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Das Preußenthum beherrscht seit 66 Deutschland, Berlin ist die Hauptstadt des neuen Reiches geworden. Es drängt sich die Frage auf: wie das geschah und geschehen konnte? Daß es durch Waffengewalt geschah, liegt unmittelbar vor Augen, ist aber noch keine Erklärung. Man wird vielmehr weiter fragen müssen: woher es denn kam, daß den preußischen Waffen der Sieg zufiel, während doch das Uebergewicht der materiellen Kräfte und Hilfsmittel unstreitig auf der entgegenstehenden Seite lag? Und wie hatte es überhaupt dem Preußenthum gelingen können, eine so bedeutende Kriegsmacht zu entwicklen, als damals hervortrat, da doch allbekannt ist, von einer wie schmalen und prekären Basis die preußische Staatsbildung ursprünglich ausging, so daß, wer vor zwei Jahrhunderten die heutige preußische Größe vorausgesagt hätte, nirgends Glauben gefunden haben würde. Da liegt erst das eigentliche Problem.

Kein Zweifel nun, daß das Emporkommen Preußens mit durch besondere Umstände ermöglicht wurde, wie einerseits namentlich der Verfall des deutschen Reiches, andererseits der Verfall Polens und das Sinken der schwedischen Macht. Die Kunst war aber diese Umstände zu benutzen, und daß das mit solchem Erfolge geschah, bekundet offenbar auch ein Uebergewicht der Intelligenz. Sonst hätten wohl andere deutsche Staaten die Umstände auch benutzen können, und Preußen wäre dann nicht das geworden, was es wirklich geworden ist. Hat man von Bayern gesagt: es sei der Staat der verfehlten Gelegenheiten, so wäre Preußen hingegen der Staat der wohlgenutzten und nöthigenfalls erst selbst präparirten Gelegenheiten zu nennen. Die Ereignisse von 66 bieten dazu den schlagendsten Beleg. Denn welches praktische Ungeschick, ja welche Bêtisen dabei auf Seiten der Gegner hervortraten, und wie ohne dies die Preußen ihre glänzenden Siege nicht erfochten haben würden, darf heute für ebenso bekannt als anerkannt gelten. Das Uebergewicht der Intelligenz war also entschieden auf preußischer Seite. Blickt man ferner auf die so auffallend geringfügige Rolle, welche jetzt die übrigen deutschen Staaten bei der Reichsregierung spielen, so scheint es wohl, daß auch dies noch das Uebergewicht der preußischen Intelligenz bezeugt.

Was hilft es da, sich gegen Thatsachen zu verblenden, so mißliebig sie auch allen denjenigen sein möchten, die damit ihre eigene Inferiorität zu bekennen hätten! Im Gegentheil, wer sich durch solche Thatsachen gedrückt fühlen sollte, der hätte sie nur um so schärfer ins Auge zu fassen, um sich ihrer Folgen nach Möglichkeit erwehren zu können. Wer also die Dinge unbefangen betrachtet, wird nicht bestreiten können, daß es in gewissem Sinne seinen guten Grund hat, wenn Preußen der Staat der Intelligenz genannt worden ist. Denn durch seine Intelligenz ist dieser Staat selbst erst emporgekommen, und dadurch zu seiner heutigen Herrschaft in Deutschland gelangt. Es ist die nackte Thatsache.

Aber damit ist auch zugleich das Wesen dieser Intelligenz gegeben. Will sagen als einer principaliter rein politischen Intelligenz, und zwar in dem doppelten Sinne, daß sie nicht nur ganz vorzugsweise auf Staatsinteressen gerichtet ist, sondern daß sie auch mit und durch den Staat selbst erst geschaffen wurde.

Die preußische Intelligenz ist demnach nichts anderes als die geistige Essenz des Preußenthums überhaupt, und das ist eben ein rein politisches Wesen. Eine Nationalität im eigentlichen Sinne des Wortes bildet es bis heute nicht, auch hat es von Anfang an nicht auf volksthümlichen Grundlagen geruht. Man kann es insoweit mit dem alten Römerthum vergleichen, von welchem dasselbe gilt. Denn wohl gab es ursprünglich ein Volk der Latiner, nicht aber der Römer, sondern das specifische Römerthum entstand erst aus einem Gemisch verschiedener italischer Volksstämme, und alles, was hinterher als specifisch römisch erschien, war selbst erst ein Product der römischen Staatsentwicklung gewesen. Daher entstand zwar ein römisches Recht, aber keine römische Sprache und Literatur, sondern beides war und hieß lateinisch. Und gerade so gibt es auch keine preußische Sprache und Literatur, noch wird es jemals eine solche geben. Wenn ferner das Römerthum durchaus das Gepräge von etwas künstlich und gewaltsam Gemachtem trägt, was erst hinterher durch die Gewohnheit zur andern Natur wurde, so verhält es sich mit dem Preußenthum auch nicht anders. Was hingegen spontanes Leben darin hat, das ist eben selbst nicht preußisch sondern deutsch, gerade wie im alten Rom, was da nicht künstlich gemacht worden, nur Ueberreste altitalischen Volkslebens waren, oder beziehungsweise recipirtes Griechenthum.

Wie es nun wirklich keine preußische Nation gibt, d. h. als eine auf Abstammung, Sprache und Sitte beruhende Gemeinschaft, sondern das preußische Volk, insoweit es überhaupt ein eigenthümliches Wesen bildet, dies nur als Staatsvolk ist, so verhält es sich mit der preußischen Intelligenz, insoweit sie eben specifisch preußisch heißen kann, auch nicht anders. Nicht etwa auf angeborenen Eigenschaften des preußischen Volkes beruht sie, sondern von Staatswegen, wie zugleich zu Staatszwecken, ist sie dem Volke erst anerzogen und beziehungsweise eingedrillt.

Um diese Behauptung nach allen Seiten klar zu machen, werden wir die preußische Intelligenz nach ihrer Genesis zu betrachten haben, die, wie gesagt, mit der Genesis des Preußenthums überhaupt zusammenfällt. Je mehr wir dann ihr Wesen erkennen, werden wir zugleich auch ihre Grenzen erkennen. Am Ende wird sich zeigen, daß sie jetzt schon an ihre Grenzen gelangt ist, so sehr sie sich auch selbst darüber täuschen mag, und sich darum an Unternehmungen gewagt hat, denen sie nach ihrer wirklichen Capacität keineswegs gewachsen ist. Die Ereignisse selbst werden sie bald genug darüber belehren. Hochmuth kommt vor dem Fall, dies alte Sprüchwort wird sich hier bestätigen. Denn den Gipfel der Macht erstiegen zu haben wähnend, wird das Preußenthum zu spät bemerken, wie es durch seine Ueberhebung sich vielmehr selbst zu Grunde richtete.


I.

Blicken wir auf die positiven Grundlagen des Preußenthums, so tritt uns natürlich zuerst die Mark Brandenburg entgegen, als der reale Kern des ganzen preußischen Staates. Man hat sie einst des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse genannt, und auch sonst ist sie vielfach ein Gegenstand des Spottes gewesen, nichts destoweniger muß sie als ein Land von großer politischer Bedeutung gelten. Es zeigte sich das schon in der ersten Hälfte des Mittelalters, denn die Begründung der deutschen Herrschaft in der Mark Brandenburg entschied damals über die Verdeutschung des ganzen nordöstlichen Gebietes. Sie wurde der Stützpunkt, von wo aus das Deutschthum in wenigen Jahrhunderten bis über die Weichsel und über den Niemen vordrang.

Das erklärt sich zunächst aus den geographischen Verhältnissen. Einerseits das Mittelstück zwischen dem Küstenlande und dem sächsisch-schlesischen Gebirgslande, ist die Mark durch ihre Lage an der Elbe und Oder zugleich auch das natürliche Verbindungsglied zwischen dem Nordsee- und Ostseegebiete. Beides folgenreiche Umstände. Schiffbare Flüsse begünstigen die damit gegebenen Verbindungen, da die Spree schon von selbst sich so nahe der Oder zuwendet, daß sie fast mit ihr zusammenfließt, und die Havel auch leicht genug damit zu verbinden war. Die Oder führt dann durch die Warthe und Netze bis dicht an die Weichsel, die ihrerseits wieder in dem Küstenstriche durch die zwei großen Haffe, und durch den Pregel, in natürlicher Verbindung mit dem Niemen steht. In neuester Zeit ist dabei noch der Vortheil zu berücksichtigen, daß in dem meist ganz ebenen Lande auch der Eisenbahnbau nur geringe Schwierigkeiten findet. Was wäre das heutige Berlin ohne seine Wasserstraßen und Eisenbahnen!

Eine weite Perspective eröffnete sich durch diese Naturverhältnisse für strategische wie für commercielle Unternehmungen. Wie die märkischen Landschaften sich überall durch ihren gänzlichen Mangel an einem Hintergrund charakterisiren, welcher den Horizont entschieden abschlösse, so erweckt auch ihr Anblick in der Seele der Menschen einen unbestimmten Ausbreitungstrieb. Es ist dasselbe, was sich (nur in viel größeren Dimensionen) an dem Russenthum zeigt. Und dem entspricht auch die Thatsache, daß das märkische Territorium, weil es nirgends eine natürliche Grenze gab, sich fast ununterbrochen veränderte, was dann hinterher typisch geworden ist für die Territorialbildung des ganzen preußischen Staates.

Wie war nun das Volk geartet, welches dieses Land bewohnte? Seit Begründung der Mark wurde es ein Gemisch von Slawen und Deutschen, und zwar von Deutschen, nicht blos aus den benachbarten Landschaften eingewandert, sondern zum Theil weit hergekommen, bis aus den Niederlanden. Verwuchsen diese Elemente allmälig miteinander, – einen Volksstamm von so ausgeprägter Eigenthümlichkeit, wie die primitiven deutschen Volksstämme, ergab das doch nicht. Sondern ein weit weniger auf natürlichen Instinkten ruhendes als reflectirendes Wesen, eben so geeignet immer neue fremde Elemente in sich aufzunehmen, als andererseits fremden Elementen zur Vermittlung zu dienen, und sie dadurch allmälig unter sich selbst auszugleichen und so zu einem Ganzen zu machen. Ohne diesen Charakterzug des Märkerthums würde es kaum geschehen sein, daß hinterher so viele andere Landschaften mit Brandenburg verbunden, und von da aus beherrscht wurden. Es ist ja eine allgemeine Erfahrung, daß gemischte Bevölkerungen für große politische Bildungen am geeignetsten sind. Die natürliche Armuth des brandenburgischen Landes ist dabei weit eher förderlich als hinderlich gewesen. Sie zwang seine Bewohner zu Fleiß und Betriebsamkeit, um dem kargen Boden Ertrag abzugewinnen. In dürftiger Existenz erwuchs da ein zähes Geschlecht, zähe wie die dem märkischen Sande entsprossene Kiefer, wie geschaffen zu einem Soldatenvolk.

War doch die Besitznahme des Landes von Anfang an nur durch die Waffen zu Stande gebracht, und erst nach langwierigen Kämpfen hatte sich die deutsche Herrschaft festsetzen können. Man kann sagen: die Mark war eine Militärcolonie. In dem Ordenslande an der Weichsel wiederholte sich hinterher dasselbe. Es war erst recht ein Militärstaat, obwohl in halbpriesterlichem Gewande erscheinend. Beiden Ländern war also von Anfang an der Eroberungsgeist eingeimpft. Und nach diesen Antecedenzien entstand im siebzehnten Jahrhundert der moderne preußische Staat.

Durch den dreißigjährigen Krieg halb zur Wüste geworden, mußte die Mark gewissermaßen erst wieder neu angebaut werden. Das geschah unter dem großen Kurfürsten, wie unter seinen Nachfolgern bis auf den großen Friedrich. Auch in anderen preußischen Ländern wurde vieles neu gegründet. Ueberall wurde durch die Fürsorge der Regierung Land urbar gemacht und mit Colonisten besetzt, die abermals zum Theil aus weiter Ferne kamen. Dahin gehörte insbesondere die Ansiedlung der Salzburger in Ostpreußen. Am folgenreichsten aber wurde die Aufnahme der französischen Hugenotten, die sich namentlich in Berlin so zahlreich niederließen, daß sie damals einen verhältnißmäßig beträchtlichen Theil der Einwohnerschaft bildeten, und infolge dessen die ganze obere Schicht des Bürgerstandes, wie namentlich auch der ganze Gelehrtenstand, von französischer Bildung impregnirt wurde. Noch mehr französirte sich das Hofleben. Da aber die Berliner doch nicht zu wirklichen Franzosen werden konnten, so hatte dies zuletzt nur die Folge, den specifisch deutschen wie zugleich märkischen Charakter des Berlinerthums dergestalt zu verwischen, daß Berlin, seitdem es überhaupt anfing eine bedeutende Stadt zu werden, auch zugleich einen kosmopolitischen Zug bekam. War also die Mark, als eine Militärcolonie, schon von Anfang an eine mehr künstliche als naturwüchsige Bildung gewesen, so trat dieser ihr Charakter seit dem großen Kurfürsten noch viel entschiedener hervor. Was sie seitdem geworden, stand durchaus unter dem Einfluß der Regierungsgewalt, während die noch aus dem Mittelalter herrührenden Organisationen, die doch mehr volksthümlich gewesen waren, allmälig ganz abstarben.

Entscheidend für die Bildung des neuen Staates war nun die zu Anfang des 16. Jahrhunderts erfolgte Erwerbung des damals sogenannten Herzogthums Preußen, wie andererseits der Länder aus der jülichschen Erbschaft, wozu durch den westphälischen Frieden noch Hinterpommern, Magdeburg, Halberstadt und Minden hinzukamen. Eine Länderkette gab das, die von dem Niemen an quer durch das ganze nördliche Deutschland sich bis über den Rhein erstreckte, aber zunächst nur aus unzusammenhängenden Gebieten bestehend, und alle ohne eine Spur von natürlicher Begrenzung. Fürwahr ein Kunststück, aus solchen Elementen einen einheitlichen Staat zu machen, der noch obendrein alsbald den Anspruch erhob, eine europäische Macht zu bilden. Als eine solche trat der junge Staat wirklich schon unter dem großen Kurfürsten auf. Denn mit Polen, Schweden und Frankreich schlug er sich, ein Vorbild des großen Friedrich im siebenjährigen Kriege.

Wie natürlich, daß der Besitz so verschiedener, und zum Theil so entfernter, Landgebiete der brandenburgisch-preußischen Regierung (erst später hieß das Ganze kurzweg Preußen) eine Weite des Blickes und einen Unternehmungsgeist gab, wodurch sie den Regierungen der übrigen deutschen Territorialfürstenthümer gar sehr überlegen werden mußte. Gleichzeitig Interessen am Rhein, an der Weser, an der Elbe, an der Oder und am Niemen wahrzunehmen, wozu unter dem großen Friedrich noch das friesische Küstenland an der Nordsee und das untere Weichselgebiet hinzukamen, das wollte schon etwas besagen. Es forderte das Nachdenken wie die Thatkraft heraus. Insbesondere erweckte es den lebhaftesten Trieb zu immer neuen Erwerbungen, um die einzelnen Landestheile zu arrondiren und wo möglich in Zusammenhang zu bringen.

Einstweilen konnte ein Verband nur künstlich hergestellt werden. Erst der Gedanke, und der durch den Gedanken bestimmte Wille, schuf hier die Einheit und damit die Macht, weil die zerstreuten Landestheile in ihrer Vereinzelung nur wenig bedeutet hätten. Das ist es, wodurch Preußen zum Intelligenzstaat wurde: daß seine Bildung principaliter vom Denken ausging. Selbstverständlich aber, daß diese Intelligenz zunächst nur in dem Landesherrn und den von ihm eingerichteten Behörden zu suchen war, als der Seele des neuen Staates. Verkörpert war er in der Armee, die das Ganze erst zusammenhielt und ihm Nachdruck gab. Daß die verschiedenen Landestheile sich nach eigenen Trieben verschmolzen hätten, wäre nicht zu sagen, sondern von oben herab wurden sie zusammengefügt, mit der Perspective nöthigenfalls gezwungen zu werden, wenn sie sich nicht gefügt hätten. Daß gleichwohl allermeist sanftere Mittel genügten, und reine Gewaltmaßregeln doch nur selten angewandt wurden, – alles erzwingen zu wollen, wäre ohnehin unmöglich gewesen – spricht offenbar für ein bedeutendes Verwaltungstalent, welches dann hinterher zu einer systematischen Ausbildung kam, und den preußischen Staat so wesentlich charakterisirt.

So trat die Sonderexistenz der einzelnen Landestheile je mehr und mehr zurück, obwohl dieselben noch lange ihre Provincialverfassungen behielten, die aber nur noch eine untergeordnete Bedeutung hatten. Für die Regierung galten die Leute principaliter nicht mehr als Pommern, Brandenburger, Westphalen u. s. w., sondern als Preußen. Und insbesondere galt dies für das Personal der Regierung selbst. Geborene Brandenburger waren in den höchsten Stellen, seit dem großen Kurfürsten, wohl immer die wenigsten, viele überhaupt aus der Fremde gekommen. Eins der merkwürdigsten Beispiele bot gleich in dieser Hinsicht Derflinger dar. Aus Oesterreich stammend und seines Zeichens ursprünglich ein Schneider, war er in den Stürmen des dreißigjährigen Krieges zum Kriegsmann geworden, trat dann in brandenburgische Dienste und wurde der berühmte brandenburgische Feldmarschall. Nach dem Heimathsscheine fragte man nicht, war der Mann nur befähigt und gewillt dem preußischen Staatsinteresse zu dienen, so war er auch ein guter Preuße. Diese Maxime hat seitdem immer geherrscht, und wie sehr das zum Emporkommen des preußischen Staates beigetragen, bedarf keiner Worte. Es zeigt aber auch am augenfälligsten, daß hier von Anfang an keine Volksentwicklung, sondern eine reine Staatsentwicklung stattfand. Insofern jedoch die bei der Regierung herrschende Denkweise allmälig auch in die Bevölkerung eindrang, so entstand eben ein Staatsvolk daraus.

Worauf war nun in diesem Staate der Sinn gerichtet? Vor allem auf Vermehrung der Machtmittel. Und das war der Gesichtspunkt, unter welchem man auch das Volksleben betrachtete. Daß das Volk sich an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnte, an Thätigkeit in seinen Geschäften und Sparsamkeit in seinem Haushalte, und dabei auch einige Bildung annahm, war eben selbst ein Machtmittel für den Staat. Noch mehr kam es auf Gehorsam an, auf Willigkeit zu den geforderten Leistungen. Und die Lasten waren groß, denn nur durch Heranziehung aller Volkskräfte konnte der Staat seine Stellung behaupten. Daß dabei das Recht des Volkes vor den ihm auferlegten Pflichten in den Hintergrund trat, und das Volk sich selbst an solche Denkweise gewöhnte, war von entscheidender Wichtigkeit. Dadurch allein wurde es erreichbar, daß es solche Anstrengungen aushielt und solche Opfer brachte, wie auch in Friedenszeiten von ihm gefordert wurden, geschweige denn in den häufigen Kriegen. Man wird den moralischen Werth, welcher solche Stärkung des Pflichtgefühls hatte, nicht gering anschlagen dürfen. Nur handelte es sich freilich nicht um die Pflicht überhaupt, sondern principaliter nur um die Pflicht gegen den Staat, und wohin soll es wohl kommen, wenn sich das Pflichtgefühl in den Leistungen für den Staat concentrirt? Die heute errungene Machtstellung des preußischen Staates beruht zuletzt darauf, keine Frage aber, daß die durch solche Pflichtübung beförderte Moralität doch ihre sehr schwachen und bedenklichen Seiten haben wird.


II.

Um das Wesen des preußischen Staates recht zu verstehen, darf man nur nie die Zeitverhältnisse vergessen, die seine Bildung beeinflußten und beziehungsweise erst ermöglichten. Will sagen die Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege, und also die Zeit des tiefsten Verfalls des deutschen Nationallebens. Die alten Institutionen überall gebrochen, das Volk, so viel davon übrig geblieben, ebenso verwildert als zugleich um alles Selbstgefühl gekommen, in die dürftigsten Zustände versunken. Da war die militärische Zucht und Ordnung jedenfalls ein sehr wirksames Mittel, um den Leuten wieder Haltung zu geben, und nach dieser Seite das Emporkommen des preußischen Militärstaates als eine Wohlthat anzusehen. Es gab damit einen Stützpunkt der Energie und Spannkraft.

Dann ferner der allgemeine Zug zum Regierungsabsolutismus auf dem ganzen Continente. Kam aber doch einmal der Absolutismus zur Herrschaft, so war dann der preußische vergleichsweise noch immer der bessere. Jedenfalls war er doch nicht bloß auf die Verherrlichung des Hofes gerichtet, sondern auf Beförderung der Staatsinteressen, als deren Repräsentanten sich die preußischen Regenten ansahen. Darin fanden sie die Vollmacht zu allen ihren Verfügungen und Unternehmungen. Freilich hätte man fragen dürfen: wer ihnen denn das Recht gegeben, die unter ihrem Scepter stehenden deutschen Länder, die vordem ihre eigene Existenz gehabt, zu einem gemeinsamen Staatskörper zusammen zu schweißen, und dadurch ihre frühere rechtliche Stellung im Reiche so wesentlich zu alteriren? Allein die absolutistische Denkweise der Zeit ließ solche Fragen gar nicht aufkommen. Ging doch auch der Kaiser selbst mit dem Beispiel voran, indem er seine zum Reiche gehörigen Länder kurzweg als österreichische Länder ansah, daher man denn in Wien auch nur das nicht österreichische Deutschland als das » Reich« bezeichnete, wie wenn Oesterreich selbst gar nicht dazu gehörte. Die kleineren Fürsten, so weit sie konnten, handelten nach derselben Maxime, nur hatte das bei Preußen, wegen seiner sich durch das ganze nördliche Deutschland hindurchziehenden Besitzungen, sehr viel größere Folgen, und wurde dort die Sache mit größerer Energie wie mit größerem Geschick betrieben.

Klar ist aber, daß der dadurch entstehende preußische Staat infolge dessen aus der bisherigen deutschen Entwicklung je mehr und mehr heraustrat, und allmälig etwas ganz Neues daraus wurde, – das specifische Preußenthum. Wäre die deutsche Nationalentwicklung noch in lebendigem Fortschritt gewesen, so hätte das allerdings als ein frevelhafter Eingriff in dieselbe gelten müssen, aber dann wäre es auch gar nicht möglich gewesen. Weil aber die deutsche Nationalentwicklung in fortschreitendem Verfall begriffen war, so mußte solche Umbildung der unter brandenburgischem Scepter stehenden Reichsländer zu einem einheitlichen Staat, relativ betrachtet, sogar als eine Verbesserung gelten. Nur freilich eine neue deutsche Nationalentwicklung konnte daraus nicht hervorgehen, sondern das Emporkommen des neuen preußischen Staates war vielmehr die thatsächliche Verneinung einer solchen. Und das ist eben das Sinnlose in der Geschichtsauffassung der Gothaer, daß sie die specifisch preußische Entwicklung, die ja unter den obwaltenden Umständen auch ihre innere Berechtigung hatte, hinterher zu einer deutschen Nationalentwicklung umstempeln wollen.

Für diesen neuen preußischen Staat trat nun die frühere Geschichte der darin einbegriffenen Länder ganz in den Hintergrund. Statt einer Fortentwicklung derselben trat vielmehr ein Bruch mit der territorialen Vergangenheit ein, indem überall die Gesammtinteressen des neuen preußischen Staates maßgebend wurden. Blos zufällig aber, oder nach reinem Belieben, geschah dies keinesweges. Es konnte nach Lage der Sache kaum anders geschehen. In dem damals sogenannten Herzogthum Preußen wäre ja an eine rechtliche Continuität mit der ehemaligen Ordensherrschaft schon gar nicht mehr zu denken gewesen, denn diese Herrschaft war längst in sich selbst erloschen. Und was die darauf gefolgte herzogliche Zeit anbetrifft, so hatte dieselbe ein so klägliches Andenken hinterlassen, daß der große Kurfürst sich wenig versucht fühlen konnte, seine Regierung als die Fortsetzung derselben anzusehen. Durch Abwälzung der polnischen Lehnsherrschaft zur Souveränität gelangt, nahm er eine ganz andere Stellung in dem Lande ein, als die ihm vorangegangenen Herzöge. Und war er damit ein europäischer Potentat geworden, so fühlte er sich als ein solcher nun auch in seinen zum Reiche gehörenden Ländern, obwohl dort die Rechtscontinuität weit weniger durchbrochen, wenn schon vielfach zu einer leeren Form geworden war. Oder sollte er etwa in Magdeburg als Erzbischof, in Halberstadt und Minden als Bischof regieren, wo doch kein Erzbisthum oder Bisthum mehr bestand? Zwar geschah dergleichen in einigen säcularisirten Bisthümern, aber einen rechten Sinn hatte es nicht. Das Herzogthum Pommern ferner erhielt er nur halb, der Ueberrest wurde erst später und zwar stückweise erworben. Wäre es auf einmal und als ein organisirter Körper an Brandenburg gefallen, so hätte die Sache schon anders gestanden. Schlesien wurde auch nicht ganz erworben, und als ein selbständiges Land war es überhaupt nicht anzusehen gewesen. Noch weniger hätte nach der Erwerbung Westpreußens und des Netzedistriktes von einer Fortsetzung der dort bestandenen Regierung die Rede sein können. Aehnlich verhielt es sich mit den neuen Erwerbungen nach dem Reichsdeputationshauptschluß und von 1815. Kurz: es waren vorzugsweise nur Bruchstücke, oder doch schon in sich selbst gebrochene Existenzen, die dem neuen preußischen Staate zum Material dienten. Und selbst wo an und für sich die Continuität der Entwicklung gegeben gewesen wäre, wie namentlich in der Mark Brandenburg, da war doch (wie schon früher bemerkt) durch die Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges alles so verfallen, daß man in vieler Hinsicht von neuem anfangen mußte.

Erst durch die Annexionen von 66 geschah etwas, was vordem nie geschehen war, indem jetzt auf einmal ganze noch sehr lebensfähige Staaten incorporirt wurden, und zwar in rein gewaltsamer Weise. Aber daran wird auch gerade die preußische Staatskunst scheitern, weil sie leider nicht intelligent genug war um den inneren Widerspruch zu erkennen, der durch solchen Vergrößerungsmodus in die preußische Staatsentwicklung selbst hineinkam.

Wie ganz anders erscheint doch im Vergleich mit Preußen die Bildung der österreichischen Monarchie, welche wesentlich auf der Verbindung des Erzherzogthumes mit Böhmen und Ungarn durch Erbgang beruhte! Da folgte es ganz von selbst, daß die Continuität erhalten bleiben mußte. Denn diese beiden Länder waren schon altformirte und große politische Körper, woraus etwas Neues machen zu wollen geradezu unmöglich gewesen wäre. Und so waren auch die deutschen Länder Oesterreichs durch Erbgang zusammengebracht. Alles beruhte da auf überkommenen Zuständen, statt eines künstlichen und gewaltsamen Zusammenfassens der verschiedenen Elemente fand vielmehr ein natürliches Verwachsen statt. Mit den alten Einrichtungen selbst lebten da auch die alten Traditionen fort.

In Preußen hingegen verschwand das Eine mit dem Andern. Vor den glänzenden Erfolgen des großen Kurfürsten, wie noch mehr des großen Friedrich, erlosch selbst die Erinnerung an die ältere Zeit. Es bildete sich ein specifisch preußisches Bewußtsein, für welches dann die ganze deutsche Geschichte – um nicht zu sagen die ganze Weltgeschichte – erst mit dem großen Kurfürsten begann. Alles Vorhergegangene wurde wie als einer dunklen Sagenzeit angehörig betrachtet, worum man sich nicht weiter zu kümmern habe. Nur um der Dynastie willen ging man noch bis zu den Anfängen der hohenzollerschen Herrschaft in Brandenburg zurück. Was die Mark vordem gewesen, kam so wenig in Frage wie die ganze Vorgeschichte der übrigen preußischen Länder. Natürlich entstand solche Denkweise zunächst in den gouvernementalen Kreisen, hinterher aber wurde sie systematisch ausgebildet und durch das Schulwesen der ganzen Bevölkerung eingeflößt. So ist es gekommen, daß man selbst bei hochgestellten Beamten, wie andererseits bei Leuten, die sich ihrer wissenschaftlichen Bildung rühmen, gar oft eine solche Interesselosigkeit für alles, was die Vorzeit der preußischen Länder anbetrifft, bemerkt, ja eine solche Unkenntniß des Thatsächlichen, daß es Staunen erregt. Und diese, kurz gesagt, ungeschichtliche Denkweise bildet nun einen wesentlichen Charakterzug der preußischen Intelligenz.

Welche Folgen mußten daraus entspringen? Die Sache hat ihre verschiedenen Seiten, denn man kann nicht leugnen, daß solche Abstraction von der Geschichte auch erhebliche Vortheile gewährte. Eine lange Geschichte in der Erinnerung mit sich herum zu tragen, ist ja allerdings wie ein Bleigewicht für den freien Schwung des Geistes, und den Blick auf die Vergangenheit zu richten, kann leicht dazu führen, daß sich der Sinn für das Gegenwärtige um so mehr abschwächt. Wie schwerfällig erscheinen doch die Bewegungen des alten Europas, welches überall eine mehr als tausendjährige Geschichte hinter sich her schleppt, im Vergleich zu dem kecken Treiben des jungen Amerikas, welches sich mit keiner Geschichte abzuquälen braucht, – weil es keine hat! Nun wohl, in dem jungen preußischen Staate kam in mancher Hinsicht eine dem Amerikanismus verwandte Denkweise auf. Anstatt sich den Kopf mit alten Scharteken anzufüllen, studierte man lieber Nationalökonomie, Statistik und andere nutzbare Wissenschaften. Es war Preußen, welches zuerst in Deutschland Lehrstühle für Nationalökonomie errichtete, und zuerst eine systematische Statistik einführte – der Recrutirung und Besteuerung wegen. Das praktisch Brauchbare und Nothwendige wurde die Parole. Darauf war insbesondere die Beamtenbildung gerichtet, und was praktische Brauchbarkeit anbetrifft, erwies sich auch das preußische Beamtenthum bald wirklich überlegen. Was wäre aber Preußen geworden ohne sein Beamtenthum? Eine geschichtliche Denkweise hingegen, ganz abgesehen davon, daß sie als unnütz erschien, hätte ja noch obendrein die Inconvenienz gehabt, daß sich damit auch einige Pietät für das geschichtlich Gewordene und Zurechtbestehende zu verbinden pflegt, und solche Pietät würde oft das rüstige Zugreifen und Dareinschlagen verhindert haben, was doch für das Preußenthum ein unabweisbares Bedürfniß war.

Man wird also zugeben müssen, daß gerade diese ungeschichtliche Denkweise den Aufschwung der preußischen Macht befördert hat. Nicht minder gewiß aber, daß sie unvermeidlich zur Verflachung der Geister führte. Von selbst folgt daraus, daß dann auch gerade Preußen der fruchtbarste Boden für die vulgäre Aufklärung wurde. Das ganze Gemüthsleben wurde dabei abgeschwächt und angegriffen; daher denn Poesie und Kunst in Preußen ebenso wenig Antrieb fanden, als ihnen auch geringe Pflege zu Theil wurde. Nur die exacten Wissenschaften und die sogenannten Brodstudien konnten dabei um so besser gedeihen. Wie einseitig jedenfalls das preußische Wesen wurde, liegt auf der Hand. Wie könnte es jemals Anspruch darauf machen, die Totalität des deutschen Geistes repräsentiren zu wollen?


III.

War das siebzehnte Jahrhundert, in welchem die Entwicklung des modernen preußischen Staates begann, das Zeitalter des hereinbrechenden Absolutismus, so kam doch mit demselben zugleich noch etwas andres. Wir meinen die naturrechtliche rationalistische Staatsansicht, welche sich von da an aufthat. Zwar nach ihren freiheitlichen Tendenzen der directe Gegensatz zum Absolutismus, war sie gleichwohl leicht damit vereinbar, wie sie auch hinterher selbst nur zu einem neuen Absolutismus führte, dem Absolutismus der Begriffe und Principien. Der junge preußische Staat erwies sich für die rationalistischen Theorien von Anfang an empfänglich. Sie kamen sogar seinen eigensten Bedürfnissen entgegen, weil eben die preußische Staatseinheit zunächst nur in der Idee des gemeinsamen Staatszweckes und Staatsinteresses lag, während realiter ein einheitliches Ganzes noch gar nicht bestand. Wie gut paßte dazu eine Lehre, die sich um reale Thatsachen auch nicht kümmerte, sondern alles aus reinen Begriffen heraus entwickelte! Die ganze rationalistische Philosophie war gewissermaßen ein theoretisches Seitenstück zu den practischen Unternehmungen der preußischen Intelligenz.

So trat schon Pufendorf in brandenburgische Dienste. Ihm folgten Thomasius, Wolf, Kant, auch Fichte in seiner spätern Periode, und zuletzt Hegel, also gerade die vornehmsten Repräsentanten der rationalistischen und später sogenannten speculativen Staatsansicht. Keine Frage, daß diese Denkweise ihren vornehmsten Stützpunkt wie ihre weiteste Verbreitung in Preußen fand. Die sogenannte historische Schule hingegen ging von Göttingen aus, wie sie auch eine unverkennbare innere Verwandtschaft mit der Sinnesart des altsächsischen Volksstammes hatte. Zwar verzweigte sie sich hinterher auch nach Preußen, Einfluß aber gewann sie dort nur in den engen Kreisen einer exclusiven Bildung. Dem eigentlichen Preußenthume, wie es sich unter dem großen Friedrich entwickelt, und dessen Grundsätze sich dann in dem preußischen Landrechte ausgeprägt und dadurch in dem ganzen Beamtenstande befestigt hatten, war sie wesentlich antipathisch. Ein Eichhorn, Savigny und Puchta konnten daran nichts ändern. Ihr akademischer Ruhm war unbestritten, aber die vorherrschende Rechts- und Staatsansicht blieb in den Kreisen der durchschnittsmäßigen Bildung immer die rationalistische.

Für die Schärfe und Beweglichkeit des Denkens war dies allerdings förderlich, und so lag auch darin wieder ein Element der Überlegenheit des Preußenthums. Aber es entstand daraus auch der Hang zum abstracten Generalisiren und Schematisiren durch eine äußerliche Gleichmacherei, wovon das preußische Staatswesen so vielfach Zeugniß gibt. Und wenn man a priori wohl vermuthen möchte, daß die Herrschaft allgemeiner Regeln und Begriffe, vor welchen dann die concreten Eigenschaften der Dinge in den Hintergrund treten, doch jedenfalls den geschäftlichen Mechanismus vereinfacht haben müßte, so entsprang thatsächlich oft ein ganz nutzloser Formalismus daraus, der eine unsägliche Schreiberei veranlaßte. Selbst um der geringfügigsten Dinge willen, weil eben alles nach derselben Façon behandelt wurde.

Was aber die Hauptsache ist: der Bruch mit der deutschen Geschichte, der schon an und für sich in der preußischen Staatsentwicklung lag, wurde durch den Rationalismus vollendet, das rationalistische Preußenthum also zur Behandlung deutscher Angelegenheiten nur um so weniger befähigt. Denn zu welchem Verständniß dafür hätte wohl die rationalistische Denkweise geführt, deren Wesen gerade darin bestand, von den concreten Verhältnissen rundweg zu abstrahiren, um statt dessen aus reinen Begriffen heraus zu deduciren, und dadurch eine angebliche Normalverfassung aufzustellen, die am Ende auch für den Mond passen müßte? Nicht das Verständniß sondern das Mißverständniß wurde dadurch befördert. Oder man sage doch, was etwa aus der kantischen Staatslehre, wie desgleichen aus der Hegelschen, für die Erkenntniß deutscher Probleme zu entnehmen wäre? Rein garnichts!

Auch durch den Einfluß, den später Stahl in Preußen gewann, wurde es in dieser Hinsicht nicht wesentlich besser. Er bekämpfte ja freilich den Rationalismus, und rühmte sich ausdrücklich seiner geschichtlichen Ansicht, in Wirklichkeit aber lief es darauf hinaus, daß er der Rechtsphilosophie eine dogmatische Unterlage gab. Diese einmal angenommen, so wird dann ebenso ins Allgemeine hin deducirt, wie in den rationalistischen Systemen geschieht, und am Ende erhalten wir doch wieder eine Art von Musterverfassung. Für das Verständniß concreter Staatsverhältnisse ist damit nur wenig geleistet, dazu hätte vielmehr eine physiologische Analyse gehört, die ihm aber fremd blieb. Seine Gedanken concentrirten sich in der allgemeinen Idee einer christlichen Monarchie.

So hatte er insbesondere auch keine Einsicht von dem eigenthümlichen Wesen des preußischen Staates. Und was hätte er wohl von der preußischen Politik verstanden? Daß es ihm trotzdem gelang, in den gouvernementalen Kreisen des Preußenthums, zumal in den hochconservativen Kreisen, zeitweilig eine fast unantastbare Autorität zu gewinnen, war immerhin eine merkwürdige Thatsache. Je mehr sie die geistige Begabung dieses Mannes bezeugt, um so weniger spricht sie für die geistige Begabung des preußischen Conservatismus. Wäre es mit diesem Conservatismus etwas Rechtes gewesen, so hätte er wohl aus dem Preußenthum selbst hervorgehen und seine Principien selbst entwickeln müssen, statt dessen erst dieser, in das Preußenthum wie hineingeschneite münchener Convertit kommen mußte, um dem preußischen Conservatismus die doctrinelle Appretur zu geben. Aber dieser Conservatismus war eben kein naturwüchsiges Wesen. Mochte er auch in den persönlichen Ueberzeugungen einzelner seiner Bekenner leben, als Parteibildung war er erkünstelt, daher auch die stahlschen Doctrinen für das Gros der Parteimitglieder nur zum Aushängeschild und theoretischen Trumpf dienten, – so lange es nämlich convenabel erschien. Es brauchte nur ein 66 zu kommen, und die berühmte Fraction Stahl im Herrenhause brachte ihren bisher proclamirten oder affigirten Principien selbst ein feierliches Pereat. Ein so plötzlicher Umschwung, sollte man meinen, wäre schon an und für sich mit dem Wesen einer conservativen Partei, wie sie auch sonst geartet sein möchte, ganz unvereinbar. Dem preußischen Conservatismus hingegen war es wie garnichts.

Als ein fernerer Charakterzug desselben wäre seine erklärte Sympathie, ja Verehrung, für das Russenthum zu bemerken, welches ihm als der eigentliche Hort der sogenannten christlich-germanischen Principien galt. Die Vormundschaft, welche der Kaiser Nicolaus nach den Tagen von Olmütz über Deutschland gewonnen, war diesem Conservatismus der gottgefälligste Zustand. Auch die Fraction Stahl fand sich damit in vollkommner Uebereinstimmung. Welche Vorstellung von dem Weltberufe Deutschlands muß sie also wohl gehabt haben? Vielleicht gar keine. Hatte doch ihr theoretischer Chef selbst diese Frage so bei Seite gelassen, daß seine Lehre zur Untersuchung derselben gar keine Handhaben darbot. Denn was bedeutete die allgemeine Idee einer christlichen Monarchie für die thatsächlichen Verhältnisse Deutschlands? Deutschland war überhaupt keine Monarchie, noch jemals eine solche gewesen, sondern immer etwas ganz anderes, wofür aber in dem stahlschen Gedankenkreise kein Platz zu finden gewesen wäre. Kurz: dieser gefeierte Rechtsphilosoph verstand von den eigenthümlichen Aufgaben Deutschlands wirklich nicht mehr, als Kant und Hegel davon verstanden hatten, und die Intelligenz des preußischen Conservatismus, mit seiner angeblich geschichtlichen Weltansicht, erwies sich in diesem Punkte ganz eben so unzulänglich als die Intelligenz des preußischen Liberalismus, der sich an die rationalistische Denkweise anschloß.

Was Wunder, daß die Einen wie die Anderen sich gleichermaßen von den großen Erfolgen von 66 dergestalt imponiren ließen, daß sie ihre Principien aus dem gemeinsamen Altar des preußischen Vaterlandes opferten! Darin beide gleich preußisch gesinnt, weil eben das preußische Staatsinteresse dem Preußenthum für das oberste Princip gilt. Insofern es sich aber um das deutsche Vaterland handelte, – da hatten sie gar nichts zu opfern, denn deutsche Principien hatten sie nie gehabt. Die Cardinalfrage war für das Preußenthum immer gewesen: wie Deutschland sich am besten für preußische Zwecke ausnutzen ließe? und was dann den wohlklingenden Namen » deutsche Politik« erhielt.


IV.

Wie der preußische Staat aus der deutschen Geschichte heraustrat, so trat noch mehr Berlin aus dem ganzen deutschen Städtewesen heraus. Es bildet gewissermaßen ein Wesen für sich, welches darum auch eine besondere Betrachtung verdient, zumal dadurch zugleich ein neues Licht auf das ganze Preußenthum fallen wird.

Bis auf die Zeiten des großen Kurfürsten ein wenig bedeutender Ort, kam Berlin erst in Aufnahme, als das selbständige Städteleben schon überall im Rückgang war. Wie hätte es sich dort neu entfalten können, wo vielmehr der gouvernementale Einfluß am unmittelbarsten wirkte, und darauf das Emporkommen dieser Stadt zum größten Theil selbst beruhte? So sehr, daß nicht nur die neuen Stadttheile von Regierungswegen angelegt, sondern unter Friedrich Wilhelm I. auch die einzelnen Bürgerhäuser wie auf Commando gebaut wurden. Dieser König spielte dabei zugleich selbst den Polizeimeister, als stets bereites Executivmittel den Stock in der Hand, den gar mancher zu schmecken bekam. Welch' ein Bürgergeist hätte sich da entwickeln können?

So war es auch zunächst nicht das Bürgerthum, sondern der Hof, das Militär und das Beamtenthum, welches dem berliner Leben sein Gepräge gab. Handel und Fabrikwesen gewannen erst später eine erhebliche Bedeutung, wobei aber die Regierung nach Möglichkeit zu helfen beflissen war. Denn Berlin zu einer großen Stadt zu machen, wurde um so mehr eine Staatsmaxime, als man darin ein Bindemittel für die zerstreuten Landestheile sah. Die Bevölkerung war fortwährend in beträchtlicher Zunahme. Seit den Eisenbahnen endlich schritt sie in so rapider Weise fort, daß Berlin in diesem Punkte fast einer amerikanischen Stadt vergleichbar wäre. Seine Bevölkerung hat sich in dem letzten Menschenalter fast verdreifacht, natürlich zumeist durch Zuzug von auswärts. Da solcherweise das nicht eingeborene Element, in welchem also ein lebendiger Heimathssinn von vornherein fehlte, gar bald überwiegend werden mußte, entstand daraus statt einer Bürgerschaft zuletzt eine bloße Einwohnermasse. Die seit Stein eingeführte Städteordnung konnte unter diesen Umständen wenig helfen, weil eben schon von Anfang an die lebendige Tradition einer bürgerschaftlichen Entwicklung fehlte, und durch die gleichzeitige Aufhebung der gewerblichen Corporationen die ganze Bevölkerung ihre innere Gliederung verloren hatte.

An eine Bürgerschaft im deutschen Sinne ist also kaum zu denken, sondern im Wesentlichen besteht nur eine Einwohnerschaft, wovon halbjährlich ein so beträchtlicher Theil umzieht, daß es fast etwas Nomadisches hat. Eine solche incohärente Masse ist nur durch mechanische Mittel in Ordnung zu hatten, und auch dies ist allmälig so schwer geworden, daß die Polizei schon oft selbst ihre Unzulänglichkeit erklärt hat. Immer thäte es noth, daß Gensdarmen, oder heute Schutzmänner genannt, am Platze wären, sonst kann alles aus Rand und Band gehen. Unter der Hülle einer schimmernden Civilisation bricht oft eine Rohheit und Verwilderung hervor, die wohl in keiner deutschen Stadt ihres gleichen finden dürfte.

Es kann wirklich als charakteristisch gelten, daß einer der vornehmsten Plätze Berlins der Gensdarmen-Markt heißt, und eben auf diesem Gensdarmen-Markte neuerdings die Schillerstatue errichtet wurde. Aber welch' eine Figur spielt auch der Dichter des Idealismus an dieser Stelle! Wie ein Hungeriger Privatdocent des Nationalliberalismus steht er da, sichtbar bemüht, seinen abgetragenen Rock mit dem Mantel zu verdecken, während zu seinen Füßen sehr wohlgenährte Frauengestalten sitzen, vielleicht nach dem Typus behäbiger Marktweiber entworfen, welche die verschiedenen Geistesrichtungen des Dichters symbolisiren sollen. Kurz: der schillersche Idealismus auf einmal in den handgreiflichsten Realismus übersetzt, und freilich auch dadurch erst der heutigen Aera congenial gemacht, wo in der Metropole der Intelligenz eben alles realpolitisch sein muß. Daß bei der Grundsteinlegung zu diesem Monumente, nachdem am Morgen in allen Schulen das » Freude schöner Götterfunke« erklungen war, der Abend vielmehr mit einer solennen » Keilerei« auf der Straße schloß, wird dann auch wohl nur ein Aufschäumen des Realismus gewesen sein. War aber eine recht hübsche Illustration zu dem wirklichen Bildungsgrade der berliner Populace, und leider tritt die Populace immer mehr in den Vordergrund.

Welch ein Geist soll nun von dieser neuen Reichshauptstadt ausgehen? Wie wenig dieser Geist von Anfang an specifisch deutsch war, sondern durch die Niederlassung der Hugenotten vielmehr unter den Einfluß französischer Bildung gerieth, wurde schon früher bemerkt. Aber selbst davon abgesehen – was hat denn Berlin überhaupt geleistet? Käme es nur auf die Gelehrten und Künstler an, die man dorthin berief, so könnte es sich freilich gar mancher glänzenden Namen rühmen, aber das hieß sich mit fremden Federn schmücken. Und selbst dabei muß es doch auffallen, daß gerade von den Heroen unserer klassischen Literatur fein Einziger seinen Stützpunkt in Berlin fand. Ein paar tausend Thaler für die Subsistenz eines Schiller herzugeben, wäre ja eine zu große Zumuthung für die preußische Großmacht gewesen, welcher jeder beliebige General für viel wichtiger galt als ein deutscher Dichter, der mit den preußischen Staatsinteressen nichts zu schaffen hatte. Offenbar auch paßte ein Iffland besser dahin. Nicht minder merkwürdig, daß, während in Königsberg die kantische Philosophie blühte, in Berlin vielmehr ein Nicolai das entscheidende Wort führte, infolge dessen der Kant nicht einmal Mitglied der berliner Akademie der Wissenschaften wurde. Gerade den größten Geistern unserer Nation ist fast allen dasselbe widerfahren. Ein Mittelpunkt deutscher Geistesentwicklung gewesen zu sein, kann sich diese Akademie gewiß nicht rühmen, und von dem Geiste ihres großen Stifters Leibnitz dürfte wenig auf sie übergegangen sein. Sie verleugnete ihn sogar selbst, indem sie bei dem Ableben dieses Mannes nicht einmal Notiz davon nahm.

Handelt es sich hiernach um das, was aus dem Berlinismus selbst hervorging, oder doch wenigstens davon getragen wurde, so war das zunächst die Aufklärungsliteratur der nicolaischen Zeit, und danach war auch ihr Gehalt. Es ist ein trockener, raisonnirender und zersetzender Geist, der durchaus den Grundzug des Berlinismus bildet, und dessen prägnantester Ausdruck der allbekannte berliner Witz ist. Der darf als ein echtes berliner Kind gelten, aber allermeist ist es auch nur der sogenannte » schlechte« Witz, mit dem unverkennbaren Hang zur Plattheit. Wie von selbst entstand daraus der Kladderadatsch. Der ist dann wieder typisch für den Berlinismus, und was ist danach von dem Geiste desselben zu halten? Nicht einmal eine originelle Posse konnte er schaffen, wozu vielmehr das Vorbild aus Wien entnommen wurde, um es weit eher zu verschlechtern: als zu verbessern. Ueberhaupt ist dieser Geist weit weniger auf positive Schöpfungen als vielmehr auf Kritik gerichtet, und die dann leicht dahin kommt, ihre Höhe in einer sich überstürzenden Negation zu suchen. Man erinnere sich an das kritische Auftreten Bruno Bauer's, oder an den » Einzigen und sein Eigenthum« von Stirner. Grenzenlose Anmaßung mit bodenloser Hohlheit gepaart, aber so recht ein specifisch berlinisches Produkt war es. Auch die » Philosophie des Unbewußten« wird dafür gelten dürfen, die jetzt so viel Lärm macht, obgleich sie in der Hauptsache nichts weiter ist als ein, mit wohlfeil genug zu habenden naturwissenschaftlichen Zuthaten versetztes, Ragout aus anderen Philosophien, vor allem der schopenhauerschen, wozu sie sich immer doch nur verhält, wie etwa Branntwein zu Champagner. Ein merkwürdiges Zusammentreffen aber, daß dieses prätendirte neue Denksystem sich gleichzeitig mit der bismarckschen Aera aufthat, die ja wirklich sich ihres eigenen inneren Wesens unbewußt zu sein scheint. Und welch ein Prognostikon für die zukünftige Geistesentwicklung in dem neuen deutschen Reiche, wenn etwa Hr. v. Hartmann das Programm dazu geschrieben hätte!

Dazu endlich noch der Einfluß des Judenthums, den das berliner Geistesleben schon seit lange erfahren hat, und dem es seit 66 nur um so mehr verfallen ist. In der Wissenschaft wie in der Kunst, zumal in dem Theaterwesen, macht sich der jüdische Geist schon deutlich genug bemerkbar, die Literatur ist davon durchdrungen, in der Tagespresse übt er dieselbe Herrschaft wie auf der Börse. Was gäbe es noch, wo er nicht seine Stimme erhöbe, außer etwa die Casernen, weil da überhaupt nicht geredet sondern commandirt wird, wie andererseits die Kirchen, die aber auch gar spärlich besucht sind? Ist es nicht das schlagendste Zeugniß für die innere Gehaltlosigkeit und Haltungslosigkeit des Berlinismus, daß er sich so von dem Judenthum inspiriren und gängeln ließ? Was wäre also zu erwarten, wenn gleichwohl dieser Berlinismus, der selbst nur noch der Leithammel des Judenthums ist, die Führerschaft der deutschen Geistesentwicklung übernähme? Der Tod des deutschen Geistes würde es sein.

In ihrer äußern Erscheinung macht die neue deutsche Kaiserstadt weit weniger einen specifisch deutschen Eindruck, als alle anderen großen Städte Deutschlands. Insbesondere auch viel weniger als Wien. Und das begreift sich. Wiens Geschichte reicht ja tief in das deutsche Mittelalter hinab, und als mehrhundertjähriger Sitz des deutschen Kaiserthums mußte es doch einigermaßen unter dem Einfluß des deutschen Geistes stehen. Berlin hingegen kam erst mit dem modernen preußischen Staat empor, und fein Wesen lag eben darin, die Hauptstadt des specifischen Preußenthums zu sein.

Charakteristisch schon, daß, während in anderen deutschen Städten als Hauptgebäude die Kirchen hervortreten, den Mittelpunkt Berlins vielmehr das Schloß bildet, woneben in zweiter Stelle das Zeughaus, die Museen und die Theater sich bemerkbar machen, die Kirchen erst die dritte Stelle einnehmen. Keine einzige darunter, die einen architektonischen Eindruck machte. Ueberhaupt scheint Berlin mit dem Kirchenbau Unglück zu haben. Nicht nur, daß der Kirchenstyl abhanden gekommen, sondern die neuerdings erbauten Kirchen sind größtentheils auch in akustischer Hinsicht so mißlungen, daß sie schon um deswillen leer stehen würden, weil man den Prediger nicht verstehen kann. Das Geläute ist so dürftig, daß es bei dem Straßenlärm kaum vernommen wird, wie auch die Thürme meist so schwächlich construirt und von so schmaler Taille sind, daß sie schwere Glocken nicht gestatten würden, und hier und da die Glocken nicht einmal schwingen können. Ihr principaler Zweck scheint oft gar nicht darauf gerichtet zu sein, zum Glockenstuhl zu dienen, sondern fast nur zur Dekoration, wobei zuletzt auch ihre kirchlich-symbolische Bedeutung verschwindet. So insbesondere die beiden Dioscuren des Gensdarmen-Marktes. Sich auf breitem Unterbau erhebend, stehen diese, sich wie in Selbstgefälligkeit blähenden, Kuppelthürme in gar keinem inneren Zusammenhang mit den dahinter liegenden um so dürftigeren Kirchen, und sind wohl eigentlich blos zum Renommiren da. Sie bilden dann den Rahmen zu dem dazwischen liegenden tempelartigen Schauspielhause, mit seiner weit heraustretenden Treppe, auf der man aber nicht hineingeht, sondern darunter wie in einen Keller, so daß es dabei wieder nur auf Ostentation ankam. Und davor endlich die schon besprochene realistische Schillerstatue! Das Ganze ein so anspruchsvolles, und doch für die tiefere Betrachtung so bizarres Ensemble, wie sich nicht leicht etwas Aehnliches finden dürfte.

Nirgends tritt der Mangel an traditioneller Grundlage, an Charakter und innerer Wahrheit, woran freilich unsere ganze moderne Architektur leidet, so auffallend hervor als in Berlin. Aber nirgends vollzog sich auch der Uebergang aus der Gothik in die Renaissance so ohne Vermittlung wie dort, und so konnte der von auswärts importirte Renaissancestyl, zu welchem ohnehin die gegebenen materiellen Bedingungen so wenig paßten, selbst keine feste Haltung gewinnen. Das Genie eines Schlüter mochte dann wohl Bedeutendes schaffen, daran war aber nicht zu denken, daß sich daraus ein eigenthümlicher berliner Typus entwickelt hätte. Entscheidend blieb vielmehr die Subjectivität des Architekten. Daher das willkürlich Combinirte, das künstlich Gemachte und akademisch Studirte, wobei doch alles Studium nicht hindern konnte, daß man gelegentlich bis ins Sinnlose verfiel. Geht doch von dem berühmten Schinkel die Anekdote, daß er einmal auf einem Rittergute einen Ochsenstall nach dem Muster einer Basilika baute. Wie werden darüber die Ochsen selbst gestaunt haben! Kümmerte aber den Mann nicht, dem es lediglich darauf ankam eine Studie auszuführen. Und das gilt wohl eigentlich von allen seinen Schöpfungen. Frisch aus dem Leben ist keine hervorgegangen. Eben das Studirte, kann man sagen, ist der vornehmste Charakterzug der berliner Architektur, und zwar zumeist in dem Sinne, daß man durchaus etwas vorstellen will. Das Ding gibt sich ein Air, und je weniger dahinter ist, um so mehr wird es aufgeputzt. Soll die Kunst, wie Göthe sagt, ihr Material nicht verstecken, so ist vielmehr das Verstecken hier selbst die Hauptkunst. Dem Backsteinbau wird eine Façade angeklebt, mit Zink- oder Gypsfiguren verziert, und dann das Ganze überstrichen, – so ist es eine italienische Villa oder ein Stück aus den pariser Boulevards, wenn nicht gar aus dem alten Athen.

Wie könnte, wo solcher Sinn herrscht, eine Stadt von deutschem Gepräge entstanden sein! Kaum die älteren Stadttheile haben noch etwas davon. Die Glanzpartie des heutigen Berlins, d. i. vom Schlosse an bis zu dem brandenburger Thore, wo sich fast alle Merkwürdigkeiten zusammendrängen, zeigt kein einziges Bauwerk, woran sich Erinnerungen aus der deutschen Geschichte anknüpften, oder das nur überhaupt ein wirklich deutsches Aussehen hätte, wenn nicht etwa die werdersche Kirche dafür gelten soll, worüber einst Heinrich Heine seinen Witz ergoß. Statt dessen: neben der Renaissance und dem Zopfstyl nur das repristinirte Griechenthum Schinkels, oder die reine Styllosigkeit selbst, – was hätte das alles mit Deutschland zu schaffen? Es könnte ganz eben so gut in Petersburg oder in Neapel stehen, oder noch besser den Hintergrund zu irgend einer Theaterscene bilden. Nicht einmal an die preußische Geschichte würde man dadurch erinnert sein, sähe man nicht hoch zu Roße den alten Fritzen, nebst den Standbildern eines Blücher, Scharnhorst und Anderer. Das sind doch Gestalten, wie sie sich für die Hauptstadt des Preußenthums geziemen. Was bedeuten aber die Amazone vor dem Museum oder die Minervabilder auf der Schloßbrücke, nebst anderen mythologischen Geschöpfen?

Es muß wahrlich Wunder nehmen, daß selbst Friedrich Wilhelm IV., der den christlichen Staat proclamirte, diese antik-heidnischen Alfanzereien gar noch vermehrte. Zu der Denkart des alten Fritzen paßte es ja, wenn er über dem Eingang zum Opernhause schrieb »Apollini et Musis«, ihm wäre der Apollo- und Musencultus vielleicht lieber gewesen als der christliche. Dazu an einem Opernhause mochte das immer noch hingehen, und sähe man etwa an dem Zeughause »Marti« geschrieben, so wäre daran auch nichts gelegen. Anders aber steht die Sache doch, wenn, an der Garnisonkirche sich der Adler präsentirt, mit Blitz und Donnerkeil in seinen Klauen, will sagen: der Vogel des Jupiter an einer christlichen Kirche! Diese contradictio in adjecto hätte die Metropole der Intelligenz sich wohl ersparen sollen. Allein sie scheint den Widerspruch gar nicht zu fühlen, weil ihr die Garnisonkirche principaliter als ein königliches Gebäude gilt, – wie sie auch mit der Königskrone geschmückt ist Was ist dem gegenüber noch gegen das »Deo erexit Voltaire« einzuwenden? Hier heißt es »Deo erexit Rex«, zwar nicht expressis verbis, aber in um so eindringlicherer Zeichensprache. – und dann insbesondere als ein Militärgebäude, eine Art von Exercierhaus, wie sie auch ungefähr aussieht.

Immerhin sollte man doch erwarten, daß wenigstens die berliner Geistlichkeit gegen solche Unziemlichkeiten Einspruch erhoben hätte. Sie hat das aber so wenig gethan, als sie neuerdings Anstoß an den religiösen Feierlichkeiten nahm, welche bei Enthüllung des Siegesdenkmals, der Victoriasäule, stattfanden. Also ein Cultus der Victoria! Ei, was würden wohl die geistlichen Herren gesagt haben, wäre es statt dessen die Enthüllung einer Mariensäule gewesen, wobei man ihre Assistenz gefordert hätte? Zeter würden sie geschrien haben über das damit dem evangelischen Glauben gegebene Aergerniß, obgleich die Jungfrau Maria doch allerdings der evangelischen Geschichte angehört, indessen von der Victoria weder die Evangelisten noch die Apostel zu berichten haben. Thut ihnen aber nichts. Auch läßt es sich gar nicht bestreiten: zu einer königlich preußischen Landeskirche paßt die Victoria ganz eben so gut, als der Vogel des Jupiter.

Ein beachtungswerthes Stück – diese Victoriasäule. Denn wenn sie auch der berliner Kunst sehr wenig zur Ehre gereichen dürfte, so bildet sie dafür das augenfälligste Zeugniß davon, welch' ein ganz anderer Geist jetzt in Berlin herrscht, als einst nach den Freiheitskriegen. Auch damals errichtete man ein Denkmal, nur nicht als ein prahlendes Siegeszeichen zur Verherrlichung der militärischen Erfolge, sondern der Erinnerung an die Gebliebenen gewidmet, und als ein Zeichen des Dankes für die vom Volke gebrachten Opfer, wie zugleich für die Gnade Gottes, welche den Sieg beschieden hatte. Auf der Grundform des eisernen Kreuzes in gothischem Style ausgeführt, macht es einen würdigen Eindruck, der dem Gemüthe wohlthut. Es spiegelt sich darin der gute Geist, der damals in Preußen eingezogen war, wie hingegen die neue Victoriasäule vielmehr das Verschwundensein dieses Geistes bekundet, indem sie statt dessen die bismarcksche Aera repräsentirt, mit ihrem Cultus der Macht und des Erfolges. Beruhte jener gute Geist darauf, daß das Preußenthum sich damals mit deutschen Ideen durchdrungen hatte, so läuft diese neue Aera vielmehr darauf hinaus, das ganze Deutschthum zu verpreußen, und wenn damals die Noth beten gelehrt hatte, so ist das Beten über den großen Erfolgen wieder verlernt. Zwei charakteristische Denkmale!


V.

Es ist ein Gemeinplatz geworden, daß Preußen als Repräsentant des Protestantismus zu gelten habe, und zumeist auch dadurch emporgekommen sei. Das ist aber nur insoweit richtig, als dabei von dem positiven Kern, woraus die Reformation ursprünglich ihre Kraft zog, abgesehen, und statt dessen nur die Beseitigung der katholischen Hierarchie und die freie Schriftforschung ins Auge gefaßt wird, was beides dann eine ganz andere Bedeutung gewinnt, als es ursprünglich hatte. Das Negative wird dadurch selbst zu etwas Positivem, das blos Formale zu etwas Realem gemacht. Unermeßliche Folgen entspringen aus solcher Verkehrung.

Denn nicht der Sturz der katholischen Hierarchie war das Streben der Reformatoren gewesen, sondern die Wiederherstellung des reinen christlichen Glaubens. Geriethen sie um deswillen in Kampf mit der Hierarchie, die dann durch den Sieg der Reformation verschwand, so war dies eben nur eine Bedingung für die Erreichung des Zieles, keinesweges aber ein Selbstzweck gewesen. Am allerwenigsten wäre das von Luther zu sagen, der vielmehr den Umsturz der alten Kirchenverfassung sehr gern vermieden hätte. So war er auch entfernt nicht der Meinung gewesen, die alte kirchliche Gemeinschaft auflösen zu wollen, sondern die Kirche als solche sollte reformirt werden, und daß dann gleichwohl die große Spaltung daraus entsprang, war eben nur eine thatsächliche Folge. Eine Folge, die man tief beklagte, und wobei ausdrücklich die Idee einer Wiedervereinigung durch Ausgleichung der Differenzen vorbehalten blieb. Auch durfte man daran mit gutem Gewissen denken, so lange man in den Kernpunkten des Glaubens selbst noch auf dem alten katholischen Boden stand, wie dies jedenfalls die Beibehaltung des apostolischen Glaubensbekenntnisses bezeugte.

Unter diesem Gesichtspunkte war die neue evangelische Kirche wesentlich nur als eine Abzweigung von der katholischen anzusehen. Das aber anerkannt, so war damit auch die auf der gemeinsamen mittelalterlichen Entwicklung beruhende abendländische Völkergemeinschaft principiell erhalten, wonach also die protestantisch gewordenen Völker sich den katholisch gebliebenen noch immer viel näher verwandt fühlen mußten, als den der russisch-griechischen Kirche angehörenden Völker. Diesen gegenüber wären die Protestanten noch immer als » Lateiner« zu bezeichnen gewesen, wie denn auch ihre gelehrten Theologen noch langehin lateinisch schrieben, und selbst in der evangelischen Liturgie, neben den Uebersetzungen aus dem Lateinischen, manche lateinische Ausdrücke blieben, wovon sich Ueberreste bis heute finden. Soviel kam darauf an, daß man an dem positiven Ausgangspunkte festhielt.

Trat statt dessen der Gegensatz zu der katholischen Hierarchie, und insbesondere zu dem Pabstthum, in den Vordergrund, so war die abendländische Völkergemeinschaft unheilbar zerrissen, denn unter diesem Gesichtspunkte standen die protestantischen Völker den katholischen so fern, daß sie, wegen des gemeinsamen Gegensatzes zu dem Pabstthum, sich weit eher zu dem Russenthum hingezogen fühlen konnten. In dem Reformationszeitalter war davon noch keine Rede, und selbst die darauf folgenden Religionskriege hatten doch eigentlich den Charakter eines Familienstreites innerhalb des abendländischen Völkerkreises. Erst später wurde es anders. Und wie bezeichnend ist es nun, daß das Emporkommen des modernen preußischen Staates Hand in Hand ging mit dem Eintritt Rußlands in die Politik des abendländischen Europas, wobei auch gerade Preußen sehr wesentlich als Brücke diente! Es war Friedrich Wilhelm L, der um seiner kleinlichen Zwecke im schwedischen Pommern willen der preußischen Politik diese verhängnißvolle Richtung gab, – selbst Droysen bezeugt es, – woraus sie seitdem nie wieder herauszubringen war. Der fortwährende Verkehr mit Rußland hat dann dem Preußenthum selbst etwas Russisches gegeben. Und nicht bloß im Staatswesen, sondern es hat das hinterher auch auf das preußische Kirchenwesen zurückgewirkt, indem es den Cäsareopapismus beförderte. Es entstand wirklich ein Zug ins Byzantinisch-Moskowitische daraus.

Das wäre das Erste. Das Zweite ist die allmälig ganz veränderte Bedeutung des in der freien Schriftforschung liegenden sogenannten formalen Principes der Reformation, wodurch das reale Princip, d. h. die Rechtfertigung durch den Glauben, je mehr und mehr in den Hintergrund trat. Die freie Forschung konnte ja etwas ganz anderes in der Schrift finden, als die Reformatoren darin gefunden. Indem man dabei das Princip der Freiheit betonte, wurde diese Freiheit zuletzt etwas blos Negatives, als das Losgebundensein von jeder Autorität überhaupt, und dieses zugegeben, so verschwand damit aller positive Inhalt. Aus einem Religionssystem verwandelt sich dadurch der Protestantismus zu einem bloßen Cultur- und Fortschrittsprincip. Er ist nichts andres mehr, als das Reich der sogenannten freien Wissenschaft, welche mit dem Christenthum so wenig gemein hat, daß sie vielmehr selbst religionslos ist, und sogar in der Religionslosigkeit ihr Endziel erblickt.

Verliert die evangelische Kirche solcherweise jeden positiven Anhalt, – was könnte sie noch gegenüber der Staatsgewalt bedeuten? Selbst nur noch von der Gnade des Staates lebend, wird sie auch für den Staat leben müssen. Sie wird zur Staatskirche und nimmt damit einen vorherrschend politischen Charakter an.

So steht es mit dem Protestantismus, als dessen continentaler Repräsentant allerdings der preußische Staat gelten muß, wo eben solcher Protestantismus selbst seine vornehmste Entwicklung fand. Einige Bemerkungen über den thatsächlichen Verlauf der Dinge werden das noch deutlicher machen.


VI.

Während der ersten Hälfte des Reformationszeitalters, wo es sich wirklich nur um den Glauben handelte, vor welchem weltliche Rücksichten zurücktraten, hatte sich Brandenburg von der Reformation fern gehalten. Kurfürst Joachim I., ein eifriger Katholik, wollte sie vielmehr unterdrücken. Erst unter seinem Nachfolger kam sie im Jahre 1539 zur Geltung. Von Anfang an erhielt nun das neue brandenburgische Kirchenwesen den Charakter, daß es mit der Landesregierung verquickt und unter die landesherrliche Autorität gestellt wurde. Weit mehr, als dies bis dahin in anderen lutherischen Ländern geschehen war. An dem schmalkaldischen Kriege nahm der Kurfürst keinen Antheil. Seine Begeisterung für den neuen Glauben muß also nicht sehr groß gewesen sein, der weltliche Vortheil, den ihm die Reformation verschaffte, hatte ihm wohl mehr gegolten.

So war denn Brandenburg ein lutherisches Land geworden. Allein schon im Jahre 1614 trat der Kurfürst Johann Sigismund vom Lutherthum zum Calvinismus über. Der große Friedrich sagt in seiner brandenburgischen Geschichte ganz ohne Rückhalt: es sei dies aus politischen Motiven geschehen, d. i. um dadurch die Freundschaft der Niederländer zu gewinnen, deren der Kurfürst in seinen jülichschen Händeln bedurfte. Es wäre also eine Conversion von ähnlichem Charakter gewesen, wie die Heinrich's IV. in Frankreich. Erwägt man dabei, daß gerade unter diesem Kurfürsten die Erwerbungen in Westphalen und am Rhein, wie auch des Herzogthums Preußen, stattfanden, von wo an die weitreichenden Verbindungen Brandenburgs datirten, so mußte es von großen Folgen sein, daß seitdem in dem regierenden Hause eine Denkart aufkam, wonach die religiösen Fragen der Politik untergeordnet wurden. In dem eigentlichen Reformationszeitalter war es umgekehrt gewesen.

Auf den ersten Anblick schien es zwar, daß diese Conversion dem Kurfürsten nur Schwierigkeiten bereitete, weil er dadurch in Widerspruch zu dem Bekenntniß seiner brandenburgischen Unterthanen gerieth, die ihrerseits am Lutherthum festhielten. Auch fehlte es nicht an Remonstrationen, infolge deren er den Ständen die unveränderte Erhaltung des Lutherthums ausdrücklich garantiren mußte, woneben der calvinische Gottesdienst zunächst nur auf die Hofkirchen in den verschiedenen brandenburgisch-preußischen Ländern beschränkt blieb. Die weitere Folge aber ergab ein ganz anderes Resultat. Denn eben weil nun der Landesherr mit seinem Bekenntniß außerhalb der Landeskirche stand, und doch derselben nicht so fern, daß er überhaupt kein positives Verhältniß dazu gehabt hätte, – da doch der Calvinismus nur eine andere Gestalt des Protestantismus war, und der katholischen Partei gegenüber mit dem Lutherthum das gemeinsame Interesse hatte, – so befand er sich dadurch in der Lage eines unbefangenen Beobachters der landeskirchlichen Angelegenheiten. Und das gewährte erhebliche Vortheile.

Vor allem war er dadurch dem Einfluß der lutherischen Theologen entzogen, welche in anderen deutsch-lutherischen Ländern, als Gewissensräthe der Landesherren, noch immer eine beträchtliche Einwirkung auf die Regierung übten. Und zwar eine Einwirkung, die in politischer Hinsicht sich wohl entschieden lähmend erweisen mußte, weil gerade die lutherischen Theologen sich am allerwenigsten auf Politik verstanden. Luther selbst hatte ja keine Faser von einem Politiker gehabt, ihm war es lediglich auf den evangelischen Glauben angekommen, für das Uebrige ließ er den lieben Gott sorgen. In demselben Maße nun, als sein Glaube mehr in die Tiefe ging, und die Gemüther tiefer erfaßte als der reformirte, – wie denn auch die reformirte Kirche bei weitem nicht solche Liederdichter und geistliche Componisten aufzuweisen hat als die lutherische, – war er freilich um so weniger geeignet die Gestaltung des öffentlichen Lebens zu bestimmen. Dazu war Luther nicht geschaffen, sein ganzes Auftreten gibt davon Zeugniß. Wie ganz anders waren hingegen ein Zwingli, ein Calvin, ein Knox aufgetreten! Und liegt nicht auch die Thatsache vor, daß aus dem Schoße des Calvinismus selbst neue politische Bildungen hervorgingen, wie Genf und die Vereinigten Niederlande, ja gewissermaßen auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika, während das Lutherthum nirgends zu besonderen politischen Bildungen geführt hat. In der calvinischen Presbyterial- und Synodalverfassung liegt eben selbst schon ein Zug ins Politische. Daß also die brandenburgischen Regenten vom Lutherthum zum Calvinismus übertraten, hatte jedenfalls die Wirkung, ihren Sinn mehr auf das Politische zu richten, und indem sie dadurch selbst einen Standpunkt außerhalb der Landeskirche einnahmen, behandelten sie auch die Angelegenheiten derselben weit weniger nach Glaubensansichten als nach politischen Ansichten.

Gibt man zu, – und wer möchte es bestreiten? – daß zuletzt doch das Meiste auf die Denkweise der Menschen ankommt, so kam in Brandenburg-Preußen wieder das Meiste auf die Denkweise der Regenten an, und demnach erscheint der kirchliche Standpunkt derselben von solcher Bedeutung, daß man behaupten darf: Preußen wäre nicht Preußen geworden ohne diesen Confessionswechsel des regierenden Hauses. Er war für das Emporkommen des preußischen Staates von größtem Vortheil. Die sogenannte freisinnige Denkweise, die seitdem in Preußen die Herrschaft erlangte, fand daran ihren Anhalt. Betrachtet man hingegen die Folgen für das religiöse Leben, so wird man freilich viel anders urtheilen müssen, denn das wurde dadurch entschieden benachtheiligt. Es ging fast in demselben Maße dem Verfall entgegen, als der Staat sich immer höher aufschwang.

Ein redendes Beispiel davon, wohin diese Denkart in kirchlicher Hinsicht führte, bot schon das Schicksal Paul Gerhards. Nächst Luther der erste Liederdichter der evangelischen Kirche, und als solcher eine Zierde derselben, mußte er doch die brandenburgischen Lande, wohin er aus Sachsen gekommen war, verlassen, weil ihm sein Gewissen verbot, sich den kirchlichen Anordnungen des großen Kurfürsten zu unterwerfen. Denn das wollte dieser Herrscher, obwohl an und für sich ein religiöser und kirchlich gesinnter Mann, nicht dulden, daß ein Geistlicher sein Gewissen für einen höheren Richter hielt als die landesherrliche Autorität. Und so offenbarte sich, das Wesen der sogenannten Freisinnigkeit. Sie galt eben nur, in soweit sie mit den landesherrlichen Intentionen vereinbar war, und am Ende steckte nichts weiter dahinter als die raison d'état, wobei eine wahre Unabhängigkeit der Gesinnung nicht bestehen kann. Unter dem Regime dieser Freisinnigkeit mußte sich die Kirche dem Staatszweck accomodiren. Und sie gewöhnte sich daran. Bald wurde das zu einer als selbstverständlich geltenden Maxime, gleichviel ob der Regent nach seiner persönlichen Ueberzeugung orthodox oder freisinnig war.

Der große Friedrich sah in der Kirche kurzweg nur einen Zweig der hohen Polizei. Die Aufklärung kam dabei zur vollsten Blüthe, aber der Verfall des religiösen Lebens trat gegen das Ende seiner Regierung so offenbar hervor, daß es im Interesse des Staates dem Könige selbst bedenklich erschien. Er hätte gewünscht, es käme wieder mehr Religion in das Volk. Sein Nachfolger, ganz im Gegensatz zu Friedrichs Freigeisterei vielmehr persönlich für die Orthodoxie gestimmt, mit einem Zug zur Schwärmerei, erließ nun Glaubensedicte, wodurch von oben herab eine neue Gläubigkeit hervorgerufen werden sollte. Aber natürlich war sie auch danach. Anders griff die Sache Friedrich Wilhelm III. an. Religiös, im Sinne einer sogenannten Gefühlsreligion, fühlte er sich auch zum kirchlichen Reformator berufen, und da ihm nach seiner persönlichen Stimmung dogmatische Differenzen als unwesentlich galten, wurde er dadurch auf den Gedanken der Union geführt, wonach Reformirte und Lutheraner sich hinfort zu einer gemeinsamen evangelischen Kirche verbinden sollten. Aus den eigenen inneren Trieben beider Confessionen ging dies Projekt freilich nicht hervor. Es wurde ihnen octroyirt, und das widerstrebende Lutherthum nöthigenfalls durch militärische Einquartierung zur Union gebracht. Wieder eine recht hübsche Illustration zur Freisinnigkeit, und das unwiderleglichste Zeugniß davon, wie sehr der Protestantismus in Preußen sich von seinem ursprünglich religiösen Charakter entfernt hatte, und zu einem politischen Princip gemacht war.

Die Union schien eben dem Staatszwecke zu entsprechen, der König, nach seiner Manie für alles Uniforme, wollte um jeden Preis auch eine kirchliche Uniformität herstellen. Das alte Lutherthum hingegen, welches – so unselbständig auch die äußere Kirchenverfassung sein mochte – doch immer die Unabhängigkeit des religiösen Gewissens aufrecht erhielt, paßte dazu nicht. Es mußte erst gebrochen werden, damit die Staatsraison zur vollen Herrschaft gelange. Dahin wirkte die Union. Ihre Beförderung wurde seitdem zu einer Grundmaxime der preußischen Politik. Und heute ist es ja fast dahin gekommen, daß überzeugungstreue Lutheraner von vornherein für Staatsfeinde und beziehungsweise Reichsfeinde gelten.

Das ist der Protestantismus, dessen Hort der preußische Staat wurde! Ein Protestantismus, dessen vornehmste Lebensäußerung jetzt nur noch der große Culturkampf ist, welcher je mehr und mehr auf die Emancipation von aller Religion hinausläuft, damit an ihre Stelle diejenige freie Wissenschaft trete, welche einstweilen ihre Triumphe im Darwinismus feiert.

Sollte trotzdem noch etwas von Religion fortbestehen, so wäre es jedenfalls nur eine Staatsreligion. Ein königlich preußisches Christenthum könnte man es nennen. Auch bildet das wirklich schon den Hintergrund zu dem Kirchengebete in der neuen Agende, wo der König dasselbe Prädikat erhält wie der liebe Gott, und die königlichen Prinzen und Prinzessinnen als christliche Vorbilder hingestellt werden, wofür doch sonst die Apostel und Märtyrer galten. Man kann nicht leugnen: das Königthum wird damit zum Gegenstand eines religiösen Cultus gemacht. Wie abgeschwächt mußte also das christliche Bewußtsein sein, dem man so etwas bieten durfte! Und was ist insbesondere von der Geistlichkeit zu halten, die sich dazu herbeiließ, eine solche Sprache vor dem Altar zu führen?

Daß selbst Friedrich Wilhelm IV., der doch von dem Christenthum in so ostensibler Weise Profession machte, daran gar keinen Anstoß genommen zu haben scheint, zeigt nur um so mehr, wie weit in der That die Verquickung des Christenthums mit dem Royalismus schon gediehen sein mußte, da ihm solches byzantinische Wesen als das wahre Christenthum gelten konnte. Seiner persönlichen Stimmung nach wäre er wohl eher ein Kirchenmann als ein Staatsmann zu nennen gewesen, – er las sogar die Kirchenväter, – aber die Kirche war in seiner Vorstellung so eng mit dem Thron verbunden, daß sie selbst den Baldachin darüber bilden sollte, wie das ganz sinnfällig die Kapelle andeutet, die er als Kuppel auf das Schloß setzte.

Ist denn die wirkliche Bestimmung der Kirche für das Königthum nicht vielmehr die, daß sie die Stelle sein soll, wo die weltliche Größe sich zu demüthigen hat? War ihm dafür der Sinn nicht aufgegangen, so konnte er auch nie die rechten Mittel und Wege finden, um in der Kirche ein neues Leben anzufachen, wie er doch allerdings beflissen war. Alles, was er in dieser Hinsicht gethan, hat sich hinterher als verfehlt und wirkungslos erwiesen. Das bezeugen heute die Thatsachen, und am auffallendsten gerade in Berlin. Denn in keiner europäischen Hauptstadt dürfte das kirchliche Leben so im Verfall sein, als in der Metropole der Intelligenz. Woher das aber eigentlich kommt, scheint diese Intelligenz noch bis heute nicht zu begreifen. Und doch ist es eine ganz natürliche Folge, daß, wo der Staat vergöttert wird, der Gottesdienst zuletzt aufhören muß.


[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. für Gutenberg]

Hier noch ein Beleg dafür, daß es kein zu starker Ausdruck war, wenn wir von einem königlich preußischen Christenthum sprachen. Es ist die im vorigen Jahre erschienene, sich evangelisch nennende Staats- und Rechtsphilosophie des früheren Cultusministers v. Mühler, die derselbe nach dem Rücktritt von seiner langjährigen Wirksamkeit gewissermaßen als sein Testament herausgab, und worin wir wohl zugleich ein Specimen der in den officiellen Kreisen berliner Christlichkeit herrschenden Denkweise erblicken dürfen. Das Christenthum wird in dieser evangelischen Theorie dergestalt mit dem Königthum verquickt, daß die Unterthanen in einem ganz analogen Verhältnisse zu ihrem Könige stehen sollen, als für die gläubige Gemeinde zu ihrem Herren Christus besteht. Damit noch nicht genug, trägt der Mann kein Bedenken, den Byzantinismus noch verüberbyzantinernd, für diese seine Behauptung sogar die evangelischen Worte Matth. XXII, 37, anzuführen: »Du sollst Gott lieben, deinen Herrn u. s. w.« Das vornehmste christliche Gebot ist also die Liebe zum König, die christliche Gesinnung ist kurzweg zum Royalismus umgestempelt. Doch wohlverstanden! – nur das preußische Königthum hat solchen göttlichen Character, keinesweges aber etwa auch das Königthum in Hannover. Sonst wäre es ja ein Sacrilegium gewesen, dasselbe zu zerstören. War aber die unschuldigste Sache von der Welt, und die Politik von 66 so evangelisch wie eine. » Kein Stäubchen von Unrecht«, sagt dieser evangelische Philosoph, haftet an dem neuen deutschen Reiche!


[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. für Gutenberg]

Die Hypokrisie, welche in derartigen Aeußerungen hervortritt, wird nur durch die Einfältigkeit übertroffen, die ihre eigne Bornirtheit auch bei Andren voraussetzen zu dürfen glaubt, und darum gerade so thut, als ob die hier sich wie mit Gewalt aufdrängenden Reflexionen gar nicht existirten. Müßte denn die preußische Politik, wenn sie auf dem Boden des mühlerschen Evangelismus stände, nicht auch die Restauration des legitimen Königthums in Frankreich und Spanien für ein besonders gottgefälliges Ereigniß ansehen, statt dessen sie darin vielmehr etwas Hochbedenkliches und möglichst Zuverhinderndes zu erblicken scheint? Dort würde also das Königthum wohl nicht von Gott, sondern weit eher vom Teufel gewesen sein. Und freilich war es ja kein evangelisches Königthum, allein wenn darin die Sache läge, so dürfte es nur um so schwieriger werden, über den Berg in Hannover hinweg zu kommen.

Lassen wir nun die biblischen Floskeln, womit die mühlersche Theorie sich aufputzt, beiseite, um lediglich auf ihren practischen Kern zu sehen, worauf läuft sie am Ende hinaus als auf Staatsabsolutismus? Und der Staat, welchem darin die Absolutheit beigelegt wird, ist eben der preußische. Unter diesem Gesichtspunkte steht dann Hr. Falk mit Hrn. v. Mühler auf gemeinsamem Boden, und wir tragen kein Bedenken, es sogar für einen Vorzug zu erklären, wenn Hr. Falk in seinen Argumentationen für die neuen Kirchengesetze sich kurzweg auf die Staatsraison stützte. Eine theologisch-pietistische Brühe, nach mühlerscher Zubereitung, würde den Kern der Sache nur verdunkelt haben. Jetzt tritt er klar hervor, d. h. als die dem Preußenthum zu Grunde liegende Staatsvergötterung, wobei die Kirche, insoweit sie überhaupt noch existirt, doch nur mit Zulassung des Staates existirt, und selbst nur im Auftrage des Staates handeln kann. Der Staat ist es hinfort, welcher die Religion lehrt oder lehren läßt, was rechtlich betrachtet auf dasselbe hinausläuft. Und warum sollte der Staat nicht auch die Sacramente spenden und zuletzt die Absolution ertheilen? Hoffen wir, daß diese unabweisbaren Consequenzen dem Falkenauge auf die Dauer nicht entgehen werden.


VII.

Immer kommt man darauf zurück, wenn man die Eigenthümlichkeit des preußischen Wesens untersucht, daß der Schlüssel dazu in der Idee des Staatszweckes und Staatsinteresses liege, welche in Preußen eine solche Geltung und Macht gewann, wie nirgends anderswo in Europa geschah. Und das erklärt sich wieder aus der Bildungsgeschichte des preußischen Staates, der dadurch selbst erst zu Stande kam, und so gewissermaßen aus dem Denken hervorging.

Das preußische Landrecht ist von dieser Idee durchdrungen, an vielen Stellen tritt sie offen darin zu Tage. So wird z. B. das Verbrechen nach seiner staatswidrigen Seite aufgefaßt, indem es principaliter als Schadenstiftung gilt, wonach dann die Moral in den Utilitarismus übergeht. Mit der Ehe geschieht desgleichen, ihr Hauptzweck ist die Kindererzeugung, damit der Staat Bürger erhalte. Ueber die Bedingungen der Eheschließung hat er allein zu verfügen. Officiersehen, ohne königlichen Consens geschlossen, sind darum von vornherein nichtig; die Heiligkeit des Ehebandes verschwindet vor den Rücksichten der militärischen Subordination. Die bürgerlichen Stände, obenan der Adel, werden nach Staatsrücksichten beurtheilt. Von den Städten spricht man gerade so, als wären sie von Staatswegen geschaffen, damit die Gewerbs- und Handelsleute dort ihren Aufenthalt fänden; die Dörfer sind dann für die Ackerbauer bestimmt. Die Kirche bildet gewissermaßen nur eine Seite des Staates selbst; die kirchlichen Gebäude sind Gebäude des Staates, die kirchlichen Ordnungen gelten erst in Kraft der staatlichen Bestätigung, und werden dann wie andere Polizeigesetze angesehen. Die Schulen sind kurzweg Veranstaltungen des Staates. So lehrt das preußische Landrecht.

Alle Lebenskreise, alle Lebensthätigkeiten werden den Interessen des Staates dienstbar gemacht, alle Hilfsmittel des Landes nimmt er in Anspruch. Er schreibt sich dabei die ausgedehntesten Machtbefugnisse zu. Aber andererseits entspringen daraus auch Pflichten. Und das ist nun die ehrenwerthe Seite des preußischen Landrechtes, daß darin die Pflichten des Staates ausdrücklich ausgesprochen werden. Insbesondere auch die Pflichten des Staatsoberhauptes selbst, um derentwillen allein ihm seine hohen Rechte beigelegt seien, – ganz nach der naturrechtlichen Vertragstheorie. Mit dem Patrimonialstaat war dadurch radical gebrochen, die Regierungsgewalt zu einem reinen Amte gemacht. Ein wirklich großartiger Characterzug Friedrichs, daß er ausdrücklich selbst nur für den obersten Diener des Staates gelten wollte! Solche Denkweise hat den Staat emporgebracht.

Und lediglich von dieser Seite betrachtet, kann auch die sonst so reizlose preußische Staatsgeschichte ein höheres Interesse gewinnen. Der dramatische Charakter eines sich aus eigenen Trieben entwickelnden Staatswesens fehlt ihr ja rundweg, wo vielmehr alles von oben herab gemacht wurde. Auch hat sie nichts von dem Glanz eines großen Nationallebens, der doch das absolute Königthum in Frankreich umgab. Eine preußische Nationalität existirte überhaupt nicht, oder insofern von einer solchen zu reden wäre, wurde sie eben erst von Staatswegen geschaffen, als ein Product der Regierungsthätigkeit, mit Hilfe ihres militärisch-bureaukratischen Apparates. Eine Geschichte dieses Apparates, die noch nicht geschrieben ist (und die freilich nicht nur sehr mühsame Studien erfordern dürfte, sondern auch Kenntnisse und Talente, die sich nicht leicht vereinigt finden), würde daher ein sehr lehrreiches Werk für die Regierungskunst ergeben. Es wäre eben die Geschichte der preußischen Intelligenz, insofern dieselbe wirklich von eigenthümlicher Bedeutung ist. Denn das hatte doch etwas zu besagen, daß es der preußischen Regierung gelingen konnte, aus so zerstückelten und meist nur wenig beträchtlichen Territorien allmälig einen einheitlichen Staat zu machen, und mit so geringen Hilfsmitteln, als diese Territorien anfänglich nur darboten, eine europäische Macht zu begründen, die heute sogar eine gebietende Stellung einnimmt. Das Schwierigste offenbar, allmälig auch die Bevölkerung selbst mit dem preußischen Staatsgeist zu durchdringen, ohne welches sonst das ganze Resultat unerreichbar geblieben wäre. Und wirklich ist das gelungen. Ja, es ist nur zu sehr gelungen.

So hat sich eine Denkweise gebildet, die namentlich in den östlichen Provinzen durchaus die herrschende ist, wonach Recht und Moral zuletzt in der Staatsraison verschwinden. Handelt es sich um ein großes Staatsinteresse, so müssen rechtliche und moralische Bedenken schweigen. Allbekannt, wie insbesondere Hr. v. Bismarck in diesem Geiste gehandelt, und sich gelegentlich auch offen darüber ausgesprochen hat. Er könnte das aber gar nicht gethan haben, hätte ihm dabei nicht die öffentliche Meinung des Preußenthums zur Seite gestanden, welcher eben solche Denkweise als die wahre Blüthe des preußischen Patriotismus gilt.

Was noch mehr bedeutet: allmälig ist solche Denkweise auch in die Gerichte eingedrungen. Man erinnere sich nur an die vor Jahren so viel Aufsehen machende Entscheidung des berliner Obertribunals in Sachen der parlamentarischen Redefreiheit. Es geschah, was man für unmöglich gehalten haben würde. Wie mißlich es überhaupt mit allen Processen steht, wobei es sich um Fragen handelt, welche die Regierungspolitik interessiren, tritt alltäglich hervor. Man braucht dabei nicht einmal directe gouvernementale Einwirkungen zu supponiren, sondern der gouvernementale Zweckmäßigkeitsgeist steckt schon in den Richtern selbst, zum mindesten innerhalb des Geltungsgebietes des preußischen Landrechtes. Da sehen sie sich nicht sowohl als Diener des Rechtes wie des Staates an und folglich auch des Staatsinteresses. Ist es doch der allgemeine Hintergedanke jenes Gesetzbuches, daß das Recht selbst erst vom Staate ausgeht. Eine wirklich unabhängige Justiz wird bei solcher Denkweise unmöglich. Und was ist dann erst von den Verwaltungsbehörden zu erwarten?

Welche Triumphe über die rechtlichen und moralischen Ueberzeugungen die Staatsraison auf dem preußischen Landtage von 66 davontrug, ist noch in frischem Andenken. Seitdem kann ihre Herrschaft als vollendet gelten. Wie sich dabei die conservative und die liberale Partei in gleicher Weise prostituirten, wurde schon früher bemerkt. Am auffallendsten war das Benehmen des Herrenhauses, welches seiner Idee nach die feste Säule des geschichtlichen Rechtes sein sollte, und wo vordem so manches hohe Wort darüber gefallen war: daß nur solche Elemente die Regierung wirklich stützen könnten, welche ihr nöthigenfalls auch Widerstand zu leisten vermöchten. Aber welchen Widerstand leisteten denn die Herren, als ihnen jetzt nichts Geringeres zugemuthet wurde, als sich selbst moralisch zu vernichten? Nur zwei Mitglieder, beide nicht dem östlichen Theile der Monarchie angehörig, protestirten dagegen, und verließen seitdem das Haus. Die übrigen alle gehorchten, und viele applaudirten noch dazu. So offenbarte sich der Character der preußischen Grundaristokratie, die im Herrenhause den Ton angab. Keine Spur mehr von einer wirklich unabhängigen Gesinnung, die Staatsraison hat sie überwältigt. Was dann aber die Staatsraison fordert, darüber hat die Regierung zu entscheiden, der beschränkte Unterthanenverstand kann das nicht ermessen, und Unterthanen sind doch die Herren auch. Mochte dabei gleichwohl noch ein stilles Frondiren stattfinden, es blieben vergebliche Versuche, hinterher wieder eine selbständige Stellung zu gewinnen. Daß man hier und da die Miene davon annimmt, wird Niemand täuschen, am wenigsten den allgewaltigen Kanzler, der seine Leute kennt.

Aehnlich verhält es sich mit der evangelischen Landeskirche. Die vorjährige Augustversammlung der sogenannten kirchlich Gesinnten in Berlin hat davon ein redendes Zeugniß gegeben. Denn worauf liefen ihre Erklärungen gegenüber den neuen Kirchengesetzen hinaus, als nöthigenfalls die Faust im Sacke machen zu wollen, wozu jedoch bis jetzt noch keine Veranlassung sei? Den Spaß konnte ihnen Hr. Falk gönnen, und wohl selbst noch seinen Spaß daran haben. Die preußische Kirche ist in ihrer Selbständigkeit schon zu sehr gebrochen, als daß sie sich so leicht wieder ermannen könnte. Die Pastoren fühlen sich da allermeist mehr als Preußen und preußische Staatsdiener, wie als Christen und Kirchendiener. Nur in den westlichen Provinzen, wo das specifische Preußenthum überhaupt zurücktritt, und wo schon lange eine besondere Kirchenverfassung bestand, die der Kirche doch einige Selbständigkeit gewährte, mag auch in dieser Hinsicht ein etwas anderer Geist wehen.

Was wäre nun erst von dem Schulwesen zu sagen, wo doch die Schulen schlechtweg als Staatsanstalten gelten! Selbstverständlich, daß dabei auf die Beförderung einer specifisch preußischen Gesinnung hingewirkt wurde. Zumal durch den Geschichtsunterricht, der vor allem die Thaten und Helden des Preußenthums zu verherrlichen hatte, indessen die deutsche Geschichte um so mangelhafter behandelt wurde. Die preußischen Gesichtspunkte verfälschten von vornherein die Auffassung, und daher rühren zum guten Theil die vielen verkehrten und flachen Ansichten, die in dem preußischen Publikum über deutsche Dinge herrschen.

So sei denn beiläufig bemerkt, wie über das Schulwesen selbst die so gänzlich grundlose Meinung verbreitet ist, daß es erst in Preußen zur rechten Blüthe gelangt sei, und eigentlich von daher der Aufschwung des gesammten deutschen Schulwesens datire. Solchen Ruhm hat sich Preußen zu verschaffen gewußt. Thatsächlich aber stand die Wiege des neueren deutschen Schulwesens vielmehr in Sachsen, in Thüringen, Hessen und Würtemberg, wo es sich längst schon in gutem Zustande befand, ehe in Preußen noch irgend etwas Erhebliches dafür geschehen war, und wo jedenfalls das Volksschulwesen noch heute höher steht, als namentlich in dem östlichen Theile der preußischen Monarchie. Von jenen Ländern aus wurde also das Schulwesen erst nach Preußen herübergeholt, und was darauf Preußen selbst Neues hinzugefügt, dürfte nur in dem reglementarischen Geiste bestehen, der darin zur Herrschaft kam, mit dem dazu gehörigen Tabellen- und Paradewesen. Die wahre Bildung gewann dadurch nichts, nur daß die Sache ein anderes Aussehen bekam, und um deswillen dann so viel Aufhebens davon gemacht wurde. Es ist aber nicht alles Gold, was glänzt. Noch weniger geschah für die materielle Ausstattung der Schule, so daß gerade in Preußen die Lage der Volksschullehrer im Durchschnitt noch am ärmlichsten ist. Das wäre wohl die allerschäbigste Seite der preußischen Intelligenz zu nennen, wenn nicht der Kalenderstempel und die Zeitungssteuer, wodurch dem Volke sein bischen Lectüre noch künstlich vertheuert wurde, dasselbe Prädicat verdiente.


VIII.

Etwas anderes noch als das Schulwesen ist an und für sich die Wissenschaft und Literatur. Dem Staate der Intelligenz, so scheint es wohl, müßte für beide ein besonderer Sinn beiwohnen, als den theoretischen Ausdruck der Intelligenz. Es ist aber keineswegs zu sagen, daß gerade in Preußen geistige Kräfte und Leistungen besonders hoch gehalten wären, so gern man sie auch benutzte. Die große deutsche Literaturentwicklung des vorigen Jahrhunderts ließ das officielle Preußenthum fast theilnahmslos. Und wenn es in anderen europäischen Ländern so häufig geschah, daß Gelehrte und Schriftsteller zu den höchsten Würden aufstiegen, so zeigte Preußen nur wenig Beispiele davon. Die Armee und die Verwaltung waren da der Weg zu hohen Würden, weit weniger schon die Justiz, und es ist noch bis heute nicht viel anders. Wie deutlich zeigt sich darin wieder der militärische und administrative Charakter dieses Staates, über welchen das Preußenthum nicht hinauskommt! So ist es auch bemerkenswerth, wie wenig in der Wissenschaft und Literatur der preußische Adel vertreten ist, der in England, Frankreich und Italien doch viele glänzende Leistungen aufzuweisen hat. Generäle, Administratoren und allenfalls Diplomaten hat der preußische Adel hervorgebracht, im Uebrigen bewegt er sich durchschnittlich in einem sehr engen Ideenkreise. Die Grenzen der preußischen Intelligenz kommen an ihm zur prägnantesten Erscheinung.

Ferner ist es keineswegs Preußen, welches sich durch Stiftung wissenschaftlicher Anstalten, wie ihre materielle Unterstützung, besonders hervorgethan hätte. Nur von dem großen Kurfürsten und Friedrich I., in welchen beiden ein idealer Zug war, ließe sich in dieser Hinsicht etwas sagen, später trat das sehr zurück. Thatsache ist jedenfalls, daß, während Preußen sechs Universitäten hatte, die deutschen Mittel- und Kleinstaaten hingegen, bei ungefähr gleicher Bevölkerung, deren dreizehn zählten, und die literarischen Schätze in ihren Bibliotheken, wie die Kunstschätze in ihren Museen – man denke an Dresden und München – zusammengenommen sehr viel mehr bedeuteten, als was Preußen davon besaß. Thatsache desgleichen, daß aus diesen Ländern sehr viel mehr Gelehrte, Philosophen, Dichter und Künstler hervorgingen, als aus Preußen, welches sie von daher berufen mußte, um seinen eigenen Bedarf zu decken. Nur die wenigsten von den Celebritäten, womit das Preußenthum sich aufputzte, waren geborene Preußen.

Noch auffallender, daß dasselbe sogar von den Staatsmännern und Generälen gilt, welche nach der Katastrophe von 1806 den preußischen Staat retteten und wiederherstellten. Gerade die bedeutendsten waren nicht aus dem Preußenthum hervorgegangen, noch hatten sie etwa eine preußische Erziehung gehabt, sie waren erst im reiferen Alter dahin gekommen: Stein aus Nassau stammend, Hardenberg und Scharnhorst aus Hannover, Blücher aus Mecklenburg, Gneisenau aus Sachsen. Ei, was war es doch mit der preußischen Intelligenz, unter deren Herrschaft sich nicht einmal die erforderlichen Kräfte für die Staatsleitung entwickelt hatten! Nur der Ruhm bleibt ihr unbestritten, daß sie die ihr fehlenden Kräfte aufzusuchen, zu gewinnen und nach Möglichkeit auszunutzen verstand. Was sollte nun also daraus folgen, wenn ganz Deutschland preußisch gemacht würde? Wie lähmend und abstumpfend müßte das auf die Entwicklung des deutschen Geistes wirken! Am Ende könnte nicht einmal das Preußenthum selbst dabei bestehen, weil es wegen der entschiedenen Einseitigkeit seines Wesens immer der Ergänzung und Anregung durch fremde Kräfte bedarf, die doch nach der allgemeinen Verpreußung gar nicht mehr existiren würden. Hier, wenn irgendwo, gilt das »leben und leben lassen.«

Man täuscht sich gar sehr über den geistigen Gehalt des Preußenthums, wenn man es nach der Periode der Freiheitskriege beurtheilt. Nur besondere Umstände hatten es da veranlaßt, daß Preußen zeitweilig als der eigentliche Heerd der deutschen Geistesentwicklung erschien, und eben jene von Geburt nicht preußischen Männer, die damals in Preußen an's Ruder kamen, und freilich eine andere Vorstellung von der Bedeutung des geistigen Lebens besaßen, als heute Hr. v. Bismarck und seine Genossen, die hatten den Hauptanstoß dazu gegeben, daß sich so viele hervorragende Köpfe in Berlin versammelten. Dadurch allein geschah es, daß nach den Freiheitskriegen eine ziemliche Weile lang Berlin wirklich als die Metropole des deutschen Geistes gelten konnte. Unter Friedrich Wilhelm IV. folgte darauf noch ein Nachsommer. Aber auch die damaligen Celebritäten sind schon fast alle vom Schauplatz abgetreten, und wie wenig hat das heutige Berlin noch aufzuweisen! So wenig, daß im Vergleich zu dem materiellen Aufschwung sein geistiges Leben geradezu armselig erscheint.

»Ich bin heruntergekommen,
Und weiß doch selber nicht wie«,

könnte die Metropole der Intelligenz in dieser Hinsicht von sich selbst sagen. Wer aber die Ursachen erforscht, wird sehr wohl erkennen, weßhalb das so geschah.

Einmal nämlich, weil das lediglich auf praktische Brauchbarkeit berechnete preußische Drillsystem auf die Entwicklung origineller Köpfe entschieden ungünstig einwirkt. Noch mehr dann, weil in dem preußischen Staatswesen zu hohen Gedanken und idealen Entwürfen überhaupt nur geringe Anregung gegeben war. Gleichwohl sollten doch alle diejenigen, die einmal in die preußischen Kreise eingetreten waren, sich auch in ihrem Ideengange den preußischen Interessen accommodiren. Und die Kunst verstand man wirklich in Berlin, die Leute allmälig kirre zu machen, d. h. die Selbständigkeit ihres Geistes zu knicken.

Dem tiefen Blicke Schellings war diese gefährliche Seite des berliner Geisteslebens nicht entgangen. Er warnte seinen Freund Schubert, von dessen Berufung nach Berlin einmal die Rede war, vor dem » gleißnerisch-politischen« Wesen, welches da alles durchdringe. Man werde ihn da für preußische Zwecke gebrauchen wollen, und in diesem Sinne zu inspiriren suchen. Aus Schellings Leben II. B.

Nun, der Schubert kam eben nicht. Wie manche Andere aber sind dieser Versuchung erlegen! Von Hegel ist es allbekannt, wie fügsam für gouvernementale Wünsche und Ansichten er sich erwies, womit freilich einem Fichte nicht beizukommen gewesen wäre. Stahl hielt auch nicht Stand, er ließ sich in die Interessen des preußischen Junkerthums hineinziehen. Und wie elastisch haben sich gar die Principien der eigentlichen Kreuzzeitungspartei erwiesen, zu der doch manche gelehrte Männer gehörten! Huber, dem es mit seinen Ueberzeugungen Ernst war, erwählte das bessere Theil. Abiit et salvavit animam suam.

Das geschah auf conservativer Seite. Was geschah auf liberaler Seite? Da tritt uns zuvörderst der große Humboldt entgegen, der nach seiner ganzen Denkweise unstreitig dem Liberalismus angehörte. Und welche Gelegenheit hätte dieser Mann gehabt, seinen Liberalismus gerade da zu äußern, wo doch am meisten darauf angekommen wäre! Ging er aber zu Hofe, wo er sich so viel bewegte, so war er der Kammerherr, und es wirft kein sonderliches Licht auf seinen Character, wenn er dann hinterher, durch um so bissigere Aeußerungen in Privatgesprächen, sich für diese seine Selbsterniedrigung gewissermaßen wieder zu rächen suchte. Daß wiederum Hr. Varnhagen den ganzen Klatsch zu Papiere brachte, characterisirt zugleich auch diesen großen Liberalen, wie alle diejenigen Kreise, in welchen seine Rahel als Sonne glänzte, und worin es natürlich an jüdischen Elementen nicht fehlte. Was Wunder, daß dann die Aufzeichnungen des Hrn. Varnhagen in echt jüdischer Weise zu guterletzt auch noch zu Gelde gemacht werden mußten. Das Ganze eine recht hübsche Illustration zu dem in diesen Kreisen herrschenden Geiste! Mit dem Liberalismus des weiland » Hofdemagogen« Förster hatte es auch wohl nicht viel auf sich. Und eine Art von Hofdemagogin war desgleichen Bettina, welche eben so in die politischen wie in die litterarischen Kreise hineinorakelte. Sogar eine neue Religion wollte sie begründen, und der Name dazu war glücklich schon gefunden. Es sollte » die Religion der Schwebe« werden.

Die Zeit solcher bettinaischer Schwebeleien und humboldt-varnhagenscher Klatschereien ist uns heute freilich schon so fremd geworden, daß es selbst den Berlinern Mühe machen dürfte, sich im Geiste dahin zurück zu versetzen. Der berliner Liberalismus muß in unsren Tagen wohl andre Allüren annehmen, das fordert die ungeheure Veränderung der Situation nach 48. Nur leider an Characterfestigkeit hat er dadurch nicht gewonnen. Davon liegen die Proben auch schon vor.

Daß ein Mommsen, der den Julius Cäsar verherrlicht, von seinem liberalen Ausgangspunkte aus zuletzt in das Fahrwasser des Bismarckianismus gerieth, war ja eigentlich ganz in der Ordnung. Bei Gneist aber, der so lange den englischen Parlamentarismus in Pacht gehabt, bedurfte es dazu erst einer Drehung um ungefähr 180 Grad. Sie erfolgte mit der größten Präcision, wie eine militärische Schwenkung auf Commando. In welcher glücklichen Lage befand sich da Droysen, der sich gar nicht erst zu drehen brauchte, weil er vielmehr längst schon seinen ganzen Liberalismus gedreht hatte, durch seine famose Theorie von dem deutschen Berufe Preußens, den er nun endlich erfüllt sah! Er hatte das Gefühl, auf seinen Lorbeeren zu ruhen. So war es ihm wohl zu gönnen, daß er neuerdings durch Hrn. v. Treitschke einen Assistenten erhielt.

Fürwahr, das kennzeichnet die heutige Situation: Hr. v. Treitschke auf dem Lehrstuhl der Geschichte in der Metropole der Intelligenz! Jetzt weiß man doch, was Hrn. Falk als der Normaltypus eines deutschen Geschichtsschreibers gilt. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst,« könnte man ihm zurufen. Wozu hatte nun ein Ranke fast ein halbes Jahrhundert in Berlin gelehrt, und überall für den größten deutschen Geschichtsschreiber gegolten, wenn so etwas möglich war? Das Staunen wächst aber noch, wenn man diesen gefeierten Geschichtsschreiber am Ende auf einen Standpunkt gerathen sieht, der im Kern der Sache sich kaum noch von dem des Hrn. v. Treitschke unterscheidet. Denn nichts weiter als Gothaismus und Erfolgscultus ist es, was sich in Rankes letzten Publicationen ausspricht. Der große Geschichtsschreiber ist zum Herold des Preußenthums geworden.


[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. für Gutenberg]

Bei näherer Betrachtung ist es gleichwohl erklärlich genug, wie Hr. v. Ranke zuletzt dem Gothaismus und Chauvinismus verfallen konnte. Die Anlage dazu lag von Anfang an in ihm. Die große Ueberlegenheit an Kenntnissen und Talenten, wodurch er im Uebrigen so hoch über den gothaischen Geschichtsschreibern steht, ändert in dieser Hinsicht nichts.

So nähert er sich vorweg schon dadurch den Gothaern, daß er in seiner preußischen Geschichte – grade wie diese thun – die ursprüngliche Bildung der nachmals preußischen Länder ganz beiseite läßt, und den modernen preußischen Staat wie eine auf sich selbst beruhende Existenz behandelt. Eine Auffassung, die fast unvermeidlich in das Fahrwasser des Gothaismus führen mußte, mit welchem er ferner auch darin übereinstimmt, daß er die aus den preußischen Interessen hervorgegangene Fürstenbunds-Politik des großen Friedrich doch einigermaßen zu einer deutschen umstempeln will. Die Hauptsache ist aber, daß, was in seiner Behandlung der preußischen Geschichte hervortritt, nemlich kurz gesagt das Absehen von den mittelalterlichen Antecedenzien, zugleich sein ganzes geschichtliches Denken characterisirt, welches sich bekanntlich in der Geschichte des 16., 17. und 18. Jahrhunderts concentrirt. Diese Periode ist ihm wie eine abgeschlossene Welt, und wie ihn der mittelalterliche Hintergrund nicht interessirt, worauf diese Welt doch thatsächlich ruhte, indem sie eben die fortschreitende Zersetzung des mittelalterlichen Organismus darstellte, so interessiren ihn auch nicht die seit Ablauf des 18. Jahrhunderts sich regenden und auf eine neue Weltbildung gerichteten Tendenzen. Oder genauer gesprochen: insofern sie ihm doch entgegen treten, betrachtet er sie durch die Brille der in den vorigen Jahrhunderten herrschenden Ideen. Und worauf liefen diese Ideen hinaus?

Lag der entscheidende Character des Mittelalters darin: daß auf der Grundlage allgemeiner Ueberzeugungen und Bildungsformen zugleich die freiste Entwicklung aller individuellen Lebenskreise stattfand, so trat in der neueren Zeit das Eine wie das Andere in den Hintergrund, in den Vordergrund aber traten die für sich selbst gelten wollenden Nationalitäten und Staaten, deren particularistische Interessen seitdem maßgebend wurden. Wie einerseits die früheren allgemeinen Ueberzeugungen ihre Kraft verloren, so wurden andrerseits die individuellen Organisationen von den nationalen und staatlichen Centralgewalten absorbirt. Und ist es nicht sonnenklar, wie aus dieser Richtung auch noch die ganze Politik von 66 entsprang? Die zukünftige Weltordnung hingegen dürfte weit eher den Idealen des Mittelalters entsprechen, als denen der sogenannten neueren Zeit, nur mit dem freilich sehr wichtigen Unterschiede: daß an die Stelle der lateinischen Bildung des Mittelalters die polyglotte Bildung der modernen Völker, und an die Stelle der hierarchisch-feudalen Bande die freie Föderation zu treten hätte. Für diese Aufgabe hat aber Ranke keinen Sinn. Ihm ist die Sonderexistenz der einzelnen Völker und Staaten noch immer das Principale, und das einmal zugegeben, kommt dann freilich alles darauf an: ob diese oder jene Macht die Präponderanz gewinnt. Die militairischen Erfolge von 66 und 70, deren er in seinen letzten Publicationen beiläufig gedenkt, haben ihm daher dergestalt imponirt, daß er sie zu den größten Ereignissen der Weltgeschichte zählt, wodurch, wie er meint, Deutschland und Europa auf einmal eine neue Gestalt gewonnen hätten. Worin liegt denn aber das Neue? Doch wohl nur darin, daß einstweilen an die Stelle der französischen Präponderanz die preußisch-deutsche trat. Ist also die wahre Aufgabe vielmehr die Herstellung einer Völkergemeinschaft, worin die ganze Präponderanzpolitik (die das Mittelalter nicht kannte) überhaupt verschwindet, – wo bleibt dann das große Weltereigniß? Es wird sich hinterher von ganz ephemerer Bedeutung erweisen, und nicht sowohl als der Anfang zu einer neuen besseren Weltordnung, wie vielmehr als ein beklagenswerther Rückfall auf den bereits geistig überwundenen Standpunkt der alten Machtpolitik, worüber nur eben Hr. v. Ranke noch nicht hinaus kam.

Es ist allbekannt, wie sein europäischer Ruf zum großen Theil auf seiner geschickten Ausnutzung gesandtschaftlicher Berichte beruht, zumal der venetianischen, die er gewissermaßen selbst erst als eine neue Fundgrube entdeckte. Unbestreitbar auch, daß er in der Klarlegung diplomatischer Combinationen und politischer Intriguen aller Art ein Talent entwickelt, wonach ihm in diesem Zweige der Geschichtsforschung Niemand gleichkommen dürfte. Aber das characterisirt ihn auch wieder, daß er die Dinge wie mit den Augen eines Diplomaten betrachtet, und darin liegt seine Grenze. Wie für die Diplomatie, so werden auch für ihn die Machtfragen zur Hauptsache. Der moralische und sociale Zustand der Völker kommt dabei nur in soweit in Betracht, als darin selbst Machtmittel für die Staatsgewalten liegen. Daneben dann die geheimen Motive der Gewalthaber, deren Erforschung ja eine Hauptaufgabe für die Diplomatie ist, und die auch gerade wieder Ranke so vortrefflich zu illustriren versteht. Daß es aber hoch über dem Treiben dieser Gewalthaber noch etwas andres gibt, was man die göttliche Weltregierung nennt, kommt dabei kaum zur Erwägung. Und wo träte es wohl bei Ranke hervor, daß er davon durchdrungen wäre? Interessant sind seine Mittheilungen immer, voll von feinen Bemerkungen, wie selten aber zeigt er sich von einem Gefühl ergriffen, welches andererseits auch den Leser zu ergreifen vermöchte! Sein Streben nach Objectivität bewegt sich auf der Grenze der Gesinnungslosigkeit. Er will ja immer nur zeigen, wie alles gekommen sei, und wie es auch menschlicherweise gekommen sein mag, nur daß die göttliche Weltregierung doch noch ein ganz andres Ding ist.

So bezeichnend es nun für Ranke ist, daß die Geschichte der Cabinets- und Machtpolitik sein eigenstes Gebiet wurde, so gut paßte auch wieder die berliner Atmosphäre dazu, daß er sich in dieser Richtung entwickelte. Denn gerade diese Hauptstadt war selbst in augenfälligster Weise ein Product solcher Politik, wie das überhaupt von dem ganzen preußischen Staate gilt, der erst von dem Emporkommen derselben datirt, und der noch bis heute in demselben Ideenkreis gebannt ist, worin sich dieser Geschichtsschreiber bewegt.

Von Raumer, der so lange neben Ranke gestanden, dürfte man das nicht sagen. Er war der Aeltere und seiner Zeit auch zu einem bedeutenden Namen gelangt, der aber hinterher durch den Ruhm seines jüngeren Collegen verdunkelt wurde, dessen Forschungen und Behandlungweise allerdings die größere Originalität zukommt. Was hingegen den Umfang seines Geistes betrifft, steht vielmehr Ranke weit hinter Raumer zurück, dessen Studien alle Perioden der Geschichte umfaßten, wobei er doch in seinen Hohenstaufen immerhin ein sehr respectables Werk lieferte, wie es jedenfalls die heutigen Gothaer nicht zu Stande brachten, und wenn sie auch alle ihren Witz zusammen schütteten. Selbst mit den allerneusten Entwicklungen hatte er sich beschäftigt, und war um deswillen nach Nordamerika gegangen. Daran hätte Ranke wohl nie gedacht. So war er auch mit den eigentlichen Staatswissenschaften vertraut, und wenn er zwar nirgends in die Tiefe drang, verstand er doch mehr davon, als irgend ein gothaer Geschichtsschreiber zu prästiren vermöchte.

Es wird nicht zu verkennen sein, wie in Raumer noch die Anregungen der großen Ereignisse fortwirkten, die er in seiner literarischen Entwicklungsperiode erlebt hatte, – die napoleonische Zeit und dann die Freiheitskriege. Das erweiterte seinen Blick und gab ihm einen gewissen Schwung des Geistes. Auch waren ihm aus den Freiheitskriegen her doch Tendenzen geblieben, infolge deren er noch im späteren Alter seine liberalen Anwandlungen hatte, wodurch er dann und wann mit dem herrschenden System in Conflict gerieth. Ranken ist das nie begegnet, er hat nie ein Wort gesagt, was nach oben hin hätte anstößig erscheinen können. Dafür begann auch seine literarische Entwicklung erst, als das Feuer der Freiheitskriege schon wieder erloschen, und gerade in Berlin die allerflauste Stimmung zur Herrschaft gekommen war. Um so ungestörter konnte er sich da in das Studium eines Zeitalters versenken, das selbst keine Ideen anregte, welche zu einem Widerspruch mit dem damals herrschenden System geführt hätten. Alle seine Kräfte auf dieses Gebiet concentrirend, hat er dann Werke geschaffen, deren Werth zwar weit überschätzt wird, wenn man dabei übersieht, daß es doch nur ein beschränkter Ideenkreis ist, in welchem sich dieser Autor bewegt, die aber innerhalb dieses Ideenkreises auch wirklich bahnbrechend waren.

Trotz ihrer großen inneren Verschiedenheit konnten also Raumer und Ranke als die beiden Dioskuren der berliner Geschichtsweisheit gelten, auf die man schon stolz sein durfte. Wer aber wird sie in Zukunft ersetzen? Ein Droysen und Treitschke! Bergab ging damit der berliner Ruhm, wie durch einen Salto mortale in den Abgrund des Culturkampfes hinein.


So steht es mit der berliner Gelehrtenwelt, in welcher gerade Ranke zu den ersten Perlen zählte. Bedürfte es noch eines anderen Zeugnisses, so steht Hr. du Bois Reymond da, der in seiner akademischen Rede zum dritten August 1870 das famose Wort sprach:

»die berliner Universität, dem Palaste des Königs gegenüber einquartiert, ist das geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern.«

Möchte der Mann auch sonst nicht viel bedeuten, durch diese Erklärung hat er sich ein wirkliches Verdienst erworben. Man könnte den Geist des berliner Gelehrtenthums nicht drastischer bezeichnen, als ihn hier der Wortführer der Universität selbst bezeichnete. » Leibregiment und einquartiert«! Warum nicht auch commandirt, um diese oder jene Ansicht zu vertreten? Der große Culturkampf dürfte dazu Veranlassung bieten. Hr. Falk wird dann als commandirender General fungiren, mit Hrn. v. Treitschke und du Bois Reymond als Adjutanten. Generallissimus ist Fürst Bismarck, Fürst zugleich im Reiche der preußischen Intelligenz, deren geistiger Inhalt kurzweg nur noch die Interessen der Macht zu sein scheinen.

Gewiß, die Macht kann sich nichts Besseres wünschen, als daß auch die Gelehrten zu ihren Werkzeugen werden, was bleibt aber dabei von der Wissenschaft, wenn sie aus dem Dienst der Wahrheit in den Dienst der Staatsinteressen tritt? Das werden große Ideen sein, die von Leuten ausgehen, deren Brust das Hochgefühl schwellt, das hohenzollernsche Leibregiment zu bilden! Und was ist es noch mit der Freiheit der Wissenschaft, wovon man in Preußen so viel Redens macht, wenn sich die Wissenschaft selbst in Leibeigenschaft begibt, so sehr sie auch von ihrem Leibherren gehätschelt werden möchte? Es ist nichts mit der Wissenschaft und ihrer Freiheit, wenn sie nicht unabhängige Geister schafft. Wo wären die aber? Alle ließen sich von den großen Erfolgen von 66 überwältigen, kein einziger von den namhaften Gelehrten Berlins – und fast dasselbe gilt von ganz Preußen – hat seine Stimme dagegen erhoben. Hätten sie aber gegen bessere Ueberzeugung geschwiegen, wo die Pflicht zu reden gebot, so wäre ihre Verdammniß nur um so größer.


IX.

Stolz auf seine Erfolge, hat das Preußenthum den Maßstab für die wirkliche Bedeutung derselben verloren, dem nur relativ Bedeutenden eine absolute Bedeutung zuschreibend. Das ist hier die Quelle seiner Verirrungen.

Es war ja freilich etwas Außerordentliches, daß Preußen, von so geringen Anfängen aus und mit so geringen Mitteln, zu einem so mächtigen Staate wurde, wie es wirklich geschah, allein im Lichte der Weltgeschichte betrachtet, kann die preußische Staatsgeschichte doch nur eine sehr mäßige Bedeutung beanspruchen. Was für beschränkte Köpfe müßten das sein, deren Ideenkreis mit den Traditionen von dem großen Kurfürsten und von dem großen Friedrich ausgefüllt wäre! Auch ganz abgesehen von der allgemeinen Weltgeschichte, kann der preußische Staat sich nicht entfernt mit dem ehemaligen deutschen Reiche vergleichen, wie es im Mittelalter war. Er verhält sich dazu wirklich nur wie etwa eine berliner Kaserne zu einer gothischen Kathedrale.

Aber darin liegt es auch gerade, daß der große Sinn dieses ehemaligen Reiches der preußischen Intelligenz nie aufgegangen ist. Und erklärlich genug. Denn wie der preußische Staat selbst erst emporkam, als das ehemalige Reich schon in das Stadium seines definitiven Verfalles getreten war, so weiß man in Preußen auch nur von der Misere des ehemaligen Reiches zu sprechen. Noch mehr verglich man dann Preußen mit den übrigen particulären Bildungen, die aus der Zersetzung des ehemaligen deutschen Reiches hervorgingen, und danach zu urtheilen mußte es sich freilich allen andren überlegen fühlen. So kam ihm die Idee seines sogenannten deutschen Berufes, wonach es selbst ein neues Deutschland schaffen sollte. Eine Aufgabe, die von vornherein eine Unmöglichkeit implicirte, so gewiß als das Preußenthum eben dadurch charakterisirt ist, daß es, aus der deutschen Entwickelung heraustretend, zu einem besonderen Wesen wurde, welches sich überhaupt nicht nach Nationalideen sondern nach reinen Staatsideen entwickelte. Kein neues Deutschland, sondern nur ein ganz Deutschland umfassendes Preußen wäre damit zu schaffen.

Welch eine Auffassung von deutscher Entwicklung muß man doch gehabt haben, wenn man als Anknüpfungspunkt für das neue Reich den Zollverein ansah, und als Instrument zur praktischen Ausführung die Militärorganisation, die schließlich den Ausschlag gab! So ist es das Werk des Hrn. v. Roon gewesen, welches das Unternehmen von 1866 nicht nur vorbereitet, sondern gewissermaßen provocirt hat. Denn wie natürlich, daß eine von reinem Soldatengeist erfüllte, und zum Angriff organisirte, Armee auch wie von selbst den Eroberungstrieb weckte, der hinterher befriedigt sein wollte. Man wird das Verwaltungstalent und die technischen Einsichten dieses Mannes gern anerkennen, aber das war auch das Verhängnißvolle, daß er die Armee nach rein technischen Rücksichten behandelte, und sie damit zu einem ganz für sich bestehenden Wesen machte, insbesondere durch Beförderung eines exclusiven Officiergeistes. Es wird die Zeit kommen, wo sich das rächt, und im Herzen des Volkes wird sein Name nicht fortleben. Das Werk von Scharnhorst wurde dabei nicht weitergebildet sondern denaturirt. Der hatte eine Vaterlandsvertheidigung schaffen wollen, nicht eine Eroberungsmaschinerie. War er doch auch nicht aus dem specifischen Preußenthum hervorgegangen, wie hingegen Hr. v. Roon, der nun auch die Armee erst recht zu dem specifischen Organ des Preußenthums machte.

So ging es denn an das Erobern. Die ältesten deutschen Staaten wurden als Kriegsbeute in Beschlag genommen, die betreffenden Fürstenhäuser, deren Wurzeln bis in die ersten Anfänge des deutschen Reiches hinabreichten, verdrängt. Dem Preußenthum, dessen Entwicklung ja eben auf dem Heraustreten aus der deutschen Geschichte beruhte, galt solcher Bruch mit der geschichtlichen Continuität wie gar nichts. Es hatte für die Bedeutung desselben überhaupt kein Verständnis. Mag sein, aber so hat es auch kein Verständniß für die Bedingungen einer wahren Wiederherstellung Deutschlands, und zu guterletzt dürfte es sich doch täuschen, wenn es darüber so leicht hinwegzukommen hofft, in der Meinung, daß auch die ganze deutsche Nation schon alle Pietät für die deutsche Geschichte verloren habe. Es ist immer mißlich von sich auf andere zu schließen.

Noch auffallender, was mit Elsaß und Lothringen geschah. Die Wiedergewinnung dieser ehemaligen Reichslande mußte natürlich dem deutschen Nationalgefühl zu hoher Genugthuung gereichen. Auch hat man nicht verfehlt, solche Stimmung der Nation nach Möglichkeit zu befördern, um daraus für den Ruhm des neuen Reiches, nebst seinem großen Kanzler, Capital zu schlagen. In welchem Sinne aber hat man hinterher diese neuen Erwerbungen behandelt? Nicht etwa als eine Wiederherstellung des einst gebrochenen Rechtes, wie sie doch thatsächlich darin vorlag, sondern gerade diese Seite der Sache hat man ignorirt, sogar ausdrücklich in Abrede gestellt. Das alte Reichsrecht soll dabei gar nichts bedeuten, noch auch die deutsche Rationalität des Elsaß, sondern eine Militärgrenze sollen die wiedergewonnenen Reichslande bilden, – das allein war das entscheidende Motiv! Man hat das wiederholt erklärt, ja man hat es dem elsaß-lothringischen Volke selbst ins Gesicht gesagt. An dem Lande an und für sich wäre dann also gar nichts gelegen. Versänke es etwa plötzlich in die Tiefe, und entstände statt dessen ein großer See, – das wäre wohl eigentlich für solche Politik das Allererwünschteste. Es ergäbe die allerbeste Militärgrenze, und wäre zugleich die bequemste Lösung der elsaß-lothringischen Frage, womit alle dermaligen Schwierigkeiten ipso facto verschwänden. Ein deutsches Reich, welches auf der deutschen Geschichte beruhte, will man ja überhaupt nicht, sondern von 1866 soll es datiren, und wie es im letzten Grunde nur auf strategischen Erfolgen beruht, so handelt es auch nur nach strategischen Rücksichten. Daher die Idee der elsaß-lothringischen Militärgrenze. Hierauf hat man dieses Grenzgebiet nach dem Muster einer preußischen Provinz organisirt, und weil dazu immer mehrere Regierungsbezirke gehören, die wieder unter einem Oberpräsidenten stehen, so mußte freilich Elsaß und Lothringen zu einem Ganzen verkoppelt werden, obgleich die beiden Länder nach ihrer Lage wie nach dem Charakter ihrer Bevölkerung eben so wenig zusammengehören, als sie ehemals eine gemeinsame Geschichte hatten. Das ist auch ein Stück von preußischer Intelligenz. Mehr darüber in des Verfassers Schrift »Was soll aus Elsaß-Lothringen werden?«

Bedürfte es noch eines weiteren Beweises dafür, wie der jetzt in Preußen herrschende Militärgeist sich wirklich zu dem Deutschthum verhält, so steht als augenfälligstes Zeugniß das neue Siegesdenkmal da. Denn nicht nur ein Denkmal der 1864 in Dänemarck und 1870 in Frankreich erfochtenen Siege soll es sein, sondern auch der Siege von 1866 über Oesterreich und das halbe übrige Deutschland. Dem Preußenthum scheint es folglich nur auf seine eigenen Triumphe anzukommen, gleichviel wer dabei niedergeworfen wurde, und wenn es auch die deutschen Brüder wären. Was ist also von der Deutschthuerei zu halten, die man heute in Berlin betreibt? Hat man denn nicht einmal die Unschicklichkeit eines solchen Sichaufblähens des Preußenthums gefühlt, wenn man doch andererseits ein neues deutsches Reich begründet haben wollte? Schon das Beispiel der alten Hellenen hätte hier zur Lehre dienen können, die zwar nie ein einheitliches Reich zu Stande brachten, aber doch so viel Nationalsinn besaßen, daß es ihrem Gefühle widerstrebte: die von Hellenen über Hellenen erfochtenen Siege durch dauernde Monumente zu feiern. In dem neuen Spree-Athen, oder meinetwegen Spree-Sparta, ist man nicht so scrupulös gewesen. Da hieß es: Ruhm ist Ruhm, und warum nicht verschiedene Ruhmesepochen zusammen feiern, sie gleichsam etagenweise übereinander stellend? So entstand dieses monströse Denkmal.

Nun war es aber wie eine Ironie des Schicksals, daß fast gleichzeitig mit der Enthüllung desselben auch noch die Enthüllungen von La Marmora erschienen. Just wie ein Commentar zu der symbolischen Sprache dieser Siegessäule, um uns ganz unmittelbar in die geheimen Motive einzuführen, woraus die Ereignisse von 1866 entsprangen, die dann in weiterer Folge zu dem heutigen Reiche führten. Urkundlich ist es dadurch bezeugt, daß die deutschen Angelegenheiten nur als ein Mittel für preußische Zwecke behandelt wurden. Urkundlich liegt darin das Selbstbekenntniß des Hrn. Reichskanzlers vor, daß er sich mehr als Preuße wie als Deutscher fühle. Es begreift sich, wie sehr das den Mann wurmen mußte, der sich ja inzwischen zum deutschen Nationalheros aufgeschwungen hatte. Wäre nur das Buch wieder aus der Welt zu schaffen gewesen, statt dessen aller darüber erhobene Lärm nur dazu gedient hat, die thatsächliche Richtigkeit seines Inhaltes außer allem Zweifel zu stellen. Was hilft es jetzt noch, den Leuten Sand in die Augen streuen zu wollen? Da gelten die Worte aus dem »Dies irae«:

»Liber scriptus proferetur, In quo totum continetur«,

und der dies irae wird schon kommen. Daß solche Publication ein Vergehen gegen die diplomatische Convenienz war, ändert an der Sache garnichts, der Zeitgeschichte ist damit ein Dienst erwiesen. Auch kann es der hohen Diplomatie durchaus nicht schaden, wenn ihre Maulwurfsarbeiten an das Tageslicht gebracht werden. Noch immer wäre »un po' piu di luce« zu wünschen. Inzwischen aber bezeugen die Ereignisse von 1866 schon selbst, aus welchem Geiste sie entsprangen.


X.

Das Preußenthum kann nicht aus seiner Haut heraus. Mit seiner Intelligenz, welche seine geistige Essenz ist, verhält es sich ebenso, weil sie sich in innigster Verbindung mit dem Staat entwickelte, von da aus selbst Richtung und Impuls empfangend. War doch ihr Hauptträger das reglementarisch gebildete Beamtenthum, mit welchem um so mehr, auch das Professorenthum verwachsen mußte, je mehr die höheren Lehranstalten, als Vorbereitungsanstalten für den Staatsdienst, zu diesem Zwecke von oben herab geleitet wurden. Daß Männer von unabhängiger socialer Existenz, in freier Entwicklung aus inneren Trieben, sich durch geistige Leistungen hervorgethan und dadurch einen erheblichen Einfluß auf das allgemeine Denken gewonnen hätten, ist in Preußen sehr wenig geschehen. Von Haus aus also mit dem Staatsdienst verflochten, hat die preußische Intelligenz im Laufe der Zeit sich dermaßen mit preußischen Vorstellungen durchdrungen, daß sie gar nicht umhin kann, auch die deutschen Angelegenheiten immer durch die preußische Brille zu betrachten. Welche deutsche Organisation wäre von da aus zu erwarten gewesen? Ganz unvermeidlich mußte die Sache darauf hinauslaufen, Deutschland zu einem großen Preußen zu machen. Und das ist nun wirklich so sehr geschehen, daß gerade die charakteristischen Züge des preußischen Staatswesens in dem neuen Reiche nur um so greller hervortreten.

Darin nämlich, daß die Reichsverfassung principaliter nichts weiter ist, als eine Maschinerie zur Zusammenfassung und Handhabung aller Machtmittel. Denn darauf war ja eben in Preußen stets das Hauptabsehen gewesen. Machtentwicklung galt da selbst als der oberste Staatszweck, und es konnte kaum anders sein, weil der preußische Staat sogar dadurch erst zu Stande kam, in dem er sich eigentlich immer nur im Werden befand. Nie erschien er als eine fertige, in sich beruhigte und gesättigte Existenz, es drängte ihn nach immer neuen Vergrößerungen. Unter solchen Umständen concentrirte sich das ganze Staatswesen in dem gouvernementalen Apparat, dem sich alle anderen Institutionen anschließen und unterordnen mußten. Was man im engeren Sinne Verfassung nennt, d. h. der Organismus des öffentlichen Rechtes, war nur als Embryo vorhanden. Durch die nach 1848 eingeführte Constitution ist es im Wesentlichen nicht viel anders geworden, da sie kein wirkliches Leben gewann. Man hatte einen Anlauf zur Feststellung des öffentlichen Rechtes genommen, aber mehr war es nicht, das öffentliche Recht blieb immer noch ein fragliches Wesen. Auch that man ganz so, als ob an diesem fraglichen Wesen am allerwenigsten gelegen wäre, so lange sich nur dabei regieren ließe. Welche Aussichten nun, wenn solche Denkweise in ganz Deutschland zur Herrschaft kommen sollte!

Eine ewige Unruhe müßte daraus folgen, nirgends gäbe es mehr ein gesichertes Dasein. Schon haben wir den Vorgeschmack davon. Anstatt zum Schutz des in Deutschland bestehenden öffentlichen Rechtes, scheint die neue Reichsverfassung vielmehr zur Untergrabung desselben bestimmt zu sein. Handelt es sich um die rechtliche Competenz des Reiches, so provocirt man auf Zweckmäßigkeitsrücksichten und die Sache ist abgethan. Selbst die ausdrücklich garantirten persönlichen Rechte werden des Culturkampfes wegen durch Ausnahmsgesetze illusorisch gemacht, wobei man kein Bedenken trägt, im Namen des Fortschrittes sogar die sonst schon längst als überwundener Standpunkt angesehene Verbannungsstrafe zu repristiniren. Eine um so erstaunlichere Sache, als trotz solcher extremen Maßregel das neue Strafgesetz doch hinterher eine kaum minder bedenkliche Lücke zeigen dürfte, als die berüchtigte preußische Verfassungslücke. Denn was thun, – da wir doch keine Verbannungscolonie besitzen, – wenn etwa die ausgewiesenen Priester von dem Auslande mittelst Schub wieder zurückgewiesen werden sollten? Unlösbare Schwierigkeiten dürften daraus entstehen. Aber diese Eventualität ist eben nicht vorgesehen. Die Maigesetze haben sich ja hinterher auch als lückenhaft erwiesen, und es muß sich erst zeigen, ob die neuerdings hinzugekommenen Ergänzungen die Lücken wirklich ausfüllen werden. Am Ende scheint es wohl, daß es die Unzulänglichkeit der preußischen Intelligenz selbst ist, welche sich in solchen Lücken bekundet, und kurz gesagt darauf beruht, daß man einen sich selbst genügenden Rechtszustand von vornherein gar nicht anstrebt, sondern immer das Refugium der Gewalt im Auge behält. Ist aber mit Gewalt doch nicht alles zu machen, z. B. keine katholischen Priester, obwohl man sie mit Gewalt beseitigen kann. Das wäre hier beiläufig zu bemerken.

Die deutsche Reichsverfassung nun, welche diese Intelligenz schuf, zeigt darum richtig wieder ganz dieselbe Lücke als die preußische Verfassung, infolge dessen es sich mit dem Budgetrechte im Reiche wenig besser verhält als in Preußen. Auch würden wir im Reiche schon heute vor demselben Conflict stehen, in welchem man sich vor Jahren in Preußen befand, wäre nicht beliebt worden, den Conflict auf sieben Jahre zu vertagen. Daß man dabei selbst einen Rechtsbruch beging, so gewiß als der dermalige Reichstag nicht die Befugniß besaß, im voraus über die Rechte des ihm nach drei Jahren folgenden Reichstages zu disponiren, und folglich die jetzige Uebereinkunft dann rechtlich null und nichtig sein würde, – darüber kein Kummer. Interim aliquid fit, wird man gedacht haben. Die Wohlfahrt des deutschen Reiches erforderte es einmal, dem französischen Septennat ein deutsches zur Seite zu stellen.

Wie tröstlich muß es doch für das »verkommene Frankreich« sein, daß die großmächtige deutsche Nation noch immer nichts Besseres weiß, als sich von daher die Vorbilder zu ihren Einrichtungen zu holen. Das ganze neue Reich beruht ja darauf, so gewiß als der Bundesstreich von 66 mutatis mutandis eine Nachahmung des napoleonischen Staatsstreiches war. Und wie deutlich leuchtet der napoleonische Geist aus der infolge dessen errichteten Verfassung hervor! Nur mit dem einzigen Unterschiede, daß das deutsche Empire statt in dem großen Empereur sich einstweilen in dem großen Kanzler concentrirt. Nachahmungen sind desgleichen die Gesetze über allgemeine Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, die neuen Münzen, Maße und Gewichte, wie letzlich die Civilehe und Civilstandsregister, was alles in Frankreich schon längst bestand. Zum Nachahmen gehört aber kein besonderes Genie, und fragt man nach den wirklich bedeutenden originellen Leistungen der preußischen Intelligenz, die doch seit 66 Deutschland beherrscht, so sieht man sich lediglich auf das Gebiet der militärischen und administrativen Einrichtungen hingewiesen. Zwar immerhin wichtige Dinge, aber jedenfalls einen viel zu engen Vorstellungskreis bildend, als daß von da aus zu der Idee einer deutschen Nationalverfassung zu gelangen wäre.

Was konnte denn daraus entstehen, wo der Grundgedanke nichts weiter war, als die »Einheit der diplomatischen und militärischen Action«, wie man bekanntlich von preußischer Seite die Aufgabe der Bundesrevision formulirt hatte? Als ob es für die deutsche Nation lediglich darauf ankäme, sich als Macht geltend zu machen! Ihr inneres Leben bedeutete dabei nichts. Nichts desgleichen die innere Gliederung des Nationalkörpers, wodurch dieses Leben bedingt und getragen wird, und deren Verbesserung selbst zu den Hauptaufgaben einer wahren deutschen Reform gehört hätte. Nicht verbessert aber, sondern verschlechtert hat man diese innere Gliederung, und ihren ganzen Bestand so untergraben, daß bald gar nichts mehr davon zu bemerken sein und nur noch eine von oben herab gemachte Eintheilung bestehen wird: nach Armeecorps, nebst Eisenbahn-, Post- und Telegraphen-Inspectionsbezirken. Das ist es, was in Zukunft an die Stelle der deutschen Volksstämme und der deutschen Staaten treten wird! An einen deutschen Nationalkörper – soviel auch jetzt von Nationalität geredet wird, – scheint man gar nicht mehr zu denken, sondern lediglich an einen Staatskörper, als worauf der Sinn des Preußenthums allein gerichtet ist, weil es selbst nur als Staat existirt. Nur bei solcher Denkweise konnte man auch frischweg zu der großen Amputation schreiten, wodurch auf einmal das ganze Deutschösterreich von dem deutschen Nationalkörper abgeschnitten wurde, damit doch endlich die Einheit der diplomatischen und militärischen Action zu Stande käme. Jetzt genießen wir ihren Segen. Worin besteht er?

Glänzende Siege und Milliarden dazu hat sie uns eingebracht, nur haben die Milliarden das Volk nicht reicher, die Steuerlast nicht geringer gemacht, und die Siege nur zu der Notwendigkeit einer permanenten Kriegsbereitschaft geführt. Die Einheit der diplomatischen und militärischen Action hat eben geleistet, was sie leisten konnte. Sie hat Deutschland zu einem centralisierten Staat gemacht, der, wie er für alle seine Nachbaren als eine permanente Drohung dasteht, so auch selbst von allen Seiten bedroht ist.

Hr. v. Moltke hat im Reichstage diesen Zustand selbst constatirt. Wir danken ihm für sein Zeugniß. Aber das Stück von Soldatenphilosophie, welches er darauf noch folgen ließ, hätte der große »Schlachtendenker« sich besser erspart, denn als politischen Denker hat er sich dadurch nicht documentirt, wenn er die Meinung äußerte: »daß zwar im Inneren der Staaten Recht und Gesetz den Frieden erhalte, nach außen hin aber nur die Macht schütze.« Also nichts weiter als das alte Lied, wonach es mit dem Völkerrecht überhaupt nichts sei, weil es kein mit Executivmitteln ausgestattetes Tribunal dafür gäbe. Gewiß eine sehr vulgäre aber auch eben so flache als rohe Ansicht, denn auch ohne ein völkerrechtliches Tribunal besteht doch ein völkerrechtliches Bewußtsein, als die allerwichtigste Garantie des öffentlichen Friedens, ohne welche sonst der Kriegszustand nie aufhören würde. Die Macht bildet dabei nur den letzten Nothbehelf, wie sie ja auch nur die ultima ratio heißt, statt dessen sie hier als die ratio schlechtweg figurirt. Je wichtiger aber jene moralische Garantie des allgemeinen Rechtsbewußtseins ist, um so mehr dann soll man sich hüten, das allgemeine Rechtsbewußtsein durch gewaltsamen Rechtsbruch zu erschüttern, sonst kann sie allerdings so schwach werden, daß nur noch die Macht Schutz gewährt. Darüber hätte der Mann erst nachdenken sollen, ehe er den heutigen exceptionellen Zustand, der eben aus der Gewaltpolitik hervorging, für den normalen erklärte. Vielleicht auch, daß er es dann nicht so trocken hin gesprochen hätte: »daß wir das in einem halben Jahre durch unsere Siege Gewonnene wohl ein halbes Jahrhundert mit den Waffen zu schützen haben würden.« Gerade als ob das garnichts Außerordentliches wäre, ein halbes Jahrhundert lang auf dem qui vive zu stehen!

Wie deutlich blickt da wieder das Preußenthum hindurch, das ja wirklich immer auf dem qui vive stand, und dessen Geschichte principaliter Kriegsgeschichte ist! Wer dürfte sich darüber wundern, wenn etwa solche Auffassung des Völkerrechts, als wir soeben vernahmen, in den preußischen Cadettenhäusern herrschte, es ist da kaum anders zu erwarten. Wehe aber, wenn der daraus hervorgegangene Geist hinterher auch für die deutsche Nation maßgebend werden sollte! Schon ist dadurch eine Kriegsknechtschaft über Deutschland gekommen, von der wir zur Zeit des alten Bundes noch keine Ahnung gehabt hatten. Und was noch schlimmer: eine Verrohung der Geister, eine Verödung der Gemüther, und ein Versinken in Materialismus, worin alle das unterzugehen droht, was man bisher als Grundzüge des deutschen Nationalcharakters angesehen hatte. Das wäre der nationale Aufschwung!


XI.

Hat das Preußenthum, bei seinem eingebildeten deutschen Beruf, seine eigene Potenz weit überschätzt, so hat es hingegen von Deutschland viel zu gering gedacht, die deutsche Aufgabe als etwas viel Kleineres und Einfacheres ansehend, als sie wirklich ist. Zu der Idee eines kleindeutschen Nationalstaates schrumpfte sie ihm zusammen. Und freilich konnte es wohl nicht anders geschehen, denn so erst wurde die deutsche Aufgabe für das Preußenthum traitabel.

Dazu kommt aber noch der tiefere Grund: daß das preußische Denken in den Umkreis der Staatsidee gebannt ist, welche die ganze preußische Entwicklung beherrschte. Durch den Einfluß der den Staat vergötternden hegelschen Philosophie, die, wie sie an und für sich dem Preußenthum congenial war, auch gerade in Preußen den größten Anhang fand, hat man sich erst recht darin verrannt. So sollte denn auch Deutschland zu einem » Staat« gemacht werden. Das war zugleich die Parole des in diesem Punkte ganz mit dem Preußenthum übereinstimmenden Nationalliberalismus, und das einmal zugegeben, so war auch Kleindeutschland gegeben, denn Oesterreich mußte jedenfalls beiseite geschoben werden: für den » deutschen Staat« war es wirklich ganz unbrauchbar. Daß gleichwohl das neue Kleindeutschland in der amtlichen Sprache als » Reich« bezeichnet wurde, blieb ein leerer Titel. Kein Gedanke daran, daß das »Reich« an und für sich etwas viel anderes sei als der »Staat.« Und doch war Deutschland nie ein » Staat« gewesen, noch kann es jemals ein solcher werden, oder es hörte auf Deutschland zu sein. Man muß schlechtweg über die Staatsidee hinausgehen, und die Idee eines ganz anders gearteten und auf viel höhere Zwecke gerichteten Gemeinwesens fassen, – darin liegt die Vorbedingung zur Lösung der deutschen Aufgabe, weil Deutschland an und für sich selbst ein überstaatliches Wesen ist. Von dem politischen Standpunkt muß man sich auf den metapolitischen erheben.

Gleichviel, ob dies für die preußische Staatsraison transscendente Vorstellungen sein mögen. Was die Fassungskraft der preußischen Intelligenz überschreitet, kann trotzdem immer noch sehr faßlich und zugleich etwas sehr Wirkliches sein. Spricht doch selbst die Mathematik, d. h. die Verstandeswissenschaft par excellence von transscendenten Größen, die darin sogar eine so wichtige Rolle spielen, daß alle höheren Rechnungsarten darauf beruhen. Die transscendenten Größen existiren eben, und das überstaatliche Wesen Deutschlands existirt auch. Es ist so sehr eine reale Thatsache, daß vielmehr der jetzt creirte » deutsche Staat« nur durch Verblendung für die wirklichen Verhältnisse und durch gewaltsame Abstraction von denselben zu Stande kam, wie er auch zu einem nur durch Gewaltmittel aufrecht zu erhaltenden Zustand führte, weil er der Natur der Dinge überall widerspricht.

Man kann diese Wahrheit mit Händen greifen, wenn man zuvörderst nur auf die geographische Lage und physische Gestaltung unseres deutschen Vaterlandes blickt. Wie mit Fingern weist sie darauf hin, daß hier an eine solche Abgeschlossenheit, wie sie zu einem Staatskörper gehört und etwa in Frankreich vorliegt, gar nicht zu denken ist, weil überall ein Verwachsensein mit der Nachbarschaft hervortritt. Zeuge dessen die Donau, die wie ein langer Gedankenstrich von den schwäbischen Bergen sich bis zum Pontus hinzieht. Dann als Ausrufungszeichen der Rhein, der weder in Deutschland entspringt noch mündet. Mit Schleswig-Holstein ist es auch ein eigenes Ding. Und auf welches Hinterland deuten wohl die preußischen Ostseeprovinzen?

Gerade da wird ja die nationale Abgrenzung zur reinen Chimäre. Wie konnte denn also die preußische Intelligenz in ihren dermaligen Nationalitätsschwindel gerathen, da doch Preußen selbst eine gemischte Bevölkerung hat? Und bildet etwa das Riesengebirge eine solche Grenze für diese Intelligenz, daß sie gar nicht bemerkt, wie hinter den Bergen auch noch Leute wohnen, die freilich in den neuen deutschen Nationalstaat so wenig hineinpassen, daß sie ihm zum Pfahl im Fleische werden würden, die aber seit Anfang des ehemaligen Reiches immer dazu gehörten. Hat man vergessen, daß Schlesien nur ein böhmisches Lehn war, und Böhmen eine sehr viel bedeutendere Rolle in der deutschen Reichsgeschichte spielte, als jenes zum größten Theil germanisirte Land, indessen dieses immer einen vorherrschend slawischen Charakter behielt? Das konnte aber seiner politischen Bedeutung keinen Eintrag thun. Das ganze östliche Deutschland enthält slawische Elemente, es ist mit dem Slawismus untrennbar verwachsen. Da hilft einmal nichts, wir müssen mit den Slawen verkehren, und soll das im Frieden geschehen, so müssen wir auch das slawische Element als solches anerkennen. Im finsteren Mittelalter nahm man daran so wenig Anstoß, daß vielmehr die goldene Bulle es den Kurprinzen zur ausdrücklichen Pflicht machte, die slawische Sprache zu lernen. Uns will bedünken: es hätte sich darin eine höhere Intelligenz ausgesprochen, als in der nationalliberalen Germanisirungswuth unserer Tage.

Von Anfang an ist die deutsche Geschichte keine national abgeschlossene gewesen, noch hat sie sich von einem Mittelpunkt aus entwickelt. Das Eine bedingte hier das Andere. Immer hatte Deutschland einen gewissen universalen Charakter, wie Niemandem entgehen kann, der die Dinge unbefangenen Sinnes betrachtet. In dem heiligen römischen Reiche deutscher Nation war diese Universalität zur prägnantesten Erscheinung gekommen, alle Fragen des Mittelalters concentrirten sich in Deutschland. Die sinkende Macht des Reiches änderte das nicht. Denn gewiß: weit weniger specifisch deutsch, als die ganze abendländische Christenheit betreffend, waren die kirchlichen Bewegungen des 16. Jahrhunderts, die doch von Deutschland ausgingen. So war auch der dreißigjährige Krieg, obwohl auf deutschem Boden ausgefochten, vielmehr ein europäischer Krieg. Der westphälische Friede wurde die allgemeine Grundlage des europäischen Völkerrechts. Selbst in seinem tiefsten Verfall blieb Deutschland noch immer der Mittelpunkt der Continentalpolitik, wenn freilich nur in passiver Weise. Die Natur hat es ein für alle Mal dazu gemacht. So konnte auch der Wiener Congreß nicht umhin, dies abermals zu bestätigen, indem der damals errichtete deutsche Bund ausdrücklich als der Schlußstein des ganzen europäischen Gebäudes angesehen wurde. Und das ist er ja wirklich gewesen, so lahm und thatlos er immer sein mochte. Als ein anerkanntes Rechtsverhältniß wirkte er schon durch sein bloßes Dasein, den Westen und Osten wie den Norden und Süden auseinanderhaltend, wodurch ein allgemeiner Conflict unmöglich wurde. Eine unschätzbare Garantie des allgemeinen Friedenszustandes. Die Thatsachen selbst bezeugen es, daß wir dabei ein Menschenalter vor großen Kriegen bewahrt blieben, worauf die gegenwärtige Kriegsperiode erst begann, nachdem durch die Bewegungen von 48 auch schon die Fortexistenz des alten Bundes gefährdet war.

Kein Denkender hat je die große Mangelhaftigkeit des ehemaligen Zustandes bestritten, die Frage konnte lediglich den Modus der Verbesserung betreffen. Wenn es aber wohl als das Schmählichste empfunden wurde, daß unter dem alten Bunde jedes energische Auftreten nach außen hin fehlte, wodurch die deutsche Nation der ihr in Europa gebührenden Stellung beraubt zu sein schien, so wäre doch erst nachzuweisen gewesen, daß es hier keine andere Hülfe gab, als den radikalen Umsturz. Scheint es nicht vielmehr, daß ein Bund, zu welchem, neben den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, auch Oesterreich und Preußen gehörten, die schon für sich allein als europäische Großmächte galten, eine solche Fülle von Machtmitteln besessen haben müßte, daß es lediglich darauf ankam, dieselben zusammenzufassen und zur Geltung zu bringen, um ihn sofort zur ersten Macht Europas zu machen? Auch müssen die Defensivkräfte des Bundes wohl einigen Respect eingeflößt haben, denn Angriffe hatten wir damals von keiner Seite zu fürchten, während hingegen das heutige Reich, trotz seiner ungeheuren Rüstung, mit permanenter Kriegsgefahr bedroht ist. Was also in dieser Hinsicht fehlte, war doch eigentlich nur die active Politik. Man hätte eben eine Bundespolitik begründen müssen, und der Bund trat als die Gesammtmacht auf, die er ja nach seinen eigenen Grundgesetzen bilden sollte. Es ist wahr, eine schwierige Aufgabe wäre solche Bundespolitik gewesen, und Hr. v. Bismarck wohl der am wenigsten geeignete Mann dazu. Denn da hätte es zuvor immer einer gütlichen Einigung bedurft, wobei man an mancherlei Rücksichten gebunden war. Mit einem Schlage ausführen ließ sich da nichts. Einfacher ist es freilich, wenn es nur eines Befehles von oben herab bedarf, und alles dann wie mit Dampf geht, hier aber, wenn irgendwo, galten die Worte des Dichters:

»Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen,
Er ist kein Umweg. Grad aus geht des Blitzes,
Geht des Kanonenballes fürchterlicher Pfad –
Schnell, auf dem nächsten Wege, langt er an,
Macht sich zermalmend Platz, um zu zermalmen.
Die Straße, die der Mensch befährt,
Worauf der Segen wandelt, diese folgt
Der Flüsse Lauf, der Thäler freien Krümmen,
Umgeht das Weizenfeld, den Rebenhügel,
Des Eigenthums gemeß'ne Grenzen ehrend –
So führt sie später, sicher doch zum Ziele.«

Statt dessen sind wir um so schneller zum Ziele gelangt, allein zu welchem? Ein großer centralisirter Militärstaat ist dadurch inmitten Europas errichtet, der zwar einstweilen nach allen Seiten hin überlegen dasteht, indem er aber dadurch auch alle seine Nachbaren zu um so größeren militairischen Anstrengungen anreizt, – welche Perspective ist uns damit eröffnet?

Hr. v. Bismarck scheint den Wahlspruch zu lieben:

»der Starke ist am mächtigsten allein«,

nur übersieht er leider, daß, was wohl ein Held von sich sagen mag, wo es gerade auf seine persönliche Leistung ankommt, niemals auf einen Staat anwendbar ist, der, auch wenn er wollte, sich isoliren gar nicht könnte, am allerwenigsten ein Staat inmitten Europas. Und darin liegt wirklich der Hauptfehler dieses Mannes, daß er, was ihm als die günstigsten Bedingungen für die Entfaltung seiner persönlichen Thatkraft erschien, zu den Bedingungen seiner politischen Schöpfungen gemacht hat. Ist es heute sehr gebräuchlich, über die alte Gleichgewichtspolitik, welche so lange in unbestrittner Geltung bestanden, kurzweg den Stab zu brechen, so muß es vielmehr als ein sehr gesunder Gedanke gelten, daß damals jeder Staat zu seinen eignen Machtmitteln als etwas sehr Wesentliches noch die föderative Macht hinzurechnete, d. h. seine Allianzverhältnisse mit andern Staaten, die seine Stellung in Europa stützen halfen, und von wo aus im Falle der Noth thätiger Beistand erwartet werden konnte. Die Starken jener Zeit – und es gab darunter auch starke politische Köpfe, wie z. B. ein Richelieu und der große Friedrich – waren also keinesweges der Meinung, am mächtigsten durch Alleinstehen zu sein. Im Gegentheil, sie legten auf ihre politischen Verbindungen großen Werth und bemühten sich garsehr darum. Ein Wallenstein handelte freilich anders, der glaubte sich kurzweg auf seine improvisirte Macht stützen zu können. Selbst der große Napoleon wollte keinesweges allein stehen, nur daß er die ihm wünschenswerthen Allianzen nach seinem Belieben erzwingen zu können meinte, und das schlug am Ende doch fehl. Immer bleibt der allgemeine Zusammenhang der Dinge die Macht über alle Mächte, und diesen zu erkennen darum die unerläßliche Bedingung für einen großen Politiker. Denn was in diesem allgemeinen Zusammenhang keinen Anhalt findet, – so gewaltig es sich auch aufthäte, – geht schon von vornherein seinem Sturz entgegen.

Sollte jeder Staat für die Erhaltung seiner Stellung lediglich auf sich selbst angewiesen sein, so würde das nicht nur den Untergang aller kleineren Staaten bedeuten, sondern hinterher auch die Großstaaten selbst zu Grunde richten, weil es zu maßlosen militärischen Anstrengungen nöthigen würde, die gleichwohl keine Sicherheit gewährten, weil dieselbe Ueberspannung bald allgemein werden müßte. Indem also das in den Allianzen liegende Verflochtensein der Staatenverhältnisse hinfort verschwände, fiele das ganze internationale System auseinander. Und so ist es jetzt in der That auseinandergefallen, seitdem mit dem alten deutschen Bunde der Schlußstein des europäischen Gebäudes, der ihm allein noch Halt geben konnte, zerschlagen ist. Dahin hat der deutsche Beruf geführt, – wie ihn eben Preußen verstand.

Ach dieser deutsche Beruf! – was ist es wohl mit ihm? Wäre es ernstlich damit gemeint, so müßte es doch der Beruf Deutschlands selbst sein, welchem gemäß sich die deutschen Verhältnisse zu gestalten hätten, statt dessen in Berlin nach dem Berufe Deutschlands überhaupt nicht gefragt wurde, sondern Deutschland nur als eine todte Masse galt, der sogenannte deutsche Beruf aber lediglich bedeutete: was Preußen in Beziehung auf diese todte Masse zu thun habe. Also das hölzerne Eisen eines preußischen deutschen Berufes war es, woraus natürlich auch nur ein preußisches Deutschland entstehen konnte. Aus den berliner Kasernen ging das neue Reich hervor, und anstatt den Schlußstein des europäischen Friedensystems zu bilden, ist es vielmehr der Grundstein des europäischen Kriegssystems geworden. Ueberall erschallt seitdem das » para bellum, para bellum, bumberumbumdumm!« Den Ruhm haben wir dadurch erworben, daß alle Völker unsere Militäreinrichtungen studiren und Krupp zu einer Weltfirma wurde. Wäre das der Weltberuf Deutschlands, so wären wir glücklich am Ziele. Ist es hingegen der deutsche Weltberuf: der Stützpunkt einer europäischen Föderation zu werden, so sind wir jetzt in eine Richtung hineingedrängt, die von solchem Ziele nur immer weiter abführt, und werden folglich eine ganz andere Richtung einschlagen müssen, so sehr dies auch der preußischen Intelligenz gegen den Strich ginge.

Mit der Staatsidee ist da von vornherein nicht auszukommen, wo es sich vielmehr um das Verflochtensein Deutschlands mit den europäischen Verhältnissen handelt. Im Gegentheil, je mehr Deutschland dazu berufen ist, und diesen seinen Beruf auch erfüllen will, einen organischen Zusammenhang des europäischen Völkerlebens zu begründen, – wohin die edlern Geister schon überall streben, und wozu die heutigen Communicationsmittel selbst die Bahn ebnen, – um so weniger darf es sich selbst zu einem abgeschlossenen und centralisirten Staatskörper gestalten wollen, der nach allen Seiten hin nur abstoßend wirken würde. Bloße Macht hilft hier nichts. Die zwangsherrschaftliche Maxime des » oderint dum metuant« könnte vielleicht einmal eine große Coalition gegen das neue Reich hervorrufen, aber sie würde ihm keinen einzigen treuen Freund erwerben. Es bedürfte dann nur einiger verlorener Schlachten, – und wer kann für das Kriegsglück einstehen? – so bräche das ganze zwangsherrschaftliche Gebäude zusammen.

Was sollen insbesondere unsere kleineren Nachbarn, wie Dänemark, Holland, Belgien und die Schweiz, von einem Reiche denken, welches seine eigenen Mitglieder verschlang? Sie werden wenig Neigung verspüren sich demselben anzuschließen, vestigia terrent. Und doch wären gerade diese Staaten am ehesten dazu angethan, in ein inniges Verhältniß zu Deutschland zu treten, gleich vortheilhaft für beide Theile, und jedenfalls der erste Anfang zu einer internationalen Organisation. Schlimm, daß der ehemalige Bund darauf hinzuwirken versäumte, aber noch viel schlimmer, daß das heutige Reich, durch sein Annexions- und Centralisationssystem, sich selbst die Möglichkeit dazu abgeschnitten hat. Nur als unfreie Clienten könnte es jene Staaten annehmen, und in ein solches Verhältniß werden sie niemals eintreten wollen. Oder sollten sie sich zeitweilig dazu gezwungen sehen, so würden sie bei erster Gelegenheit wieder abfallen. Es wäre damit keine Basis zu einer lebendigen Fortentwicklung gewonnen.

Annexion und Centralisation sind nicht die Vorbereitung zur Bildung einer großen Föderation. Diese Richtung muß erst wieder in ihr Gegentheil umschlagen, damit wir auf den rechten Weg gelangen. Vorbedingung dazu ist die Erkenntniß der Unzulänglichkeit der Staatsidee, deren einseitige Geltendmachung eben zu dem Annexions- und Centralisationssystem führte. Wie also darin der Grundirrthum lag, so wird es nun als die Grundwahrheit gelten müssen: daß vielmehr die Föderation das Höhere über der Staatsidee bildet.


XII.

So wenig hat die preußische Intelligenz die Weltstellung Deutschlands erkannt, daß sie gerade die tiefgreifendste und folgenreichste Eigenthümlichkeit desselben, welche insbesondere jede Unification unmöglich macht, als unwesentlich ansah. Will sagen: die Kirchenspaltung.

Selbstverständlich, wie dadurch das eigentlich religiöse Leben bedingt ist, was dann wieder den entscheidendsten Einfluß auf die moralische Denkweise und das practische Verhalten unseres Volkes übt. Ueberhaupt aber unsere ganze geistige Entwicklung, auch wo sie gar kein unmittelbares Verhältnis zur Religion zu haben schien, hat fortwährende Einwirkungen davon erfahren. Denn nicht nur, daß nach der Reformation zwei verschiedene Geistesströmungen neben einander herzogen, sondern sie griffen auch ineinander ein, und gerade in den höchsten geistigen Leistungen trat dies am bedeutungsvollsten hervor. Es sei gestattet, dafür einige Beispiele anzuführen, welche dies zur deutlichsten Anschauung bringen werden.

So vorweg in der bildenden Kunst. Was wäre die neue deutsche Malerei ohne den Einfluß katholischer Ideen? Sie hätte in einem rein protestantischen Lande gar nicht entstehen können. In der Musik traten eben so katholische wie protestantische Meister auf, und es wird nicht zu verkennen sein, daß auch ein katholischer und protestantischer Geist darin waltet, wobei nicht leicht zu sagen wäre, welcher den entscheidendsten Einfluß übte. Sollte aber Beethoven als der größte Meister gelten, so ist dann um so bemerkenswerther, wie sich in ihm gerade der katholische und protestantische Geist zu durchdringen scheinen, indem sein Katholicismus am Ende protestantisch wurde. Denn ist es nicht die protestantische Selbstgewißheit, die sich in seinem letzten großen Werke durch den Hymnus an die Freude ausspricht? Da hatte er alles überwunden, was in ihm gährte. In unserer Poesie zeigte die ganze romantische Schule einen sehr starken Einfluß katholischer Ideen. Auch Uhland wurde davon berührt. Was aber viel bedeutungsvoller: gerade in dem großen Meisterwerke Goethes, welches zum deutschen Laienevangelium wurde, steht neben der protestantischen Faustgestalt schon im ersten Theile das katholische Gretchen, und im zweiten Theil nimmt der ganze Faust einen katholischen Ausgang, so daß hier gewissermaßen das Umgekehrte von dem vorliegt, was wir soeben von Beethoven anführten. Selbst Schiller, so sehr er auf protestantischem Boden stand, zeigte sich keinesweges unempfänglich für katholische Ideen. Wie hätte er sonst seine Jungfrau von Orleans dichten können, oder auch nur den letzten Act seiner Maria Stuart? In der Philosophie tritt uns sogleich Leibnitz entgegen, der gewiß als der Vater der ganzen deutschen Philosophie gelten muß. Er hat sich bekanntlich ganz ausdrücklich mit der Wiedervereinigung der beiden Confessionen beschäftigt, und es scheint wohl, daß das universale Streben seines Geistes in einigem Zusammenhang mit den katholischen Ideen stand, die auf ihn eingewirkt hatten. Der reine Protestantismus hat ja keinesweges den Zug zur Universalität. Aehnliches gilt wieder von Schelling. Die großen Werke seiner letzten Periode, die nicht etwa, wie der philosophirende Janhagel meint, Erzeugnisse der Altersschwäche sondern die Resultate gereiftester Forschung sind, – denn überhaupt erschließen sich die tiefsten Probleme erst dem höheren Alter, weil man erst den Ernst des Lebens erfahren haben muß, um ihn zu verstehen, – diese Werke, deren bahnbrechende Bedeutung erst die Zukunft recht würdigen wird, sind unleugbar unter dem Einfluß katholischer Ideen zu Stande gekommen. Daß endlich ohne Empfänglichkeit für die katholische Weltansicht die deutsche Geschichte nicht zu verstehen ist, in welcher die katholische Kirche eine so große Rolle spielt, leuchtet von selbst ein. Eine rein protestantische Denkweise wird von dem Mittelalter immer nur ein Zerrbild liefern können, die neuere deutsche Geschichte aber wird dann leicht borussificirt werden, wie es bekanntlich die Gothaer thun. Diejenigen deutschen Geschichtsschreiber hingegen, die uns das in der Aufklärungszeit ganz verloren gegangene Verständniß für das Mittelalter, und damit für die deutsche Geschichte überhaupt neu erschlossen, obwohl fast sämmtlich Protestanten, hatten auch alle mehr oder weniger katholische Ideen in sich aufgenommen.

Genug, wir dürfen in Wahrheit sagen, daß die Entwicklung unsrer bedeutendsten Geister durch die in Deutschland bestehende kirchlich-religiöse Doppelströmung bedingt war. Und ist es nicht offenbar, in welchem innigen Zusammenhange damit überhaupt die Vielseitigkeit steht, deren die deutsche Literatur und Wissenschaft sich rühmen?

Es mag schon sein, daß in Preußen auf all dies kein Gewicht gelegt wird, weil es keine unmittelbare Beziehung zu den Staatsinteressen hat. Für die Qualification zum einjährigen Dienst kommt wirklich nichts darauf an, und selbst bei dem großen juristischen Examen, worauf bekanntlich die staatsmännische Qualifikation beruhen soll, wird auch kaum danach gefragt werden. Für die deutsche Nationalentwicklung hingegen dürften unsre großen Künstler, Dichter und Denker am Ende doch mehr bedeuten als preußische Generäle, Minister oder Diplomaten. Sogar der große Bismarck nicht ausgenommen! Es muß sich erst zeigen, ob man dereinst einen Bismarcktag feiern wird, wie man einen Schillertag feierte. »Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,« unsere Nation also, die, will's Gott, noch viele Jahrhunderte leben wird, bedarf darum auch der zwar still aber um so nachhaltiger wirkenden Kräfte, wie sie große Geister ausstrahlen. Und wenn dem so ist, so sind dann auch die Bedingungen zu berücksichtigen, unter welchen sich solche Geister entwickeln, wozu jedenfalls noch etwas anderes gehört als allgemeine Wehrpflicht, oder Freizügigkeit und Gewerbefreiheit nebst Pfennigstarif, und was dergleichen sublime Reichsideen mehr sind.

Noch viel auffallender aber, daß nicht nur die rein geistigen Wirkungen der in Deutschland bestehenden Kirchenspaltung unbeachtet blieben, sondern auch die ganz unmittelbar politischen Wirkungen, die doch so augenfällig und von allen Denkenden längst so anerkannt sind, daß dafür erst noch Beweise beizubringen wohl eigentlich für eben so überflüssig zu erachten wäre, als Sand in die Mark Brandenburg zu tragen. Gleichviel, unter den obwaltenden Umständen muß auch das Ueberflüssige geschehen. Denn infolge des Fortschrittes ist man wirklich dahin gekommen, über der Region thatsächlicher Erwägungen schon hoch erhaben zu sein, um sich statt dessen in der Region des politischen Schwindels zu bewegen. Und dieser Schwindelgeist hat also nicht begriffen, was die große Thatsache:

daß in Deutschland zwei Confessionen, zu gleichem Rechte und ungefähr auch in gleichen Machtverhältnissen, neben einander bestehen,

für die politische Gestaltung unseres Vaterlandes zu bedeuten hat. Nichts Geringeres nemlich, als daß – wenn auch sonst nichts weiter vorläge – schon dadurch allein die Bildung eines einheitlichen deutschen Staatskörpers zu einer inneren Unmöglichkeit wird.

Man frage sich nur einmal, was wohl aus Frankreich geworden wäre, wenn dort die Hugenotten sich eben so zu einem corpus evangelicorum gestaltet hätten, wie es in Deutschland ein solches gab? Dann war die Centralisation gebrochen, die Monarchie Ludwigs XIV. hätte nie existirt. Die wurde nur möglich durch den Sieg des Katholicismus. Das Staatswesen als solches blieb da katholisch, wie es hingegen in England protestantisch wurde. In beiden Ländern schloß sich also die politische Einheit an die kirchliche Einheit an und wurde dadurch getragen, statt dessen bei uns vielmehr die kirchliche Spaltung selbst eine politische Geltung gewann. Wäre es nun etwa in Deutschland wie in Nordamerika, wo zahllose protestantische Sekten bestehen, neben welchen das zerstreute katholische Element eine so geringe Minorität bildet, daß es seinem äußeren Gewichte nach auch nur wie eine Sekte erscheint, so könnte ja für die politische Organisation rundweg von den kirchlichen Verhältnissen abstrahirt werden, wo aber statt dessen zwei große und mit einander rivalisirende Kirchengemeinschaften bestehen, würde es zur reinen Chimäre, wenn man gleichwohl so thun wollte, als ob das keine politische Bedeutung hätte.

Ist es nicht vielmehr handgreiflich, wie aus diesem Zustande die Folge entspringt, daß eben deswegen Deutschland das kirchliche Vermittlungsgebiet für das ganze abendländische Europa geworden ist, und eben dies im eminenten Sinne einen deutschen Weltberuf constituirt? Deutschland wird dadurch um so mehr geeignet, den Kern einer europäischen Föderation zu bilden, was hingegen kaum möglich wäre, wenn Deutschland selbst einen specifisch katholischen oder protestantischen Charakter hätte.

Was aber ist dem gegenüber geschehen? Die Schöpfung eines vorherrschend protestantischen Kleindeutschlands hat die deutsche Nation dieses ihres Weltberufes beraubt. Sie soll in Zukunft nichts weiter sein, als eine politische Macht wie andere Mächte. Wer wirklich groß von Deutschland denkt, kann darin nur eine Erniedrigung erblicken. Dazu die gefährlichen Folgen für ganz Europa, wo von nun an die kirchlichen Gegensätze sich überall wieder verschärfen werden, und leicht zu kirchlich-politischen Coalitionen führen dürften. Sogar die Perspective neuer Religionskriege eröffnet sich damit.

War also wegen der kirchlichen Spaltung kein deutscher Einheitsstaat möglich, so auch kein neues Kaiserthum. Durch die Reichsgeschichte selbst war das schon im voraus bewiesen. Oder man müßte sonst ganz vergessen haben, wie das ehemalige katholische Kaiserthum eben durch die Kirchenspaltung zu Grunde ging, weil die ideale Bedeutung, die es einst für die Nation gehabt, so lange noch die Glaubensgemeinschaft bestand, nach der Reformation unvermeidlich verschwand. Zwar mochte das Kaiserthum noch Jahrhunderte lang fortbestehen, denn eine so tief gewurzelte Institution konnte nicht mit einem Schlage fallen, aber sein Fortbestehen war doch nur ein fortwährendes Absterben. Und jetzt sollte statt dessen ein neues protestantisches Kaiserthum entstehen! Woher käme ihm wohl die Lebenskraft? Muß es nicht dem katholischen Theil von vornherein so antipathisch sein, wie es das alte katholische Kaiserthum hinterher für den protestantischen Theil wurde? Eine ideale Bedeutung hat es ja überhaupt nicht, selbst nicht für das protestantische Deutschland. Und was bedeutet es sonst wohl? Man braucht nur das (heute in jedem Kunstladen zu findende) Bild zu betrachten, welches die Proclamation des neuen Kaiserthums in Versailles darstellt, und das Wesen dieser neuen Schöpfung tritt in wünschenswerthester Klarheit hervor. Eine Gesellschaft in blitzenden Uniformen sieht man da, vor welcher einige Herren in schwarzem Frack eine gar demüthige Rolle spielen, das Ganze so prosaisch als unvolksthümlich, – die Inauguration des Militarismus ließe sich nicht drastischer versinnbildlichen. Wie ganz anders muß es doch ausgesehen haben, als einst

»Herr Heinrich saß am Vogelherd«,

und da die deutschen Fürsten kamen, um ihm die deutsche Krone zu überreichen!

In solcher Gestalt trat also das neue Kaiserthum in die Welt. Ruhte es wesentlich auf dem Preußenthum, welches darin seine eigene Erhebung erblickte, so mußte auch der dem Preußenthum schon an und für sich beiwohnende herrische Geist dadurch um so mehr hervortreten, als die neue Schöpfung selbst nur ein Product militärischer Siege war. Hatte dieser Geist sich Deutschland unterworfen, – was blieb ihm noch übrig als die Kirche zu unterwerfen? Kampf war einmal sein Lebensprincip, und so ging es in den Culturkampf.

Man meine nicht: es sei das nur durch diese oder jene Maßregel veranlaßt, und hätte wohl auch vermieden werden können. Nein, es folgte aus der durch 66 geschaffenen Situation. Die Macht, die eben nur Macht ist, kann neben sich keinerlei selbständige Existenz dulden. Der große Napoleon hatte das auch nicht über sich zu gewinnen vermocht, es riß ihn fort, alle seine sonstige Klugheit verließ ihn dabei. Daß sich aber der Kampf in erster Linie gegen die katholische Kirche richten mußte, folgt aus der protestantischen Basis der neuen Reichsgewalt, welche für dieselbe eine ganz andere Bedeutung erhielt, als sie vordem für den preußischen Staat gehabt. Für diesen war es ja ganz in der Ordnung, sich seines protestantischen Charakters zu rühmen, denn der Vorkämpfer des Protestantismus zu sein, gehörte wesentlich mit zu der Stellung des preußischen Staates, im ehemaligen Reiche wie später im deutschen Bunde. Dafür stand neben dem protestantischen Preußen das katholische Oesterreich. Von einer aggressiven Richtung gegen die katholische Kirche konnte da gar nicht die Rede sein, und war auch vordem nichts Derartiges geschehen. Am allerwenigsten in der letztvergangenen Zeit, wo vielmehr zwischen der preußischen Regierung und der katholischen Kirche ein sehr friedliches Verhältniß bestand. Wie sehr hat sich aber die Situation verändert, seitdem das Gegengewicht einer katholischen Macht verschwunden ist, und das Preußenthum das ganze neue Deutschland beherrscht! Da wollte es seinen protestantischen Charakter auch in dem neuen Reiche zur Geltung bringen. Es gerieth in diese Richtung um so unvermeidlicher, als der preußische Protestantismus, wie wir früher bemerkten, sehr wesentlich einen politischen Zug angenommen hat, und aus einem religiösen Princip mehr zu einem bloßen Culturprincip geworden ist. So war der Culturkampf wie von selbst gegeben.

Natürlich wird man dabei Bundesgenossen zu haben wünschen. Denn die große katholische Kirche heraus zu fordern bleibt immer eine gefährliche Sache, zumal für ein Land wie das neue Deutschland, welches, ganz abgesehen von seiner eignen sehr beträchtlichen katholischen Bevölkerung, nach drei Seiten hin katholische Völker zu Nachbaren hat. Nur von Rußland dürfte da ein wirksamer Beistand zu erwarten sein, weil eben Rußland auf seinem ehemals polnischen Gebiete sich selbst im Kampf mit dem Katholicismus befindet. Und wahrlich, der Kampf wird dort auf gut russisch geführt, das ist weltkundig! Welch eine Bundesgenossenschaft ist das also, und welch ein Licht fällt dadurch auf unsren Kulturkampf, daß er solche Bundesgenossenschaft nothwendig machte! Ja, am Ende ist sein Resultat wohl selbst die Beförderung des Russenthums, so gewiß als Preußen dadurch nur um so fester an Rußland gekettet wird, und je mehr die Unterdrückung des polnischen Katholicismus gelingen sollte, dann Rußland dadurch nur um so mächtiger, und folglich für Deutschland um so gefährlicher werden würde.

Hier zeigt sich handgreiflich, wohin die blos negative Richtung des Protestantismus, von der wir früher sprachen, führt, und wie dadurch das Gefühl einer abendländischen Völkergemeinschaft gänzlich ertödtet wird. Bestände noch ein Rest von solchem Gefühl, so würde man ja die Russificirung Polens nur tief beklagen können, und vielmehr die Erhaltung des polnischen Katholicismus wünschen müssen, als des bei weitem wichtigsten Bandes, wodurch dieses slawische Land dem abendländischen Europa verbunden ist. Statt dessen gilt es für einen Fortschritt der Civilisation, wenn sich die Herrschaft der Barbarei ausbreitet. Und was ist denn eigentlich die bismarcksche Kirchenpolitik, wenn nicht mutatis mutandis doch nur eine Nachahmung dessen, was von Seiten Rußlands gegen den Katholicismus geschieht? Oder wäre etwa die russische Kirchenpolitik selbst vielmehr als eine Übersetzung aus dem Bismarckschen anzusehen? Jedenfalls ist die eine der andren werth, gleichviel welcher von beiden die Originalität zukäme.

Um nun für diesen famosen Culturkampf eine rechtliche Grundlage zu gewinnen, brauchte man freilich nur auf das preußische Landrecht zurückzugreifen, worin die Omnipotenz der Staatsgewalt schon klar genug ausgesprochen war. Die Kirche als eine Institution, welche auf einem von dem Staate ganz unabhängigen Grunde ruht, und ihr Rechtsprincip in sich selbst trägt, existirt für dieses Gesetzbuch gar nicht. Es kennt die Kirche nur als eine innerhalb des Staates bestehende Gesellschaft, zwar mit vielen Privilegien ausgestattet, aber von jeder anderen unter der Autorität des Staates stehenden Gesellschaft nicht wesentlich verschieden. Was ließe sich nicht aus solchen Grundsätzen ableiten, wenn man sie rücksichtslos geltend machen wollte? Und das geschah nun eben durch die neuen Kirchengesetze. Man wird nicht bestreiten können: sie entsprechen dem Geiste des specifischen Preußenthums, dessen Hintergedanke überall die Omnipotenz des Staates ist. Aber das ist auch eben die Sache, daß das siegestrunkene Preußenthum jetzt seine ganze Schroffheit herauskehrt. Vergebens würde man dagegen mit Gründen ankämpfen. Die preußische Intelligenz ist taub dafür geworden. Erst die thatsächlichen Folgen werden sie über die Unzulänglichkeit der landrechtlichen Weisheit belehren, und ihr zeigen: was die Kirche wirklich ist.

Wir sagen schlechtweg die Kirche. Denn so sehr es die katholische Kirche ist, welche einstweilen im Vordergrund des Kampfes steht, – die evangelische Kirche ist dabei nicht minder betroffen, und daher auch von dieser Seite die Opposition herausgefordert. Hatte diese Kirche bisher in innigster Verbindung mit der preußischen Staatsgewalt gestanden, so werden dann hinterher auch um so tiefergreifende Folgen daraus entspringen, wenn es einmal zu einem Schisma käme. Zwar von der altpreußischen Landeskirche wird das nicht ausgehen, die kann sich zu solchem Selbstgefühl gegenüber der Staatsgewalt schon nicht mehr aufraffen, wenn auch selbst da der Widerspruch gegen das herrschende System neuerdings etwas lebhafter zu werden scheint. Ob er über bloße Velleitäten hinausgehen wird, muß sich erst noch zeigen. Inzwischen ist aber dafür gesorgt, daß jedenfalls von anders woher kräftigere Impulse kommen werden. Denn Preußen hat annectirt, und in den annectirten Ländern herrscht weit überwiegend das Lutherthum, welches auf die preußische Union nicht eingehen will, deren Beförderung doch zur preußischen Staatsmaxime geworden ist. Methode liegt darin: eine deutsch-evangelische Reichskirche mit » preußischer Spitze« wäre wirklich das passendste Seitenstück zu dem neuen Kaiserthum. Aber dagegen regt sich auch das Lutherthum, wo es noch Kraft besitzt.

In Kurhessen hat es sich rundweg von dem neuen preußischen Kirchenregiment losgesagt. Diese Bewegung wird nicht in ihrem heutigen engen Kreise beschlossen bleiben, sie wird nicht nur nach Hannover hinüberschlagen, sondern zuletzt auch die altpreußische Landeskirche selbst aus ihrer Lethargie aufrütteln. Großes Aufsehen macht die Sache schon überall, und wie sehr die Regierung bemüht ist, die Bewegung wieder zu ersticken, liegt auch schon vor. Natürlich gelten ihr die jetzt sogenannten lutherischen RenitentenProtestanten im eigentlichsten Sinne wären sie vielmehr zu nennen – als Staatsfeinde und Reichsfeinde zugleich. Als » Schwarzwild« haben sie die berliner Culturkämpfer bezeichnet, worauf man ebenso Jagd machen müsse, wie auf die renitenten katholischen Bischöfe und Priester. Beiläufig bemerkt, zugleich ein Specimen der cynischen Auffassungs- und Ausdrucksweise, welche in den Kreisen dieser Culturkämpfer herrscht, wie überhaupt des durch den Reptilienfond beförderten Geistes.

Man rüstet sich auch mit allen Kräften dazu, warten wir aber ab, ob die Jagd sich hier ersprießlicher erweisen, oder ob sich nicht abermals das Wort Gamaliels erfüllen wird. Schon nach ihrem hessischen Stammcharakter sind diese lutherischen Renitenten harte Köpfe, und sich auf den Boden des Evangeliums stellend, lassen sie sich eben so wenig von der preußischen Intelligenz imponiren, als von der preußischen Macht. Leicht könnte dadurch ein Brand entstehen, der hinterher das ganze hölzerne Gerüst des preußischen Staatskirchenthums ergriffe, und den selbst die preußische Intelligenz nicht wieder zu löschen vermöchte. So wären es dann die blinden Hessen gewesen, welche dieser Intelligenz das Licht angezündet hätten, wodurch sie endlich zur Erkenntniß käme, daß es doch noch etwas gibt, was eben so über den königlich preußischen Staatszweck, wie sogar über den kaiserlich deutschen Reichszweck, noch weit hinausreicht.


XIII.

Nicht minder zeigt sich die innere Unzulänglichkeit des Preußenthums an den socialen Fragen der Gegenwart. Sie machen ihm auch schon Noth genug, und das begreift sich. Denn die socialistischen Tendenzen stehen im principiellen Gegensatz zu den Tendenzen des Preußenthums, und je mehr das Preußenthum sich aufthut, um so mehr verschärft sich dieser Gegensatz, wodurch dann folglich auch der Socialismus selbst nur um so mehr herausgefordert wird. Die Thatsachen reden: der Aufschwung des Socialismus in Deutschland datirt von 66.

Worum es sich hier handelt, das ist im letzten Grunde der Gegensatz zwischen Staatszweck und Gesellschaftszweck. Von der heutigen überschwenglichen Verehrung des Staates ist eben der Socialismus so fern, daß er vielmehr den Staat ganz in die Gesellschaft auflösen, und dadurch als solchen überhaupt beseitigen möchte. Am unumwundensten erklärte dies zu seiner Zeit Proudhon, indem er seinen Standpunkt ausdrücklich als Anarchismus bezeichnete, was nicht etwa hieß: daß keine Gesetze mehr bestehen sollten, sondern nur keine Regierung, noch weniger eine Obrigkeit in christlichem Sinne. Auch war das ganz folgerichtig, denn Regierung, und noch mehr Obrigkeit, ist ein staatlicher kein gesellschaftlicher Begriff. Eine Gesellschaft, sagte der Communist Weitling, hat keine Regierung sondern nur eine Verwaltung. Insoweit also der Staat dabei noch fortbestände, wäre er nichts weiter als der bevollmächtigte Geschäftsführer der Gesellschaft, die man principaliter als ökonomische Gesellschaft, specieller noch als industrielle Gesellschaft auffaßte. Den Staat als industrielle Gesellschaft zu organisiren, wäre dann eben die practische Aufgabe, wie schon St. Simon lehrte, und was seitdem der socialistische Grundgedanke geblieben ist. Und dahin gehen die heutigen Tendenzen des Socialismus: daß die arbeitenden Klassen sich der Staatsgewalt bemächtigen sollen, um dann durch die Staatsmaschinerie selbst seine Projecte zur Ausführung zu bringen.

Den Socialismus staatsgefährlich zu nennen, ist fast nur eine Tautologie, denn principiell negirt er ja den Staat, indem er ihn zu einer bloßen Gesellschaft machen will. Daher rührt auch sein Name, während hingegen die wesentlich auf den Staat gerichtete Denkweise, welche in den letzten Jahrhunderten zur Herrschaft kam, als Politismus zu bezeichnen wäre. Es ist das insbesondere auch noch der Standpunkt der reinen Demokratie, die immer nur den Staatsbürger, den citoyen, im Munde führt, statt dessen die Socialisten vielmehr von Arbeitern sprechen, indem sie zumeist die ökonomische Production und Consumtion im Auge haben. Mit dem Vorwurf der Staatsgefährlichkeit ist dann so viel als nichts gesagt. Die Socialisten brauchten nur einfach zu erwidern: daß dafür der Staat als gesellschaftsgefährlich und kurzweg als ein gemeinschädliches Institut zu betrachten sei. Auch für den eigentlichen Liberalismus, wie er insbesondere durch die Manchesterschule zum Ausdruck kam, gilt ja der Staat nur als ein unvermeidliches Uebel. Warum aber unvermeidlich? Und was wäre also daran gelegen, daß der Staat verschwände, wenn infolge dessen die Gesellschaft sich um so wohler fühlte?

Wie chimärisch solche Ansicht ist, darüber bedarf es auf unsrem Standpunkte keiner Worte. Der Staat bleibt immer unentbehrlich, und mehr als das: er beruht auf einer sittlichen Nothwendigkeit. Allein dem einseitigen Politismus gegenüber hat auch der Socialismus sein Recht. War man seit Jahrhunderten in die Richtung gehen, travon [Der Satz steht so im Buch. Re] der gesellschaftlichen Lage und ökonomischen Existenz der Menschen immer mehr abzusehen, nur Machtzwecke erstrebend oder mit formalen Verfassungsentwürfen beschäftigt, so erscheint jetzt der Socialismus als die ganz natürliche Reaction dagegen. Und begreiflich genug, daß diese Reaction von den arbeitenden Classen ausgeht, auf welchen die Folgen jener Einseitigkeit am schwersten lasten.

Nun haben wir schon gesehen, wie es gerade Preußen war, wo mehr als anderswo alles dem Staatsinteresse dienen mußte. Unter diesem Gesichtspunkt war das preußische Behördensystem organisirt. Es sollte principaliter das Volk im Gehorsam erhalten, und demnächst das ganze Volksleben für den Staat nutzbar machen. Daher die immer vollen Staatskassen, indessen das Volk sich nur eines sehr mäßigen Wohlstandes erfreute. Es war eben ein Ausbeutungssystem für den Staat. Daß man dabei mit großem Geschick verfuhr und eben so große Erfolge erzielte, konnte nicht verhindern, daß schließlich in dem Volke das Bewußtsein darüber erwachte, wie wenig ihm doch das Staatswesen zu gute käme, welches ihm so große Lasten auferlegte. Was hatten denn die arbeitenden Classen in Preußen davon, wenn der Staat neue Provinzen erwarb, und was halfen ihm die Siege, wofür sie ihre Knochen einsetzen mußten? Wie soll man gar in den widerwillig annectirten Ländern darüber denken?

Je mehr jetzt also der Nationalliberalismus die ganze Nation mit Ruhmesgedanken zu erfüllen und für Machtzwecke zu begeistern sucht, um so mehr erwacht bei den Arbeitern statt dessen das Classeninteresse, wonach sich das ganze europäische Proletariat, wie durch gemeinsame Leiden, so auch zu gemeinsamen Bestrebungen verbunden fühlt. Werden auf der einen Seite Siegesdenkmale errichtet und die großen Schlachttage gefeiert, so feiern hingegen die Socialisten die Gründung der Commune, welche in Paris die Vendomesäule zertrümmerte. Schneidender und augenfälliger könnte der Gegensatz nicht hervortreten! Es ist, wie wenn zwei grundverschiedene Rassen neben einander wohnten, deren Denken und Fühlen nichts Gemeinsames mehr hätte. Was liegt aber am Ende darunter verborgen, wenn nicht der Gegensatz zwischen Staats- und Gesellschaftszweck? Und wer wird bestreiten können, daß der letztere in vieler Hinsicht der wichtigere ist? Wie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht an die Staatsgrenzen gebunden sind, sondern weit darüber hinausreichen, so greifen sie andrerseits viel tiefer in die persönlichen Zustande ein, als die Einrichtungen des Staates. Es sind dies offenbar zwei verschiedene Lebensgebiete, aber doch untrennbar verbunden. Das Schlimme ist eben, daß es statt dessen zu solchem Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft kam.

Das Preußenthum scheint wenig geeignet, diesen Gegensatz wieder auszugleichen, so sehr auch die Kathedersocialisten ihm dies jetzt als seinen neuen Beruf empfehlen möchten, nachdem es doch seinen deutschen Beruf bereits erfüllt hätte. Es dürfte ihm mit dem socialen Beruf noch weniger gelingen, als es mit dem deutschen gelang, es liegen darüber schon Proben vor. Insbesondere durch das Auftreten Lassalle's, der ja selbst die preußische Regierung für seine Pläne zu gewinnen dachte, wie auch allbekannt ist, daß er dabei in Verbindung mit Hrn. v. Bismarck stand. Worauf liefen aber die bismarckschen Sympathien für den Socialismus hinaus? Sie sollten lediglich als ein Schreckschuß für die Bourgeoisie dienen, als den eigentlichen Träger der Opposition in dem damaligen Verfassungsconflict. Also Ausnutzung der Arbeiterbewegungen für gouvernementale Interessen – das war des Pudels Kern. Ganz ähnlich, wie einige Jahre darauf das allgemeine Stimmrecht proclamirt wurde, nicht etwa um der Volksfreiheit willen, sondern weil es momentan vortheilhaft erschien, indem es selbst als ein politischer Schachzug diente. Und ist nicht überhaupt das bismarcksche System das potenzirte Machtsystem, nach welchem vor den Machtinteressen alle andren Interessen in den Hintergrund treten?

Sollte von Preußen eine neue sociale Organisation ausgehen, so müßte erst eine tiefgreifende Veränderung in dem ganzen Wesen dieses Staates stattfinden, und damit hat es noch gute Wege. Nur eine große Noth könnte vielleicht dahin führen. Einstweilen zeigen die preußischen Volkszustände selbst, worauf der Sinn des Preußenthumes in erster Linie gerichtet ist. Oder sind etwa die socialen Verhältnisse in Preußen besser als im übrigen Deutschland? Das ist leider nicht der Fall, und zwar am wenigsten in der östlichen Hälfte der Monarchie, wo das specifische Preußenthum seine eigentlichen Wurzeln hat. Da ist der Contrast zwischen Reich und Arm viel größer, und leben dort – von einigen großen Städten abgesehen – die unteren Volksklassen entschieden viel dürftiger, als namentlich im südlichen Deutschland. In Oberschlesien kam es sogar zu einem epidemischen Hungertyphus, und in Ostpreußen wiederholte sich Aehnliches. Warum hatte doch die preußische Intelligenz solchen Calamitäten nicht vorzubeugen gewußt?

So wird auch Niemand behaupten wollen, daß etwa in Preußen reinere Sitten und tiefere Religiosität herrschten, als im außerpreußischen Deutschland, sondern gerade wieder in dem alten östlichen Preußen dürfte weit eher das Gegentheil stattfinden. Das aber muß man zugeben, daß die Preußen im Durchschnitt mehr Spannkraft und äußere Haltung zeigen, als namentlich die Süddeutschen, bei denen so zu sagen alles viel pomadiger hergeht, – der Gegensatz zu der preußischen Strammheit, die offenbar mit dem militärischen Drillsystem zusammenhängt. Wirklich überlegen erweist das Preußenthum sich nur in alle dem, was sich auf die formale Staatsverwaltung bezieht, oder dadurch bedingt ist. Zwar an und für sich wichtig genug, allein wie wenig thut das doch zur socialen Organisation? Nach dieser Seite ist vielmehr in Preußen das Reformbedürfniß nur um so dringender, wie auch die Gefahr dort am größten wäre, wenn es einmal zu einem socialistischen Gewaltausbruch kommen sollte. Die militärische Gewöhnung des Volkes, weit entfernt das zu hindern, könnte dann gerade den Socialistenchefs selbst zur wirksamsten Handhabe dienen. Wer weiß, was im Schooße der Zukunft ruht, und ob nicht dereinst Berlin sich als der rechte Krater der socialen Revolution aufthun wird.

Jedenfalls ist durch das Werk von 66 die Eventualität einer socialen Revolution uns plötzlich viel näher gerückt. Durfte damals, um politischer Zwecke willen, das geschichtliche Recht wie nichts beiseite geschoben werden, – ei, warum nicht weit eher noch um socialer Zwecke willen, und was ist denn jedes concrete Eigenthum, wenn nicht selbst ein geschichtliches Product? Seitdem führt man gegen die socialistischen Umsturzprojecte nur noch ein gebrochenes Schwert. Um so nothwendiger wäre es, der Revolution durch die Reform vorzubeugen. Was ist aber in dieser Hinsicht zu hoffen, da gerade durch 66 eine Situation geschaffen wurde, die mehr als je alle Kräfte für den Staat in Anspruch nimmt, und alle Gedanken auf Machtzwecke richtet? Und nun daneben das allgemeine Stimmrecht! – in welchem Sinne sollen das wohl die arbeitenden Klassen ausüben? Wahrscheinlich doch weit eher in ihrem socialen Klasseninteresse, als im Interesse der Staatsmacht. Da liegt der innere Widerspruch offen vor, und es muß sich erst zeigen, wie man darüber hinwegkommen wird.


XIV.

So sieht sich nun das Preußenthum durch seine eigenen Unternehmungen vor Aufgaben gestellt, denen es nicht gewachsen ist, und woran es unvermeidlich scheitern muß. Aber auch in sich selbst hat es sich dabei zu Grunde gerichtet, und indem es den Gipfel der Macht erstiegen zu haben wähnt, vielmehr seine eigene Existenz untergraben.

Es ist dem Preußenthum wirklich gelungen, alles seinem Staatsinteresse zu unterwerfen: die öffentliche Meinung, wie die repräsentativen Körperschaften und selbst die Gerichte; nicht minder die Institute des geistigen Lebens, die evangelische Landeskirche und das Schulwesen; Wissenschaft und Literatur folgen demselben Zuge, – dem Triumphzuge des Preußenthums. Eine unwiderstehliche Macht mußte daraus entstehen, aber diese Macht ist der inneren Fäulniß verfallen. Denn was das Salz für den animalischen Körper, das sind Recht und Wahrheit für den Organismus des öffentlichen Lebens, und dieses Salz ist dumm geworden, wo für Recht und Wahr gilt, was der Staatsraison entspricht. Die Wolken des Staatsinteresses lassen die Sonnenstrahlen der Religion, die in das öffentliche Leben hineinscheinen sollten, nur noch gebrochen hindurch, sie können die in dem politischen Calcul erkalteten Gemüther nicht mehr erwärmen. Muß nicht die Selbstsucht des Staates hinterher auch die einzelnen Menschen ergreifen? Und was schützt nun die Macht vor ihren eigenen Excessen, nachdem die moralischen Zügel schlaff und morsch geworden? So bliebe nur noch die Intelligenz. Doch auch die geht demselben Bankrott entgegen. Wie kann sie die Macht leiten oder warnen, wenn sie von daher selbst ihre Direction empfängt? Unabhängige Geister gehörten dazu, aber sie fehlen, denn eben die Unabhängigkeit der Geister ist geknickt. Und wenn es noch deren gäbe, so sind sie von der Macht im voraus geächtet. Wer nicht » Hurrah!« schreit, ist ein Staats- und Reichsfeind, und was bedarf es da noch weiteren Zeugnisses? Er hat den Erfolg gelästert, man höre ihn nicht, man steinige ihn!

Dahin ist es mit der preußischen Intelligenz gekommen. Und es mußte wohl dahin kommen, weil die Macht an und für sich blind ist. Wie sie sich nur durch ihre Erfolge bewährt, sind das auch ihre einzigen Argumente. Was aus den Erfolgen selbst wieder folgen möchte, kümmert sie nicht. Die Folgen treten aber um deswillen nicht minder ein. Hier zeigen sie sich zunächst in der allgemeinen Abstumpfung der Geister.

Wäre nicht im Rausch der Erfolge alle Besinnung untergegangen, so bedürfte es wahrlich keiner tiefen Weisheit, man brauchte sich nur an die Erfahrungen der letzten Menschenalter zu halten, und man würde sich der Erwägung nicht verschließen: daß eine in sich selbst so widerspruchsvolle, aller geschichtlichen und moralischen Grundlagen entbehrende Schöpfung, wie es das neue Reich ist, auf keinen dauernden Bestand rechnen darf. Schon die Schicksale der ehmaligen Schöpfungen des großen Napoleon könnten darüber belehren. Denn ob der Mann nicht Erfolge gehabt hatte! Die bismarckschen wären klein dagegen. Nur konnte er doch nicht verhindern, daß sie hinterher ins Gegentheil umschlugen. Was garantirt also die dermaligen Erfolge? Daß sie einstweilen als Thatsachen vorliegen, bestreitet Niemand, die Frage ist lediglich auf ihre Dauerhaftigkeit d. h. auf die Zukunft gerichtet. Und ist wohl ein beschränkterer Standpunkt denkbar, als sich auf den augenblicklichen Erfolg zu steifen? Solche Eintagspolitik wird also erst abwarten wollen, bis die Katastrophe hereinbricht und sich damit selbst als ein Erfolg präsentirt, nur freilich als ein Gegenerfolg, erst dann wird sie daran glauben. So steht es mit dem Pochen auf die Erfolge. Und was helfen ferner die äußeren Stützen, wodurch man die neuen Schöpfungen befestigen will? Wo der Fehler vielmehr in der Grundlage liegt, werden alle neuen Strebepfeiler nur bewirken können, daß das Gebäude hinterher mit um so zerschmetternder Gewalt zusammenbricht. Und wer wird dann von solchem Zusammenbruch mehr betroffen werden als gerade der preußische Staat, der sich mit dem neuen Reiche indentificirte?

Wäre es auch, daß dieses neue Reich sich noch geraume Zeit behauptete, – für den preußischen Staat stände es dadurch um nichts besser. Er würde sich inzwischen nur um so mehr damit amalgamiren, indem eine Competenz nach der andren auf das Reich überginge, und wenn dann über dieses die Katastrophe käme, würde er in sich selbst schon so gebrochen sein, daß um so weniger von ihm zu retten wäre. Angenommen aber, – was nach aller menschlichen Voraussicht unmöglich ist, – daß das neue Reich sich förmlich consolidirte, so bedeutet das nichts Geringeres als den Untergang des preußischen Staates, weil er dann in das neue Reich aufgegangen sein müßte, und darin nur noch als Material existirte. Das wäre es also, wohin der deutsche Beruf geführt hätte, den sich die preußische Eitelkeit und Machtsucht einreden ließ, in der Meinung, Preußen, dadurch groß zu machen! Klein aber wird es hinterher werden, ja seine ganze Existenz in Gefahr gebracht haben.

Wollte Preußen eine große europäische Stellung gewinnen, ohne daß dabei das preußische Staatswesen in seinen eigenen Grundlagen erschüttert würde, so hätten dazu ganz andere Wege eingeschlagen werden müssen. Von einem eigentümlichen deutschen Berufe, der (Gott weiß: wann, wie und wodurch?) dem preußischen Staate eingepflanzt sein sollte, konnte dann gar nicht die Rede sein. Der preußische Staat war in Deutschland nur ein Glied, wie die anderen Bundesstaaten auch, die alle einen deutschen Beruf hatten, jeder nach dem Maßstab seiner Kräfte, sonst aber in nichts verschieden. Sollte er hingegen wirklich einen ihm eigentümlichen Beruf haben, so konnte dies eben kein deutscher Beruf sein, sondern ein über Deutschland hinausreichender Beruf hätte es sein müssen. Dafür scheint jedenfalls die Logik zu sprechen, oder es müßte wohl für die preußische Intelligenz eine ganz aparte Logik bestehen, welche seit Aristoteles unbekannt und erst durch Leute auf die Bahn gebracht war, die nur gothaer Wurst im Gehirnkasten hatten. Dies also anerkannt, war damit auch schon die Richtung gegeben, wohin solcher über Deutschland hinausreichende Beruf deutete.

Mit einem Worte: man hätte auf eine Verbindung mit Polen ausgehen müssen, und so hätte dann ein preußisches Kaiserthum entstehen mögen, wobei Polen in einem ähnlichen Verhältniß zu Preußen stände, als seit lange zwischen Ungarn und Oesterreich bestand. Man denke über diese Sache nach, sie dürfte des Nachdenkens werth sein!

Denn ein Werk von europäischer Bedeutung wäre damit geschaffen, von so weitreichenden und dauernden Folgen, daß der ephemere Glanz der Kaiserschaft in dem neuen deutschen Reiche in nichts dagegen verschwindet. In demselben Maße, als dieses deutsche Kaiserreich das Kriegssystem beförderte, würde das preußisch-polnische Kaiserreich dem Friedenssystem zur Stütze dienen. Es wäre im eminenten Sinne ein föderatives Unternehmen, ja der thatsächliche Anfang zur Herstellung einer abendländischen Völkergemeinschaft, und überhaupt die wichtigste Verbesserung des europäischen Systems, die man zur Zeit wünschen könnte. Für Deutschland würden die wohltätigsten Rückwirkungen daraus entspringen. Und wie würden dann die östlichen preußischen Küstenprovinzen aufblühen, wie nicht minder Schlesien, wo man die gegenwärtigen Grenzverhältnisse überall so schwer empfindet! Sogar Berlin dürfte sich dabei besser stehen, als bei seinen: heutigen Sichaufblähen zur Hauptstadt von Deutschland, was es doch in Wahrheit nie werden kann. Schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil ein wahres Deutschland überhaupt keine Hauptstadt zuläßt. Dazu hingegen ist Berlin allerdings geeignet: einen Stützpunkt der Culturentwicklung für das ganze nordöstliche Europa zu bilden. Und hat denn nicht die Mark Brandenburg schon von Anfang an eine Beziehung zu dem slawischen Osten gehabt? Noch mehr das preußische Ordensland, dessen Geschichte durchweg mit der polnischen und lithauischen verflochten war. Schlesien war geradezu ein polnisches Land gewesen, Pommern bis zur Weichsel hatte vor der deutschen Herrschaft unter polnischer Oberherrschaft gestanden. Hier wäre also nicht im Geringsten von einer erkünstelten willkürlichen Schöpfung zu reden, sondern von einer Schöpfung, die ebenso den geographischen und geschichtlichen Bedingungen entspräche, als den actuellen Interessen der Gegenwart und den Forderungen der Zukunft. Und weit entfernt, daß etwa der protestantische Character des preußischen Staates dabei ein Hinderniß bilden würde, läge vielmehr darin für das katholische Polen die sicherste Garantie seiner Nationalität, weil eben dadurch jeder Gedanke an eine Unification, oder an ein Herabdrücken Polens zu einer preußischen Provinz, von vornherein ausgeschlossen wäre.

Hätte man in Preußen für diese Verhältnisse Sinn und Verständniß gehabt, so hätte es freilich nie ein 66 geben können. Die ganze preußische Politik würde längst eine viel andere Richtung genommen haben, als sie leider wirklich nahm. Das war eben die Folge der flachen Geschichtsauffassung, und überhaupt der ungeschichtlichen Denkweise, von der wir früher sprachen, wonach die ursprüngliche Bildungsgeschichte der preußischen Länder und damit alle tieferen Beziehungen derselben ignorirt wurden, indessen man das Wesen des preußischen Staates nur in den seit dem großen Kurfürsten entstandenen Verhältnissen erblickte. Dennoch bedurfte es erst noch einer systematischen Geschichtsverdrehung, wodurch sich insbesondere Droysen unsterblich gemacht, um für den deutschen Beruf, der angeblich der Mark Brandenburg eingepflanzt sein soll, die theoretische Unterlage zu gewinnen. Es gereicht der preußischen Intelligenz sehr wenig zum Ruhme, auf derartige Sophistereien eingegangen zu sein. Und nicht nur, daß dadurch Unheil über ganz Deutschland kam, sondern Preußen selbst hat sich dadurch am allermeisten geschadet, indem es nun um des ihm angedichteten Berufes willen seinen wahren Beruf verfehlte. In einer anonym erschienenen Flugschrift » Polen, Preußen und Deutschland, ein Beitrag zur Reorganisation Europas« hatte ich diesen Gedanken schon im Frühjahr 48 ausgesprochen, während ich hingegen das damals schon geplante neue deutsche Kaiserthum als ein ganz verfehltes Project erklärte, und worauf ich dann später noch wiederholt zurückgekommen bin. Die Zeit dürfte nicht mehr fern sein, wo auch anderen Leuten die Augen darüber aufgehen werden, was bei dem neuen deutschen Kaiserthum herauskam, und zwar für Deutschland wie für Preußen.


XV.

Concentrirte das preußische Staatswesen sich in dem Königthum, so treten auch die Folgen der neuen Schöpfungen am verhängnißvollsten in der veränderten Stellung hervor, welche dasselbe seitdem erhielt. Zwar sein Machtgebiet ist dadurch erweitert, seine Machtmittel haben sich vermehrt, an innerer Dignität aber hat es vielmehr verloren. Denn was ist das neue Kaiserthum, wenn nicht principaliter ein bloßes Heermeisterthum, während das preußische Königsthum, trotz seiner sehr militairischen Erscheinung, doch immer im wesentlichen ein Königthum war wie andere, und als solches auch zu dem geistigen Leben der Staatsbevölkerung in Beziehung stand. Für das Kaiserthum existirt das gar nicht, es ist bloß Träger der Machtentwicklung. Und wohin soll das nun führen, wenn doch gleichwohl das Kaiserthum als das Höhere über dem preußischen Königthum gilt? Das muß dann wohl selbst in diese niedere Sphäre hinabgezogen werden.

Damit noch nicht genug, wird sogar die kaiserliche Befugniß tatsächlich illusorisch. Die unbestrittene Herrschaft auf dem ganzen militairischen Gebiete, die eine so ungeheuere Macht darstellt, darf darüber nicht täuschen, weil die vornehmste Wirksamkeit dieser Macht doch nur darin besteht, daß sie politischen Zwecken dient. Für die Politik ist sie nur ein Werkzeug. Wer leitet aber die Politik? Es ist der Kanzler, und es kann unter den obwaltenden Umständen kaum anders sein. Die Einheit der diplomatischen und militairischen Action, die, wie wir wissen, die Grundforderung war, wovon die Schöpfungen von 66 ausgingen, und worauf seitdem auch wirklich alles hinzielt, ist also durch das Kanzlerat realisirt, welches thatsächlich die Reichsregierung bildet, Man wäre versucht, es mit dem Großvezierat zu vergleichen, welches von Alters her in den orientalischen Reichen besteht, nur daß bei uns das Institut der seidnen Schnur fehlen würde, welches dort als Correctiv dient. Es ist ja das unvermeidliche Schicksal aller Verfassungen, daß sie im Laufe der Zeit entarten, was soll man aber sagen, wenn eine neue Verfassung von vornherein als Carricatur in die Welt tritt? Denn anders ist es wohl nicht zu nennen, wenn das Kaiserreich thatsächlich weit eher ein Kanzlerreich bildet. Ist nun ferner die Reichsregierung implicite zugleich die preußische Regierung, – was bleibt da noch von dem preußischen Königthum?

Im Munde Ludwigs XIV. hatte das » l'état c'est moi« doch immer einige Wahrheit. Der große Friedrich hätte auch so sprechen können. Und überhaupt für jede Erbmonarchie hätte es den Sinn, daß in dem Herrscher und seinem Hause die Persönlichkeit des Staates zur Erscheinung kommt. Was aber könnte diese Phrase im Munde eines Ministers oder Kanzlers bedeuten? Oder – wenn sie etwas bedeutete, so wäre es eine schneidende Ironie auf, das Wesen der Monarchie. Wie es aber in diesem Punkte wirklich steht, ist für die politischen Kreise in ganz Europa durch La Marmora urkundlich constatirt. Gleichviel, ob man auch so thun möchte, als ob es nicht so wäre, es ist so.

In seinem tiefsten Lebensprincip wird dadurch das preußische Staatswesen angegriffen, wenn sein Schwerpunkt aus dem Königthum in das Kanzlerat übergeht. Denaturirt und deteriorirt wird es dadurch. Ist das Preußenthum an und für sich ein einseitiges Wesen, so treten dann seine Härten und Schroffheiten um so greller hervor. Seine besseren Eigenschaften verschwinden mit dem temperirenden Einfluß des Königthums, in welchem doch immer etwas Ideales liegt. Wenigstens für die Meinung der Menschen, – woher käme ihm sonst die moralische Macht? Das Kanzlerat hingegen ist ein rein realistisches Institut, nichts darin, was auf die Gemüther zu wirken oder etwa die Phantasie zu ergreifen vermöchte. Man kann sich für das Königthum begeistern, und wohl zu allen Zeiten hat es begeisterte Royalisten gegeben, das Geschlecht müßte aber erst geboren werden, welches sich für das Kanzlerat begeistern könnte.

Immer wird ein Minister – oder was auch sein Titel wäre – wesentlich anders auftreten als ein erblicher Monarch, der auf einer überkommenen Machtbasis steht, und dessen Macht schon überall eine gar nicht mehr in Frage kommende Voraussetzung ist. Nach seiner eigenen Stellung sich an das geschichtliche Recht anschließend, wird ein solcher Monarch weit eher zu ausgleichenden als zu gewaltsamen Maßregeln geneigt sein, denn er ist seiner Macht gewiß, auch ohne sie zu bethätigen. Ein Minister hingegen ist seiner Macht nur gewiß durch ihre unmittelbare Bethätigung, er muß sie ununterbrochen zeigen, oder man verlöre den Glauben daran. Ein erblicher Monarch braucht sich in seinen Unternehmungen nicht zu übereilend er mag der Zeit Zeit gönnen, denn morgen ist auch noch ein Tag, und was er selbst nicht vollendet, das bleibt seinem Erben und Nachfolger vorbehalten. Der Ehrgeiz eines Ministers, der nicht für einen Erben arbeitet, ist auf schnelle Erfolge gerichtet, er muß das Heute ausnutzen, das Morgen ist ihm nicht sicher. Je entscheidender seine Stellung geworden, um so mehr wird es ihn zu immer neuen Unternehmungen drängen, und dieselben zum Ziele zu führen, sei es mit Biegen oder Brechen.

Alle dies liegt heute vor Augen. Am auffallendsten aber tritt es wohl in dem großen Kirchenconflict hervor. Denn wie ganz anders als ein Minister oder Kanzler ist doch von vornherein ein König zur Kirche gestellt! Sich » von Gottes Gnaden« nennend und an Pietätsrücksichten gebunden, weil seine eigene Autorität auf Pietätsverhältnissen beruht, wird er immer für den Frieden mit der Kirche gestimmt sein. Ein instinctives Gefühl sagt ihm, daß gewaltsame Maßregeln gegen die Kirche hinterher auch auf daß Prestige der Krone selbst zurückwirken würden. Für den Kanzler existirt ein solches instinctives Gefühl nicht. Sein Prestige beruht lediglich auf seinen persönlichen Erfolgen, und die ganz exceptionelle Machtstellung, die er sich dadurch selbst erst geschaffen, fordert immer neue Erfolge; sie wäre sonst nicht haltbar. Er darf den » europäischen Ruf,« den er sich einmal erworben, nicht aufs Spiel setzen, – wir haben das neuerdings aus seinem eignen Munde gehört, – und um die Erhaltung dieses europäischen Rufes drehen sich seitdem die Geschicke Preußens und Deutschlands. Was dann um deswillen geschieht, das sind » politische Nothwendigkeiten,« gegen welche kein Einwand zulässig ist. Muß doch der Kanzler die Bedingungen seiner Stellung am allerbesten beurtheilen können, das läßt sich garnicht bestreiten. Und so scheint die ganze preußische Intelligenz sich einstweilen in dem Gehirn des Kanzlers concentrirt zu haben.

Steht es denn aber wirklich schon ganz außer Frage, daß der Kanzler ein solches Universalgenie ist, wie er es in diesem Falle sein müßte? Sein Muth und seine Energie, wie sein practisches Geschick, haben seine Erfolge bekundet, was man aber einen großen Geist oder einen tiefen Denker nennt, davon zeugen seine Erfolge wohl eben so wenig, als sein sonstiges Auftreten den Eindruck davon macht, noch weniger seine Umgebungen.

» Noscitur ex sociis, qui non cognoscitur ex se

und wie soll man danach urtheilen, wenn seine vornehmste parlamentarische Stütze ein Lasker wurde? Dazu dann ein Bamberger, Miquel, » unser« Braun, und die übrigen Celebritäten des Nationalliberalismus und des Gründerthums. Nun, es mag ja für den Kanzler eine politische Nothwendigkeit sein, sich auf solche Elemente zu stützen, weil er jedenfalls einer parlamentarischen Majorität bedarf. Aber verhält es sich mit dem gouvernementalen Personal nicht ähnlich? Thätige und gewandte Organe für die Ausführung der kanzlerischen Projecte – das sind sie, ein Mann von geistiger Bedeutung hat sich darunter noch nicht gezeigt.

Und dennoch hat man den Culturkampf proclamirt! In welche Selbsttäuschung muß die preußische Intelligenz gerathen sein, wenn sie nicht einmal diesen inneren Widerspruch bemerkt! Oder welch eine Art von Cultur sollte das werden, für welche gerade die geistigen Potenzen am entbehrlichsten zu sein scheinen? Es wird dann doch wohl auf die Militärorganisation, nebst Posten, Telegraphen und Eisenbahnen hinauslaufen, oder was sonst im gleichen Niveau damit steht. Zum höchsten ein intellectuelles Drillsystem – das wäre die Blüthe solcher Cultur. Zwar Intelligenz gehört dazu auch, aber in welchem beschränkten Vorstellungskreise bewegt sich diese Intelligenz, wenn sie darin den Hebel zu einer neuen Nationalentwicklung zu besitzen vermeint? Wenn nicht gar noch zu einer neuen Weltentwicklung, denn schon rühmt sich Berlin eine neue Weltstadt geworden zu sein. Es ist dort heute das dritte Wort. Ja, wenn es der Reptilienfond thäte, – das wäre schon ein Institut, das seines Gleichen sucht, was aber dieses Institut an neuen Ideen producirt, darüber dürfte die Weltgeschichte ganz ebenso zur Tagesordnung übergehen, wie über die gelehrten Lucubrationen hohenzollernscher Leibgardisten.

Hätte man in dieser, sich so nennenden, neuen Weltstadt ein wirkliches Verständniß für die Weltlage und die daraus entspringenden Aufgaben, so würde man vor allem erkennen, wie sehr dieselben über die Interessen des Preußenthums hinausreichen. Und träte selbst an dessen Stelle der neue deutsche Nationalstaat, so änderte das auch nicht viel. Wir haben bereits gesehen, wie wenig solch deutscher Nationalstaat den Bedürfnissen der heutigen Weltlage entspricht. Und wir haben desgleichen gesehen, daß es überhaupt keine staatlichen sondern überstaatliche oder metapolitische Fragen sind, welche allmälig in den Vordergrund der Entwicklung treten: die internationale, die sociale und die kirchliche Frage, worüber also nach bloßen Staatsrücksichten gar nicht zu entscheiden ist. Was bedeutet da noch das Pochen auf politische Nothwendigkeiten, wären dieselben auch weniger persönlich gefärbt, als wirklich der Fall ist, wenn es doch noch viel nothwendigere metapolitische Angelegenheiten gibt? Ausführlicher über diese drei metapolitischen Aufgaben, und ihr besondres Verhältnis zu Deutschland, handelt des Verfassers Schrift » Der Bankrott der herrschenden Staatsweisheit«, wie desgleichen über die Stellung des Hrn. v. Bismarck » Bismarckianismus und Friedricianismus«, worauf hier zu verweisen gestattet sei.

Daß die preußische Intelligenz, in ihrem Siegesrausch, das gleichwohl noch immer nicht zu begreifen scheint, heißt gar nichts anderes, als daß sie ihre eigene Beschränktheit nicht begreift. Das alte » Erkenne dich selbst!« müßte man ihr zurufen, es wäre hier der Stein der Weisen. Satt dessen klammert sie sich nur um so mehr an die Staatsidee an, gleichviel, ob ihr Staat in Zukunft nicht mehr der preußische sondern der deutsche sein und das » Reich« heißen soll, welches neue Reich doch selbst wieder nur in preußischem Geiste gedacht und nach preußischem Muster gestaltet sein würde. Staats- oder Reichsinteressen gelten dann als Principien; was aber in gegebenem Falle das wahre Interesse sei, darüber entscheidet der thatsächliche Erfolg, und was nun wieder die Sicherstellung dieses Erfolges selbst erheischt, das ist die über jede Discussion erhabene politische Nothwendigkeit, welche nur durch den Mund ihres Hohenpriesters spricht. So ist es geschehen, daß die preußische Intelligenz am Ende ihrer Laufbahn sich in den Bismarckianismus auflöste. Sie hat damit eine Selbstkritik geliefert, wozu nichts weiter mehr hinzuzufügen bleibt.

 


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