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Emerenz

Die Schwestern hatten sie von der Straße aufgelesen, die alte Zenz, aber buchstäblich von der Straße. Wie sie nämlich mit der hochbeladenen Holzkraxe auf dem Rücken dahergehumpelt ist, hat etwas Glitschiges im Weg gelegen, und wie sie darüber zu Falle kommt, fährt noch ein Bursch mit einem schweren Wäschekarren daher und wirft sie vollends zu Boden. Das Holz hat herumgekracht, der Wäscherhund hat gebellt, der Bursch hat aufbegehrt, daß ihm das alte Weib übern Weg hat laufen müssen, und die Zenz hat nichts gemacht, sondern hat nur wirr und ängstlich die kleinen schwarzen Augen aufgerissen und sich dann an den Kopf gegriffen, von dem es feucht und heiß über ihre dürren, zitternden Hände heruntergeronnen ist. Da sind die Schwestern gekommen, grad' aus der Kunstausstellung, in eifrigem Geplauder. Wie sie das Unheil sehen, wirft die Jüngere der Aelteren den Katalog zu, packt das alte Weiblein unter den Armen und hilft ihr auf die Füße. Die Aeltere aber, in aller Eile, faßt die leere Kraxe und sammelt die Scheiter hinein, als ob sie Zeit ihres Lebens nichts anderes gethan hätt'. Der Ausstellungskatalog ist auch schon mit drin. »Gebt Wasser!« ruft die Jüngere den Gaffenden zu, denn die Zenz ist noch nicht recht bei sich, sie antwortet auf nichts. Drauf wird noch der Wäscherbursch gehörig geschimpft, die volle Kraxe einem Buben aufgeladen, und die Schwestern führen die Zenz, rechts und links gestützt, mit sich nach Haus. Weit ist's nicht. Vor der Thür macht die Aeltere Halt, seufzt bedenklich und sagt: »Ja, aber wegen dem Drach'? Wenn sie jetzt wüest thut?«

Da geht die Thür auf, und an der Schwelle steht ein großes breitknochiges Dienstmädchen mit strengem gespanntem Gesicht: »Jetzet, i sag's ja, meine Fräulein – so öppes Letzes wie der Brate heut – wenn mer emal e g'schlagene Glockeschtund auf die Fräulein wartet –« Sie bricht ab, ihre Augen werden starr: halb versteht sie schon, nur der Bub mit der Holzkraxe – »Ja, hänt die Fräulein Holz kaufet? Hänt Sie sich wieder beschwatze 'lan?« brummt sie unwillig, bis das jüngere Fräulein sie am Aermel faßt: »Emerenz, gib Ruh! Siehst es denn nicht, wo's hier fehlt? Mach' Platz auf der Couchette! Greif mit an.« – Einen Augenblick bäumte sich Emerenz: »Auf die Couchette? Die da g'hört auf kei' Couchette! – Lieber gar!«

Plötzlich legte sie, die Fräulein sachte zurückschiebend, ihre kräftigen Arme um die kleine wankende Gestalt, hob sie in die Höhe, als sei sie ein kleines Kind und trug sie über den Flur, durch die Küche in ihre eigene Kammer. Die Schwestern und der Bub mit der Holzkraxe trabten ihr nach: »Emerenz, wohin? Was fällt Dir ein?« In dem Augenblick, als sie die Alte auf ihr Bett niederlegte, immer mit dem gleichen strengen unwilligen Gesicht, schüttete der Bub, der offenbar dachte, daß nun alles im Hafen angelangt sei, seine Kraxe mit beträchtlichem Gepolter in eine Ecke der Kammer aus. Wie eine Tigerin sprang Emerenz auf ihn zu, riß mit unbeschreiblich vorwurfsvollem Gesicht den Katalog zwischen den Scheiten hervor und schlug ihn dem Buben um die Ohren, während sie ihn das Holz wieder einsammeln hieß; er that's, furchtsame Blicke nach rückwärts werfend.

»Da! Fräulein, Ihren Katalog! Er sieht sich schon nicht mehr gleich!« fuhr Emerenz zürnend fort. »Und i hoff', Sie werdet jetzt emal esse gehe, 's ischt ja net der Werth nachher, mer ka' de Brate nur zum Fenschter usse kehre, i sag's grad! Im Augenblick setz i en uf de Tisch. Die Alt' soll e Supp' han, ganget Sie nur. Aber das Holz nehmet mer net.« –

»Bauz!« scholl es aus der Küche: hatte der Malefizbub die Kraxe jetzt richtig dort ausgeleert! Emerenz wüthete. Um nur Frieden zu haben, gingen die Schwestern seufzend in ihr Eßzimmerchen, kopfschüttelten über den »Drach'« und zogen ernstlich in Erwägung, ob man ihn nicht trotz alledem und alledem abschaffen müsse. »'s ist ja kein Leben so! Wer regiert im Haus? Niemand als die Emerenz! Man mag's ja fast nicht sagen, man wird ja nur ausgelacht!« – »Du hast sie Dir halt zu sehr über den Kopf wachsen lassen, Theo!« – »Ich? Nein, bitte schön, das hast Du gethan, Leo, Du bist die ältere.« – »Und Du bist viel energischer, wenn Du auch jünger bist, Theo! Nein, es hätte nicht so weit kommen dürfen! Man ist fast vor sich selbst blamirt.« – »Blamirt! Das ist es! So ein Drach'! Und der Braten ist noch erst ausgezeichnet! Aber nein, länger halt' ich's jetzt nicht mit ihr aus!«– »Denkst etwa ich? Man muß ihr's dann sagen: ›Emerenz, Du bist treu und brav, aber –‹« – »Ach was, treu und brav! Das versteht sich von selbst. Nein: ›Emerenz, Du bist e böse Sieben, e Drach' bist', die rauhe Tugend bist'. Geh' und such' Dir Leut', wo's mit Dir aushalten!‹ So mußt' sagen, Theo!« – »Was? Ich soll's ihr sagen? Das ist doch 'was für die Aeltere!« – »Aber Deine Stimme ist energischer! Ich hab's schon manchmal bemerkt, vor Dir hat der Drach' doch Respect. Sagen wir's ihr mit enander!« – »Gut, also mit enander. Gleich, jetzt, wenn sie den schwarzen Kaffee bringt. Scht! Da ist sie ja schon, und so leise?«

Emerenz kam mit ungewöhnlich vorsichtigen Tritten herein, stellte sachte das Theebrett ab und murmelte mit niedergeschlagenen Augen: »War der Brate noch zum G'nieße, Fräulein?« Die Schwestern blickten sich heimlich verwundert, schon halb gerührt an: »Ausgezeichnet war er, Emerenz; Du machst Dir emol zu viel Sorg'!« Der verwandelte Drach' seufzte, zuckte die Achseln: »Je – Fräulein – i ben emal net schuld.« Plötzlich erhob sie verlegen die Augen: »I wollt denn noch sage, – 's war aber recht von Ihne, daß die Fräulein de arme Tropf daher brocht hänt, 's könnt einen schier verbarme.« – Theo sprang auf: »Hat sie sich erholt? Hat sie Suppe gehabt? Sie hat doch keine ernste Verletzung? Laß mich schauen!« Emerenz stellte sich mit ihrem breiten Rücken gegen die Thür: »Net jetzet, Fräulein Theo, der arm' Tropf schläft. Sie hat's emol groß nöthig.« Noch ein Seufzer. »Ja, Emerenz, meinst' nicht, Du müßtest zum Doctor Roth laufen?« – »Glaub's net! Klaget hat's net. Aber – o Du mein!« Emerenz sah so kummervoll aus, wie noch nie. »Mer mag's ja fascht net sage! Net emol's Hemd hat die Alt'! A so alt und kei Hemd! Da kann mer sei' Jesum erkenne lehre!«

Die Schwestern waren so erstaunt über Emerenz' Verwandlung, daß sie lange keine Worte fanden, als sie hinaus war. »Da siehst's, wie sie im Grunde ist!« bemerkte endlich Theo gewissermaßen triumphirend. »Aber Du wolltest sie wegschicken!« Theo lachte verächtlich: »Fällt mir nicht ein, ist mir nie eingefallen. Wenn Du nur mich vorschieben kannst! Uebrigens arg ist sie und bleibt sie. Sind wir hier jetzt nicht gewissermaßen eingesperrt? Es fehlt nur, daß sie wieder umgeschlossen hat, wie damals, als ich durchaus schlafen sollte! Weißt' es noch?« – »Wo Du die zwei Nächte hinter einander im Atelier gesessen warst! Ja, siehst, Theo, da hat dann die Emerenz recht gehabt.« – Theo warf der Schwester ein Kissen an den Kopf, weh that's nicht, denn es war rundum aus Plüsch. »I so schlaf Du, Leo, Du und Deine Emerenz, Ihr seid zwei!« Brummend probirte sie das Schloß, aber geschlossen war's nicht. Leo lag in der Ecke des Sophas und kniff die Augen zusammen, um der ewig aufgeregten Schwester ein gutes Beispiel zu geben. Aber Theo hatte nicht Ruhe, »sehen muß man, was mit dem alten Weible ist.« So ging sie fast schleichend hinaus. In der Küche stand Emerenz und strahlte sie an, sie war im Laufen, hatte weiße Wäsche überm Arm hängen. »Ist sie aufgewacht?« sagte Theo halblaut. Emerenz lächelte: »I han's badet, Fräulein, 's ischt aber groß nötig gwe.« – »Mag schon sein, Emerenz'. Uebrigens – hättst auch können fragen. War's denn nicht zu mühsam für sie die drei Treppen?« Emerenz strahlte ruhig fort: »I han's abetrage, die hat kei großes G'wicht.« – »Getragen? Du?« – »Jetzet will i's denn a'ziehe«, sagte Emerenz, geschäftig vorbeilaufend. – »Ich komme, Dir z'helfe, wart'!« Aber Emerenz sah sich bittend um: »Fräulein Theo, 's kunnt sein, 's thät de arme Tropf scheniere! Bleibet Si do!« – »Und reine Wasch hast Du auch schon?« fuhr Theo unzufrieden fort. – »Ja, vo' mir, 'n alt's Hemmedle, – oh, Fräulein Theo, schlafet Sie nur; Sie sehet wieder ganz bleich um die Auge. Sie schaffet zu viel!« – »Bist 'n Aff'!« schalt Theo, aber die Emerenz war schon mit klappernden Tritten die Treppen hinab bis zur Badstube gelaufen.

»Jetzt so eine Tyrannei!« grollte Theo, ins Zimmer zurückkehrend, aber dann brach sie schnell ab. Leo schlief nun wirklich, aus dem ruhigen Gesicht sprach der vollkommenste Seelenfrieden; das Plüschkissen hatte sie sich hinter den Kopf gesteckt. Theo schrieb auf einen Zettel: »Adieu, Leo, ich geh' ins Atelier«, setzte den Hut auf und machte sich davon. Da kam's die Kellertreppe herauf, langsam und schwerfällig. Emerenz war's mit dem alten Weible am Arm. Es war aber ganz unkenntlich zuerst, denn es trug einen weißen Unterrock, eine weiße Nachtjacke und eine große Nachthaube auf dem kleinen Kopf, daß kaum das rothe erhitzte Gesichtchen hervorguckte. Emerenz strahlte. Theo blieb stehen und sah sich die beiden an. Nun erhob die Alte ihre kleinen schnellen Augen zu dem Fräulein, lachte weinerlich und sagte: »Gelle Sie, i ben schön? Gelle Sie, i ben fein? O Du mein Heiland!« – »Kannscht no laufe, Zenz, oder mueß i Di hebe?« fragte Emerenz mit weicher Stimme und einem zärtlichen Blick, der halb Zenz, halb ihrer Herrin galt. – »I ka' laufe! tapferle! tapferle!« lachte die Alte und hob vorsichtig die steifen Beine wieder um eine Stufe höher. Emerenz ward erst jetzt, so schien es, inne, daß ihr Fräulein im Hut war. »Jo bleibet Sie net daheim jetzet, Fräulein Theo?« – »Nein, davon ist kei' Red'! Adie!« – »Fräulein Theo, höret Sie auch! I möcht' denn der Zenz ihre Sach' gleich wasche, 's ischt groß nötig, und danach sollt' i's dann heimthue, sie hat e Logisle, da draußet auf der Prag – no müeßt' halt einer daheim sein, wann der Hafner kommt, und die Fräulein Leo verschtaht doch so öppes net.« – Emerenz' Gesicht war ängstlich geworden, aber jetzt blieb Theo ungerührt. Sie zog die Uhr aus dem Gürtel, machte ein paar hastige Schritte gegen die Hausthüre: »Ja, weißt', mußt Di halt einrichten! Das ist jetzt Deine Sach'. Gott b'hüt', Zenz! Aufs Wiedersehn!« Damit verschwand sie. Ja, weggehn kann man wohl, aber die Gewissensbisse gehen mit. Dennoch ward es spät, bis sie zurückkam: ist man einmal in der Arbeit, da hat man wie Opium getrunken – die Welt versinkt, alles fällt ab, was einen sonst angeht, man fühlt nicht mehr sich, man denkt an keine Seele, es gibt nur noch diese Farbe, diese Stimmung, diesen Reflex, diese Linien, die man herausbringen will, sonst nichts.

Merkwürdig – Emerenz schalt nicht, weder direkt noch indirekt: sie hatte gleichwohl den Tisch schon vor anderthalb Stunden zum Nachtessen gedeckt. Leo hockte über einer lateinischen Komödie und hatte hier und da ein paar Bissen in den Mund geschoben. Sie sah hilflos und zerstreut aus. »Was ist mit der Zenz?« fragte Theo, den Hut von sich werfend. »Ach, richtig ja, die Zenz! Emerenz hat mir etwas gesagt – aber ich war wirklich so drin den Augenblick – ich weiß es nicht mehr.« – »Trauriger Kauz, Du!« Theo warf ihr das Plüschkissen an den Kopf, Leo nahm es in Empfang und lehnte sich mit dem Nacken daran: »Der Plautus ist schwer, Du weißt es nur nicht.« – »Es fragt sich noch, ob Du ihn zur Maturität brauchst!« – »Wohl, man braucht ihn, beruhige Dich.« – »Hast schon rothe Augen, hör' jetzt auf, Leo.« – »Und Du, wie siehst Du aus? Grasgrün! Aber Jungfer Theo läßt sich emal nicht drein reden,« Theo zog ihr das Kissen fort, um es ihr an den Kopf zu werfen: »Ich bin mordshungrig! Emerenz, die Supp'!« – »Nein, jetzt hat die auch rothe Augen!« schrie sie die Emerenz an. »Emerenz, hast eppe auch den Plautus studirt? Was ist mit der Zenz?« Das Mädchen sah ganz verweint aus: »Fräulein Theo, d' Supp ischt net guet, aber o Du mein – wemmer auch so en Elend sieht!« Sie zog ihren Schurz vor die Augen, »Fräulein Theo, kei Bett, kei Tisch, kei Schtuhl! Nichts wie vier weiße Wänd', und e hölzernes Bänkl und e paar Lumpe! Aber i gang denn emol zu em, i sag ihm denn emol mei Meinung, wo – n – i von em han!« Sie stampfte auf den Boden, daß die Teller zitterten. »Von wem redest eigentlich, Emerenz?« fragte Theo, heftig die Suppe löffelnd, »Von ihrem Schwiegersohn! Wie ihre Tochter no ledig gwe ischt, no hänt se mit enander 's Geschäftle g'hätt, mit Obscht und Grüens, nachher hat 's geheirat – wie mer au so öppes Dumms thue kann! Und derjenig' hat natürli 's bitzele Eigetum von dene zwei Frauezimmer sofort verputzet! 's Eigethum verputzet, 's Weib verprüglet, die alt' Zenz weggeworfe! So machet sie's halt! Himmeldonner, Du mein Heiland, wie gaht's zu in Deiner Welt!« Emerenz blickte wild um sich, in ihren Augen funkelte es; gleich darauf zog sie wieder den Schurz heran, »Holztragen, Fräulein Theo, in dem ihre Alter! Himmeldonner, i thät de Mensche verschlage mit dem erschte beschte Beil, no wär' mer's Zuchthaus net z' eng.« – »Recht hast, Emerenz! Aber wenn Du alle verlumpete Kerle todtschlagen wolltest, so hättst viel zu thun«, rief Theo aufspringend, »hast denn der Zenz net g'sagt, daß sie zum Mittag komme soll, alle Tag?« – »Hab's ihr g'seggt, Fräulein, e Supp' ischt jo immer do, und alle Tag e Wurscht, was i derzu thue,« Die Schwestern schalten, was sie konnten, Emerenz blieb hartnäckig: »Sie findet Ihr Geld net auf der Schtraß, Fräulein, Sie müsset hart drum schaffe, se ischt ganz glücklich gwe mit eme Hemd an, die alt' wollene Jacke hat's so arg bissen bei dere Hitz. Und am Sonntag gang i denn emol zu dem Kerle, i möcht em emol öppes sage.«

Von jetzt an erschien jeden Tag nach dem Mittagessen an der Thürspalte ein braunrunzliges Köpfchen mit einem rothen Tuch, dessen zwei Zipfel spitz abstanden, und eine weinerlich-lachende Stimme girrte herein: »Vergelt's Gott dusigmol! Vergelt's Gott dusigmol! Vergelt's Gott dusigmol!« Dann huschte es weg.

Am Sonntag nach Tisch kam Emerenz, feierlich angethan in ihrem schwarzen Kirchenkleid mit breitem, blauseidenem Schurz, Ihr Gesicht war strenger und ernster als all die letzten Tage, wo die Beschäftigung mit der Zenz sie besänftigt und gemildert hatte. »Jetzet will i denn emol de böse Geischt beschwöre«, sagte sie zu Leo, die allein daheim war, Leo gerieth in plötzliche Unruhe: »Nun ist Theo nicht da, und wer weiß, ob sie damit einverstanden ist. Ich bin's nicht. Der Kerl wird Dich hinauswerfen und auslachen obendrein; gegen einen Mann – was kannst Du machen?« – »Schwach ben i grad net«, bemerkte Emerenz ruhig, – Leo sah sie kopfschüttelnd an: »Mach' emol nichts Dummes, Emerenz, es ist doch ein wahres Wort: kommst' nicht mit dem Kopf durch die Wand,« – »Adie, Fräulein Leo«, sagte Emerenz störrisch. –

Nachtessenszeit – acht Uhr setzt und keine Emerenz. Das war unerhört, das konnte nichts Gutes bedeuten. Die Schwestern geriethen in große Unruhe, »Warum hast sie auch gehen lassen zu solch einer Mission?« schalt Theo. – »Gehen lassen?« wunderte sich Leo, »Fragt sie denn mich? Sie hat nur gesagt, sie wollte jetzt den bösen Geist beschwören, aber fünf Stunden – sie wird wahrhaftig zu selbständig; sie regiert hier! Ganz einfach! Sie regiert, und wir müssen uns fügen. Sag' es ihr doch emal gründlich!« Flehend erhob Leo die Hände.

Es schlug halb zehn. »Jetzt geh' ich dann auf den Polizeiposten«, sagte Theo. »Du bleib für den Fall, daß sie inzwischen kommen sollte, aber diesmal muß man Emerenz den Standpunkt klar machen, das ist richtig.« Theo lief von einem Polizeiposten zum anderen. Endlich auf der dritten Stelle hieß es: »Wir haben hier ein Frauenzimmer verhaftet wegen Hausfriedensbruchs. – Es ist schon einer unterwegs zu Ihnen; das Frauenzimmer hat gar wichtig gethan, Sie sollten gleich Nachricht bekommen.« – »Kann ich die Verhaftete sehen?« fragte Theo erschrocken, »Sie müssen wissen, es ist ein braves Mädchen, seit sechzehn Jahren bei uns im Dienst.« – »Sie ist wegen Hausfriedensbruchs verhaftet, sie hat einen überfallen daheim; sein Weib hat die Polizei geholt.« Eine Thür wurde aufgeschlossen, ein dunkler Raum plötzlich elektrisch erhellt: im Hintergrunde erhob sich eine große Gestalt von einer Holzbank, und eine schluchzende Stimme schrie: »Fräulein! Fräulein Theo!« – »Emerenz, was machst für Sachen!« Theo mußte sich an die Bank lehnen, so erschrocken war sie.

Emerenz weinte heiße Thränen, blickte ihre Herrin angstvoll an und schluchzte herzbrechend. »Da siehst es, Emerenz, was Deine Heftigkeit Dir zugezogen hat! Der ganze Lumpekerl war das nicht werth!« rief Theo traurig, Emerenz trocknete sich die Augen; ein gewisses Aufleuchten kam hinein, und ganz schnell verwandelte sich ihr Ausdruck: jetzt glänzte das ganze Gesicht: »Er ischt im Bett g'lege, hat 'n Rausch g'hätt. Sein Weib ischt net derheim gwe, wie – n – i ins Haus ben. Jetzet han i en g'fraget, warum, daß er seine Schwiegermutter weggeworfe hätt'? Im Augenblick fängt er an zu schimpfe, i han 's net könne höre. No hoan i 'n Riemen verwitscht, 'n lederne Rieme, und han em damit übers Fell zoge.«

Emerenz ballte die Faust, sie stand in so kecker Fechterstellung, daß Theo ihr unwillkürlich, mit einem Blick auf den Polizisten in den Arm fiel. Emerenz verzog den Mund, einen leisen Schmerzensschrei unterdrückend: Theo sah, der rechte Arm war verbunden. »Aber Emerenz!« sagte sie vorwurfsvoll. Das große Mädchen schlug die Augen nieder: »Er hat mi g'schtoche, im letzte Augeblick, wo sein Weib komme ischt und d' Polizei g'rufe hat. Er ischt bereits auch im Loch.« – »So! So!« Theo schüttelte den Kopf, »das sind Deine Stückle, Du unbändiges Ding!« Sie biß sich auf die Lippen, denn ein wohlgefälliges Lächeln drängte sich wider Willen herauf. »Hast erst noch recht Blut verloren?«– »'s passiert.« Emerenz blickte den Verband an. »Und hast Schmerzen?« – »'s ischt net gefährlich, i kann schon schaffe!« Sie wollte denn auch gleich mit heimgehen und gerieth in Bestürzung, als der Polizist ihr kurz den Weg vertrat. »Ja, was meinet Sie denn! I ben doch bei meine Fräulein im Dienscht; i kann se doch net in der Verlegenheit stecken lasse!« schrie sie weinend, »und die alt Zenz? Die Zenz?«

Theo kam in großer Aufregung heim, wo sie Leo in noch größerer Aufregung erwartet hatte. »Ums Himmelswillen, es ist fast Mitternacht, Mir stehn schon die Haare zu Berg vor Angst um Dich«, rief sie ihr entgegen. »Ich komm' von Deiner lieben Emerenz«, sagte Theo mit boshaft lachenden Augen. »Die liebe, liebe Emerenz« – »Wüster Quälgeist Du!« brummte Leo, »was ist mit der Emerenz?« – »Sie sitzt, mein Engel! Sie hat sich geprügelt und ist eingesperrt. Eine nette Pflanze haben wir, liebe Leo, recht bequem und sanft, unser zartes Kammerkätzchen! Geht hin und prügelt betrunkene Kerle mit Knieriemen, Leo, mit Knieriemen!«

Leo betrachtete ihre lachende Schwester eine Zeitlang ganz sprachlos. Plötzlich kam ihr eine Thräne ins Auge. »Das alte brave Thier, gelt Du?« sagte sie mit vor Rührung rauher Stimme. Einen kurzen Blitz lang standen die Schwestern Auge in Auge – Theo legte, wie besiegt, den Kopf auf die Seite. »Freilich ja, natürlich! Die Sach' ist nur, wie kriegt man sie wieder heraus? Der Polizist hat mir gesagt: ›Bieten Sie Kaution!‹ Gut gesagt, bieten Sie! Aber wenn man nichts hat? Hab' mir den ganzen Weg hierher den Kopf zerbrochen,« Theo sah überwacht und elend aus; sie stand noch immer im Hut da, als wolle sie gleich wieder davon springen. »Können wir nicht etwas versetzen?« Leo ließ die Augen herumgehen, »wie viel wird wohl nöthig sein?«

Sie überlegten die halbe Nacht. Im Stockwerk unter ihnen ward getanzt und gesungen; die Prosektorsleute, mit denen sie gut bekannt waren, feierten Geburtstag. Die Schwestern hatten die Einladung abgelehnt, weil Theo täglich früh ins Atelier ging und die Nacht nicht hatte opfern wollen. »Singen die aber lang!« murrte Leo, sich an den Kopf fassend. Theo schlug sich vor die Stirn: »Jetzt weiß ich etwas! Wir machen uns noch 'n wenig zurecht, gehen hinunter und erzählen die Geschieht'! Prosektors kennen doch die Emerenz all die Jahre lang; – um – wieviel Uhr ist's? Halb drei? Nun, um halb drei Nachts da muß doch der Mensch in einer gewissen knetbaren Verfassung sein, wenn er seit sechs Stunden ißt und trinkt! Uebrigens – man pumpt ganz einfach, man will ja nichts geschenkt.« Leo war durchaus einverstanden: Leute, die einem immer freundlich begegnen, diese Prosektors.

Auf viele liebenswürdige Worte waren sie gefaßt, nicht aber auf diesen Freudenausbruch, der ihnen entgegenscholl. »Die verehrten Damen ›aus den höheren Regionen!‹ Die lieben langjährigen Hausgenossinnen! Die Musen, die doch noch endlich und zuletzt herabsteigen vom Olymp, um das Fest zu krönen!« Man war unendlich erfreut, unbeschreiblich entzückt, machte an wenigstens vier Stellen zugleich Platz, kam mit Gläsern und Tellern, mit Tassen und Fruchtkörben, die noch hastig wieder geordnet wurden, mit Bücklingen und Knixen den späten Gästen entgegen, ja jemand rief sogar begeistert aus: »Musik! Tusch!« was zwar keinen Tusch, aber doch ein schallendes Bravorufen und Lachen entzündete. Die Musik bestand nämlich aus einer Drehorgel, die von Babet, dem Dienstmädchen, gespielt wurde. »Vom hohn'n Olymp herab ward uns die Freude!« – krähte ein dürres altes Männchen den Schwestern zärtlich ins Gesicht,

Die Schwestern wurden mit warm. Zuerst zog über Leos weiches, müdes Gesicht mit den vielen Fältchen auf der Stirn ein röthlichen Schein, dann nickte ihr Theo mit blanken Augen zu: »Schau, was für Esel wir sind, hocken immer allein da oben! Der reinste Menschenfeind wird man.« Mitten in der Begeisterung schlug sie an ihr Glas, stand auf und hielt ihre Rede. Die Rede von der braven Emerenz, die im Loch steckt wegen Hausfriedensbruchs, es ist zum Lachen, und von der unverständigen Polizei, die brave Leut' einsperrt und Spitzbuben laufen läßt. Zum Schluß kam die Bitte, eine kleine Anleihe machen zu dürfen, denn gegen Geld zeigt sogar die Polizei sich verständig, – nachgiebig. Ganz leicht und lachend und zuversichtlich hatte sie begonnen, im Plauderton, ein bißchen burschikos, man ist ja unter Freunden. Bei einzelnen humoristischen Schlagworten hat sie dann umgeschaut, um das Lachen und Bravorufen in Empfang zu nehmen. Aber sie lachen nicht, sie nehmen's ganz ernst, und was ist das? Machen sie nicht plötzlich lange Gesichter? Theo blickt Leo an: die starrt dumm und bestürzt von einem auf den anderen. Wie die Sache wegen der Kaution heraus ist, und Theo noch, auf einem Fuß, in aller Spannung, über der sitzenden Tafelrunde schwebt, wird eine unheimliche Stille. Nichts von Lachen, nichts von Einverständniß, nichts von Heiterkeit mehr. Mit einem langen vorwurfsvollen Blick mustert der Hausherr die Sprecherin; seine Frau hat sich abgewendet und macht sich am Nebentisch zu schaffen. Plötzlich erheben sich die Gäste wie ein Mann. Jetzt? Was haben sie vor? denkt Theo. »Es wird spät, es wird spät«, krächzt das dürre Männlein, ohne Theo eines Blickes zu würdigen, »wir müssen aufbrechen, die Kinder schreien! Wahrlich, über halb vier Uhr!« Und vier, fünf Hände strecken sich gegen den betretenen, entrüsteten Hausherrn hin. Man ist in einer Eile, fortzukommen, die komisch und überraschend zugleich wirkt. Die zwei wie angedonnert dastehenden Schwestern werden flüchtig zum Abschied gegrüßt, – es ist, als müßten alle mit dem Expreßzug fort, der bekanntlich auf keinen wartet, Theo und Leo finden sich mit dem Prosektor im ungemüthlichen tête a tête: seine Frau und das Mädchen helfen den Damen in die Abendmäntel. »Wie konnten Sie! wie konnten Sie!« jammert er und wankt händeringend auf und nieder. Die kurze breithüftige Gestalt scheint allen Halt verloren zu haben. »Ein so herrlicher Abend: Professor Meier war in der denkbar besten Laune! – diese Verstörung! Dieser Schluß!« Mit thränenden Augen bleibt er vor der Uebelthäterin stehen: »Meine Dame, ich kann nur sagen: es thut mir leid! Professor Meier – o das vergißt er mir nicht! Ihn in solche Situation zu bringen,« »Verstehst Du das?« murmelte Leo ihrer Schwester zu, »Ja, versteh's schon. Als wir meinten, wir seien Esel, da waren wir's noch nicht, nachher ward ich einer.« Theo zieht die Schwester mit sich: »Sag' gute Nacht, sag's für mich mit; ich ersticke, wenn ich jetzt sprechen soll.« Der Prosektor verbeugt sich steif. Auf dem Flur stellt die Frau Prosektorin mit funkelnden Augen die beiden: »Hören Sie, Fränlein, die gefährliche Person werden Sie doch nicht wieder nehmen? Ich möcht' mich vor ihr fürchten!« Und dann, nah herantretend und bedauernd: »Gott, nein! wenn Sie nur meinen Mann privatim – aber vor Professor Meier, – der ist so zart in Geldsachen! Er kann das Wort nicht hören! Gott nein, diese Blamage! Waren Sie doch lieber« – »Oben geblieben!« ergänzt Theo lachend, aber das Lachen klingt sauersüß. »Sie haben furchtbar recht, Frau Prosektorin, Sie haben sogar senkrecht! Seien Sie getrost, Ihr Mann wird trotzdem Professor, die Entrüstung wird nicht ewig dauern, und wir ...«

Der Rest wurde verschluckt, um droben in wenig salonfähiger Form die Wände zu ergötzen. Leo war merkwürdig gefaßt: »So geht's, wenn die Leut' keinen Humor haben!« sagte sie kopfnickend, »Und kein Gefühl und kein Herz und kein Mitleid und keinen Menschenverstand und keine Urtheilskraft!« schrie Theo athemlos. »Lieber mit der Emerenz im Loch sitzen, als mit der Bande im Salon, das sag' ich Dir!« »Oh, der Zenz ihr edler Schwiegersohn sitzt auch nicht im Salon; ich sage Dir: der Humor fehlt, und wo der Humor fehlt – –« »Wenn man nur wüßt', wie man die dumme Emerenz los kriegt! Nichts zum Versetzen da, hm?« – brummte Theo und riß alle Schubfächer auf. »Der Kunsthändler soll Vorschuß geben!« »Soll! soll! Aber er ist auch zart in Geldsachen, ganz wie der drunten! Heiter!« »Schlimmstenfalls schreibt man nach Smyrna, dann muß der Heinz herausrücken,« »Ja, der nächste Weg! Smyrna! Und unser lieber Heinz hat bekanntlich auch nie etwas! Der hat ja die Cholerakranken!« »Drück sie an Dein Herz, lieber Bruder! Da! Sitz mit ihnen!« »Dafür ist er Mediziner! Prahl' nicht meine Beste, Du machtest es an seiner Stelle grad' so.« »Natürlich, wir sind drei Verrückte, und die Emerenz ist die vierte. Also schreib nach Smyrna.« Leo dehnte sich: »Gleich morgen früh. Schlaf,. Theo, leg Dich!« Mit fliegender Feder schrieb Theo ihren Brief, die Hähne in der Nachbarschaft krähten schon den Morgen an, als die Schwestern zu kurzer Rast ihr Bett bestiegen.

Vormittags erhielt Leo den Besuch der Prosektorin. Ihr Mann ließe doch dringend davor warnen, die Emerenz wieder zu nehmen, »Und überhaupt, wir rathen Ihnen dringend: mischen Sie sich nicht ein! Das fällt alles auf Sie zurück. Das ist nichts für gebildete Damen. Gott nein, diese Dienstboten! Mein Mann sagt es auch, Sie sind überhaupt zu aufgeregt, Fräulein! Wollen Sie kein Eis? Der Eismann ist vor der Thür,« Die kleine bunte Fliege flatterte davon. »Sie hat regenbogenfarbige Augen, merkwürdig!« sagte Leo. »Wie sind wir nur auf den Gedanken gekommen, zu denen um Hilfe zu gehen!«

Theo kam außer Athem, aber freudestrahlend heim: »Da, Alte! Zweihundert Mark! Ich Hab' dem Ladendorf zehn Skizzen aufgebunden! Heut Nachmittag holt man den Drach' aus dem Verließ.« »Die Zenz ist da«, sagte Leo, »sprich nichts von der Geschicht', das alte Geschöpf ist so verschüchtert, sie würd' denken, es ging ihr und der Emerenz ans Leben.« Eben guckte der Hundertfaltige, braune Kopf des Weibleins zur Thür herein: »Vergelt's Gott dusigmal! Vergelt's Gott dusigmal! Ischt die Emerenz net do?« – »Grad vorher ist sie ausgegangen. Soll man ihr etwas bestellen?« Die Alte nickte wichtig und Pfiffig, »'s Bett wär arg guet, wie e Prinz,han i g'schlafe, vergelt's Gott dusigmal! Dusigmal!« Sie faltete die zitternden Hände und wischte dann über die thränenden Augen: »Isch d' Emerenz bald wieder doheim? I möcht ihr's nur sagen, wie gut daß es Bett ischt.« Mit dem Versprechen, in einer Stunde wieder da zu sein, humpelte Zenz davon. »Sie hat ihr ein Kissen, eine Federdecke und auch Wäsche gegeben«, sagte Theo, als sie gingen, »ich bin in ihrer Kammer gewesen. Sachen aus ihrem Elternhaus. Das heißt etwas für ein Bauernmädchen, Vor der können wir uns beide verstecken, was die Verrücktheit anbetrifft.« – Mit dick geschwollenen Augen, fiebernd von der Armwunde, und gefügig wie ein Lamm kam Emerenz aus der Haft. Sie warf schaudernde Blicke rückwärts, als sie vor dem schönen stattlichen Justizgebäude standen. »I wär g'schtorbe, da drin, wenn S 'mi net geholt hättet, Fräulein! O Du mein, was gibt's für Elend und Sünd' auf der Welt! Die Nacht vergeß i meiner Lebtag net!« »Hat er Deinen Knieriemen ordentlich zu spüren bekommen?« sagte Leo aufmunternd. »War's der Mühe werth, Emerenz?« Emerenz seufzte: »Der Müh werth war's schon, ganz hoch im Bett ischt er g'schprungen und hat g'schrie wie – ee – en Bueb, und i weiß jetzet, wie's in der Welt zugeht, und daß net alles Luschtbarkeit ischt, wie bei dene Fräulein.« Als die drei an Prosektors Parterrefenster vorbei gingen, fuhr die hübsche kleine Dame mit erschrockenem Gesicht zurück, und ihre Regenbogenäuglein quollen vor Neugier und Angst. Vor der oberen Thür aber stand wartend die Zenz und hängte sich an die große Emerenz wie ein Kind an die Mutter, die ängstlichen Augen zur ihr emporgerichtet, daß unter dem rothen Kopftuch das dünne graue Zöpfchen vorrutschte. Als sie den verbundenen Arm bemerkte, betastete sie ihn erschrocken, rang die Hände und seufzte zum Erbarmen. Auf dem Weg draußen gegen Cannstadt hin wächst viel von dem Heilkraut, das alle Wunden ganz macht, gleich geh' sie 's holen. Sie witschte der Emerenz unterm Arm weg und kam nach zwei Stunden keuchend und schweißbedeckt mit einem Schurz voll Wegerichblätter dahergehumpelt. »Die Verrücktheit ist ansteckend, die Zenz ist auch schon so weit!« schalt Theo. »Jetzt fehlt nur, daß die Emerenz den Jodoformverband abreißt und das einfältige Gemüs' auf die Wunde thut, dann ist's fertig, dann könnt's die schönste Blutvergiftung geben.« Aber Emerenz war klüger. Sie hatte die Alte vertröstet: ›Abends wird der Verband erneut, heut Nachmittag muß man baden.‹ Im wohligen Bad, lachend und plätschernd wie ein Kind, vergaß die Zenz ihren mühsamen Weg und die Enttäuschung.

In ausgerechnet kurzer Zeit langte ein Brief aus Smyrna an. »Lieber Himmel!« murmelte Leo verdutzt, »was ist mit dem Heinz passiert? Der Junge hat Geld, schickt zweihundert Mark, und dreihundert sollen folgen – er wird sich doch nicht verheirathen?« Theo warf ihr das Plüschkissen an den Kopf: »Meinst, daß es eine Frau gibt, die so einen nimmt? Der auf dem platten Boden auf dem Bauch liegt, wenn er studirt, und das Haus voll Cholera-, Pest- und Pockenkranke schleppt?« Leo las noch immer in des Bruders Brief, suchte nach Andeutungen zwischen den Zeilen. »Es gibt ja übrigens Leute genug, die eine reiche Frau nehmen!« murrte Theo. »Und man verachtet sie nicht?« sagte Leo verächtlich. »Heinz und eine reiche Frau, unglaublich!« Nach einer Woche kam der Brief mit den versprochenen dreihundert: »Drücke der Emerenz meine Hochachtung aus und bitte Euch, ins Gebirge zu gehen, um die überschüssige Galle loszuwerden. Hierzu der Beitrag. Uebrigens bekommt Ihr eine Schwester, denn ich bin morgen verheirathet. Meine Frau ist Oberarzt des Kinderspitals, hat wie ich den Sprung vom unfruchtbaren Jus zur positiven Medizin gemacht und kennt Euch schon gut aus meinen Berichten. Sie ist geborene Schottin und ein unvergleichliches Frauenzimmer. Dixi.«

Leo weinte über die Nachricht. »Wer weiß, was das gibt! Solch ein Sonderling wie unser Heinz! Wenn sie erst emal sieht, wie der auf dem Bauch liegt.– –« – Theo lachte: »So wird sie sich daneben lagern, denn riesig bequem ist's! Und jetzt geht man in absehbarer Zeit nach Smyrna und macht die Bekanntschaft des unvergleichlichen Frauenzimmers! Mir gefallt's auch schon.« »Nicht emal den Namen schreibt der Junge! Man kann sie doch nicht als ›unvergleichliches Frauenzimmer‹ anreden?« Leo war selten so bekümmert gewesen. »Man schreibt halt: ›Liebe Schwester!‹ das ist doch das Einfachste. Aber die Emerenz wird wüthen, wenn sie's erfährt!«

Merkwürdig, die Emerenz wüthete überhaupt nicht mehr. Sie sah zum Glück wohl aus, sonst hätte man können für ihre Gesundheit fürchten. »Wenn sie einander gern habet, so geb i mein' Segen dazu«, sagte sie würdig, »der jung Herr wird scho' wissen, wen daß er an sein Herz 'zoge hat.« – »Und Du hast gesagt, man sollt' sie wegschicken!« machte Leo vorwurfsvoll gegen ihre Schwester. »Ja Du! Ich will Dich dann erinnern, wenn's wieder so kommt.«

Und so geht man also in die Berge. Emerenz bleibt daheim, sie hab' einen Haufen zu flicken für die Fräulein, sagt sie. »Und die Zenz nicht zu vergessen«, neckt Theo. Emerenz wird roth, senkt den Kopf; »sie schwätzt alleweil vom ›Schterbe‹, alle Tag. Heut, wo–n–i–'s wieder badet han, sagt sie: ›Jetzet ben i so sauber, da könnt i gleich unscheniert vor de lieb Herrgott hintrette.« – »Aber doch ist sie gesund?« – »Wohl, wohl! Hingegene ischt sie schwach wie en Kind. Wenn's die Fräulein net schenire thät, ich möcht sie am liebschte daher zu mir nehme, über die Zeit jetzet.«

Die Schwestern sind einverstanden, fast zu schnell für Emerenz' Geschmack, wie es scheint: »Ja, Sie müsset net befürchte, daß i 's in Ihre Wohnzimmer gehe lasse«, sagt sie hastig, »mei Kämmerle ischt groß g'nug, und auf de Küchebalkon kann sie de ganz' Tag sitze. Und wegeme Koschtepunkt« – Theo und Leo halten sich mit ärgerlichem Eifer die Ohren zu. Aber Emerenz erläßt ihnen nichts: der Preis für die Supp' und die Wurscht wird vorgerechnet, Emerenz hat einen Wurster gefunden, einen Landsmann, mit dessen Frau sie in die Schule gangen ist: der ist billiger und reinlicher als alle anderen. Und wegen der Kohlen für den Badeofen – – –« »Jetzet ist's gar, sonst werd' ich grob!« schreit Theo mit zürnenden Augen. »Schäm' Dich auch, Emerenz, daß Du so arg kleinlich und hochmüthig thun magst, wo wir's doch sind, die das alt' Weible hereingebracht haben.« Ohne Widerwort, tief erröthet stand die Emerenz. Wirklich, sie war verändert, Theo ward's unheimlich. Sie faßte sie am Arm: »Was hast eigentlich?« sagte sie sanfter, »warum bist so neidig und eifersüchtig gegen uns?« Das Mädchen zerfloß in Thränen. »Seitdem daß i die Zenz kenne lernt han, seitdem isch mir das guete Lebe verleidet, i weiß net, wie mer ist«, stammelte sie. »Es thät Dir besser, Du kämest mit aufs Land, als da in der leeren Wohnung hocken«, meinten die Schwestern. Emerenz schüttelte nur abwehrend den Kopf; dann brachte sie einen hohen Haufen Wäsch daher: »'s ischt denn Zeit, daß i emal an's Flicke komme, das ganz' Jahr wird verrisse, und zum Aufrichte kommt mer net.« – »Freut mich, daß sie noch brummen kann«, sagte Theo nachdenklich, »ich sag' Dir's, bald fang' ich an, Sehnsucht zu kriegen nach dem Drach', nach der bösen Sieben, die nicht mehr hervorkommen will.« –

Oh, der frische Athemzug im Freien nach der langen, jahrelangen, ferienlosen Arbeitszeit! Die Schwestern verjüngten sich, schüttelten sich, reckten sich und lachten mehr denn je, wo kein anderer Mensch Grund zum Lachen fand. Sie lachten sogar, als ihnen Prosektors begegneten und sie nicht wiedererkannten, mit dumm verlegenen Gesichtern an ihnen hinsahen. – »Gelt Du, das mit der überschüssigen Gall´, das war eigentlich Verleumdung von unserem theuren Herrn Bruder; wenn der nicht was Pathologisches entdecken kann, freut ihn der ganze Mensch nicht! Möcht' wissen, wo's seiner Schottin fehlt, oder was die überschüssig hat; unvergleichliches Frauenzimmer – das ist doch das stärkste Prädikat, das von Heinz' Lippen gefallen ist!« Theo war ungemein zufrieden hier draußen, wo sie die Stadtleute floh, um stundenlang mit den Bauernkindern zu plaudern. Leo lag derweil unter den Lärchen, wo der Wildbach um die Felsblöcke tobte, naschte Preißelbeeren und forschte in dem halbitalienischen Dialekt der plaudernden und singenden Dorfbevölkerung nach »alten Wurzeln«. Zuweilen ging dann, wie eine seltsam fremde und doch stimmungsvolle Erscheinung, ein hochgewachsener Mönch an ihnen vorbei, das römische Gesicht stolz und ernsthaft, während er ihnen sein »Gelobt sei Jesus Christus« zurief. Nachdenklich schauten die Schwestern hinter ihm drein: »Wie schön der geht! Wie königlich der sich trägt. 's ischt halt doch e merkwürdige Poesie dadrin«, sagte Theo, »die prächtige Staffage, man möcht' nichts davon entbehren.« Leo lag und blinzelte in den Sonnenuntergang; auf dem goldbraunen Roggenfeld ward noch gemäht, nun erscholl das Aveglöckchen, und plötzlich sank alles mit dem Arbeitsgeräth in Händen auf die Kniee. »Das ist ja Sonnendienst, siehst Du's?« flüsterte Leo begeistert und deutete auf die emporgewandten sonnenüberglühten Gesichter. »Wie schön und einfach das ist! Das scheidende Lebensgestirn! Dank für heute, und bitte Dich, komm wieder! Vergiß uns nicht! Das hier draußen gibt gute Gedanken, und die Augen werden so weit. Man möchte nur genießen, genießen,.«

Es fiel schon der erste Reif und saß wie Zuckerguß an den Grashalmen, als die Schwestern auf die Heimreise gingen. In Stuttgart empfing sie ein Landregen, der gerade und eindringlich in langen Fäden den Boden suchte. Das letzte rothe Blatt der wilden Rebe an ihrem Haus war schon hinweggewaschen. Emerenz hatte das Telegramm vor ein paar Stunden erhalten, sie kam freudig erregt die Treppen herunter; droben, auf dem Tisch, stand ein frisch gebackner Gugelhopf und Blumen daneben. An der Thür hing eine Guirlande. »Wie hübsch Du das Alles verstehst!« lobten die Schwestern. Emerenz erröthete: »Das kommt ja Alles von Ihne, Sie hänt's mi jo so gelehrt.«

Anderen Tags fiel ihnen die Zenz ein: sie hatten doch nichts von ihr gesehn. »Die Zenze ischt selig geschtorbe«, sagte Emerenz mit leiser Stimme, »am Sonntag werdet's drei Woche; wie so e Flöcklein im Wind auffliegt, so ischt se auf einmal weg gwe. Net hier, net in Ihrem Haus,« fügte sie mit ihrem alten eifersüchtigen Ton hinzu, »im Schloßgarte isch es passirt, wo i 's hingeführt han'. Der Doktor hat g'sagt: »die ischt gänzlich aufgearbeitet.« –

»Und schreibt uns nichts und macht das Alles allein durch!« sagte Theo kopfschüttelnd, fast gekränkt. Das Mädchen blickte sie ruhig an: »Was braucht mer Sie zu beläschtige, wo Sie so selte fortkommet und so Schweres schaffet? Und das Kreuzle schtaht auch schon uf'm Grab. I han's billig kriegt, aber 's ischt anschtändig. Vielleicht besuchet Sie d' Zenz auch emal aneme Sonntagnachmittag, wenn Sie Zeit händ?« – »Und das Geld, Emerenz, woher hast das genommen?« – »I han eppes verkauft von mei unnötige Sach – Sie händ mir so manches g'schenkt, und i han das Kreuzle ganz billig erschtande. Bei drei Händler bin i gwe, 's ischt e einfachs schwarzes Holzkreuzle, aber anschtändig.« Einige Tage ging Emerenz gedrückt und wortkarg herum, bis Theo es nicht länger aushielt: »Was ist Dir, Emerenz, Du hast etwas auf dem Herzen! Sag's.« – Das Mädchen nickte: »I möcht' fort von Ihne, Fräulein Theo, und i kann's doch fascht net sage.« Sie brach in heftiges Weinen aus und sah Theo bittend an: »Sie werdet bös' sein, aber 's ischt emal so, das bequeme Lebe ischt mir verleidet.« Die Schwestern waren fast sprachlos. »Unsere Emerenz, unsere treue alte Seele! Wie lang ist sie bei uns? Fünfzehn, sechzehn Jahre! Und warum denn, Emerenz? Warum?« »I möcht' barmherzige Schweschter werde«, sagte Emerenz, – sie war katholisch – »'s ischt seit der Zenz; i könnt' mi nimmer z'friede gebe in dem bequeme Lebe.« Die Schwestern konnten nichts thun, als ihre Zustimmung geben und ihre Hilfe.

Als die Emerenz ihr dunkles Gewand angelegt hatte und von ihnen gegangen war, weinten sie wie um eine geschiedene Freundin.


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