Sigmund Freud
Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose
Sigmund Freud

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B. Einige psychische Besonderheiten der Zwangskranken – ihr Verhältnis zur Realität, zum Aberglauben und zum Tod

Ich habe hier einige seelische Charaktere der Zwangskranken zu behandeln, welche an sich nicht wichtig scheinen, aber auf dem Wege zum 89 Verständnisse von Wichtigerem liegen. Sie waren bei meinem Patienten sehr deutlich ausgesprochen – ich weiß aber, daß sie nicht seiner Individualität, sondern seinem Leiden zuzurechnen sind und sich in ganz typischer Weise bei anderen Zwangskranken wiederfinden.

 

Unser Patient war in hohem Grade abergläubisch, und dies zwar, obwohl er ein hochgebildeter, aufgeklärter Mann von bedeutendem Scharfsinn war und zuzeiten versichern konnte, daß er von all dem Plunder nichts für wahr halte. Er war also abergläubisch und war es doch nicht und unterschied sich doch deutlich von den ungebildeten Abergläubischen, die sich eins mit ihrem Glauben fühlen. Er schien zu verstehen, daß sein Aberglaube von seinem Zwangsdenken abhing, obwohl er sich zuzeiten voll zu ihm bekannte. Ein so widerspruchsvolles und schwankendes Benehmen läßt sich am ehesten unter dem Gesichtswinkel eines bestimmten Erklärungsversuches erfassen. Ich habe nicht gezögert anzunehmen, daß er betreffs dieser Dinge zwei verschiedene und entgegengesetzte Überzeugungen hatte und nicht etwa eine noch unfertige Meinung. Zwischen diesen beiden Meinungen oszillierte er dann in sichtbarster Abhängigkeit von seiner sonstigen Stellung zum Zwangsleiden. Sowie er eines Zwanges Herr geworden war, belächelte er seine Leichtgläubigkeit mit überlegenem Verständnis, und es ereignete sich ihm nichts, was ihn hätte erschüttern können, und sobald er wieder unter die Herrschaft eines ungelösten Zwanges – oder was gleichwertig ist: eines Widerstandes – gekommen war, erlebte er die sonderbarsten Zufälle, welche der gläubigen Überzeugung zu Hilfe kamen.

Sein Aberglaube war immerhin der eines gebildeten Mannes und sah von Abgeschmacktheiten, wie die Angst vor dem Freitag, vor der Zahl 13 u. dgl., ab. Er glaubte aber an Vorzeichen, an prophetische Träume, begegnete beständig jenen Personen, mit denen er sich unerklärlicherweise eben beschäftigt hatte, und erhielt Briefe von Korrespondenten, die sich ihm nach den längsten Pausen plötzlich in geistige Erinnerung gebracht hatten. Dabei war er rechtschaffen genug oder vielmehr so weit seiner offiziellen Überzeugung getreu, daß er Fälle nicht vergessen hatte, in denen die intensivsten Ahnungen zu nichts gekommen waren, z. B. einmal als er sich in den Sommeraufenthalt begab, die sichere Ahnung, er werde nicht mehr lebend nach Wien zurückkehren. Auch gab er zu, daß die größte Mehrzahl der Vorzeichen Dinge betrafen, die keine besondere Bedeutung für seine Person hatten, und daß, wenn er einem Bekannten begegnete, an den er sehr lange nicht und gerade wenige 90 Momente vorher gedacht hatte, sich zwischen diesem wundersam Erschauten und ihm weiter nichts zutrug. Natürlich war er auch nicht imstande, es in Abrede zu stellen, daß alles Bedeutsame seines Lebens sich ohne Vorzeichen zugetragen hatte, so wie er z. B. vom Tode des Vaters ahnungslos überrascht worden war. Aber alle solche Argumente änderten an dem Zwiespalt seiner Überzeugungen nichts und erwiesen nur den Zwangscharakter seines Aberglaubens, der bereits aus dessen mit dem Widerstand gleichsinnigen Schwankungen zu erschließen war.

Ich war natürlich nicht in der Lage, alle seine älteren Wundergeschichten rationell aufzuklären, aber für das, was sich von ähnlichen Dingen während der Zeit der Behandlung ereignete, konnte ich ihm nachweisen, daß er selbst beständig an der Fabrikation der Wunder beteiligt sei und welcher Mittel er sich dabei bediene. Er arbeitete mit dem indirekten Sehen und Lesen, mit Vergessen und vor allem mit Gedächtnistäuschungen. Am Ende half er mir selbst die kleinen Taschenspielerkünste aufdecken, durch welche jene Wunder gemacht wurden. Als interessante infantile Wurzel seines Glaubens an das Eintreffen von Ahnungen und von Vorhersagen ergab sich einmal die Erinnerung, daß die Mutter so oft, wenn ein Termin gewählt werden sollte, gesagt hatte: »An dem und dem Tage kann ich nicht; da werde ich liegen müssen.« Und wirklich lag sie an dem angekündigten Tage jedesmal zu Bett!

Unverkennbar, daß es ihm ein Bedürfnis war, im Erleben solche Stützpunkte für seinen Aberglauben zu finden, daß er darum die bekannten unerklärlichen Zufälligkeiten des Alltags so sehr beachtete und mit dem unbewußten Tun nachhalf, wo diese nicht ausreichten. Dies Bedürfnis habe ich bei vielen anderen Zwangskranken gefunden und vermute es bei noch mehreren. Es scheint mir aus dem psychologischen Charakter der Zwangsneurose gut erklärlich. Wie ich vorhin (S. 64) auseinandergesetzt, erfolgt bei dieser Störung die Verdrängung nicht durch Amnesie, sondern durch Zerreißung von kausalen Zusammenhängen infolge von Affektentziehung. Eine gewisse mahnende Kraft – die ich an anderer Stelle mit einer endopsychischen Wahrnehmung verglichen habeZur Psychopathologie des Alltagslebens (1901 b), Kapitel XII, Abschnitt C (b). – scheint nun diesen verdrängten Beziehungen zu verbleiben, so daß sie auf dem Wege der Projektion in die Außenwelt eingetragen werden und dort Zeugnis ablegen für das im Psychischen Unterbliebene.

91 Ein anderes den Zwangskranken gemeinsames seelisches Bedürfnis, das mit dem eben erwähnten eine gewisse Verwandtschaft hat und dessen Verfolgung tief in die Trieberforschung führt, ist das nach der Unsicherheit im Leben oder nach dem Zweifel. Die Herstellung der Unsicherheit ist eine der Methoden, welche die Neurose anwendet, um den Kranken aus der Realität zu ziehen und von der Welt zu isolieren, was ja in der Tendenz jeder psychoneurotischen Störung liegt. Es ist wiederum überdeutlich, wieviel die Kranken dazutun, um einer Sicherheit auszuweichen und in einem Zweifel verharren zu können; ja, bei einigen findet diese Tendenz einen lebendigen Ausdruck in ihrer Abneigung gegen – Uhren, die wenigstens die Zeitbestimmung sichern, und in ihren unbewußt ausgeführten Kunststückchen, jedes solche den Zweifel ausschließende Instrument unschädlich zu machen. Unser Patient hatte eine besondere Geschicklichkeit in der Vermeidung von Auskünften entwickelt, welche einer Entscheidung in seinem Konflikt förderlich gewesen wären. So war er über die für die Eheschließung maßgebendsten Verhältnisse seiner Geliebten nicht aufgeklärt, wußte angeblich nicht zu sagen, wer die Operation an ihr ausgeführt und ob sie ein- oder doppelseitig gewesen sei. Er wurde dazu verhalten, das Vergessene zu erinnern und das Vernachlässigte zu erkunden.

Die Vorliebe der Zwangskranken für die Unsicherheit und den Zweifel wird für sie zum Motiv, um ihre Gedanken vorzugsweise an jene Themen zu heften, wo die Unsicherheit eine allgemein menschliche ist, unser Wissen oder unser Urteil durch Notwendigkeit dem Zweifel ausgesetzt bleiben mußte. Solche Themen sind vor allem: Die Abstammung vom Vater, die Lebensdauer, das Leben nach dem Tode und das Gedächtnis, dem wir ja Glauben zu schenken pflegen, ohne für seine Verläßlichkeit die mindeste Gewähr zu besitzenLichtenberg: »Ob der Mond bewohnt ist, weiß der Astronom ungefähr mit der Zuverlässigkeit, mit der er weiß, wer sein Vater war, aber nicht mit der, woher er weiß, wer seine Mutter gewesen ist.« – Es war ein großer Kulturfortschritt, als die Menschen sich entschlossen, den Schluß neben das Zeugnis der Sinne zu stellen und vom Mutterrecht zum Vaterrecht überzugehen. – Prähistorische Figuren, in denen eine kleinere Gestalt auf dem Kopfe einer größeren sitzt, stellen die Abstammung vom Vater dar: die mutterlose Athene entspringt aus dem Haupte des Zeus. Noch in unserer Sprache heißt der Zeuge vor Gericht, der etwas beglaubigt, nach dem männlichen Anteil am Geschäfte der Fortpflanzung, und schon in den Hieroglyphen wird der Zeuge mit dem Bilde der männlichen Genitalien geschrieben..

 

Der Unsicherheit des Gedächtnisses bedient sich die Zwangsneurose in ausgiebigster Weise zur Symptombildung; welche Rolle Lebensdauer 92 und Jenseits inhaltlich im Denken der Kranken spielen, werden wir bald erfahren. Ich will als passendsten Übergang vorher noch jenen Zug des Aberglaubens bei unserem Patienten besprechen, dessen Erwähnung an einer früheren Stelle (S. 87) gewiß bei mehr als einem Leser Befremden erregt haben wird.

Ich meine die von ihm behauptete Allmacht seiner Gedanken und Gefühle, guten und bösen Wünsche. Die Versuchung, diese Idee für einen Wahn zu erklären, welcher das Maß der Zwangsneurose überschreitet, ist gewiß nicht gering; allein ich habe dieselbe Überzeugung bei einem andern Zwangskranken gefunden, der seit langem hergestellt ist und sich normal betätigt, und eigentlich benehmen sich alle Zwangsneurotiker so, als ob sie diese Überzeugung teilten. Es wird unsere Aufgabe sein, diese Überschätzung aufzuklären. Nehmen wir ohneweiters an, daß in diesem Glauben ein Stück des alten Kindergrößenwahnes ehrlich eingestanden wird, und befragen wir unseren Patienten, worauf er seine Überzeugung stützt. Er antwortet mit der Berufung auf zwei Erlebnisse. Als er zum zweitenmal in jene Wasserheilanstalt kam, in welcher er die erste und einzige Beeinflussung seines Leidens erfahren hatte, verlangte er das nämliche Zimmer wieder, welches seine Beziehungen zu einer der Pflegerinnen durch seine Lage begünstigt hatte. Er erhielt die Antwort: das Zimmer sei schon vergeben, ein alter Professor habe es bereits bezogen, und er reagiert auf diese seine Kuraussichten sehr herabsetzende Nachricht mit den unfreundlichen Worten: »Dafür soll ihn aber der Schlag treffen.« Vierzehn Tage später erwachte er aus dem Schlaf, durch die Vorstellung einer Leiche gestört, und am Morgen hörte er, daß den Professor wirklich der Schlag getroffen und daß man ihn etwa um die Zeit seines Erwachens aufs Zimmer gebracht habe. Das andere Erlebnis betraf ein älteres, sehr liebebedürftiges Mädchen, welches sich sehr entgegenkommend gegen ihn benahm und ihn einmal direkt befragte, ob er sie nicht liebhaben könne. Er gab eine ausweichende Antwort; wenige Tage nachher hörte er, daß sich das Mädchen aus dem Fenster gestürzt habe. Er machte sich nun Vorwürfe und sagte sich, es wäre in seiner Macht gelegen, sie am Leben zu erhalten, wenn er ihr seine Liebe geschenkt hätte. Auf solche Weise gewann er die Überzeugung von der Allmacht seiner Liebe und seines Hasses. Ohne die Allmacht der Liebe zu leugnen, wollen wir hervorheben, daß es sich in beiden Fällen um den Tod handelt, und 93 werden uns der naheliegenden Erklärung anschließen, daß unser Patient wie andere Zwangskranke gezwungen ist, die Wirkung seiner feindseligen Gefühle in der Außenwelt zu überschätzen, weil seiner bewußten Kenntnis ein großes Stück der innern psychischen Wirkung derselben Gefühle entgeht. Seine Liebe – oder vielmehr sein Haß – sind wirklich übermächtig; sie schaffen gerade jene Zwangsgedanken, deren Herkunft er nicht versteht und gegen die er sich erfolglos wehrtDie Allmacht der Gedanken, richtiger der Wünsche, ist seither als ein wesentliches Stück des primitiven Seelenlebens erkannt worden. (Siehe Totem und Tabu, 1912–13.).

 

Zum Thema des Todes hatte unser Patient ein ganz besonderes Verhältnis. Er nahm an allen Todesfällen warmen Anteil, beteiligte sich pietätvoll an den Leichenbegängnissen, so daß er von den Geschwistern spöttisch der Leichenvogel genannt werden konnte; er brachte aber auch in der Phantasie beständig Leute um, um herzliche Teilnahme mit den Hinterbliebenen zu äußern. Der Tod einer älteren Schwester, als er zwischen 3 und 4 Jahren alt war, spielte in seinen Phantasien eine große Rolle und war in die innigste Beziehung zu den kindlichen Missetaten jener Jahre gebracht worden. Wir wissen ferner, wie frühzeitig der Gedanke an den Tod des Vaters ihn beschäftigt hatte, und dürfen seine Erkrankung selbst als Reaktion auf dieses 15 Jahre vorher im Zwange gewünschte Ereignis auffassen. Nichts anderes als eine Kompensation für diese Todeswünsche gegen den Vater ist die befremdliche Erstreckung seiner Zwangsbefürchtungen auf das »Jenseits«. Sie wurde eingeführt, als die Trauer um den verstorbenen Vater 1½ Jahre später eine Auffrischung erfuhr, und sollte, der Realität zum Trotze und dem Wunsche, der sich vorher in allerlei Phantasien versucht hatte, zuliebe, den Tod des Vaters wieder aufheben. Wir haben den Zusatz »im Jenseits« an mehreren Stellen (S. 84 und 86 f.) übersetzen gelernt mit den Worten: »wenn der Vater noch lebte«.

Aber nicht viel anders als unser Patient benehmen sich andere Zwangskranke, denen das Schicksal nicht ein erstes Zusammentreffen mit dem Phänomen des Todes in so frühen Jahren beschieden hat. Ihre 94 Gedanken beschäftigen sich unausgesetzt mit der Lebensdauer und der Todesmöglichkeit anderer, ihre abergläubischen Neigungen hatten zuerst keinen andern Inhalt und haben vielleicht überhaupt keine andere Herkunft. Vor allem aber bedürfen sie der Todesmöglichkeit zur Lösung der von ihnen ungelöst gelassenen Konflikte. Ihr wesentlicher Charakter ist, daß sie der Entscheidung zumal in Liebessachen unfähig sind; sie trachten jede Entscheidung hinauszuschieben, und im Zweifel, für welche Person oder für welche Maßregel gegen eine Person sie die Entscheidung treffen sollen, muß das alte deutsche Reichsgericht ihr Vorbild werden, dessen Prozesse gewöhnlich durch den Tod der streitenden Parteien vor dem Richterspruch beendigt wurden. So lauern sie in jedem Lebenskonflikt auf den Tod einer für sie bedeutsamen, zumeist einer geliebten Person, sei es eines Teiles der Eltern, sei es eines Nebenbuhlers oder eines der Liebesobjekte, zwischen denen ihre Neigung schwankt. Mit dieser Würdigung des Todeskomplexes bei der Zwangsneurose streifen wir aber bereits an das Triebleben der Zwangskranken, das uns nun beschäftigen soll.


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