube, denn er meinte zu spüren, wie über der Erzählung Christens Aenneli's Augen mit banger Bekümmerniß an seinem Gesichte hingen; drum ließ er auch kein Wort hören und gab sich Mühe, den beiden Gatten möglichst unbefangen und freundlich eine gute Nacht zu wünschen.

Die Ruhe jedoch, die der alte Mann seinen Kindern gewünscht, konnte er selbst diese Nacht am wenigsten finden und der erste Frühschein traf ihn noch so schlaflos, wie er sich niedergelegt. Er stand leise auf und ging hinunter. Auf der kleinen Bank neben der Hausthüre wartete er, bis einer der Knechte herabkam, und diesem sagte er, man möge beim Morgenessen nicht auf ihn warten – er wolle einen Gang in die Flühen machen.

Dahin ging er nun freilich nicht. Er durchstreifte nur mit unstäten Schritten den Wald, der von unzähligen Vogelstimmen erklang, bis die Sonne höher gestiegen war, und sich drunten auf der Hinteralm die Geschäftigkeit des Werktages bemerklich machte; dann schritt er am hintern Rande der Alm hinunter und stellte sich neben dem Felsenhang auf den Weg, der nach dem Dorfe hinabführte.

Sepp hatte sich nicht verrechnet und er befand sich noch nicht lange auf seinem Posten, als Christen wohlgemuth den Weg herabgegangen kam.

»Ei, guten Tag, Vater,« rief ihm dieser entgegen; »sie sagten daheim, du seiest in die Flühen gegangen.«

»Ich habe mich anders besonnen,« erwiderte der alte Mann trübe; »aber wo willst du schon hin?«

»Ich will drunten im Dorfe nach den Arbeitern sehen, die ich dem Gevatter zu bestellen versprochen habe.«

Sepp schaute einen Augenblick schweigend um sich, als ob er unsichtbare Zeugen befürchte. Dann trat er näher an seinen Schwiegersohn heran und sagte mit gedämpfter Stimme: »Aber es wird dir doch nicht Ernst sein, Christen, mit dem ganzen Handel? Du wirst doch nicht die volle Strecke zwischen den beiden Fußwegen bis an die Flühen hinauf schlagen lassen wollen?«

»Und warum sollt' es mir nicht recht sein,« entgegnete Christen, »das ist ja der beste Handel, den ich machen könnte, Vater.«

»Aber die Lauenen,« fuhr Sepp ängstlich fort, »wie wird es gehen, wenn die einen offenen Weg von den Flühen nach der Hinteralm finden? – Und das Hauri – glaubst du, das werde mit seiner Warnung noch ein einziges Mal herabkommen, wenn der Wald durch einen ganzen Schlag gelichtet wird?«

Bei Erwähnung der Lauenen war eine leichte Röthe über Christens Gesicht geglitten und er hatte den vor ihm stehenden alten Mann einen Augenblick betroffen angeschaut; als dieser aber mit noch gedämpfterer Stimme den Namen Hauri nannte, brach Christen in ein lautes, gezwungenes Gelächter aus.

»Was zum Kukuk,« rief er halb höhnisch, halb unwillig, »soll ich mich bei einem ernsthaften Geschäfte um deine alten Mährchen kümmern! – Hauri hin, Hauri her – das ist gut auf der Ofenbank im Winter, wenn man nichts Anderes zu thun hat. Uebrigens weißt du so gut als ich, daß es kein Geist ist, sondern einfach das Pfeifen des Windes durch die Flühenschründe.«

Ueber diesen Worten war Sepp einige Schritte zurückgetreten und hatte sich auf den Plankenzaun gesetzt. Nach einem Augenblicke tiefen Schweigens sagte er, ohne die Augen aufzuschlagen: »Das kann dein Ernst nicht sein, Christen, sag' mir's, es ist dir nicht ernst.«

»Freilich ist's mir das,« entgegnete der Andere unwillig, den Hut tiefer auf die Stirn drückend und sich zum Gehen anschickend; »im Weitern kann man ja am Fuß der Flühen einige Stämme stehen lassen, obschon seit Menschengedenken keine Laue auch nur zwanzig Schritte in den Wald hineingestürzt ist.«

Damit wandte er sich und begann, den Weg niederzusteigen; aber hinter ihm drein rief der Alte nun fast drohend: »Besinn' dich, Christen – das kann und darf nicht geschehen; ich werd's nie zugeben!«

Durch diesen Ton wurde der junge Mann ebenfalls gereizt. »Hör' du,« rief er, ohne im Gehen einzuhalten, zurück, »misch' dich nicht in anderer Leute Sache; ich kann die meinige ohne deinen Rath besorgen.«

Sepp blieb noch eine Weile unbeweglich auf seiner Planke sitzen und schaute dem am Felsen Hinabsteigenden nach, bis er, ohne nochmals umzublicken, hinter dem Gebüsche verschwunden war; dann erhob er sich und seufzte, die Schritte langsam heimwärts lenkend, laut vor sich hin: »Das arme Aenneli – aber ich bin's auch ihm schuldig.« –

Zu Hause gab es zwischen Vater und Tochter eine lange geheime Unterredung. Die Mägde steckten neugierig und theilnehmend die Köpfe zusammen, als die Meisterin nach derselben mit rothgeweinten Augen in die Küche trat und sich stiller Thränen noch immer nicht zu erwehren vermochte. So etwas war auf der Hinteralm nicht mehr gesehen worden, seit sie den alten Steinberger nach dem Kirchhofe getragen hatten. Das Erstaunen und Werweisen erhielt bald noch mächtigere Nahrung, als befohlen wurde, dem Großvater behülflich zu sein, seine Sachen nach dem alten Häuschen hinüberzuschaffen und Aenneli selbst sich dahin begab, um das Nothwendigste einzuräumen.

Christen kam erst am Spätnachmittage von seiner Wanderung heim und schien müde und verdrießlich zu sein. Das thränenbleiche, bekümmerte Antlitz seiner Frau konnte ihm nicht entgehen, aber er schien eine Frage nach der Ursache desselben zu scheuen und ging, ohne dieselbe gestellt zu haben, auf die Alm hinaus, nach der Viehhut zu sehen. Am Abend, als er zurückkam, war Aenneli allein in der Stube mit den Kindern beschäftigt. »Ich muß dir etwas sagen, Christen,« begann es nach einer Weile leise und wehmüthig; »der Vater ist heute wieder in unser altes Haus hinübergezogen.«

»Was sagst du,« rief Christen überrascht, »wieder hinübergezogen? Und warum denn das?«

»Du wirst dir's wohl denken können,« antwortete Aenneli ebenso leise, wie es angefangen; »er sagt, es würde gegenwärtig doch nicht mehr gut thun zusammen unter einem Dache.«

Christen biß die Lippen zusammen und schwieg. Er erwartete, Aenneli würde mit lauter Klage ausbrechen und er wünschte dies sogar; vielleicht wäre dadurch ein Anlaß geboten worden, die ganze Angelegenheit, die eine so verdrießliche Wendung nahm, auf irgend eine anständige Weise beseitigen zu können; denn Christen war drunten im Dorfe selbst auf einen ihm höchst unerwarteten Widerstand gestoßen. Von all' den Männern, die ihm den ganzen Winter bei seinem eigenen Holzgeschäfte geholfen und dabei einen schönen Taglohn verdient hatten, waren jetzt nur einige Wenige, und das fast lauter die Unbrauchbarsten bereit, die Arbeit auf der Hinteralm an die Hand zu nehmen. Sogar das Versprechen eines bedeutend erhöhten Lohnes wollte nicht verfangen. Sie erklärten übereinstimmend, ohne daß Einer vom Andern gewußt hätte, der Hinteralmwald sei von jeher als ein Schutzwald betrachtet worden und man könne nicht wissen, ob durch den Schlag desselben nicht das Dorf selbst gefährdet würde. Ueber den mühsamen und doch beinah vergeblichen Gängen nach den weit aus einander liegenden Hütten war Christen selbst nachdenklich geworden, und wären ihm nun zu Hause zu dem Bisherigen noch die Klagen und Bitten seiner Frau entgegengekommen, so würde er wohl den Entschluß gefaßt haben, sich mit seinem Geschäftsfreunde auf irgend eine Art aus einander zu setzen. Aber Aenneli blieb, nachdem es dem Manne die Uebersiedelung des Vaters mitgetheilt, stille und bemühte sich, mit leisen, wehmüthigen Tönen das Kind auf seinen Armen einzuwiegen.

Der nun schon gereizte Mann wurde darüber vollends verbittert. Er war überzeugt, daß Sepp und Aenneli die ganze Angelegenheit des Breiten und Langen und zwar wohl zu seinen Ungunsten durchbesprochen; er war auch versichert, daß Aenneli weder Bitten noch Thränen gespart hatte, den Vater, an dem es mit vollem Herzen hing, von seinem Wegzuge aus dem Hause abzuwenden; er sah ja an den verweinten Augen seiner Frau, die nur mühsam neue Thränen zurückhielten, daß sie schweren Kummer trug; und von all' dem sollte er, der Nächstbeteiligte, nun nichts erfahren, ihm wurde das Wort nicht gegönnt, das wohl hinter seinem Rücken wenig gespart worden, das eigene Weib behandelte ihn mit einer verletzenden Schweigsamkeit, als ob er keiner Bitte werth wäre, als ob er der Himmel weiß schon welche Uebelthat begangen hätte. Wenn das so ist, dachte Christen, nach langem Zuwarten aufstehend und mit schweren Tritten aus der Stube gehend, wenn das so steht, so will ich zeigen, wer Meister ist auf der Hinteralm. Der verblendete Mann! hätte er geahnt, wie schwer seinem treuen Weibe das dem Vater gegebene Versprechen, sich in keinerlei Weise in die Angelegenheit einzumischen, auf dem Herzen lag, er würde nicht am folgenden Morgen bis weit in's Thal hinab und sogar in die Seitenthäler gegangen sein, um für den Herrn Gevatter die benöthigten Arbeiter anzuwerben.

Das Vertrauen, das unverhüllte Darlegen der verborgensten Herzensregungen vor den Augen eines Andern ist die edelste reinste Gabe, die der Mensch dem Menschen zu bieten vermag, der treueste Schutzgeist in Liebe und Pflicht verbundener Menschenseelen; aber gerade darum verschließt es sich auch so schnell vor dem rauhen Hauche des äußern Lebens, wie die Knospen der zartesten Blumen sich vor dem sinkenden Abendnebel zusammenschließen. In seiner Hülle strebt und regt sich das verschlossene Leben unaufhörlich bei jedem leisesten Sonnenblicke und möchte hervorbrechen an's Licht; aber bevor die harte Decke sich wieder öffnet ist ein ganzer voller Sonnenstrahl nothwendig, der manchmal erst nach einem die Lüfte reinigenden Gewitter durch die dumpfen Dünste herabzudringen vermag.

Dem Aenneli auf der Hinteralm wollte das kalte, verschlossene Schweigen, das plötzlich zwischen ihm und Christen eingetreten, fast das Herz abdrücken und oft, wenn es in Thränen allein bei den Kleinen saß, nahm es sich vor, dem heimkehrenden Manne, so bald er unter die Thüre träte, um den Hals zu fallen und all' den stummen Kummer vor ihm auszuschütten. Mag er dann thun, was er will, befestigte die bekümmerte Einsame ihren Entschluß, ich bin ja seine Frau und habe Recht und Pflicht, ein Wort mitzureden. Wenn aber Christen nach Hause kam, und sich die harten, trotzigen Schritte schon von weitem hören ließen, dann fing der Muth des armen Weibes wieder zu sinken an, und wenn der Mann in die Stube trat und rasch mit strengen, fast mißtrauischen Blicken umherschaute, dann beugte es sein Gesicht auf die schlummernden Kinder herab, um die aufquellenden Thränen zu verbergen. Christen ging alsbald wieder hinaus, zornig vor sich hinmurmelnd: »Man hält sich zu gut, mir ein einziges Wort zu gönnen, und bald werde ich im eigenen Hause behandelt wie ein Hund; aber hollah, so haben wir nicht gewettet.« –

Die trübe, schwere Woche verging und schon in der Morgenfrühe des nächsten Montags kam der Gevatter auf der Hinteralm angelangt. Hinter ihm her zog eine Schaar Männer, die er nach dem Walde hinaufwies, während er selbst den kurzen Fußweg nach dem Hause des Steinberger einschlug. Christen konnte sich bei seinem Anblicke eines eigenen bangen Gefühls nicht erwehren und hätte Aenneli darum gebeten, so würde er jetzt noch gesagt haben: Gevatter, es kann aus den und den Gründen aus unserm Handel nichts werden, bestimmt mir den Neukauf; aber die Mutter hatte, als sie den Geschäftsfreund gegen das Haus herankommen sah, beide Kinder auf die Arme genommen und war schweigend mit ihnen hinaufgegangen nach dem ehemaligen Stübchen des Großvaters.

Nach kurzer Frist verließen die Männer das Haus und gingen mit einander dem Walde zu. Dort standen die Arbeiter, näherer Weisung gewärtig, müßig herum,, beschauten sich die zu fällenden Stämme oder es spannte hie und da Einer die Säge oder schlug die Axt etwas fester an den Halm. »Kommt Alle her,« rief der Gevatter, »zum Zeugniß des Waldbrauches.« Die Arbeiter stellten sich im Kreise um Christen und den Geschäftsfreund herum, und dieser sagte mit lauter Stimme: »Christen Steinberger, bezeuge vor diesen Männern nach Brauch und Uebung, daß du mir die Waldstrecke zwischen beiden Wegen bis an die Flühen ab Wurzel und Stock zu Recht und Eigen übergeben hast.« Christen erhob die Rechte zum Einschläge, sagte dagegen: »Ich übergebe dir das Benannte mit Ausnahme von zwei Dutzend Stämmen, die zuhinterst an den Flühen sollen stehen gelassen werden, zum Schutz vor Fels- oder Schneestürzen.« – »Das war nicht einbedungen,« entgegnete der Gevatter, indem er die ausgestreckte Hand wieder ein wenig zurückzog; »indessen kannst du mir hier dem Rande entlang so viel andere Stämme anweisen.«

»Es soll geschehen,« antwortete Christen, und die herkömmliche Uebergabe ward mit kräftigem Handschlage festgestellt.

Der Geschäftsmann theilte die Arbeiter in Gruppen und gab Weisung, auf welcher Linie zuerst in den Wald eingebrochen und nach welcher Lage die Stämme gefällt werden müßten. In wenigen Minuten erklangen kräftige Axtschläge und begannen die langen Sägen zu zischen, während weithin aus den Wipfeln ein Schwarm von Vögeln mit verwirrtem Geschrei herumflatterte.

Aber noch hatte kein Stamm mit brechenden Aesten zu Boden gekracht, nur fing erst hie und da eine dunkle Krone sich zu neigen an, als plötzlich durch all' das Klopfen und Zischen eine kräftige Stimme rief: »Haltet ein, ihr Mannen – ich befehl' es im Namen der Obrigkeit.« Im Augenblick schwiegen Axt und Säge und Alles blickte verwundert auf, woher der Ruf gekommen und was er zu bedeuten habe. Vor dem Graben, der sich am Walde hinzog, stand der alte Gemeindevorsteher aus dem Dorfe mit einem großen Papier in der Hand. »Fast wär' ich zu spät gekommen,« sagte er freundlich zu Christen, »ich hab' nicht gedacht, daß ihr schon so früh seid auf der Hinteralm.«

»Ich weiß auch gar nicht, warum Ihr überhaupt gekommen seid,« erwiderte der erstaunte Christen, »und will gerne erfahren, was das zu bedeuten hat.«

»Wird bald geschehen sein,« gab der Gemeindevorsteher zurück, indem er das Papier in seinen Händen aus einander faltete; »der Gemsensepp, Euer Schwiegervater, hat eben als Miteigenthümer des ganzen Hinteralmwaldes gegen Verkauf und Schlag eines Theils desselben Rechtseinspruch erhoben und bis zum Austrage der Sache gegen weiteres Vorgehen ein richterliches Verbot ausgewirkt. Hier könnt Ihr's selbst sehen.«

Während Christen das dargereichte Papier mit den Blicken überflog, begannen seine Hände leise zu zittern und auf seinem Gesichte stritten Gluth und Zornesblässe. Einen Augenblick biß er auf die Unterlippe, daß sie blutig anlief; dann aber rief er, in ein höhnisches Gelächter ausbrechend: »Zum Teufel, Herr Gemeindevorsteher, Ihr seid zu alt für solche Späße; seit wann sollte der Gemsensepp, der kaum ein ganzes Hemd auf dem Leibe hat, Miteigenthümer des Hinteralmwaldes sein?«

»Das könntet Ihr besser wissen als ich,« erwiderte der Alte achselzuckend. »Die Hemden Eures Schwiegervaters gehen mich nichts an, dagegen ist mir wohlbekannt, daß des Gemsenseppen von jeher in diesem Walde das Beholzungsrecht besaßen, ebenso gut als auf der Alm selbst ein Weiderecht. Sie werden drum wohl Mitbesitzer von Beiden gewesen sein – denk' ich.«

Ueber der Ruhe und dem zurechtweisenden Ernste des Gemeindevorstehers fand auch Christen seine Besonnenheit wieder, wenigstens vermochte er sich äußerlich zu bezwingen, obwohl jedes der gehörten Worte wie ein Schlag auf ihn niederfiel. An das berührte Rechtsverhältniß hatte er wohl in seinem Leben nie gedacht, oder war dies irgend einmal flüchtig geschehen, so hatte er dasselbe jedenfalls in ganz anderer Weise aufgefaßt. Drum sagte er nach einigem Besinnen, das obrigkeitliche Verbot zwischen den Fingern zusammenknitternd: »Ich betrachte die Sache anders als Ihr, Herr Gemeindevorsteher. Was des Gemsenseppen von jeher aus Alm oder Wald bezogen, war keine rechtliche Nutznießung, sondern ein freiwilliges Almosen der Steinberger. Versteht Ihr?«

»Könnt Recht haben – oder auch nicht,« entgegnete der alte Mann; »was Verjährungen zu bedeuten haben, brauch' ich Euch ebenfalls nicht zu lehren; Ihr seid in Rechtssachen besser erfahren als ich. Geht mich übrigens auch gar nichts an; ich hatte Euch blos nach Amt und Pflicht das Verbot zu weisen, und daß dies geschehen, dafür nehm' ich hier die Mannen als Zeugen. Thut nun, was Ihr wollt – Herr Steinberger.«

»Das werd' ich gewiß auch,« sagte Christen sich stolz aufrichtend; »drum meldet nur meinem Schwiegervater, daß ich nun nicht blos dieses eine Stück, sondern sofort auch auf eigene Rechnung den ganzen übrigen Wald werde schlagen lassen.«

»Ist nicht meines Amtes – solche Meldung,« lächelte der alte Mann, indem er seinen Hut ein wenig lüftete; »übrigens zürnt mir nicht und lebt wohl.«

Er ging ruhig und langsam den Almweg hinab, während die Arbeiter mit fragenden Gesichtern und erwartungsvollem Schweigen herumstanden. Der Erste, der dieses Schweigen brach, war der bisher mäuschenstille Geschäftsfreund. »Kommt her und gebt mir die Hand,« rief er, sich Christen nähernd, der dem davongehenden Gemeindevorsteher noch immer schweigend nachschaute, »die Hand her, Gevatter, Ihr seid ein Kapitalmann und habt dem Dorffürsten da prächtig den Paß gewiesen; aber der Gemsensepp – der Spitzbube, verzeiht –«

»Laßt's gut sein,« entgegnete Christen, mit der Hand über das bleiche Gesicht fahrend; »vielleicht ist's am Besten so gegangen. Ihr da, fahrt fort, wo ihr aufgehört, später gibt's noch mehr Arbeit.«

Die Männer nahmen zögernd ihre Aexte auf und wendeten sich wieder dem Walde zu; aber der Erste, der über den Graben zurücksprang, stieß einen lauten Ruf des Erstaunens, wenn nicht gar des Schreckens aus. »Du da – Gemsensepp?«

»Nur ich – ja –« erwiderte eine tiefe, wohlbekannte Stimme, nach deren Laut sich plötzlich alle Blicke überrascht hinwendeten. Neben dem Stamme einer mächtigen Tanne, die vor andern am tiefsten angesägt war und sich bereits mit der Krone zur Seite neigend auf ihre Nachbarn stützte, stand Sepp in voller Jagdrüstung; über die knapp anliegenden Lederhosen hing zur Linken das breite Waidmesser vom Gurte, während die Rechte in Schulterhöhe den Lauf des schweren Bergstutzers umfaßte, dessen Kolben auf einen bemoosten Stein gestemmt war. »Guten Tag, ihr Leute,« wiederholte der alte Jäger.

»Guten Tag, Sepp,« entgegnete der nächste Arbeiter, sich von seiner ersten Ueberraschung erholend – »willst in die Flühen mit Schein?«

»Kann sein – weiß es noch nicht.«

»Nun bis du's weißt, sei so gut und mach' mir an dem Stamme da Platz; er hinkt gottlob schon bedenklich.«

»Der Baum bleibt trotz seines Hinkens einstweilen stehen, guter Freund,« sagte Sepp mit fester Stimme.

Der Arbeiter, dem diese Antwort vielleicht nicht unerwartet kam, trat einen Schritt zurück und schaute zweifelnd nach Christen, der bisher seinen Schwiegervater schweigend aber mit zornigen Blicken betrachtet hatte.

»Macht einmal vorwärts,« herrschte er den Arbeitern zu, aber doch nur auf denjenigen blickend, der bereits über dem Graben stand – »es ist nun schon Zeit genug verloren gegangen.«

Der Mann hielt die Axt etwas näher an's Gesicht, als ob er ihre Schärfe prüfen wolle; aber gleichwohl blieb er noch immer zögernd stehen und es war offenbar, daß er seine Stelle lieber einem Andern überlassen hätte.

Christen wurde dadurch noch mehr gereizt. »Und du da,« rief er, sich gegen Sepp wendend, »geh' du deines Weges und stör' andere Leute nicht in ihren Geschäften.«

»Das thu' ich auch nicht,« entgegnete Sepp; »ich besorge nur mein eigenes Geschäft.«

»Du – dein Geschäft? – das möcht' ich auch sehen,« lautete es höhnisch zurück.

»Ja, Christen, mein Geschäft,« erwiderte Sepp ruhig aber fest; »und das besteht darin, mein Eigenthum zu schützen, damit ich von einem Steinberger kein Almosen mehr zu empfangen brauche.«

»Nun aber ist's des Geschwätzes einmal genug,« schrie Christen zornbebend gegen die Arbeiter; »macht endlich vorwärts und treibt den alten Narren weg, wenn er euch in den Weg kommt.«

Die Männer machten Miene, dem erhaltenen Befehle Folge zu leisten; aber Sepp trat rasch einige Schritte gegen den Graben vor und rief drohend: »Nehmt euch in Acht! Ihr seid Zwanzig gegen Einen, aber ich steh' für mein Recht, und Gott straf mich, der Erste, der noch eine Axt aufhebt, wird's bereuen müssen.« Damit hob der Alte, aus dessen Augen ein dunkles Funkeln schlug, den Bergstutzer in die Höhe, wie der Jäger zu thun pflegt, wenn er ein nahendes Wild belauert hat.

Bei dieser sprechenden Bewegung blieben die Männer wie angewurzelt stehen und Christen selbst starrte einen Augenblick eingeschüchtert nach dem Alten, der mit eiskalter Ruhe, das Gewehr hoch erhoben, am Waldrande stand; dann aber rief er mit dumpfer Stimme: »Nun, bei Gott, endlich will ich wissen, wer hier Meister ist.« Er riß einem Arbeiter die Axt aus der Hand und schritt gegen den Graben zu.

»Christen,« schrie ihm Sepp entgegen, »denk' an Weib und Kind – laß den Richter sprechen – dann thu', was du willst – zwing mich nicht, Christen!«

Der jedoch schien nicht zu hören. Er schritt langsam, doch festen Fußes auf den nächsten angesägten Stamm zu und machte sich bereit, die Axt an denselben zu legen; aber mit jedem Schritt, den er vorwärts gethan, hatte Sepp sein Gewehr höher erhoben, und als jener nun die Axt zur Führung eines Streiches fester in die Hand faßte, legte der Alte den Kolben seiner Waffe an die Wange, die Mündung ohne das leiseste Beben auf seinen Schwiegersohn gerichtet, als gält es einem Gratthiere.

Die Zuschauer standen athemlos und keiner schien ein Wort oder einen Schritt wagen zu dürfen. Jetzt endlich, da Christen einen Augenblick zögerte und mit innerm Erbeben auf die dunkle Mündung starrte, die unbeweglich nach seiner rechten Hand gerichtet blieb, rief der Geschäftsfreund: »Zum Teufel, Steinberger, laßt's gut sein – von solchen Geschichten will ich nichts wissen.«

Christen ließ die Axt sinken und trat, sich mühsam auf dieselbe stützend, über den Graben zurück. Sein Gesicht war mit Todtenblässe bedeckt und die Lippen zuckten unaufhörlich, wie von einem Krampfe bewegt. »Ich nehm' euch Alle zu Zeugen dessen, was hier vorgegangen,« sagte er dumpf, den kalten Schweiß von der Stirne wischend; »wir wollen nun sehen, ob es noch Gesetz und Gerechtigkeit gibt!«

»Ich dank' dir dafür, Christen,« rief Sepp aufathmend und sein Gewehr an einen Stamm lehnend, »ich dank' dir, Christen, und auch Euch, Gevatter, dank' ich für das Wort; aber nun geht mit Gott und kommt nicht wieder, bis die Sach' entschieden ist.«

Christen ging, ohne ein Wort zu erwidern, die Alm abwärts, mit ihm der Geschäftsfreund und hinten drein die verblüfften Arbeiter. Sepp blieb stehen, bis sie über die Höhe hinabgestiegen waren; dann verschwand er im Dunkel des Tannenwaldes. –

Christen hatte es nicht über sich vermocht, sein Haus zu betreten. In den nämlichen Kleidern, wie er kam und stand, begleitete er den Geschäftsfreund in's Thal hinunter, um dort am Gerichtsorte seine Gegenklage anzubringen und den Prozeß gegen den Schwiegervater einzuleiten. Er war des festen Glaubens, daß Aenneli um den Plan des Vaters gewußt und einverstandenermaßen geschwiegen habe, um dem eigenen Gatten vor aller Welt eine Demüthigung zuzuziehen und mit den erhobenen Rechtsansprüchen sich selbst eine höhere Geltung zu geben. Es kam bei dieser Vorstellung eine solche Verbitterung über den Mann, daß er schwach genug wurde, vor fremden Ohren das eigene Weib anzuklagen. »Es ist immer ein gefährlich Ding, wenn man dem Bettler aufs Roß hilft,« sagte darauf der Geschäftsfreund; »aber einmal nun bin ich Euer Gevatter und muß schon der Kinder wegen zum Frieden rathen. Am besten ist's, Ihr gebietet der Frau aufs Strengste, jeden Verkehr mit dem Alten abzubrechen. Alsgemach wird sie sich dann schon fügen – sie weiß, daß sie mit Euch leben muß.« – Christen war damit ganz einverstanden und doch erschrak er einen Augenblick bei dem Gedanken, wie plötzlich Alles so anders mit ihm geworden. Vor wenigen Tagen noch saß der Schwiegervater in seinem Hause und es war Christen bei seiner Abwesenheit stets ein Trost gewesen, daß er Weib und Kind daheim unter so treuem Schutze wußte; jetzt war der alte Mann nicht nur weggezogen, und wo ehemals Achtung Und Vertrauen gewaltet, tiefe Feindschaft entstanden; es sollte auch zwischen Vater und Kind, zwischen Großvater und Enkel eine unübersteigliche Mauer gezogen werden. Wenn das der Vater unter'm Boden wüßte – rief es einen Augenblick in Christen; aber der Ruf verhallte rasch vor den lautern Stimmen des Zornes und verletzten Stolzes und die ganze Erinnerung verhuschte, wie ein verlorner Sonnenblick über aufthürmenden Sturmwolken. Da Christen am Abend nach der Hinteralm hinanstieg, war sein Gemüth nur noch mit den Entschlüssen des Zornes und herzloser Zwietracht erfüllt.

Als er in die schon dunkle Stube trat, rief Aenneli laut: »Gott Lob und Dank, daß du endlich da bist; aber wo seid ihr auch so lange gewesen, ohne euerm Aenneli etwas zu sagen, und wo ist denn der Vater jetzt?«

Hätte Aenneli den Ausdruck von Hohn und plötzlicher Wuth gesehen, der bei dieser Begrüßung über das Gesicht des jungen Mannes glitt, es würde in die innerste Seele zusammengebebt sein. Die frohe Hoffnung zwar, die es den Tag über genährt, versank bald genug, als ihm Christen statt mit freundlicher und versöhnter Rede mit trotzigem Schweigen antwortete, aber doch fand das arme Herz dabei Zeit, sich unterdessen auf das Leid vorzubereiten, dem es entgegenging.

Als Aenneli nämlich am Vormittage den Christen mit dem Gevatter und hintendrein die ganze Arbeiterschaar vom Wald herab die Alm hinuntergehen sah, war es ihm, als trät es plötzlich aus einer schweren Nebelnacht an den goldenen Frühlingsschein heraus. Sein erster Gedanke war, Christen habe sich eines Andern besonnen und der ganze Handel sei rückgängig gemacht worden. Es war ja auch gar nicht anders möglich, drum gingen die Arbeiter mit dem Gevatter fort, der vielleicht irgendwo in der Gegend noch einen andern Waldkauf abgeschlossen hatte und die nun doch schon zusammengebrachten Männer sogleich dorthin führte. Freilich hatte Christen – der böse Mann – wohl auch einen Augenblick vorbeikommen und seinem Aenneli die frohe Botschaft selbst überbringen können; wußte er doch, wie schwer ihm die ganze Angelegenheit auf dem Herzen lag und wie viele Thränen sie ihm schon gekostet. Aber das liebende Weib hatte unter seinen frohen Hoffnungen diesen Gedanken einer unzufriedenen Hintansetzung bald unterdrückt. Es war ja nicht mehr als billig, daß sich Christen nun zunächst dem Gevatter gefällig erwies, der ihm gewiß bei der ganzen Geschichte mit nachgiebiger Freundlichkeit entgegengekommen war.

So freute und tröstete sich Aenneli. Als aber mit dem Nachmittage Christen noch immer nicht heimkehrte, wurde der einsamen Frau enge in dem menschenleeren Hause; die Knechte waren draußen auf der Alm und die Mägde ebenfalls auswärts beschäftigt. Aenneli zog daher das kleine Rollwägelchen hervor, legte die Kinder hinein und ging mit ihnen nach dem älterlichen Häuschen hinüber. Es traf sich, wie es erwartet hatte – der Vater war nicht daheim. – Dem Waldrande entlang lockte ein milder Schattensaum, in dem die Kinder vor dem allzu hellen Sonnenlichte geschützt waren; dorthin ging es mit ihnen, langsam das Wägelchen hinter sich drein ziehend, in Erinnerungen und Hoffnungen verloren. Als es zur Stelle zwischen die beiden Wege gelangte, sah es mit Verwunderung, daß einige Stämme schon zum Fällen angesägt waren. »Sonderbar,« sagte es vor sich hin, »daß Christen sich nicht eher entschließen konnte, als bis die Arbeit schon begonnen hatte; mich wundert's nun erst recht, wie das zugegangen.« Weiter vorwärts sah Aenneli einen der Knechte von der Alm gegen eine Waldecke hinansteigen, wo sich ein kleines Brünnlein zur Sommertränke des Viehes befand. Vielleicht weiß der etwas, dachte es und winkte dem Manne, indem es ihm selbst entgegenging. »Hast du von meinem Vater nirgends etwas gesehen?« fragte es, um nicht sogleich die eigentliche Neugierde preisgeben zu müssen. Der Angeredete schien über die Frage verlegen und erwiderte zögernd: »Gesehen eigentlich nichts – nein, ich könnte nicht sagen.« Diese Antwort fiel Aenneli auf und es fragte drum rasch: »Hast denn etwas von ihm gehört?« – »Eigentlich auch nicht,« erwiderte der Mann, indem er sich mit dem Gesichte tief über das Brünnlein bückte; »nur hat einer der Arbeiter, die heute früh da droben waren, gesagt, Euer Vater sei mit dem Meister drüben am Waldschlage zwischen den Wegen gewesen und drum wäre die Arbeit eingestellt worden.«

Ueber diesen Worten hatte der Knecht die gefüllte Bütte aus dem Brunnen gehoben und beeilte sich, mit derselben wieder in die Alm hinunterzugehen. Aenneli achtete nicht auf dieses hastige Wesen; es freute sich nur auf's Neue in dem Gedanken, daß Christen auf des Vaters wiederholte Vorstellungen noch im letzten Augenblicke von seinem Vorhaben abgestanden sei und daß nun beide versöhnt wohl drunten im Thale beieinander sein möchten. Vielleicht auch hatte der Vater dem städtischen Geschäftsfreunde selbst einen annehmbaren Vorschlag machen können und war heute nur noch nach Hause gegangen, bevor er den Andern nachgeeilt.

Mit diesen freundlichen Gedanken ging Aenneli wieder heimwärts und harrte geduldig, bis Christen zurückkommen und den Vater wohl gleich mitbringen werde. Freilich als der Abend nahte und sich die Schatten des Waldes weiter über die Alm herabstreckten, wollten sich auch über die Hoffnungen der einsamen Frau verdunkelnde Schatten des Zweifels hereinneigen; aber sie wehrte sich muthig dagegen und sagte oft laut vor sich hin: »Das kommt nur von der Ungeduld – es ist wohl auch lang, so den ganzen Tag warten und harren zu müssen; endlich werden sie indessen doch kommen.«

Das Scheiden einer Hoffnung wird nicht nur in dem Maße schmerzlich, als sie dem Herzen freundlich genaht und lieb gewesen, die Größe dieses Schmerzes richtet sich auch nach der Sicherheit, mit welcher der Verstand auf eine Erfüllung hatte rechnen dürfen. Je größer diese Sicherheit, um so schmerzlicher und länger dauert der Scheidenskampf. Drum kam wohl ein verstärktes Bangen über Aenneli, als es endlich Christen allein und ohne des Vaters Begleit kommen sah, aber es ließ selbst noch nicht alle Hoffnung sinken, als er ihm auf seine rasche und verwunderte Frage nur mit düsterm Schweigen Antwort gab. Deshalb fuhr es nach einer Weile, sich Christen nähernd und die Hand auf seine Schulter legend, fort: »Aber so sag' mir doch, Mannli, wo du so lange geblieben bist und ob du den Vater nicht gesehen hast?«

Christen zuckte unter der Berührung zusammen und unwillkürlich hob sich die Rechte zu einem Schlage empor. Ist eine solche Falschheit menschenmöglich, brauste es in ihm auf, das Weib kennt die Schmach, die mir der Alte angethan, und nun kommt es, um mich darüber noch auszuhöhnen. Die Empfindung, die diesem Gedanken folgte, war ein tiefes Weh, und Christen setzte sich, das Gesicht mit beiden Händen verhüllend, auf die nahe Fensterbank.

»Aber, mein Gott,« rief Aenneli nun voll banger Ahnung und erschrocken, »was ist dir denn und warum gibst du mir keine Antwort?«

»Hör',« erwiderte Christen mühsam, »laß mich in Ruh', sonst gibt's noch ein Unglück. Und noch etwas – wenn du wieder ein einziges Wort mit deinem Alten sprichst, so hast du mein Haus zum letzten Mal betreten.«

Aenneli hatte sich schon beim ersten Tone der Stimme, mit dem Christen zu sprechen anfing, an die Bettchen der Kinder gelehnt, als ob es hier Schutz suchen wollte oder solchen gewähren müßte. Als er den Worten noch ein dumpfes Grollen folgen ließ, das wohl den durch einander wirbelnden und unausgesprochenen Gedanken galt, die sein Gemüth verbitterten, fragte es leise zitternd: »Ist dir das auch ernst, Christen?«

»So ernst,« erwiderte er laut auffahrend und der Thüre zugehend, »daß ich eher mein Haus mit mir und den Kleinen zusammenbrennen, als mein Wort nicht halten wollte, das merke dir.«

Die Thüre fiel mit hartem Schlage zu und Aenneli sank mit schwindelnden Sinnen, die Hände halb bewußtlos zum Gebete faltend am Bette der Kinder auf die Knie nieder. Und im Gebete fand das arme Herz, wenn auch nicht Trost und Licht in diesen Wirrnissen, doch Ergebung und den Muth des Duldens. Als es Christen nach Langem in seine Stube hinaufgehen hörte, ohne daß er vorher noch einmal nach ihm und den Kindern gesehen hätte, legte es sich stille und thränenmüde nieder. –

Der Tag war bereits hell hereingebrochen, als es von einem kurzen Frühschlafe gestärkt auswachte. Christen war schon fortgegangen. Er habe dringende Geschäfte und könne nicht auf das Morgenessen warten, hatte er zu Mädi gesagt, und wolle deshalb Meisterin und Kinder auch nicht aufwecken.

Aenneli empfand wohl, daß Christen ihm auszuweichen suchte, aber gleichwohl übersah es nicht, daß er das Gesinde nichts davon merken ließ und das Ansehen der Meisterin so weit in Ehren hielt. Diese bewiesene Rücksicht half sie auch in Gehorsam gegen die Befehle des Mannes erhalten, als am Nachmittage ein neues, fast unüberwindliches Verlangen nach Aufklärung in diesen Wirrnissen sich ihrer bemächtigte und zugleich das Kindesherz um die Wahrung seiner natürlichsten Rechte sprach. Aenneli stand schon vor dem Hause, um zum Vater hinüberzugehen, den es ja, seit er weggezogen, nie wieder gesehen hatte; aber es kehrte leise wieder um und schaute, in trüben Gedanken verloren, durch das Fenster auf die sonnige Alm hinaus. Es war ihm, als ob dieselbe plötzlich in einem hellern Lichte aufgrüne, als die junge Base, die ihm im Wochenbette so freundliche Beihülfe geleistet, den Weg hereingegangen kam.

Diese bewährte sich auch diesmal als treue Helferin in der Noth, und von ihr erfuhr Aenneli, was die Arbeiter über den gestrigen Vorfall im Walde erzählt und daß nun zwischen Vater und Gatten das Gericht entscheiden werde. Wie traurig und trübe diese Wirklichkeit zu den frohen Hoffnungen stand, an denen sich Aenneli gestern erfreut hatte, so war sie ihm doch weniger schrecklich, als die bange Ungewißheit, die es gequält. Es konnte nun wenigstens einen richtigen Weg für sein eigenes Verhalten finden.

»Christen hat recht,« sagte es nach schmerzlichem Sinnen, »ich darf während des Streites nicht mehr zum Vater gehen; das müßte bei der besten Absicht doch einen falschen Schein geben. Aber du thust mir den Gefallen und bittest ihn um meinetwillen und der Todten wegen, die so lange im Frieden hier oben gelebt haben, von der Sache abzustehen.«

Die Base war sogleich bereit, diesem Wunsche Folge zu leisten; aber sie brachte auch bald den Bescheid zurück, wie ihn Aenneli im Stillen wohl befürchtet hatte. Der Vater lasse sein Kind, dem er Kraft und Geduld wünsche, sich in's Unvermeidliche zu fügen, viel tausendmal grüßen und es solle willig dem Gebote seines Mannes gehorsam sein; was er aber selbst thue, das thue er nicht für sich, sondern für Aenneli, seine Kinder und Christen selbst. Uebrigens werde der Prozeß bald beendigt sein und erst dann sich zeigen, was weiter kommen wolle. –

Diese Erwartung Sepps ist wohl in Erfüllung gegangen. Auf der Hinteralm war noch kein Fuder Heu in die Winterscheunen gebracht, als der Richter den Streit zwischen Vater und Eidam bereits entschieden hatte. Aber leider entsprach dieser Entscheid weder den Wünschen des Einen noch den Absichten des Andern. Sepp hatte mit alten Urkunden nachgewiesen, daß sich seine Vorfahren vor nahezu zweihundert Jahren bei den Steinbergern auf der Hinteralm eingekauft. Sie hatten dadurch das Recht erworben, eine Anzahl Vieh, die dem Drittel des jeweiligen Viehstandes der Steinberger gleichkommen könne, auf die Alm zu treiben und das benöthigte Winterfutter für dasselbe einzusammeln. An den Wald, der zur Hinteralm gehöre, sollen sie nach gleichem Verhältnisse Rechte haben.

Nachdem die friedliche Vermittlung fruchtlos geblieben, mußte der Richter nach dem Pergamente, das in altväterischer Einfachheit für andere Menschen und Verhältnisse geschrieben worden, mit heutigen Begriffen das streitige Recht bestimmen. Sepp verzichtete für sich auf alle Ansprüche an die Alm und trug dieselben auf sein Kind, des Steinbergers Frau, über; dagegen verlangte er, daß der Wald nach wie vor gemeinschaftliches Eigenthum bleiben und keiner der Eigenthümer berechtigt sein solle, ohne den Willen des Andern über den häuslichen Bedarf hinaus darin Holz zu schlagen.

Christen widersetzte sich diesem Begehren hartnäckig und so blieb kein anderes Mittel, als die Theilung des Waldes nach dem urkundlichen Verhältnisse. Demzufolge wurde von dem Dornbusche an, der zwischen den beiden Häusern stand und ehemals wohl zur Grenze der beidseitigen Arbeit an den freundnachbarlichen Schneebahnen gedient, aufwärts eine gerade Linie bis an den Fuß der Mühen gezogen. Was vorwärts derselben über der Wohnung des Steinberger lag, wurde diesem als freiverfügbares Eigenthum zuerkannt; der andere Theil rückwärts der Linie fiel Sepp anheim.

Dieser hatte den Spruch, der ihm ein ansehnlicheres Eigenthum zusicherte, als früher irgend Jemand vermuthet hätte, mit trübem Gesichte angehört, und der Umstand, daß Christen alle erlaufenen Kosten auferlegt wurden, war nicht im Stande, dasselbe aufzuheitern. Drum wartete er drunten vor dem Gerichtshause nachdenklich, bis sein Gegner die breiten Steintreppen herabkam.

»Hör' Christen,« sagte er, diesem die Hand entgegenstreckend, »wir haben schon lange, wohl zu lange, nie mehr mit einander unter vier Augen gesprochen.«

»War auch nicht nöthig,« entgegnete der Steinberger, ohne die dargebotene Hand anzunehmen, »es haben's schon Andere für uns gethan.«

»Es wär' aber wohl gut, wir thäten's selbst wieder,« fuhr der alte Mann fast demüthig fort, ohne sich durch den barschen Bescheid stören zu lassen; »ich will dir gleich zum Anfang einen Vorschlag machen.«

»Wird ein sauberer sein.«

»Mancher wenigstens wär' froh darüber; du vielleicht einst selbst – wenn's zu spät ist. Ich laß dir sogleich. meinen Waldantheil gerichtlich zuschreiben, wenn du mir versprichst, nie auf einmal und sammthaft eine ganze Strecke schlagen zu lassen. Mit Vorsicht und vereinzeltem Schlag kannst du immer noch einen schönen Gewinn daraus ziehen.«

»Du hast mir nichts zuschreiben zu lassen, ich habe sonst genug; und was ich thun oder nicht thun will, ist meine Sache,« gab Christen zur Antwort und ging, seinen Schwiegervater stehen lassend, nach dem Wirthshause hinüber, wo der Geschäftsfreund aus der Stadt auf den endlichen Ausgang des Handels gewartet hatte. –

Mit diesem Ausgange kehrten weder Herzlichkeit noch Vertrauen in des Steinbergers Haus zurück, wie das arme Aenneli in bekümmerter Ergebung gehofft hatte, wohl aber brachte er ein Leben auf die stille Hinteralm, als ob sie plötzlich zum Tummelplätze des wilden Heeres geworden wäre. Nach wenigen Tagen langte der Gevatter mit seiner Arbeiterschaar an, und sogleich begann unter Axtschlägen und Sägegekreisch zwischen den Wegen Wipfel an Wipfel niederzustürzen. Und noch bevor sich die Vogelbeere dunkel geröthet und das Laub am Haselstaudenhange nach dem Dorfe hinab gelb geworden, erstreckte sich hinter des Steinbergers Hause nach den Flühen hin eine öde Fläche, über die nur der frische Schnitt der Wurzelstöcke wie weiße Grabsteine hervorragte. Wo früher Jahr aus Jahr ein das dunkle Grün der Tannen wie eine geheimnißvolle Mauer sich hingezogen, starrten nun die zerrissenen Felsenhänge und Schründe der Flühen in schreckhafter Nähe herein; die wenigen Stämme, die an ihrem Fuße stehen geblieben, schienen sich wie erschrockene Schildwachen zusammenzuducken und durch ihre Winzigkeit nur erst recht die riesigen Felsblöcke und Hörner in's rechte Licht zu stellen. Aenneli kam es vor, als ob das Dach vom eigenen Hause weggehoben worden sei, als ob es sich in einer Wohnung befände, die nach einer Seite hin mit eingestürzter Wand in's Freie gehe. Besonders unheimlich war ihm am Abend der grelle Lichtschein, der von den nackten Felswänden durch die Waldlücke auf die Alm herabfiel – wie der Wiederschein einer sinkenden Feuersbrunst, mußte es oft denken. Es war eben um die ganze trauliche Heimlichkeit, um die schattendunkle Verborgenheit der Hinteralm geschehen, die sich bei den kalten Lüften, die nun ungehindert von den Flühen herabströmten, auch viel früher als andere Jahre mit nächtlichem Reife bedeckte. –

Ob Christen all' das nicht empfand und bemerkte? Er war in der letzten Zeit wenig daheim. Er hatte auf den weit aus einander liegenden Alpen thalaufwärts bedeutende Ankäufe von Käsen gemacht und besorgte deren Weiterschaffung nach dem Städtchen am See, von wo sie später in großen Lieferungen landabwärts gehen sollten. Aber auch wenn er zu Hause war, schien er unstät und unruhig. Es fehlte ihm etwas und er fühlte sich überall unheimlich. Nachdem der Gevatter mit seinem Schlage fertig und das Holz zu Thal geliefert war, behielt Christen eine kleine Schaar Arbeiter zurück, um ebenfalls noch eine Anzahl Stämme auf eigene Rechnung schlagen zu lassen; aber fast schien es, als ob ihm an der Förderung des Werkes wenig gelegen wäre. Die Arbeiter blieben oft mehrere Tage lang ohne jegliche Aufsicht und thaten bald nur noch, was sich mit ihrer besten Bequemlichkeit vertragen mochte, während Christen für diese Nachlässigkeit keine Augen hatte, wenigstens nie eine Bemerkung darüber machte.

Eines Morgens, als er in's Thal gehen wollte, blieb er vor dem Hause stehen und blickte nachdenklich nach allen Seiten auf die Alm hinaus. Von der leeren Waldfläche herab zog sich ein weißer Streifen schweren Reifes, während weiter vor- und rückwärts das Gras kaum von einem leisen Duft überflogen schien. Christen umging langsam die Grenze der bereiften Strecke und fuhr hie und da mit der Hand über das Gras, um sich von dem Unterschiede des leichtern oder stärkern eisigen Ansatzes Gewißheit zu verschaffen. Dann schaute er lange gegen die leere Fläche hinauf, wo sich die Arbeiter gemächlich zum neuen Tagewerk zusammenfanden.

Aenneli hatte dem Thun des Mannes durch's Fenster zugeschaut und es wunderte sich, daß er endlich, statt den Thalweg einzuschlagen, wieder langsam auf das Haus zurückgegangen kam. Er mußte etwas vergessen haben. Aber Aenneli schaute hoch auf, als er in die Stube trat und bedächtig sagte: »Ich mein', 's wär' am Gescheidtsten, wenn ich das gefällte Holz droben klein spalten und zwischen den Wegen aufbeigen ließe. Oder glaubst du's nicht auch?«

Diese Worte setzten Aenneli in solche Verwunderung, daß es nicht sogleich eine Antwort geben konnte. Das war seit Monaten wieder das erste Mal, daß Christen über seine Absichten einen Laut fallen ließ; er fuhr auch, ohne Aenneli's Entgegnung abzuwarten, fort: »Ich glaube, das Holz später gespalten ebenso vortheilhaft verkaufen zu können, als die ganzen Stämme; jedenfalls kann ich's in der Nähe absetzen und brauche keine größere Reise zu machen.«

»Das mußt du am Besten wissen,« entgegnete Aenneli aufathmend; »lieb ist's mir allweg, wenn du nicht weit fortzugehen brauchst.«

»Ja, ja, 's ist am richtigsten so,« sagte Christen der Thüre zugehend – »ich will's nur gleich anordnen.«

Er ging auch wirklich dem Walde zu, indem er an den sich öffnenden Fingern der linken Hand abzählend vor sich hin sagte: »Es gibt wenigstens achtzig bis hundert Beigen, die, richtig aufgestellt, eine doppelte Reihe vor der ganzen Flühe weg ergeben.«

Den Arbeitern wurde also befohlen, mit dem Fällen einzuhalten, dagegen sämmtliche Stämme ohne Ausnahme zu zersägen und zu spalten, die Scheiter in mannshohe Beigen aufzuschichten und diese von einem Rande der Waldlücke bis zum andern aufzustellen.

Die Männer sahen sich verwundert an über diesen Befehl, indem sie nicht begreifen konnten, warum die prächtigen Sägebäume zu Kleinholz verschnitten werden sollten. »Jedenfalls dürfen wir die Beigen nicht zu hoch machen,« bemerkte Einer, »sonst werden sie vom Winde umgeworfen.« – »Das ist eben die Hauptsache,« erwiderte Christen, »ihr müßt sie breit auflegen und von der untern Seite her tüchtig stützen.«

Als er, sich zum Gehen wendend, noch einen Blick nach den Flühen hinaufwarf, sah er am obern Ende der Lücke seinen Schwiegervater stehen. Der Alte war in voller Jagdrüstung und schien, unbeweglich wie er stand, drohend und zugleich höhnisch herabzublicken. Ueber Christens Gesicht glitt eine dunkle Röthe weg und doch trat ihm ein kaltes Frösteln an's Herz heran. Er hatte Sepp seit dem Gerichtstage mit keinem Auge mehr erblickt; jetzt aber schien ihm seine Gestalt um Vieles höher geworden zu sein, und das sonst schon markige und wetterbraune Gesicht hatte einen unheimlichen, fast wilden Ausdruck angenommen. Wie ein Waldgespenst – mußte Christen unwillkürlich denken, während er raschern Schrittes die Alm hinabging.

Der Alte verschwand ebenfalls hinter einer Felsenecke, als er bemerkte, daß auch die Arbeiter nach ihm emporsahen. Für sie war seine Erscheinung nicht so neu, aber kaum weniger unheimlich als für Christen. Seit sie hier oben mit dem Waldschlage beschäftigt waren, hatten sie ihn beinahe jeden Tag, am frühen Morgen oder am sinkenden Abend, am Fuße der Flühen hinstreifen sehen, ohne daß er sich je einem von ihnen genähert oder ein einziges Wort gesprochen hätte; während des Tages sahen sie ihn oft stundenlang auf einem schwindelnden Felsenrande sitzen und unbeweglich, wie ein drohender Kobold, auf ihre Arbeit herunterschauen. Wenn hie und da aus den Schründen hervor der scharfe Wiederhall eines Schusses krachte, zuckte Mancher unwillkürlich zusammen und dachte an das eisig kalte Gesicht, mit dem der Alte an jenem Morgen seinen Stutzer auf die Hand des Schwiegersohnes gerichtet, die sich zum Fällen des angesägten Stammes erhoben hatte. Und die Kugeln des Gemsensepp reichten weit und trafen sicher, davon wußte seit vielen Jahren manche Jägersage zu erzählen. –

»Mich nähm's nicht Wunder, wenn der Christen bereits bereute, daß er dem Alten damals nicht gefolgt hat,« sagte einer der Arbeiter; »oder warum meint ihr, daß wir nun mit Beigen eine hölzerne Mauer da hinüberziehen sollen?«

»Oh, das läßt sich an der Nase abzählen,« entgegnete ein Anderer, indem er das Gesicht den Flühen zukehrte, von denen ein scharfkalter Luftzug herabfloß, »wir sollen dem Winter das Loch verstopfen, daß er nicht sogleich von der Stockfluh durch dasselbe auf die Hinteralm herabfahren kann. Die ist ja vom Reif schon ganz braun gefressen.«

»Wird aber wenig nützen,« sagte der Erste mit dem Kopfe nickend, »und wenn ich etwas vom Wetter verstehe, sind wir eingeschneit, bevor die Hälfte dieser Stämme aufgebeigt ist.« –

Der Mann verstand sich wirklich etwas auf die Witterung. Die Beigen standen noch lange nicht zur Hälfte aufgeschichtet, als ein früher und ungewöhnlich hoher Schneefall Berg und Thal bedeckte. –

Auf den geräuschvollen Sommer und Herbst, wie die Hinteralm noch keinen gesehen, kamen nun plötzlich die stillen, einsamen Wintertage. Die Arbeiten im Walde mußten sogleich eingestellt werden, da die liegenden Stämme über Nacht tief unterem Schnee begraben wurden, der sogar bis zur Hälfte an die schon errichteten Beigen hinaufreichte. Auch an die Eröffnung einer Schlittenbahn, auf der das Holz zu Thal gebracht werden konnte, war vor der Hand nicht zu denken; der Schnee lag nicht nur zu hoch, er war bei der im Allgemeinen noch milden Witterung auch zu weich, um Lasten tragen zu können. Dagegen hatte Christen im Thale noch mit seinem Käshandel zu schaffen und durch seine Abwesenheit wurde es nur um so einsamer in seinem winterstillen Hause daheim. Dabei kam denn auch eine Sehnsucht, eine bange Bekümmerniß um den Vater über Aenneli, die es nicht länger mehr zu bewältigen vermochte. Den Spätsommer und Herbst hindurch hatte es sich wohl noch beruhigen können, die täglichen Geschäfte brachten ihm Zerstreuung und zudem wußte es, daß der Vater um diese Zeit von jeher mehr im Gebirge als daheim gewesen. Wenn es etwa einmal aus den nähern Flühen herab einen Schuß knallen hörte, dachte es jedesmal mit wehmüthigem Lächeln: »Das ist ein Gruß für mich – Gott grüß auch dich, Vater.« Aber wie stand es jetzt, da der alte Mann in seiner einsamen Wohnung eingeschneit war? Konnte ihm nicht jede Nacht, jeden Augenblick ein Unfall begegnen, wo er hülfsbedürftig, vielleicht sterbend lag, ohne daß ein Mensch darum wußte? Das Kindesherz schauderte zusammen bei dem Gedanken, der Vater könnte schon gestorben sein, vielleicht schon tagelang eine Leiche, der keine Hand die Augen zugedrückt, für die keine Sorge einen Sarg, ein Grab bereit hielt! –

Aenneli vermochte diese Angst nicht länger mehr zu tragen. Am Morgen, als Christen wieder in's Thal hinab wollte, hielt es ihn, da er schon die Thüre ergriffen, bei der Hand zurück und sagte schüchtern: »Ich muß dich noch etwas fragen, Christen.«

»Was ist's?« gab er in der kurzen Weise, die er sich schon angewöhnt hatte, zurück.

»Ich möchte dich fragen, ob die Knechte nicht Bahn machen dürften zum Vater hinüber – ich muß ihn wieder einmal sehen.«

Christen drückte die schon halb geöffnete Thüre stark wieder zu und fragte nach einigem Besinnen: »Was hast denn Wichtiges, daß es so pressirt? – Ich mein', ein paar Tage könntest du es doch wohl daheim bei den Kindern aushalten.«

»Wichtiges weiß ich gerade nichts,« erwiderte Aenneli wehmüthig, »und die lange Zeit her könnt' ich's wohl auch aushalten, ohne ihn zu sehen; aber jetzt, seit es geschneit hat, habe ich so Angst, es möcht' ihm etwas begegnen und ich wüßt' es nicht einmal.«

»Die lange Zeit her,« entgegnete Christen fast höhnisch und die Thüre ungeduldig wieder anfassend, »wie lange wird's sein, daß du ihn nicht gesehen hast!«

»Seit er wieder hinübergegangen ist – es sind heute gerade fünf Monate und drei Tage, Christen.«

»So – seit dem Tag hast du ihn nie mehr gesehen?«

Bei dem Tone, mit dem diese Worte gesprochen wurden, senkte Aenneli das Gesicht etwas tiefer auf die Brust herab; es spürte, daß ihm die Thränen in die Augen kommen wollten, und doch hatte es sich vorgenommen, fest zu bleiben, und wenn die Bitte nichts helfen würde, einmal ein ernstes, entschiedenes Wort zu wagen. Christen deutete dieses Schweigen in seinem Sinne, drum sagte er hart: »Hör' du, worüber ich dich nie gefragt, brauchtest du mir auch keine Antwort zu geben; aber jetzt, da du selbst von der Sache angefangen, will ich nicht, daß du mich anlügest.«

Bei diesen Worten richtete sich die niedergebeugte Gestalt Aenneli's plötzlich hoch auf und aus dem eben noch thränenfeuchten Auge blickte ein Schein, vor dem der Mann den eigenen Blick unwillkürlich senken mußte. »Was sagst du, anlügen?« rief Aenneli mit gepreßter Stimme, »seit wann glaubst du, daß ich dich in meinem ganzen Leben je einmal angelogen hätte?«

»Wenn auch noch nie, doch jetzt,« erwiderte Christen, »seitdem du mir weißmachen willst, du habest den – deinen Vater nie mehr gesehen, seit er von uns ausgezogen ist.«

Aenneli bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und brach in lautes Weinen aus. »Ja, Gott sei's geklagt,« schluchzte es, »daß ich dir zu lieb meine Kindespflicht gegen den guten alten Mann so lange vergessen konnte – ich werd' es nicht mehr thun.« Der aufrichtige Ton der Entrüstung, mit dem es den Vorwurf der Lüge zurückgewiesen, und der tiefe Schmerz, der aus den unaufhaltsam strömenden Thränen sprach, konnten an dem Herzen des Mannes nicht spurlos vorübergehen. Nach einigem Zögern trat er näher und sagte, die Hand auf seines Weibes Schulter legend: »Aber höre, wenn du wirklich seit jener Zeit nie mehr bei deinem Vater gewesen bist, so konntest du ja auch nicht wissen, was er gegen mich im Schilde führte.« – »Das wußt' ich auch nicht,« erwiderte Aenneli, die Augen zwischen Thränen zu Christen aufschlagend, »und mußte immer lange hintendrein von fremden Leuten erfahren, was geschehen. Nicht einmal du sagtest es mir.«

»Ich glaubte, du wüßtest Alles vor mir,« gab er nachdenklich zurück; »aber wenn's so ist, können die Knechte meinetwegen Bahn machen, nur sag' mir nie etwas von deinem Vater, wenn's nicht sein muß – er hat recht, wir passen nicht zusammen.«

Christen trat an die Bettchen, in denen die Kinder noch in ruhigem Morgenschlafe lagen, und dann ging er mit einem leisen B'hüt Gott durch die Thüre; aber kaum einige Schritte von dem Hause blieb er einen Augenblick stehen und kehrte langsam wieder zurück. »Hast du mir nachgerufen?« fragte er in die Stube hinein. – »Nein,« antwortete Aenneli, das die Thränen trocknend am Kinderbette stand, »nur der Kleine ist erwacht; gib dem Vater das B'hüetgott-Händli.« Es nahm das Bübchen auf den Arm, das dem Vater mit rosenrothem Gesichtchen die Händchen entgegenstreckte. Er küßte das Kind und sagte nachdenklich: »'s ist mir immer, ich habe noch etwas vergessen – heut' Abend werd' ich wohl etwas früher heimkommen – lebwohl, Aenneli.«

Aber heute war's dem Manne, als ob er nicht in's Thal hinunterkommen könnte und wenig hätt' es gefehlt, so wäre er noch einmal zurückgekehrt. Drunten am Felsen, an dem der Weg von der Hinteralm hinabsteigt, blieb er lange stehen und schaute sinnend auf eine Planke, die kaum mit ihrem obern Rande aus dem Schnee hervorragte. »Ja, da ist er gesessen,« sagte er endlich, mit der Hand über das Gesicht fahrend, laut vor sich hin, »als der Streit anging; aber Aenneli hab' ich doch schwer unrecht gethan – das muß anders werden.« Er schaute noch einmal nach dem Hause zurück, in dem sich durch die winterliche Einsamkeit kein Laut zu regen schien; nur droben über dem Walde regte sich ein verworrenes Tosen und durch die Lücke wurde gelbgraues Gewölk sichtbar, das in schweren Massen über den schneestrotzenden Flühen emporstieg.

Christen hatte auf seinem Gange kaum das Dörfchen hinter sich und die Thalstraße gewonnen, als auch schon ein heftiger Wind von den Höhen niederbrach, der nach den ersten kühlern Strömungen mit unheimlich warmem Hauche über die weiten Schneefelder dahinfuhr. Sogleich fingen die Bäume am Wege an, ihre weiße Last aus den Zweigen zu schütteln, und als Christen gegen Mittag an sein Reiseziel gelangte, überflossen schon alle Wasserrinnen und stürzten mit dumpfem Falle schwere Schneemassen von den Dächern auf die Straße herab.

Es gibt Tage, an denen sich ein unsichtbares Gewicht, wie eine Bleisohle uns anhängt. Wir können mit unserm Thun, das sonst fast mühelos von statten ging, nicht vom Flecke kommen; was wir als sicher vorausgesetzt, trifft nicht ein und was wir von Neuem beginnen wollen, ist nach langem Abmühen mehr verwirrt, als in klarer Ordnung vorwärts gefördert. Einen solchen Tag hatte Christen heute. Leute, die er in Geschäften herbeschieden, waren dagewesen, aber vor seiner Ankunft schon wieder fortgegangen; sie hatten bei dem anbrechenden Föhn befürchtet, später nicht mehr gefahrlos über die anschwellenden Bergwasser zurückgehen zu können. Andere, die ebenfalls versprochen, rechtzeitig einzutreffen, waren noch nicht angelangt; Christen wartete vergeblich bis am Spätnachmittage – sie erschienen nicht, vielleicht aus dem nämlichen Grunde, der die andern alsbald wieder heimgeführt hatte. Für die Geschäfte im Orte selbst war darüber die Zeit versäumt und Christen machte sich später, als er beabsichtigt, wieder auf den Heimweg, ohne auch nur das Geringste gethan oder erreicht zu haben.

Der Föhn hatte noch nicht nachgelassen und der Weg war unter dem raschen Aufthauen mühsam und beschwerlich geworden. An manchen Stellen mußten feuchte Schneemassen durchwatet werden, die von steilen Halden auf die Straße herabgestürzt waren, an andern Orten trieben die angeschwollenen Bergbäche bereits fußtiefes Wasser auf den Weg.

Diese Hemmnisse verdrossen Christen anfänglich und vermehrten noch die üble Stimmung, in die ihn der ganze verlorne Tag versetzt hatte; aber bald überschritt er sie so unachtsam und eilte auf der mühsamen Straße so rasch vorwärts, als ob er auf trockener oder kaum thaubenetzter Bahn durch einen frischen Maimorgen dahinginge. Er bemerkte diese Hast selbst nicht, bis ihm ein kalter Tropfen auf die Wange fiel. Jetzt gibt's Regen, dachte er, der Wind hat also in der Höhe nachgelassen; er streckte die Hand aus, um zu prüfen, ob die Tropfen schon dichter kämen. Auf die Hand jedoch fiel ihm keiner, wohl aber ein zweiter auf die Wange und jetzt erst merkte Christen, daß es der Schweiß war, der ihm von der Stirne rann. »Was rennst du auch wie nicht gescheidt,« sagte er vor sich hin, und begann einen langsamern Schritt anzuschlagen; aber die Füße hoben sich unvermerklich immer wieder schneller, schritten immer weiter aus, als ob er irgend einem Unheile entfliehen oder einem solchen zuvorkommen müßte. Und je eiliger er dahinschritt, um so banger wurde ihm zu Gemüthe; es war als müßte er sich fürchten von dem herannahenden Dunkel auf der einsamen Straße überfallen zu werden, als würden alsbald alle menschlichen Wohnungen verschlossen und er müßte in der unheimlichen Sturmnacht allein auf weiter Einöde unter freiem Himmel bleiben. Solche Vorstellungen fuhren ihm verworren durch den Kopf, und wie sehr er sich auch innerlich über die kindische Einbildung ausschalt, er konnte sie nicht loswerden, sie kehrte jeden Augenblick wieder mit einem neuen Schreckbild vor die Seele zurück. Daran mochte nun wohl die ganze unheimliche Umgebung, die beklommene Einsamkeit des Weges die Schuld tragen. So weit das Auge reichte, konnte er keinen zweiten Wanderer auf der Straße entdecken; die zerstreuten Häuser jenseits des Flusses schienen alle ausgestorben und es ließ sich um dieselben herum kein menschliches Wesen erblicken; nur hie und da übertönte das ängstliche Geheul eines Hundes das Brausen des trüb anschwellenden Flusses oder brach von den Höhen herab ein dumpfes verworrenes Tosen, das wie eine unsichtbare Windsbraut weiter zog. Das sieht eben aus, wie allemal an solchen Föhnabenden, dachte Christen einen Augenblick ausschnaufend; ich komme ja bis zur einbrechenden Nacht immer noch heim. Aber eilen mußt du doch – die Dunkelheit wird plötzlich eintreten und der Weg am Felsen hinauf muß jetzt bedenklich geworden sein. Und der Schnelllauf begann von Neuem und wurde immer hastiger, obgleich das Dörfchen bereits durchschritten war und der Weg jetzt neben dem Felsen hinaufzuklimmen begann. Er war in der That beschwerlich und schlimm; durch die schmale, ausgetretene Rinne drückte sich halb geschmolzener Schnee herab, in dem der Fuß keinen festen Halt finden konnte und an der jähen Tiefe jeden Augenblick auszuglitschen drohte. Christen mußte behutsamer gehen, zumal jetzt das Abenddunkel auch mit aller Macht hereinbrach. Plötzlich blieb er stille stehen, um mit erschrockenem Gesichte aufzuhorchen. Was war das? Ein fernes verworrenes Tosen, durch das mit unterbrochenen Klängen der bange Ruf eines Glöckleins erscholl. »Das ist drüben im Riesberg,« sagte er vor sich hin, »sie haben Wassernoth oder Lauenen –«

Das letzte Wort sprach Christen so laut, als ob es eine fremde Stimme aus ihm herausgerufen hätte, und als ob ihn auch plötzlich eine fremde, unsichtbare Gewalt angefaßt, begann er wieder mit athemloser Hast den Weg hinanzusteigen. Er beachtete nicht, wie oft er halb ausglitschend hart über dem Abgrunde schwebe, und wendete sich nicht einen Augenblick, als ihm ein scharfer Windstoß den Hut vom Kopfe trug. Es schien ihm, als ob das dumpfe Tosen vor ihm liege und nicht im jenseitigen Gebirge und mit jedem Augenblicke näher heranbrause. Der Athem stockte in der Brust und die Gedanken wirbelten wie sturmgejagte, dunkle Wolkengebilde durch einander; aber die Füße eilten wie von fremder Kraft gehoben windschnell vorwärts und wußten ohne des Auges Beihülfe den schmalen Steig zu finden.

Jetzt endlich war der Rand der Alm erreicht und – dem Himmel sei gedankt – dort ragte das heimathliche Haus still und dunkel aus dem weißen Schneefelde hervor. Christen athmete hoch auf und schon wollte ein frohes Lächeln über die ausgestandene Angst in ihm aufsteigen, als das heftige Pochen der Brust vor jähem Entsetzen stille stand. Ueber den Wald herab erschollen drei lang gezogene Töne, wie der Verzweiflungsschrei eines an steiler Felsenspitze hängenden Menschen, und dem Rufe folgte von den Flühen her ein so betäubendes Tosen, als ob ein rollender Donner aus der Erde hervordränge. »Das Hauri – die Laue« schrie Christen entsetzt gegen das Haus hinanstürzend; die Haare sträubten sich und die Hände streckte er im Laufe weit vor sich hin, als könnte er sie den Seinigen schon aus der Ferne zur Hülfe darreichen. »Aenneli – die Kinder – die Laue,« schrie er nochmals mit der Anstrengung der Verzweiflung; aber der Ruf verhallte in dem donnernden Tosen, und im Hause schien Alles in tiefster Ruhe zu liegen; nicht einmal ein Lichtschimmer drang durch die Dunkelheit heraus. Doch, jetzt glimmte ein schwacher Schein auf und Christen war's, als ob ein pfeilschneller Schatten gegen die Hausthüre hinschwebe. »Rettung – flieht!« schrie er nochmals; aber der Ruf wurde kaum seinem eigenen Ohre hörbar. Am Walde herab erscholl es wie wüthendes Sturmgebraus, durch das sich nur das schrille Krachen zusammenbrechender Stämme erkennen ließ. Der hellere Schein am Hause war wieder erloschen und Christen stürzte sinnlos und betäubt durch die offene Thür in den Gang hinein.

Er mußte sich an der Wand halten, um nicht niederzusinken; er wollte nach Aenneli rufen, aber die Stimme vermochte nicht aus der Kehle zu dringen; die Glieder bebten zusammen und vor den Augen schossen in der Dunkelheit blitzende Funken durch einander. Ein donnernder Stoß erschütterte das Haus, und Christen fühlte sich plötzlich von übermenschlicher Gewalt gepackt und in die Tiefe geschleudert. Neben ihm weg dröhnte und schütterte es, als ob die Erde zusammenbrechen müßte. –

Das Tosen und Dröhnen ging vorüber und hallte bald nur noch nach wie ein mächtiger Donner, der rasch am Gebirge dahinzieht. Die erste Empfindung Christens nach seiner plötzlichen Fahrt in die Tiefe war die, daß er sich von einer umrollenden Masse gepackt und davongeschleudert glaubte; jetzt aber, da sich die betäubten Sinne wieder zu klarerem Bewußtsein sammelten, fühlte er sich in halbliegender Stellung mit dem Rücken gegen einen kaltfeuchten Gegenstand gelehnt, der fest und unbeweglich dastand. Eine bis zur Hülflosigkeit gehende Ermattung lag in den Gliedern, sonst aber empfand er am ganzen Körper keinen erheblichen Schmerz; nur auf der Brust drückte es, wie eine den Athem hemmende schwere Last, und die Augen umgab tödtliche Finsterniß. »Allmächtiger Himmel, was war das,« stöhnte der Beängstigte, indem er sich aufzurichten suchte; aber mit einem dumpfen Schrei des Entsetzens sank er wieder zurück, als hart neben ihm eine Stimme antwortete: »Das war eine Laue, Steinberger.«

Christen preßte unwillkürlich beide Hände über die Augen, als müßte er den Anblick einer Schreckensgestalt abwehren, die aus der Finsterniß emportauchen würde – war das doch Sepps Stimme gewesen, die tief aus der Erde hervorgekommen schien. »Aenneli – mein Weib – meine Kinder!« brach es halbbewußtlos und mit erschütternder Angst aus seiner Brust hervor. »Ihretwegen kannst du ruhig sein,« kam's mit milderm Tone zurück, »die sind mit den Andern in meinem Hause drüben; aber wie's um uns steht, müssen wir erst noch sehen, Christen.«

Bei diesen Worten flackerte eine bläuliche Flamme durch die Finsterniß und der erste Gegenstand, auf den sie ihr Licht warf, war das Antlitz des Schwiegervaters, der sich bemühte, einen kleinen Docht anzuzünden. Das Lichtlein verbreitete alsbald einen hellern Schimmer, bei dem Christen erkannte, daß er sich im Keller seines eigenen Hauses befand. Ihm gegenüber stand der Alte, das kleine Lämpchen in der Hand, und schaute ihn ernst und schweigend an, als ob er eine Frage erwarte. Christen erhob sich und drückte beide Hände gegen die Stirne. »Nicht wahr, die Kleinen und Aenneli sind gerettet – hast du gesagt.«

»Ja, sie sind mit allem Lebenden, das in deinem Hause war, bei mir drüben,« erwiderte Sepp; »aber das Haus selbst wird bis auf den letzten Balken drunten am Felsen liegen.« »Dann sei Gottes Gnade gepriesen,« sagte Christen, die Hände in einander legend; »am Ende hast du auch mich gerettet.« »Ich glaube wohl, du wärest nicht hier,« antwortete der Alte, »wenn ich dich nicht zur rechten Zeit da hinabgeworfen hätte.« Christen schwieg einen Augenblick, dann streckte er beide Hände gegen Sepp hin und fragte leise: »Kannst du mir verzeihen, Vater?«

Dieser legte die Hand auf Christens Haupt, um das die dunkeln Haare durchnäßt und verworren herumhingen. »Es war schon Alles verziehen und vergessen, als ich dich vorhin droben nach Weib und Kind schreien hörte. Gott hat's gethan. Uebrigens kommt's darauf an, ob wir beide in dieser Nacht nicht noch seine Verzeihung und Barmherzigkeit nöthig haben.«

Der Alte hob das Lämpchen gegen die Decke, die, nur aus Holz gebildet, gegen die Mitte sich tief herabsenkte. »Wenn die Last droben zu fest und schwer liegt, so sind wir erdrückt, bevor Hilfe kommen kann – im Tod ist Friede und wir stehen in des Herrn Hand.«

Die Befürchtung war nur zu begründet und nach kurzer Frist stürzte unter dumpfem Krachen eine schwere Masse Schnee und Steingeröll in den Raum hinab. Christen empfahl seine Seele erbleichend der ewigen Barmherzigkeit. »Ich sterbe nicht gern,« seufzte er leise, »aber der Tod wäre mir doch leichter, wenn ich vorher Aenneli noch einmal sehen könnte.«

Sepp beleuchtete unterdessen mit fester Hand die herabgestürzte Masse und den Rand des Deckenbruches. »Ich glaube fast,« rief er nach einer Weile, »dein Wunsch kann erfüllt werden; denn sieh' da, die Scheiter deiner Holzbeigen, die mitgewandert sind, haben sich hier gesperrt und bilden uns einstweilen ein Schirmdach gegen die Last der Schnee- und Eisklumpen.« –

So war es auch. Dieses glückliche Ungefähr – wenn überhaupt ein solches in die Geschicke des Menschenlebens eingreifen kann – rettete die Verschütteten. Nach einer bangen Nacht folgte dem Sturm ein klarer Wintermorgen, dessen Frühschein sich über einer grausen Trümmerstätte ergoß; aber auf den Trümmern fand sich in neubegründeter Liebe zusammen, was Eigennutz und Leidenschaft getrennt hatte. Die stattliche Wohnung mit reichen Vorräthen war vom Boden getilgt, so daß kaum noch ihre weit umher zerstreuten Trümmer aufgefunden werden konnten; aber Aenneli ging zwischen Gatte und Vater glücklicher von diesem Orte der Zerstörung, als es am Tage der Hochzeit von der Hinteralm nach der Kirche hinabgegangen war.

Christen sprach seinen Dank gegen den alten Vater nicht in Worten aus; aber dieser wußte doch, daß er nun erst einen ganzen Sohn besaß. Bei der Aengstlichkeit, mit der er seit dem Beginne des Winters jedes Zeichen der Witterung beobachtet, hatte er sofort bei einbrechendem Föhne Gefahr von Schneestürzen vorausgesehen, und noch bevor die Knechte den von Aenneli befohlenen Bahnbruch begonnen, war Sepp im Hause seiner Kinder selbst erschienen. Er hatte sich mühsam durch den hohen Schnee hindurchgearbeitet und befahl den Knechten, sogleich das Vieh auf den vorgezeichneten Spuren nach seinem Hause hinüberzutreiben. Aenneli ängstigte sich über diese Vorkehren, indem es befürchtete, sie möchten den Zorn Christens aufs Neue gegen den Vater erwecken; aber gegen die Entschiedenheit, mit welcher der Alte auftrat, wagte weder es selbst noch das Gesinde Einspruch zu erheben. Auf der Bahn, die das vorangetriebene Vieh zurückgelassen, wurde später noch fortgeschafft, was sich in der Eile zusammenraffen ließ. Am Abend bemerkte Aenneli, da es in seiner Noth den Retter aus allen Nöthen anrufen wollte, daß es das kleine Gebetbuch, das es einst von der Mutter erhalten, zurückgelassen hatte. Der Vater entschloß sich, da das Tosen in den Flühen drohender wurde, Christen selbst in's Dorf hinab entgegenzugehen, ihm das Vorgegangene mitzutheilen und ihn zu warnen vor dem Wege am Felsen herauf. Im Vorbeigehen wollte er noch das vergessene Gebetbuch mitnehmen; aber das Unheil nahte schneller, als er selbst befürchtet. Er sah Christen durch die Dämmerung heranfliegen und hörte die Laue niederdonnern. So blieb ihm zur eigenen Rettung nichts mehr übrig, als der Zufluchtsort, der Beiden Schutz gewährte. –

Den Winter hindurch suchte man sich in dem kleinen Hause so gut zu behelfen, als es eben gehen wollte. Liebe und Eintracht finden zwischen engen Wänden Raum. Im Frühling aber wurden zu der neuen Wohnung die Stämme mit großer Umsicht auf verschiedenen Stellen im Walde gefällt und das Haus selbst nicht auf dem Platze des frühern, sondern weiter rückwärts im Schutze des grünen Tannengürtels hingestellt. –

Den alten Sepp haben sie schon vor Jahren von der Hinteralm nach dem Kirchlein hinuntergetragen; aber er sah doch noch mit herzinnigem Vergnügen, wie die sorgfältig neubepflanzte Lücke zwischen den Wegen sich rasch mit dichtem, hochschießendem Jungholz bedeckte.


 << zurück weiter >>