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Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört. Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.
Der Mann Moses, der dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter war, gehört so entlegenen Zeiten an, daß man die Vorfrage nicht umgehen kann, ob er eine historische Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sage ist. Wenn er gelebt hat, so war es im 13., vielleicht aber im 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung; wir haben keine andere Kunde von ihm als aus den heiligen Büchern und den schriftlich niedergelegten Traditionen der Juden. Wenn darum auch die Entscheidung der letzten Sicherheit entbehrt, so hat sich doch die überwiegende Mehrheit der Historiker dafür ausgesprochen, daß Moses wirklich gelebt und der an ihn geknüpfte Auszug aus Ägypten in der Tat stattgefunden hat. Man behauptet mit gutem Recht, daß die spätere Geschichte des Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man diese Voraussetzung nicht zugeben würde. Die heutige Wissenschaft ist ja überhaupt vorsichtiger geworden und verfährt weit schonungsvoller mit Überlieferungen als in den Anfangszeiten der historischen Kritik.
Das erste, das an der Person Moses' unser Interesse anzieht, ist der Name, der im Hebräischen Mosche lautet. Man darf fragen: Woher stammt er? Was bedeutet er? Bekanntlich bringt schon der Bericht in Exodus, Kap. 2, eine Antwort. Dort wird erzählt, daß die ägyptische Prinzessin, die das im Nil ausgesetzte Knäblein gerettet, ihm diesen Namen gegeben mit der etymologischen Begründung: »denn ich habe ihn aus dem Wasser gezogen«. Allein diese Erklärung ist offenbar unzulänglich. »Die biblische Deutung des Namens ›Der aus dem Wasser 460 Gezogene‹«, urteilt ein Autor im Jüdischen LexikonJüdisches Lexikon, begründet von Herlitz und Kirschner, Bd. 4 (1930). Jüdischer Verlag, Berlin., »ist Volksetymologie, mit der schon die aktive hebräische Form (›Mosche‹ kann höchstens ›der Herauszieher‹ heißen) nicht in Einklang zu bringen ist.« Man kann diese Ablehnung mit zwei weiteren Gründen unterstützen, erstens, daß es unsinnig ist, einer ägyptischen Prinzessin eine Ableitung des Namens aus dem Hebräischen zuzuschreiben, und zweitens, daß das Wasser, aus dem das Kind gezogen wurde, höchstwahrscheinlich nicht das Wasser des Nils war.
Hingegen ist seit langem und von verschiedenen Seiten die Vermutung ausgesprochen worden, daß der Name Moses aus dem ägyptischen Sprachschatz herrührt. Anstatt alle Autoren anzuführen, die sich in diesem Sinn geäußert haben, will ich die entsprechende Stelle aus einem neueren Buch von J. H. Breasted übersetzt einschaltenThe Dawn of Conscience (1934, 350)., einem Autor, dessen History of Egypt (1906) als maßgebend geschätzt wird. »Es ist bemerkenswert, daß sein (dieses Führers) Name, Moses, ägyptisch war. Es ist einfach das ägyptische Wort ›mose‹, das ›Kind‹ bedeutet, und ist die Abkürzung von volleren Namensformen wie z. B. Amen-mose, das heißt Amon-Kind, oder Ptah-mose, Ptah-Kind, welche Namen selbst wieder Abkürzungen der längeren Sätze sind: Amon (hat geschenkt ein) Kind oder Ptah (hat geschenkt ein) Kind. Der Name ›Kind‹ wurde bald ein bequemer Ersatz für den weitläufigen, vollen Namen, und die Namensform ›Mose‹ findet sich auf ägyptischen Denkmälern nicht selten vor. Der Vater des Moses hatte seinem Sohn sicherlich einen mit Ptah oder Amon zusammengesetzten Namen gegeben, und der Gottesname fiel im täglichen Leben nach und nach aus, bis der Knabe einfach ›Mose‹ gerufen wurde. (Das ›s‹ am Ende des Namens Moses stammt aus der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Es gehört auch nicht dem Hebräischen an, wo der Name ›Mosche‹ lautet.)« Ich habe die Stelle wörtlich wiedergegeben und bin keineswegs bereit, die Verantwortung für ihre Einzelheiten zu teilen. Ich verwundere mich auch ein wenig, daß Breasted in seiner Aufzählung gerade die analogen theophoren Namen übergangen hat, die sich in der Liste der ägyptischen Könige vorfinden, wie Ah-mose, Thut-mose (Tothmes) und Ra-mose (Ramses).
Nun sollte man erwarten, daß irgendeiner der vielen, die den Namen Moses als ägyptisch erkannt haben, auch den Schluß gezogen oder wenigstens die Möglichkeit erwogen hätte, daß der Träger des ägyptischen 461 Namens selbst ein Ägypter gewesen sei. Für moderne Zeiten gestatten wir uns solche Schlüsse ohne Bedenken, obwohl gegenwärtig eine Person nicht einen Namen führt, sondern zwei, Familiennamen und Vornamen, und obwohl Namensänderungen und Angleichungen unter neueren Bedingungen nicht ausgeschlossen sind. Wir sind dann keineswegs überrascht, bestätigt zu finden, daß der Dichter Chamisso französischer Abkunft ist, Napoleon Buonaparte dagegen italienischer und daß Benjamin Disraeli wirklich ein italienischer Jude ist, wie sein Name erwarten läßt. Und für alte und frühe Zeiten, sollte man meinen, müßte ein solcher Schluß vom Namen auf die Volkszugehörigkeit noch weit zuverlässiger sein und eigentlich zwingend erscheinen. Dennoch hat meines Wissens im Falle Moses' kein Historiker diesen Schluß gezogen, auch keiner von denen, die, wie gerade wieder Breasted, bereit sind anzunehmen, daß Moses »mit aller Weisheit der Ägypter« vertraut war (1934, 354)Obwohl die Vermutung, daß Moses Ägypter war, von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart häufig genug ohne Berufung auf den Namen geäußert wurde..
Was da im Wege stand, ist nicht sicher zu erraten. Vielleicht war der Respekt vor der biblischen Tradition unüberwindlich. Vielleicht erschien die Vorstellung zu ungeheuerlich, daß der Mann Moses etwas anderes als ein Hebräer gewesen sein sollte. Jedenfalls stellt sich heraus, daß die Anerkennung des ägyptischen Namens nicht als entscheidend für die Beurteilung der Abkunft Moses' betrachtet, daß nichts weiter aus ihr gefolgert wird. Hält man die Frage nach der Nationalität dieses großen Mannes für bedeutsam, so wäre es wohl wünschenswert, neues Material zu deren Beantwortung vorzubringen.
Dies unternimmt meine kleine Abhandlung. Ihr Anspruch auf einen Platz in der Zeitschrift Imago gründet sich darauf, daß ihr Beitrag eine Anwendung der Psychoanalyse zum Inhalt hat. Das so gewonnene Argument wird gewiß nur auf jene Minderheit von Lesern Eindruck machen, die mit analytischem Denken vertraut ist und dessen Ergebnisse zu schätzen weiß. Ihnen aber wird es hoffentlich bedeutsam scheinen.
Im Jahre 1909 hat O. Rank, damals noch unter meinem Einfluß, auf meine Anregung eine Schrift veröffentlicht, die betitelt ist Der Mythus 462 von der Geburt des HeldenFünftes Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, Fr. Deuticke, Wien. Es liegt mir ferne, den Wert der selbständigen Beiträge Ranks zu dieser Arbeit zu verkleinern.. Sie behandelt die Tatsache, daß fast alle bedeutenden Kulturvölker ... frühzeitig ihre Helden, sagenhaften Könige und Fürsten, Religionsstifter, Dynastie-, Reichs- und Städtegründer, kurz ihre Nationalheroen in Dichtungen und Sagen verherrlicht« haben. »Besonders haben sie die Geburts- und Jugendgeschichte dieser Personen mit phantastischen Zügen ausgestattet, deren verblüffende Ähnlichkeit, ja teilweise wörtliche Übereinstimmung bei verschiedenen, mitunter weit getrennten und völlig unabhängigen Völkern längst bekannt und vielen Forschern aufgefallen ist.« Konstruiert man nach dem Vorgang von Rank, etwa in Galtonscher Technik, eine »Durchschnittssage«, welche die wesentlichen Züge all dieser Geschichten heraushebt, so erhält man folgendes Bild:
»Der Held ist das Kind vornehmster Eltern, meist ein Königssohn.«
»Seiner Entstehung gehen Schwierigkeiten voraus, wie Enthaltsamkeit oder lange Unfruchtbarkeit oder heimlicher Verkehr der Eltern infolge äußerer Verbote oder Hindernisse. Während der Schwangerschaft oder schon früher erfolgt eine vor seiner Geburt warnende Verkündigung (Traum, Orakel), die meist dem Vater Gefahr droht.«
»Infolgedessen wird das neugeborene Kind meist auf Veranlassung des Vaters oder der ihn vertretenden Person zur Tötung oder Aussetzung bestimmt; in der Regel wird es in einem Kästchen dem Wasser übergeben.«
»Es wird dann von Tieren oder geringen Leuten (Hirten) gerettet und von einem weiblichen Tiere oder einem geringen Weibe gesäugt.«
»Herangewachsen, findet es auf einem sehr wechselvollen Wege die vornehmen Eltern wieder, rächt sich am Vater einerseits, wird anerkannt anderseits und gelangt zu Größe und Ruhm.«
Die älteste der historischen Personen, an welche dieser Geburtsmythus geknüpft wurde, ist Sargon von Agade, der Gründer von Babylon (um 2800 v. Chr.). Es ist grade für uns nicht ohne Interesse, den ihm selbst zugeschriebenen Bericht hier wiederzugeben:
»Sargon, der mächtige König, König von Agade bin ich. Meine Mutter war eine Vestalin, meinen Vater kannte ich nicht, während der Bruder meines Vaters das Gebirge bewohnte. In meiner Stadt Azupirani, welche am Ufer des Euphrats gelegen ist, wurde mit mir 463 schwanger die Mutter, die Vestalin. Im Verborgenen gebar sie mich. Sie legte mich in ein Gefäß von Schilfrohr, verschloß mit Erdpech meine Türe und ließ mich nieder in den Strom, welcher mich nicht ertränkte. Der Strom führte mich zu Akki, dem Wasserschöpfer. Akki, der Wasserschöpfer, in der Güte seines Herzens hob er mich heraus. Akki, der Wasserschöpfer, als seinen eigenen Sohn zog er mich auf. Akki, der Wasserschöpfer, zu seinem Gärtner machte er mich. In meinem Gärtneramt gewann Istar mich lieb, ich wurde König, und 45 Jahre übte ich die Königsherrschaft aus.«
Die uns vertrautesten Namen in der mit Sargon von Agade beginnenden Reihe sind Moses, Kyros und Romulus. Außerdem aber hat Rank eine große Anzahl von der Dichtung oder der Sage angehörigen Heldengestalten zusammengestellt, denen dieselbe Jugendgeschichte, entweder in ihrer Gänze oder in gut kenntlichen Teilstücken, nachgesagt wird, als: Ödipus, Karna, Paris, Telephos, Perseus, Herakles, Gilgamesch, Amphion und Zethos u. a.
Quelle und Tendenz dieses Mythus sind uns durch die Untersuchungen von Rank bekannt gemacht worden. Ich brauche mich nur mit knappen Andeutungen darauf zu beziehen. Ein Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben und ihn am Ende siegreich überwunden hat. Unser Mythus verfolgt diesen Kampf bis in die Urzeit des Individuums, indem er das Kind gegen den Willen des Vaters geboren und gegen seine böse Absicht gerettet werden läßt. Die Aussetzung im Kästchen ist eine unverkennbare symbolische Darstellung der Geburt, das Kästchen der Mutterleib, das Wasser das Geburtswasser. In ungezählten Träumen wird das Eltern-Kind-Verhältnis durch Aus-dem-Wasser-Ziehen oder Aus-dem-Wasser-Retten dargestellt. Wenn die Volksphantasie an eine hervorragende Persönlichkeit den hier behandelten Geburtsmythus heftet, so will sie den Betreffenden hiedurch als Helden anerkennen, verkünden, daß er das Schema eines Heldenlebens erfüllt hat. Die Quelle der ganzen Dichtung ist aber der sogenannte »Familienroman« des Kindes, in dem der Sohn auf die Veränderung seiner Gefühlsbeziehungen zu den Eltern, insbesondere zum Vater, reagiert. Die ersten Kinderjahre werden von einer großartigen Überschätzung 464 des Vaters beherrscht, der entsprechend König und Königin in Traum und Märchen immer nur die Eltern bedeuten, während später unter dem Einfluß von Rivalität und realer Enttäuschung die Ablösung von den Eltern und die kritische Einstellung gegen den Vater einsetzt. Die beiden Familien des Mythus, die vornehme wie die niedrige, sind demnach beide Spiegelungen der eigenen Familie, wie sie dem Kind in aufeinander folgenden Lebenszeiten erscheinen.
Man darf behaupten, daß durch diese Aufklärungen sowohl die Verbreitung wie die Gleichartigkeit des Mythus von der Geburt des Helden voll verständlich werden. Um so mehr verdient es unser Interesse, daß die Geburts- und Aussetzungssage von Moses eine Sonderstellung einnimmt, ja, in einem wesentlichen Punkt den anderen widerspricht.
Wir gehen von den zwei Familien aus, zwischen denen die Sage das Schicksal des Kindes spielen läßt. Wir wissen, daß sie in der analytischen Deutung zusammenfallen, sich nur zeitlich voneinander sondern. In der typischen Form der Sage ist die erste Familie, in die das Kind geboren wird, die vornehme, meist ein königliches Milieu; die zweite, in der das Kind aufwächst, die geringe oder erniedrigte, wie es übrigens den Verhältnissen, auf welche die Deutung zurückgeht, entspricht. Nur in der Ödipussage ist dieser Unterschied verwischt. Das aus der einen Königsfamilie ausgesetzte Kind wird von einem anderen Königspaar aufgenommen. Man sagt sich, es ist kaum ein Zufall, wenn gerade in diesem Beispiel die ursprüngliche Identität der beiden Familien auch in der Sage durchschimmert. Der soziale Kontrast der beiden Familien eröffnet dem Mythus, der, wie wir wissen, die Heldennatur des großen Mannes betonen soll, eine zweite Funktion, die besonders für historische Persönlichkeiten bedeutungsvoll wird. Er kann auch dazu verwendet werden, dem Helden einen Adelsbrief zu schaffen, ihn sozial zu erhöhen. So ist Kyros für die Meder ein fremder Eroberer, auf dem Wege der Aussetzungssage wird er zum Enkel des Mederkönigs. Ähnlich bei Romulus; wenn eine ihm entsprechende Person gelebt hat, so war es ein hergelaufener Abenteurer, ein Emporkömmling; durch die Sage wird er Abkomme und Erbe des Königshauses von Alba Longa.
Ganz anders ist es im Falle des Moses. Hier ist die erste Familie, sonst die vornehme, bescheiden genug. Er ist das Kind jüdischer Leviten. Die zweite aber, die niedrige Familie, in der sonst der Held aufwächst, ist durch das Königshaus von Ägypten ersetzt; die Prinzessin zieht ihn als ihren eigenen Sohn auf. Diese Abweichung vom Typus hat auf viele 465 befremdend gewirkt. Ed. Meyer und andere nach ihm haben angenommen, die Sage habe ursprünglich anders gelautet: Der Pharao sei durch einen prophetischen TraumAuch im Bericht von Flavius Josephus erwähnt. gewarnt worden, daß ein Sohn seiner Tochter ihm und dem Reiche Gefahr bringen werde. Er läßt darum das Kind nach seiner Geburt im Nil aussetzen. Aber es wird von jüdischen Leuten gerettet und als ihr Kind aufgezogen. Zufolge von »nationalen Motiven«, wie Rank es ausdrücktRank (1909, 80, Anm.)., habe die Sage eine Umarbeitung in die uns bekannte Form erfahren.
Aber die nächste Überlegung lehrt, daß eine solche ursprüngliche Mosessage, die nicht mehr von den anderen abweicht, nicht bestanden haben kann. Denn die Sage ist entweder ägyptischen oder jüdischen Ursprungs. Der erste Fall schließt sich aus; Ägypter hatten kein Motiv, Moses zu verherrlichen, er war kein Held für sie. Also sollte die Sage im jüdischen Volk geschaffen, d. h. in ihrer bekannten Form an die Person des Führers geknüpft worden sein. Allein dazu war sie ganz ungeeignet, denn was sollte dem Volke eine Sage fruchten, die seinen großen Mann zu einem Volksfremden machte?
In der Form, in der die Mosessage uns heute vorliegt, bleibt sie in bemerkenswerter Weise hinter ihren geheimen Absichten zurück. Wenn Moses kein Königssprosse ist, so kann ihn die Sage nicht zum Helden stempeln; wenn er ein Judenkind bleibt, hat sie nichts zu seiner Erhöhung getan. Nur ein Stückchen des ganzen Mythus bleibt wirksam, die Versicherung, daß das Kind starken äußeren Gewalten zum Trotz sich erhalten hat, und diesen Zug hat denn auch die Kindheitsgeschichte Jesu wiederholt, in der König Herodes die Rolle des Pharao übernimmt. Es steht uns dann wirklich frei anzunehmen, daß irgendein später, ungeschickter Bearbeiter des Sagenstoffes sich veranlaßt fand, etwas der klassischen, den Helden auszeichnenden Aussetzungssage Ähnliches bei seinem Helden Moses unterzubringen, was wegen der besonderen Verhältnisse des Falles zu ihm nicht passen konnte.
Mit diesem unbefriedigenden und überdies unsicheren Ergebnis müßte sich unsere Untersuchung begnügen und hätte auch nichts zur Beantwortung der Frage geleistet, ob Moses ein Ägypter war. Aber es gibt zur Würdigung der Aussetzungssage noch einen anderen, vielleicht hoffnungsvolleren Zugang.
466 Wir kehren zu den zwei Familien des Mythus zurück. Wir wissen, auf dem Niveau der analytischen Deutung sind sie identisch, auf mythischem Niveau unterscheiden sie sich als die vornehme und die niedrige. Wenn es sich aber um eine historische Person handelt, an die der Mythus geknüpft ist, dann gibt es ein drittes Niveau, das der Realität. Die eine Familie ist die reale, in der die Person, der große Mann, wirklich geboren wurde und aufgewachsen ist; die andere ist fiktiv, vom Mythus in der Verfolgung seiner Absichten erdichtet. In der Regel fällt die reale Familie mit der niedrigen, die erdichtete mit der vornehmen zusammen. Im Falle Moses schien irgend etwas anders zu liegen. Und nun führt vielleicht der neue Gesichtspunkt zur Klärung, daß die erste Familie, die, aus der das Kind ausgesetzt wird, in allen Fällen, die sich verwerten lassen, die erfundene ist, die spätere aber, in der es aufgenommen wird und aufwächst, die wirkliche. Haben wir den Mut, diesen Satz als eine Allgemeinheit anzuerkennen, der wir auch die Mosessage unterwerfen, so erkennen wir mit einem Male klar: Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll. Und das wäre unser Resultat! Die Aussetzung im Wasser war an ihrer richtigen Stelle; um sich der neuen Tendenz zu fügen, mußte ihre Absicht, nicht ohne Gewaltsamkeit, umgebogen werden; aus einer Preisgabe wurde sie zum Mittel der Rettung.
Die Abweichung der Mosessage von allen anderen ihrer Art konnte aber auf eine Besonderheit der Mosesgeschichte zurückgeführt werden. Während sonst ein Held sich im Laufe seines Lebens über seine niedrigen Anfänge erhebt, begann das Heldenleben des Mannes Moses damit, daß er von seiner Höhe herabstieg, sich herabließ zu den Kindern Israels.
Wir haben diese kleine Untersuchung in der Erwartung unternommen, aus ihr ein zweites, neues Argument für die Vermutung zu gewinnen, daß Moses ein Ägypter war. Wir haben gehört, daß das erste Argument, das aus dem Namen, auf viele keinen entscheidenden Eindruck gemacht hatSo sagt z.B. Ed. Meyer (1905, 651): »Der Name Mose ist wahrscheinlich der Name Pinchas in dem Priestergeschlecht von Silo ... zweifellos ägyptisch. Das beweist natürlich nicht, daß diese Geschlechter ägyptischen Ursprungs waren, wohl aber, daß sie Beziehungen zu Ägypten hatten.« Man kann freilich fragen, an welche Art von Beziehungen man dabei denken soll.. Man muß darauf vorbereitet sein, daß das neue 467 Argument, aus der Analyse der Aussetzungssage, kein besseres Glück haben wird. Die Einwendungen werden wohl lauten, daß die Verhältnisse der Bildung und Umgestaltung von Sagen doch zu undurchsichtig sind, um einen Schluß wie den unsrigen zu rechtfertigen, und daß die Traditionen über die Heldengestalt Moses in ihrer Verworrenheit, ihren Widersprüchen, mit den unverkennbaren Anzeichen von jahrhundertelang fortgesetzter tendenziöser Umarbeitung und Überlagerung alle Bemühungen vereiteln müssen, den Kern von historischer Wahrheit dahinter ans Licht zu bringen. Ich selbst teile diese ablehnende Einstellung nicht, aber ich bin auch nicht imstande, sie zurückzuweisen.
Wenn nicht mehr Sicherheit zu erreichen war, warum habe ich diese Untersuchung überhaupt zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht? Ich bedauere es, daß auch meine Rechtfertigung nicht über Andeutungen hinausgehen kann. Läßt man sich nämlich von den beiden hier angeführten Argumenten fortreißen und versucht, Ernst zu machen mit der Annahme, daß Moses ein vornehmer Ägypter war, so ergeben sich sehr interessante und weitreichende Perspektiven. Mit Hilfe gewisser, nicht weit abliegender Annahmen glaubt man die Motive zu verstehen, die Moses bei seinem ungewöhnlichen Schritt geleitet haben, und in engem Zusammenhang damit erfaßt man die mögliche Begründung von zahlreichen Charakteren und Besonderheiten der Gesetzgebung und der Religion, die er dem Volke der Juden gegeben hat, und wird selbst zu bedeutsamen Ansichten über die Entstehung der monotheistischen Religionen im allgemeinen angeregt. Allein Aufschlüsse so wichtiger Art kann man nicht allein auf psychologische Wahrscheinlichkeiten gründen. Wenn man das Ägyptertum Moses' als den einen historischen Anhalt gelten läßt, so bedarf man zum mindesten noch eines zweiten festen Punktes, um die Fülle der auftauchenden Möglichkeiten gegen die Kritik zu schützen, sie seien Erzeugnis der Phantasie und zu weit von der Wirklichkeit entfernt. Ein objektiver Nachweis, in welche Zeit das Leben Moses' und damit der Auszug aus Ägypten fällt, hätte etwa dem Bedürfnis genügt. Aber ein solcher fand sich nicht, und darum soll die Mitteilung aller weiteren Schlüsse aus der Einsicht, daß Moses ein Ägypter war, besser unterbleiben.