Behutsam wurde der große, so kräftig aussehende Mann, der sich mühsam auf zwei Stöcke stützte, in das Zimmer geführt, in dem ein Mann überrascht aufsprang und auf den Eintretenden zueilte.
»Mein Gott, Eike, wo kommst du her? Weshalb hast du dich nicht angemeldet?«
Der Hausherr schob den Begleiter des Kranken zur Seite und führte den Freund sorglich zu einem Sessel.
Aufatmend nahm Dr. von Repkow darin Platz und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn.
»Es ergab sich ganz zufällig, Matthes. Ich bin im Begriff, nach Zürich zu fahren, und da ich nun einmal durch Stuttgart kam ...«
»Nun, Jedenfalls freue ich mich, daß du bei mir bist. Ich hoffe doch, du hast es nicht so eilig mit der Weiterfahrt?« fragte Matthes Schniewind und bestellte bei dem auf sein Klingeln eingetretenen Mädchen eine Erfrischung.
Seit zwei Jahren ging es nun schon so, seit ein betrunkener Kraftfahrer den Freund beim Überschreiten der Straße angefahren und so unglücklich verletzt hatte, daß eine schwere Schädigung des Rückgrates eingetreten war. Wie hart mochte der Ärmste unter seinem Siechtum leiden, und war doch – Schniewind rechnete nach – mindestens sieben Jahre jünger als er.
Eike von Repkow spürte, was in dem Älteren vorgehen mochte.
»Laß gut sein, Matthes – man sollte sich eigentlich in dieser Verfassung gar nicht mehr bei alten Freunden zeigen. Man belastet sie nur damit ...«
»Aber – Eike, nun sag' nicht so was«, versuchte Schniewind sein Mitgefühl hinter gutmütigem Poltern zu verbergen, »wenn du ahntest, wie ich mich freue, dich so unerwartet vor mir zu sehen. Wenn ich auch nicht verhehlen kann, daß es mir lieber wäre, du könntest noch springen und laufen wie einst.«
Schniewind besaß ein großes Verlagshaus, das bereits seit einem Jahrhundert im Besitz seiner Familie war. Der Schniewind-Verlag brachte vor allem wissenschaftliche, und zwar bevorzugt kunstgeschichtliche Bücher heraus, außerdem auch einige wissenschaftliche Zeitschriften.
Repkows Bücher, Werke der Kunstgeschichte, waren alle im Schniewind-Verlag erschienen, und darüber hinaus lieferte Repkow auch Beiträge für die Zeitschriften. Allerdings war Repkow nicht auf die Honorare aus seinen Arbeiten angewiesen, er besaß von seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen, das alle Zeiten überdauert hatte. Allein sein Besitz in München, das große Haus inmitten eines ausgedehnten Gartens, den man schon als Park bezeichnen konnte, und das mit Kunstschätzen aller Art angefüllt war, stellte einen ungeheuren Wert dar.
Gerade von diesem Haus sprachen die Freunde jetzt, das für einen Mann, der ganz allein mit ein paar Dienstboten darin lebte, viel zu groß war.
»Manchmal wünschte ich mir tatsächlich solch ein kleines, modernes Haus, wie du es hier hast, Matthes«, meinte Repkow, »ich komme mir oft ganz verloren in dem großen Kasten mit den riesigen Zimmern vor.«
»Mir wäre das, offen gestanden, auch etwas ungemütlich«, gab Schniewind zurück und sah nachdenklich dem Rauch seiner Zigarette nach, »wenn du wenigstens verheiratet wärest.«
Repkow hob entsetzt die Hände: »Um alles nicht, Matthes, was sollte ich wohl mit einer Frau anfangen! Und dann: Ich brauche nur in meiner nächsten Verwandtschaft Umschau zu halten, das genügt mir vollständig.«
»Wieso das?«
»Nun, meine Schwester behauptet ja auch, glücklich verheiratet zu sein, aber wenn man näher hinschaut? – Es dreht sich bei denen ja nur um das liebe Geld. Solange sie welches haben, sind sie glücklich und zufrieden. Ihr sogenanntes Eheglück nimmt zu oder ab, je nach der finanziellen Lage meines Schwagers. Das erstreckt sich sogar bis auf die Kinder, die huldigen dem gleichen Götzen wie die Eltern.«
»Hat denn deine Schwester nicht ebenso wie du ein großes Vermögen von euren Eltern geerbt?«
»Hat sie«, Repkow nickte zustimmend mit dem Kopf, »aber Jutta verstand noch nie, mit Geld umzugehen, und ihr Mann hatte noch zu keiner Zeit eine Ahnung, wie man es zusammenhält. Und wie die Alten sungen – na ja, jetzt warten sie wohl alle darauf, daß ich recht bald das Zeitliche segne.«
Unendlich bitter wurde das gesagt, lange Zeit blieb es still zwischen den Männern.
*
Andrea Dornfeld saß mit ihrer Schwester Gisela zusammen in ihrem bescheiden, aber doch sehr traulich eingerichteten Zimmer im zweiten Stock des kleinen Hauses und beratschlagte mit ihr über die unangenehme Lage, in der sie sich befanden.
Gisela hatte sich vor lauter Kummer den blonden Schopf schon ganz zerwühlt. Ihr schmales Gesicht sah ganz bekümmert aus.
»Scheußlich. – Seit deiner verunglückten Fahrt nach München nichts wie Pech. Und nun ist auch Papa noch krank. Da kann man wohl sagen, fröhliche Weihnachten!«
»Ach, Gisela, scheußlich kann man schon gar nicht mehr dazu sagen. Ich habe ja solche Angst, es dem Vater und der Tante zu sagen, was sie nun doch bald wissen müssen. Gewiß, eine Wohnung bekämen wir ja wieder, aber hier haben sie sich wohlgefühlt, das Gärtchen, das Haus war ihnen lieb geworden. Und mit keinem Gedanken haben sie daran gedacht, daß sie auch hier noch einmal vertrieben werden könnten. Und alles um ein paar lumpige Tausender.«
Nur mit Mühe unterdrückte die allezeit tapfere Frau ihre Tränen.
Gisela wühlte heftig in ihren Haaren, ein Zeichen, daß sie sehr erregt war und angestrengt nachdachte.
»Daß man aber auch keinen Menschen mehr hat, den man anpumpen könnte«, stieß sie erbittert hervor. »Wenn man da manchmal sieht, wie das Geld für sinnloses Zeug hinausgeschmissen wird – und da, wo man es einmal wirklich braucht, da ist nichts, gar nichts!«
Andrea hatte nur mit halbem Ohr zugehört – es war ja unsinnig, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Für sie selbst und Gisela wäre es ja auch nicht so schlimm, sie würden sich schon durchbeißen – aber Vater und Tante Christine. Darum ging es, ganz allein darum.
Sie beschlossen, daß Andrea noch einmal in Stuttgart ihr Glück versuchen sollte. Das kostete nicht viel Fahrgeld, und da der Schniewind-Verlag jetzt auch Taschenbücher herausbrachte, war es ja immerhin möglich, daß bei der erst angelaufenen Produktion noch Bedarf an Manuskripten war. Man durfte eben nichts unversucht lassen.
Zwar war Andrea nicht so optimistisch wie ihre Schwester, fast erschien es ihr unwahrscheinlich, daß sich noch ein Mensch finden würde, der so menschenfreundlich war, noch vor Weihnachten Manuskripte von unbekannten Autoren zu lesen und nicht nur zu lesen, sondern auch anzunehmen und zu honorieren.
Und so zog Andrea los, mit zwiespältigen Empfindungen, das Herz voller Unruhe.
Vorsorglich meldete sie sich vom Bahnhof aus telefonisch im Verlag an. Es war immer gut, man konnte den Vorzimmerdamen sagen: Bitte, mein Fräulein, ich bin angemeldet, auch wenn dies auch nur ganz kurze Zeit vorher geschehen war. Angemeldet zu sein, klang immer gut, man hatte dann eher Aussicht, bis ins Allerheiligste vorzudringen.
Und wie richtig sie gedacht hatte, bewies ihr die kurze Unterhaltung mit der sehr smarten, sehr kühlen Dame, die erst auf das Stichwort: Ich bin bereits bei Herrn Dr. Schniewind angemeldet und werde erwartet, Bereitschaft zeigte, Andrea in das Heiligtum zu geleiten.
Ganz fest nahm Andrea all ihren Mut zusammen und brachte ihr Anliegen vor, sich Mühe gebend, trotz der schwierigen Situation Haltung zu bewahren. Sie mochte dem Mann, dem die kleinen Sorgen des Lebens sicher nur vom Beobachten fremder Schicksale bekannt waren, nicht als Bittstellerin erscheinen; wollte nicht gar zu viel von ihrem Kummer durchblicken lassen.
Aufmerksam war Schniewind ihren Ausführungen gefolgt. Nichts in seinem ruhigen Gesicht deutete darauf hin, wie er sich zu der Sache stellen mochte.
Als Andrea schwieg, die großen, blaugrauen Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet, zog er umständlich die Schublade seines Schreibtisches auf und brachte ein Kästchen mit Zigaretten hervor.
Noch immer schweigend, bot er zuerst Andrea eine an und bediente sich dann selbst. Nachdenklich schaute er den Rauchwölkchen nach, während Andrea, mehr unbewußt, ihre Umgebung einer Musterung unterzog.
Mit mühsam verborgener Spannung blickte sie auf, als Schniewind zu sprechen begann.
»Das alles ist natürlich höchst bedauerlich für Sie, gnädige Frau.«
Ein Anflug von Bitterkeit überflog das Frauengesicht. So fängt man ja gewöhnlich an, wenn man eine Absage bemänteln will. Mit dem Aussprechen eines Bedauerns glaubt man genug getan zu haben.
Es war, als ahne der Mann, was in seiner Besucherin vorging, denn ein leichtes Lächeln spielte um seinen Mund, als er fortfuhr:
»Ich würde Ihnen auch, wenn es in meiner Macht steht, herzlich gern helfen, aber, versprechen Sie sich nicht zuviel von dem möglicherweise zu erwartenden Honorar? Auch wir Verleger haben zu kämpfen und können deshalb keine so hohen Honorare mehr bezahlen.«
»Wie es eben ausfällt«, antwortete Frau Andrea, »ich benötige im ganzen sechstausend Mark, von denen ich die Hälfte bereits aus früheren Arbeiten erspart habe. Es handelt sich also nur noch um dreitausend Mark, denn einen Teil des Kaufpreises könnte ich als Hypothek auf dem Haus stehen lassen. Viel größer ist meine Sorge, ob Ihnen meine Arbeiten auch gefallen, denn das ist ja das Entscheidende.«
Schniewind lachte ihr aufmunternd zu: »Wenn Sie so schreiben, wie Sie aussehen, gnädige Frau – das heißt«, verbesserte er sich schnell, während ein helles Rot über Andreas Gesicht huschte, »wie ich es von Ihnen vermute – dann könnte ich mir vorstellen, daß Sie sehr bald zu den ständigen Autorinnen unseres Hauses zählen würden.«
»Ich weiß nicht, ob man so ohne weiteres von dem Äußeren eines Menschen auf seine Leistungen schließen kann, der Schein trügt oft«, wandte Frau Andrea ein, während ein kaum wahrnehmbarer Zug von Koketterie in dem leisen Lächeln lag, mit dem sie den Mann anblickte.
»Nun, im allgemeinen vermag ich Schein von Sein recht gut voneinander zu unterscheiden, gnädige Frau, und außerdem weiß ich ja nun einiges über Ihr Leben und vermag mir desto eher ein Bild von Ihnen zu machen. Zerstören Sie also nicht selbst vorzeitig die Illusion«, meinte Schniewind liebenswürdig.
»Ach, niemand wünschte ja mehr als ich, daß Sie sich in bezug auf meine Arbeiten keinen falschen Illusionen hingeben«, sagte Andrea mit Nachdruck, während in ihren Augen ein zuversichtlicher Schein aufglomm.
Sie erhob sich und stand schlank und schmal neben dem Mann, der mit einem undeutbaren Blick auf sie herabschaute. War es Mitleid oder Wohlgefallen, Andrea hätte es nicht zu sagen vermocht, hoffte aber sehr, daß es doch wohl das letztere sei.
Merklich erleichtert stand sie dann auf der Straße und holte tief, tief Luft, wie nach einer schweren Anstrengung.
Gott sei Dank, es war besser gegangen, als sie gehofft hatte. Schniewind hatte ihr fest versprochen, daß er selbst noch die Manuskripte lesen und ihr dann unverzüglich Nachricht geben wollte.
*
Es schien aber keine Wunder mehr zu geben, dachte Andrea, als sie Tag um Tag vergeblich auf eine Nachricht von Schniewind wartete.
Nun waren es nur noch vier Tage bis zum Weihnachtsfest, und damit war auch fast jede Hoffnung geschwunden.
Blaß und abgehärmt stand sie am Fenster und schaute in den verdämmernden Dezembertag. Über den Marktplatz eilten geschäftige Menschen, mit allen möglichen Paketen bepackt. Frauen und Kinder holten beim gegenüberwohnenden Bäcker riesige Kuchenbleche ab, und in einer Ecke des Marktes wurden Weihnachtsbäume feilgeboten.
Alles sah so lieb und froh aus, man spürte in dieser kleinen Stadt noch kaum etwas von dem Lärm und der Hetze der Welt, fast hätte man meinen können, hier sei die Zeit stehengeblieben.
Aber die Zeit stand nun einmal nicht still, sie eilte unaufhaltsam weiter, auch in einer kleinen Stadt. Ein tiefer Seufzer flog durch den Raum.
Die Tür des Zimmers würde behutsam geöffnet. Gisela kam mit einem Tablett herein und deckte den kleinen Tisch, der vor dem Sessel am Fenster stand.
»So, Schwesterherz, nun wollen wir mal Kaffee trinken, ich glaube, ich habe ihn mir wohl verdient. Habe seit heute morgen der Tante im Laden geholfen, unser Geschäft geht glänzend«, plauderte sie munter drauflos, während ihre Augen jedoch besorgt das Gesicht der Älteren musterten.
Giselas kleines Herz schlug schwer und bang in der Brust. Das warmherzige Mädchen litt sehr unter dem Kummer der Schwester. In ihre traurigen Gedanken klang die Stimme Andreas voller Groll und Verzweiflung:
»Wäre ich doch nur nicht noch nach Stuttgart gefahren. Was hatte es nun für einen Sinn? Ein paar Tage trügerische Hoffnungen und ein paar schöne Worte. Die sind ja auch billig«, sie lachte bitter auf, ungestüm weitersprechend:
»Ich könnte mich heute noch Ohrfeigen, daß ich es überhaupt getan habe und obendrein von meinen ureigensten Angelegenheiten sprach. Du lieber Himmel, ich hätte es wissen sollen, daß man andere Menschen nicht mit seinen Sorgen belasten sollte. Daß ich auch nicht klüger geworden bin!«
»Lieber mit strammer Haltung kaputtgehen, meinst du«, warf Gisela ein, und rannte erregt im Zimmer auf und ab.
»Nee du«, fuhr sie fort, »ich bin immer noch dafür, daß man wenigstens schreit, wenn man umgebracht werden soll, und daß man sich wehrt. Und wenn man dann doch erliegt, dann hat man wenigstens alles getan!«
Schritte vor der Zimmertür ließen die Schwestern aufhorchen. Es klopfte, und kurz darauf trat Dr. Wagner, der alte Arzt, ins Zimmer.
»Nun, Herr Dr. Wagner, wie fanden Sie Papa heute«, fragte Gisela, die zuvor den Arzt zum Vater hinaufgeleitet hatte.
»Ja – was soll man da sagen, kleine Kollegin in spe, der Papa ist eben nicht mehr der Jüngste, und da überwindet man eine Grippe immer schwerer. Es geht ihm ja soweit ganz ordentlich, aber das Herz ist doch durch das Fieber recht mitgenommen, und«, mit einem Blick in die traurigen Gesichter der Schwestern, fügte er hinzu, »na ja, ich denke, unter Ihrer bewährten Pflege wird sich der Herr Papa schon wieder erholen. Er braucht eben viel Ruhe, und die hat er ja hier.«
»Ruhe!« fast schluchzend stieß es Andrea hervor und wandte sich ab. Fragend schaute der alte Arzt die Jüngere an.
»Nun, warum sollen wir ein Geheimnis daraus machen«, sagte. Gisela mit trotziger Entschlossenheit und erzählte dem Arzt, wie sehr die Ruhe des kranken Vaters gefährdet war.
Reglos stand Andrea währenddem am Fenster, ohne ein Wort von dem aufzunehmen, was die Schwester erzählte. Sie war am Ende, restlos am Ende.
Ein lauter Ausruf des Arztes ließ sie zusammenzucken.
»Ja, aber, meine Damen, warum haben Sie mir denn das nicht eher erzählt? Bin ich denn immer noch so ein völlig Fremder für Sie, daß Sie mich nur zu finden wissen, wenn hier jemand ein Wehwehchen hat?« ordentlich vorwurfsvoll wurde das gesagt.
Zwei Augenpaare richteten sich voll ungeheurer Spannung auf ihn. Was – was sollte das heißen? Konnte – wollte Dr. Wagner etwa helfen?
»Nun ja«, sagte er, leicht lächelnd von einer zur anderen blickend, »ich bin zwar kein Krösus, sondern ein armer Kassendoktor, aber ich könnte doch immerhin die Bürgschaft für Sie bei der Sparkasse übernehmen. Und damit wäre Ihnen doch wohl fürs erste geholfen, nicht wahr? Nun gucken Sie doch bloß nicht gleich wieder so verängstigt, liebste Frau Andrea, natürlich bekommen Sie das Geld. Und damit es auch recht schnell geht und Sie Weihnachten wieder mit frohem Herzen feiern können, werde ich gleich selbst mal unseren Finanzgewaltigen aufsuchen, damit wir alles durchsprechen können. Sie bekommen dann Bescheid von mir.«
Ehe sich die Schwestern recht besonnen hatten, war der kleine, behende Herr draußen und stapfte die Treppe hinab.
Wortlos fielen sich die beiden Frauen in die Arme und ließen den erlösenden Tränen, die alle Spannung und allen Kummer hinwegspülten, freien Lauf.
*
Seit Tagen schneite es. In dichten Schleiern verborgen lagen die Berge, die den Züricher See umgaben. Alle Häuser dieser schönen, alten Stadt trugen weiße Käppchen, und an den Hängen tummelten sich fröhliche Menschen auf den Brettern.
Mit sehnsüchtigen Augen schaute das junge Mädchen zum Fenster hinaus, während es das Staubtuch ausschüttelte. Dann rückte es energisch das weiße, kokette Häubchen zurecht und nahm den Kampf gegen Staub und Schmutz wieder auf.
Mit flinken Händen wurde die Schreibtischplatte spiegelblank poliert. Interessiert ruhten die großen Augen einen Moment auf den Büchern, die in einem kleinen Ständer aufgestellt waren.
Hm, so etwas gab es also auch, reiche Hotelgäste, die römische und griechische Dichter lasen. Hätte ich gar nicht gedacht, ging es anerkennend durch den Sinn des Mädchens, ich habe den modernen Reichen scheinbar Unrecht getan. Scheint doch ein paar darunter zu geben, die nicht bloß ihren dreckigen Mammon im Kopf haben.
Das Mädchen ergriff einen der Bände, und begann laut die lateinischen Verse zu lesen.
»So, mein Fräulein, und nun möchte ich Ihnen erst einmal etwas erzählen, wenn Sie gestatten«, unterbricht die Lesende plötzlich eine ironische Männerstimme.
Erschrocken sprang das Mädchen von der Schreibtischkante, auf die es sich in kühnem Schwung gesetzt hatte. Schuldbewußt senkte sie vor den kalten, durchbohrenden Männeraugen den Kopf.
»Wie kommen Sie eigentlich dazu, fremdes Eigentum anzurühren? Was interessieren Sie eigentlich lateinische Bücher?«
Die barsche Frage weckte den Trotz des Mädchens, schließlich war ja das Vergehen nicht so groß, daß man sie deshalb so schroff maßregelte.
»Ihre lateinischen Bücher gehen mich zwar nichts an, aber Sie geht es wiederum auch nichts an, für welche Art von Büchern ich mich interessiere. Das ist meine Angelegenheit.«
»Schüchternheit kann man Ihnen wohl nicht zum Vorwurf machen«, kam es spöttisch zurück.
»Ich hoffe nicht«, parierte das Mädchen den Hieb.
»So – Sie hoffen nicht ...« der Mann fixierte sie scharf und fragte dann kurz:
»Wo haben Sie denn Latein gelernt?«
»Wie andere Leute auch, in der Schule ...«
»Und dann sind Sie ...« er vollendete nicht, sondern streifte mit ausdrucksvollem Blick ihre Gestalt in dem schwarzen Kleid mit dem zierlichen weißen Schürzchen und dem Häubchen.
Das Mädchen verstand.
»Jawohl, und dann wurde ich Stubenmädchen. Aber darf ich mich nun entfernen?« fragte das junge Mädchen und wollte mit einem leichten Neigen des Kopfes an ihm vorüberhuschen.
»Bitte, bleiben Sie noch. Ich möchte mich noch über einige Dinge mit Ihnen unterhalten, und nachlaufen kann ich Ihnen leider nicht.«
Der Hinweis auf seine Unfähigkeit, sich selbständig zu bewegen, ließ ein jähes Mitgefühl in dem Mädchen aufflammen. Bisher hatte sie noch gar nicht bedacht, daß der Mann, mit dem sie gewissermaßen einen Wortkampf ausfocht, ein Kranker war. Daß sie auch immer gleich so hitzig war!
Langsam schritt sie zurück, um den Kranken nicht durch ihr Mitleid zu verletzen.
Diese Regung blieb dem mit wachem Mißtrauen seine Umgebung beobachtenden Mann nicht verborgen, und wenn sich ohnehin schon sein Interesse für das Mädchen zu regen begann, wurde es noch verstärkt durch den natürlichen Takt, den sie gerade bewiesen hatte.
Einen Augenblick schwieg er. Dann fragte er, wesentlich freundlicher als bisher:
»Wollen Sie mir nicht sagen, wie Sie heißen und wie Sie hierhergekommen sind?«
»Wie alle anderen Menschen auch zu einer Stellung kommen – ich habe mich darum beworben, und ich heiße«, sie stockte einen kurzen Moment, sah ihn recht ausdrucksvoll an und sagte dann: »Gisela Rütten.«
»Hm – verzeihen Sie, ich vergaß mich vorzustellen«, er neigte sich leicht in seinem Wagen vor und sagte: »Repkow. So – und nun können wir uns immerhin schon mit Namen anreden, Fräulein Rütten. Wie kommen Sie übrigens zu diesem etwas fremd anmutenden Vornamen?«
»Familienerbstück«, gab sie ihm kurz und bündig Auskunft.
»Ich glaube, Ihre Familie ist nicht ganz uninteressant«, unterbrach Repkow das kurze Schweigen, »würden Sie mir nicht ein bißchen darüber erzählen?«
»Ich muß Sie enttäuschen, meine Familie ist völlig uninteressant«, gab sie. abwehrend zurück. »Aber ich muß jetzt wirklich gehen, sonst bekomme ich Krach mit dem Etagenchef.«
»Wenn ich Sie, brauche, dann kann man Ihnen deshalb keine Vorwürfe machen«, erwiderte Repkow ruhig, »aber ich möchte Sie nun nicht länger aufhalten, damit Ihr Pflichtbewußtsein keinen Knax bekommt.«
Sinnend schaute er dem zierlichen Figürchen nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Fast war es ihm lieb, daß sie sich einem längeren Gespräch entzogen hatte, er mußte erst einmal die ganze Sache überdenken. Waren ihm doch, während er mit ihr sprach, allerlei Gedanken gekommen, denen er nicht voreilig Ausdruck geben wollte.
*
Gisela stürmte über den langen Gang und begann ihr Reinigungswerk in einem anderen Zimmer.
Dieser Repkow war ja zweifellos ein armer Teufel, noch verhältnismäßig jung und schon so hinfällig, aber deshalb sah sie doch nicht ein, weshalb sie ihm die Langeweile durch die Preisgabe ihrer Familienverhältnisse vertreiben sollte. Ihrer Ansicht hatte er nur aus diesem Grunde danach gefragt.
Aber das war einzig ihre Sache, ihr Privatleben hatte sie nicht mitverkauft, als sie sich gegen gute Schweizer Fränkli als, Stubenmädchen in diesem Luxushotel verdingte.
Ja, die junge Gisi hatte, nachdem die Schwester mit Hilfe des Kredites das Haus hatte erwerben können, sich kurzerhand entschlossen, ihr Studium für ein bis zwei Semester zu unterbrechen, um Geld zu verdienen. Geld, mit dem sie der Schwester helfen konnte, die Schulden möglichst schnell zu tilgen.
Sie hatte sich auch durch nichts beirren lassen, sondern verharrte auf ihrem Standpunkt: weg mit den Schulden und drei Mark als Notgroschen auf der Sparkasse, wie sie burschikos sagte, und dann könnte sie mit Ruhe und Hingabe dem Studium frönen.
Schließlich hatte Andrea eingesehen, daß es vielleicht so besser war, wie es die kleine, aber sehr resolute Schwester sich in den Kopf gesetzt hatte. Und nun war Gisela schon zwei Wochen in Zürich.
Wie war sie, aber sprachlos, als dieser Dr. von Repkow sie noch am selben Tag durch den Boy rufen hatte lassen.
Er hatte sie gefragt, ob sie bereit sei, ihm täglich ein paar Stunden bei seinen Arbeiten zu helfen und für ihn zu schreiben. Selbstverständlich würde er ihr für ihre Hilfe eine angemessene Entschädigung zahlen.
Ihren Einwand, daß ihr ja ihre Tätigkeit im Hotel keine Zeit dafür lassen würde, zerstreute er damit, daß er ihr sagte, er würde das für sie regeln.
Und nun saß sie jeden Nachmittag einige Stunden und arbeitete für Dr. von Repkow, und sie mußte sagen, daß ihr die Arbeit sogar Freude machte.
Während der Arbeit war Repkow ein völlig anderer, war freundlich und aufgeschlossen, während er sonst sich sehr gern hinter einem kühlen Spott verschanzte.
Er wußte, daß sie nur vorübergehend im Hotel arbeitete und später weiterstudieren wollte. Und darum machte er ihr ein neues Angebot!
Sie sollte zu ihm nach München kommen, sollte als seine Sekretärin in seinem Hause leben, wenigstens so lange, bis sie ihr Studium wieder aufnehmen würde. Das angebotene Gehalt war glänzend, wenn sie darauf einging, konnte sie im Herbst bereits wieder ins Semester steigen.
Unsicher sah sie Repkow an, während die Gedanken in ihrem Kopf bunt durcheinanderwirbelten.
»Gibt es da wirklich so viel zu überlegen?« fragte er aufmunternd, schon mit einer leichten Ungeduld.
»Eigentlich nein«, bekannte sie offen, »aber...«
»Was aber?«
»Es ist immerhin sehr überraschend, und...« sie richtete sich auf, »hat Ihre frühere Sekretärin auch bei Ihnen gewohnt?«
Er fixierte sie mit leichtem Spott, bevor er langsam antwortete: »Ach so, sie denken an Schicklichkeitsgründe: junge Dame und noch nicht ganz alter Mann in einem Hause ohne Anstandswauwau. Nun...« und jetzt huschte wieder ein Zug unsäglicher Bitterkeit über sein Gesicht, »ich glaube, ich kann sie in diesem Punkt beruhigen. Wer mich sieht, weiß, daß Ihre Tugend in meinem Hause ganz sicher nicht gefährdet ist. Im übrigen, auch meine frühere Sekretärin hat bis zu ihrer Heirat bei mir gewohnt.«
Etwas verlegen senkte Gisela den Kopf.
»Verzeihen Sie, Herr von Repkow, ich war eine Gans. Wenn Sie mich also gebrauchen können, komme ich mit Ihnen.«
Ein Lächeln überflog das ernste, von schwerem Leid gezeichnete Männergesicht. Repkow kannte nun schon die Art des Mädchens, weiche Empfindungen hinter einer gewissen Schnoddrigkeit zu verstecken.
»Nun, daß Sie eine Gans sind, möchte ich nicht gerade sagen, eher ein recht vernünftiges Mädchen, das seine Handlungen sorgsam überdenkt. Aber ich freue mich ehrlich, daß Sie auch weiterhin für mich arbeiten wollen. Es ist schwierig, immer den geeigneten Menschen zu finden, deshalb habe ich auch nach dem Fortgang Ihrer Vorgängerin solange gezögert. Ich bin etwas anspruchsvoll geworden in der Wahl der Menschen, mit denen ich Umgang pflege.«
Ein zartes Rot überhauchte das junge Mädchengesicht – das klang ja beinahe nach einem Kompliment.
*
Lautes Stimmengewirr drang zu den beiden Menschen, die arbeitend einander an dem großen Schreibtisch gegenübersaßen.
Als peinige ihn ein jäher Schmerz, so zog Repkow die Augenbrauen zusammen. Gisela, die ihren Chef nun schon recht gut kannte, blickte auf.
»Soll ich einmal nachschauen, Herr Doktor?« fragte sie und wollte sich erheben.
»Nicht nötig, Fräulein Rütten, Sie werden das Unheil nicht aufhalten«, sagte er mit dem Versuch zu scherzen, »das sind meine Verwandten, die wieder einmal sehen wollen, ob es nicht bald soweit...« er preßte die Lippen zusammen, während sein Gesicht einen starren, harten Ausdruck annahm.
Unschlüssig erhob sich Gisela, wagte kein Mitleid zu zeigen, obgleich sie ahnte, was der Mann hatte aussprechen wollen.
»Bleiben Sie nur – es gibt keine Geheimnisse zwischen meiner Schwester und mir«, forderte sie Repkow auf, wieder Platz zu nehmen, und dann öffnete sich nach kurzem Klopfen auch schon die Tür.
Mit überströmender Herzlichkeit eilte eine Dame auf den Hausherrn zu, der ihr mit einem Gesicht, das nur allzu deutlich seine Abwehr widerspiegelte, entgegenblickte.
»Aber Eike, ist das etwa nett von dir? Du bist wieder in München, ohne dich mit einem Wort bei uns zu melden? Erst durch Zufall müssen wir erfahren, daß du hier bist, und da haben wir uns natürlich gleich aufgemacht, um dich zu begrüßen«, sagte Frau Jutta Vollmer, die Schwester Repkows, mit einer Stimme, die zärtlichen Vorwurf ausdrücken sollte.
»Die Kinder haben sich schrecklich gefreut, daß du wieder hier bist, sie hängen doch so sehr an dir«, fuhr sie lebhaft fort und warf den beiden jungen Menschen einen auffordernden Blick zu, den Onkel zu begrüßen.
Das Mädchen, ein reizender, noch etwas ungelenker Backfisch, reichte, ohne viel zu sprechen, dem Onkel die Hand. Mit leisem Wohlwollen blickte dieser in das offene Gesicht des Mädchens, während er sofort wieder eine verschlossene Miene annahm, als ihn der Neffe Rolf begrüßte.
Sehr sicher und selbstbewußt trat dieser junge Mann auf, und in seiner zur Schau getragenen Verehrung für den Onkel spürte man deutlich das Unechte, Gemachte.
»Wirklich, Onkel, Mama hat recht«, sprach er mit unangenehm hoher, spitziger Stimme, »du hättest dich bei uns melden sollen. Ich bin immer so froh, wenn ich zu dir kommen darf.«
»Nun, das ist ja sehr schön, Rolf«, meinte Repkow kurz, »aber vielleicht darf ich euch nun erst einmal mit Fräulein Rütten, meiner Sekretärin, bekannt machen.«
Frau Jutta Vollmers Augen hatten schon mit unverhohlenem Mißfallen auf der Gestalt des jungen Mädchens geruht, das abwartend an einer Ecke des Schreibtisches stand.
»Ach ja – ich sehe, Fräulein Schneider ist also nicht mehr bei dir?«
»Sie hat geheiratet, und nun hat Fräulein Rütten ihr Amt übernommen.«
»Was, das alte Mädchen hat noch geheiratet?« amüsierte sich Rolf Vollmer und übersah den ärgerlichen Blick, den ihm die Mutter zuwarf. Frau Jutta wußte zu genau, daß der Bruder diesen Ton bei Jüngeren durchaus nicht liebte.
»Warum sollte sie nicht«, sagte sie deshalb zurechtweisend, »aber ich bedaure es sehr deinetwegen, lieber Eike, denn sie war doch eine äußerst tüchtige Arbeitskraft. Fräulein Rütten erscheint mir noch sehr jung – bitte nichts für Ungut, Fräulein Rütten«, wandte sie sich dem jungen Mädchen zu, »aber mein Bruder war doch sehr verwöhnt durch Fräulein Schneider.«
Gisela schwieg, statt ihrer ergriff Repkow das Wort.
»Ich glaube, ich kann dich beruhigen, Jutta. Fräulein Rütten macht ihre Arbeit ausgezeichnet.«
»Nun, das wäre ja sehr schön«, meinte Frau Jutta kurz, während ein Schein des Unmuts über ihr Gesicht huschte. »Aber nun wäre ich dir dankbar, wenn du eine Kleinigkeit zu trinken für mich hättest, ich habe schrecklichen Durst, denn wir haben unseren Tee noch nicht getrunken.«
»Aber gern«, Repkow drückte auf den Knopf, der am Schreibtisch angebracht war, damit er jederzeit den Diener herbeirufen konnte, ohne sich mühsam erheben zu müssen.
»Bitte decken Sie den Teetisch für fünf Personen, Geißler«, beauftragte er den Eingetretenen. »Marta soll auch ein paar Sandwich herrichten.«
»Wie, erwartest du noch einen Gast?« fragte die Schwester mit schlecht verborgener Spannung. »Nein – wieso? Wir sind doch fünf Personen, oder solltest du das Zählen verlernt haben?« fragte der Bruder sarkastisch, die Frau scharf fixierend.
Die Zurechtweisung spürend, fragte sie scheinbar erstaunt:
»Ach, Fräulein Rütten trinkt mit?«
»Selbstverständlich.«
»Nun, für mich war das nicht so selbstverständlich, lieber Eike, denn ich kann mich nicht erinnern, daß Fräulein Schneider zugegen war, wenn wir dich besuchten«, Frau Jutta sagte es etwas spitz.
»Das stimmt. Aber Fräulein Schneider wohnte ja auch nicht hier, hatte also auch keinen Anspruch, an den Mahlzeiten teilzunehmen.«
Frau Jutta war überrascht, und zwar unangenehm überrascht. Wie, dieses junge Ding wohnte hier im Hause? Was fiel denn dem Bruder nur ein? Man würde sich wohl sehr intensiv mit diesem Fräulein Rütten befassen müssen. das der Bruder wer weiß wo aufgegabelt hatte. Eine dumme Sache, da hieß es vorsichtig sein!
Verlegen schaute sie zur Seite, denn des Bruders Augen ruhten spöttisch auf ihr, als erriete er ihre Gedanken.
»Du siehst mich etwas überrascht«, erklärte sie ihr Schweigen, sich schnell Haltung gebend, »aber das liegt eben daran, daß du dich uns gegenüber so verschließt, daß man nie weiß, was du vorhast. Ich hätte dir gern geraten und geholfen.«
»Nun, wie du siehst, ging es auch ohne deine Hilfe«, erwiderte Repkow, und warf seiner Sekretärin, die stumm, ein ausgesprochen abweisendes Gesicht aufsetzend, als wäre sie nicht Gegenstand der nicht gerade sehr taktvollen Worte Frau Vollmers, einen aufmunternden Blick zu.
Steht ihr übrigens nicht schlecht, wenn sie das Näschen so hochmütig in die Luft streckt, dachte der Mann innerlich etwas belustigt, sie würde auch mit seiner Schwester fertig werden. Da war ihm nicht bange.
»Ach, lassen wir das«, meinte Frau Jutta mit leichter Geringschätzung im Ton, »du mußt ja wissen, was du tust.«
»Und ob ich das weiß, liebe Schwester«, grinste sie Repkow mit offenem Hohn an, »aber ich denke, der Tee wird fertig sein«, sagte er abschließend und griff nach seinen Stöcken, unwillig die übertriebene Hilfsbereitschaft von Mutter und Sohn abwehrend.
*
Am Abend desselben Tages saß Gisela mit Repkow in seinem Arbeitszimmer am Kamin. Er hatte sie, wie es öfter geschah, bitten lassen, ihm noch ein bißchen Gesellschaft zu leisten.
Eine tiefe Stille lag über dem großen, mit erlesenem Geschmack eingerichteten Raum. Es kam oft vor, daß sie sich schweigend gegenübersaßen, aber heute hatte das Schweigen etwas Bedrückendes.
Der Mißton, den Repkows Schwester am Nachmittag ins Haus getragen hatte, hallte noch in ihnen nach.
Forschend ruhte der Blick des Mannes auf dem nachdenklichen Gesicht des Mädchens.
»Sie sollten das müßige Grübeln lassen, Fräulein Rütten. Von meiner Schwester, ich muß es leider sagen, war nichts anderes zu erwarten.«
»Ist das nicht sehr traurig für Sie?« fragte Gisela beklommen.
»Vielleicht – ich bin es nicht anders gewöhnt«, meinte Repkow hart. »Man darf von den Menschen nicht mehr erwarten, als sie zu geben vermögen, das gilt auch für die nächsten Angehörigen.«
»Gott sei Dank ist das nicht immer so«, widersprach Gisela impulsiv, »wenn ich an meine Schwester denke...« sie brach ab, als habe sie zuviel gesagt, eine Kritik geübt, die ihr nicht zukam.
»Sprechen Sie nur weiter, Sie denken, daß Ihre Schwester ganz anders ist und nicht auf den Tod eines Menschen warten würde, nur um ...« »Aber Herr von Repkow – ich bitte Sie«, erregt war das Mädchen aufgesprungen und stand beschwörend vor ihm: »Wie können Sie nur solch einen Gedanken aussprechen. Man darf doch die eigene Schwester nicht so furchtbar verdächtigen!«
»Man darf, Sie kleine Unschuld, man darf, verlassen Sie sich darauf«, entgegnete Repkow bitter. »Ich habe immerhin meine Erfahrungen, und – ich kenne meine Schwester.«
»Aber sie wird doch nicht mit...« sie stockte – und sprach, dann leise weiter, »mit Ihrem Tod rechnen«, unterbrach ihn das Mädchen.
»Warum nicht? Meine Schwester findet sicher gar nichts dabei, sie wäre sicher empört, wenn man ihr das nun als besondere Schlechtigkeit auslegen würde. Bitte, sie stützt sich, vielleicht nur unbewußt, auf das uralte Naturgesetz, daß alles Kranke und Schwache dem Gesunden zu weichen hat. Sie werden mir zugeben müssen, daß es überall in der Natur so ist.«
In ehrlichem Schmerz sahen ihn die jungen Augen an, in denen es feucht glänzte.
»Das ist ja furchtbar – so dürfen Sie doch nicht denken. Sie sind doch nicht im eigentlichen Sinne krank. Sie leisten doch noch produktive Arbeit, sind doch nicht unnütz...« ihre Stimme brach ab.
»So denken Sie, Gisela – meine Schwester denkt eben anders. Sie findet, daß ich ja ohnehin nichts mehr mit meinem Geld anfangen kann, daß für mich das Leben ja nur noch eine Last sein würde und es sicher besser wäre, wenn die Qual für mich bald ein Ende hätte.«
Wie verbittert mußte dieser Mann sein – dächte sie erschüttert und bis ins Innerste aufgewühlt. Nur mühsam konnte sie ihre Tränen zurückhalten, vermochte nicht ein einziges Wort zu sprechen.
Man kann in diesem Gesicht lesen wie in einem Buch, dachte der Mann, selbst etwas erregt von dem Eindruck, den seine Worte gemacht hatten. Es wurde ihm gar nicht bewußt, daß er mit fieberhafter Spannung auf das, was seine junge Sekretärin sagen mochte, wartete. Und ebensowenig wurde ihm klar, daß er noch zu keinem Menschen so offen über seine innersten Gedanken gesprochen hatte wie zu diesem jungen Geschöpf.
Als sie plötzlich zu reden anfing, schreckte er aus seinen Gedanken auf.
»Steht es denn überhaupt fest, daß Sie nicht wieder gesund werden können? Haben Sie denn schon alles versucht, was eine Heilung herbeiführen könnte?« stieß sie fast heftig hervor und schaute ihn fast zornig an.
Wieder empfand er deutlich, daß sie ihr Mitgefühl und ihren Willen zu helfen hinter einem gespielten Zorn versteckte. Fast packte ihn eine merkwürdige Rührung – aber er verscheuchte dieses Gefühl der Schwäche, das seine ganze mühsam erkämpfte Haltung gegenüber dem Geschick zu erschüttern drohte. Dieses Mädchen sollte nicht aufs neue Wünsche in ihm wecken, die er nur mühsam zum Schweigen gebracht hatte. Man wurde nicht mehr gesund und hatte sich damit abzufinden.
»Wenn man zwei Jahre hintereinander nichts weiter getan hat, als einen Arzt nach dem anderen um Rat zu fragen, eine Untersuchung nach der anderen über sich ergehen ließ und von einem Krankenhaus zum anderen zog, dann kann man wohl mit ruhigem Gewissen sagen, daß man alles versucht hat, was menschenmöglich ist«, sagte er voller Ironie und mühte sich, ein unbewegtes Gesicht zu zeigen.
»Nein – damit ist nicht alles getan«, protestierte das Mädchen lebhaft, »denn die medizinische Wissenschaft ist im ständigen Fortschreiten begriffen, und was heute noch unmöglich ist, kann morgen schon möglich sein! Das ist meine Meinung.«
Repkow war zusammengezuckt. Jetzt richtete er sich aber in seinem Sessel steil auf.
»Finden Sie nicht, daß Sie entschieden zu weit gehen?« Entsetzt starrte Gisela in das zornige Männergesicht, aus dem die Augen so unheimlich funkelten, daß sie förmlich Angst vor ihm bekam.
»Ich bitte um Entschuldigung...« murmelte sie fast unhörbar nach kurzer Pause. Noch einen undeutbaren Blick auf ihn werfend, verneigte sich das Mädchen leicht vor ihm und verließ mit hastigen Schritten, als müsse sie fliehen, das Zimmer.
Am nächsten Tag erschien sie mit blassem Gesicht und trüben, überwachten Augen am Frühstückstisch.
Mit Verwunderung stellte sie fest, daß der Platz ihr gegenüber nicht gedeckt war. Kam etwa Dr. von Repkow nicht wie sonst, um gemeinsam mit ihr das Frühstück einzunehmen?
Geißler bestätigte ihr ihre Vermutung, als er hereinkam und den Kaffee brachte.
»Der Herr Doktor fühlt sich nicht wohl und bleibt deshalb heute im Bett. Er hat eine schlechte Nacht gehabt, bis gegen Morgen brannte das Licht bei ihm. Wahrscheinlich macht ihm der Föhn Kummer, da hat er immer sehr drunter zu leiden«, erklärte er das Fernbleiben des Hausherrn.
Sie war erschrocken. Sie wußte es besser. Nicht der Föhn, sondern sie allein hatte den Mann so erregt, daß er nun körperlich darunter zu leiden hatte.
»Um Gottes willen, Geißler, was kann man denn da nur machen? Er war doch gestern noch ganz munter«, stammelte sie aufgeregt.
Beruhigend nickte ihr der Diener, ein Mann, der die Fünfzig bereits überschritten hatte, zu.
»Lassen Sie man, Fräulein Rütten«, sagte der Alte, »das kommt schon wieder in Ordnung. Na ja – soweit es eben noch möglich ist«, fügte er hinzu.
»Ich soll Ihnen auch sagen, daß Sie den Tag heute verbringen können, wie Sie wollen. Vielleicht gucken Sie sich mal München ein bißchen an – Sie sind doch noch gar nicht herausgekommen, seit Sie hier sind.«
Das Mädchen schien es gar nicht zu hören, was ihr der Diener ausrichtete, nachdenklich schaute sie auf den Teppich. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, Repkow durch ihr Ungestüm, mit dem sie ihn aufzurütteln versucht hatte, so erregt zu haben, daß sich sein Zustand nun wieder verschlimmert hatte.
Stärker denn je wurde der Wunsch in ihr wach, ihm zu helfen, ihn von diesem martervollen Siechtum zu befreien.
»Sagen Sie, Geißler«, begann sie nach längerer Pause, während der Diener wartend neben ihr stand, »könnten Sie mir nicht die ganze Sache von dem Unfall Herrn von Repkows und alles, was Sie über die Verletzungen wissen, erzählen? Ich will doch selbst Ärztin werden, habe bereits einige Semester studiert und deshalb...«, suchte sie ihr Interesse zu erklären.
Bereitwillig gab Geißler Auskunft, soweit er darüber unterrichtet war. Da er aber seinen Herrn immer begleitet hatte, wenn er im Krankenhaus lag oder Ärzte aufsuchte, wußte er doch eine ganze Menge.
Aufmerksam lauschte das Mädchen und versuchte, sich aus den Erklärungen des Mannes ein Bild über die Art der Verletzungen zu machen, soweit ihr äußerst bescheidenes medizinisches Wissen es zuließ.
»Sind denn die Röntgenaufnahmen immer bei den Ärzten oder in den Krankenhäusern geblieben?« fragte sie schließlich.
»Nein, die hat der Herr Doktor immer mitgenommen. Weil da immer Veränderungen vorgehen, damit man Vergleiche machen kann, sagte er mir«, gab Geißler Auskunft.
»Und an eine Operation war nicht zu denken?« fragte Gisela weiter.
»Doch – das schon. Einige Ärzte haben sogar sehr geraten...«
»Und...?« In großer Spannung drängte das junge Mädchen, fortzufahren. »Es konnte eben keiner garantieren, daß es gut ausgeht. Das Sterben wäre nicht das Schlimmste, hat mir der Doktor ein paarmal gesagt, aber daß sein Zustand sich vielleicht noch verschlimmern könnte, schreckte ihn davon ab, sich operieren zu lassen.«
»Also – so – ist das«, flüsterte das Mädchen. Helfen können, das war der einzige Wunsch, der sie beseelte, und Reue, daß sie den Kranken so hart angepackt hatte.
»Geißler«, fragte sie hastig, »wissen Sie, wo der Herr Doktor diese Röntgenbilder aufbewahrt? Ich – ich möchte sie mal sehen, versuchen...«
Der Mann kratzte sich mit bedenklichem Gesicht am Kopf.
»Ich weiß nicht, Fräulein Rütten...« er brach ab und überlegte, ahnte er doch, was das junge Mädchen, das er recht gut leiden mochte, von ihm wünschte.
»Bitte, lieber Geißler, geben Sie mir die Aufnahmen. Es ist bestimmt kein Unrecht dabei. Wenn wir ihm nicht helfen, wer soll es denn sonst tun, es kümmert sich doch niemand um ihn. Und ich könnte trotzdem versuchen...«
»Na – in Gottes Namen«, gab Geißler seine Zustimmung, hatte er doch auch den Wunsch, daß sein Herr noch einmal gesund würde. »Ich verspreche mir ja nicht sehr viel davon – aber man muß es immer wieder versuchen.«
Wenig später verließ Gisi, die Röntgenaufnahmen fest unter den Arm geklemmt, das Haus. Sie wollte gleich den freien Tag benutzen, um den geeigneten Mann zu finden, der helfen konnte. Es gab ja gerade in München ein paar ganz ausgezeichnete Spezialisten auf diesem Gebiet. Kapazitäten, die im In- und Ausland den besten Ruf genossen.
*
Dr. Matthes Schniewind saß in seinem Büro und sichtete Stöße von Papieren, die sich während seiner langen Abwesenheit angesammelt hatten und der Erledigung harrten.
Ihm gegenüber saß Dr. Ebers, einer seiner Lektoren, der ihn bisweilen auch vertreten mußte. Eine dicke Mappe mit Briefen und Schriftstücken aller Art hielt er vor sich ausgebreitet, die einzelnen Papiere jeweils mit einem kurzen Kommentar seinem Chef überreichend.
»Das ist ja furchtbar«, stöhnte Schniewind, »sind Sie denn immer noch nicht am Ende, Ebers?«
»Ja – in mehr als einem Vierteljahr, sammelt sich eine Menge an – und wir konnten Sie ja nun einmal nicht mit dem Papierkram behelligen«, gab Dr. Ebers lächelnd zurück und ergriff das nächste Schriftstück, um es dem Chef zu reichen.
»Hier ist eine etwas mysteriöse Sache, aber ich hoffe, daß Sie uns darüber aufklären können«, meinte er, den Brief in der Hand haltend und nach dem Absender schauend.
»Da bittet uns eine Dame Frau Andrea Dornbach, um Rückgabe von Manuskripten, von denen aber niemand etwas weiß und die nirgends zu finden sind. Auch in der Liste über die Eingänge ist kein Manuskript von dieser Frau Dornbach verzeichnet.«
Schniewind dachte angestrengt nach.
»Ja, richtig, diese Dame war bei mir, gerade an dem Tage, als ich das Malheur hatte und...« Erregt sprang Schniewind auf, sich nunmehr genau des Vorganges erinnernd:
»Menschenskind – das ist eine mehr als peinliche Sache, zeigen Sie doch den Brief mal her!«
Hastig begann er zu lesen, ein paar kühle, unpersönliche Zeilen, die nichts weiter besagten, als daß eben die Dame: ihre Arbeiten zurückhaben wollte.
»Hm, wirklich, mehr als peinlich, die Geschichte. Die Dame war in großer Bedrängnis und bat mich dringend, ihre Arbeiten noch vor Weihnachen zu prüfen. Und ich hatte ihr das auch zugesichert, sie machte einen vorzüglichen Eindruck und erschien sehr hilfsbedürftig. Wie stehe ich nun vor ihr da – und vor allem, wie hat sie sich helfen können? Oder...?« Er brach ab und dachte angestrengt nach.
»Aber wir konnten nichts finden«, meinte Ebers, als müsse er sich entschuldigen.
»Wie sollten Sie auch«, entlastete ihn Schniewind, »ich hatte ja die Manuskripte mit nach Hause genommen und wollte noch am selben Abend mit dem Lesen beginnen.«
Wieder nahm Schniewind seine Wanderung auf. Die Ungewißheit über die Lage, in der sich jene Frau nun befinden mochte, bedrückte ihn sehr.
Mit einem Ruck blieb er plötzlich stehen: »Ja, lieber Ebers, so leid es mir tut, es bleibt Ihnen nichts weiter übrig, als den Kram noch einen Tag allein zu machen. Ich muß erst diese Sache in Ordnung bringen. Und morgen muß ich nach Frankfurt, bleibt mir also nur der heutige Tag, die Angelegenheit zu bereinigen. Also, machen Sie's gut, lieber Ebers. Übermorgen sprechen wir dann weiter«, und ohne sich noch lange aufzuhalten, nahm Schniewind Hut und Mantel aus dem Schrank, im Hinausgehen seinem Mitarbeiter abschiednehmend zunickend.
Und nun stand Schniewind vor dem kleinen Häuschen am Marktplatz in Kirchberg und blickte interessiert das Schaufenster an.
Jedenfalls schien die Leihbücherei mit Papierwarenhandlung von Andrea Dornbach noch zu existieren, stellte er mit einem Blick in die Auslagen und einem weiteren nach der Tür, wo der Name der Besitzerin stand, fest.
Fast befiel ihn, den großen, starken Mann, ein leichtes Herzklopfen, als er den Laden betrat, es war doch ein scheußliches Gefühl, das Vertrauen eines Menschen enttäuscht zu haben, auch wenn man völlig unschuldig daran war.
Eine alte Dame fragte nach seinen Wünschen. Er fragte nach Frau Andrea Dornbach.
Einen Augenblick zögerte die Frau. Dann bat sie ihn mit einer leichten Handbewegung, ihr zu folgen.
Vor ihr stieg er die schmalen Treppen ins Obergeschoß empor und betrat dann nach ihr das kleine Arbeitszimmer, das sich Andrea mit viel Liebe und Geschmack eingerichtet hatte.
Die Märzsonne durchflutete den schmalen Raum, huschte über den Arbeitstisch am Fenster, der durch große Zimmerpflanzen von dem übrigen Raum abgetrennt war.
Es herrschte eine eigene, frauliche Atmosphäre in diesem Zimmer, man fühlte sich sofort wohl und heimisch darin. Fast konnte der Mann nun verstehen, weshalb die Frau so sehr um dieses Asyl kämpfte.
Erwartungsvoll saß Andrea ihm dann gegenüber, der nicht gleich die passenden Worte fand. Irgendwie hatte sich seiner eine starke Erregung bemächtigt, denn ohne Hut und Mantel, nur mit dem schlichten Rock und der weißen Hemdbluse, wirkte die Frau noch jünger und mädchenhafter, als er sie in Erinnerung hatte. Und – noch sehr viel schutzbedürftiger – und er hatte sie so enttäuscht.
Er raffte sich zusammen und begann, anfangs etwas unfrei, aber dann immer sicherer zu sprechen. Erzählte, daß er am gleichen Tage, als sie bei ihm gewesen war, ihre Arbeiten mit nach Hause genommen hatte und sie sofort lesen wollte.
Zuvor hatte er dann noch den üblichen Abendspaziergang mit seinem Hund durch den Garten gemacht. Gerade, als er die wenigen Stufen zur Terrasse hinaufgeschritten war, sei er jedoch, weil durch den leichten Frost Wasser, das auf der Treppe verschüttet und gefroren war, gestürzt und habe sich beim Fallen eine sehr schwere Gehirnerschütterung zugezogen.
Er sei dann einen vollen Tag ohne Besinnung gewesen, und später, während er in der Klinik lag, so sehr von Kopfschmerzen geplagt worden, daß er sich an die Vorgänge des Unglückstages nicht mehr erinnerte. Später sei er dann von den Ärzten sofort noch zur Erholung fortgeschickt worden und habe sich vorher um keinerlei geschäftliche Dinge kümmern können.
»Heute war ich nun das erstemal im Verlag. Als mir nun mein Mitarbeiter, der mich während meiner Abwesenheit vertreten hatte, nach Ihren Manuskripten fragte, von deren Existenz ja niemand im Verlag eine Ahnung hatte, kam mir Ihr Besuch bei mir wieder ins Gedächtnis. Sie werden kaum ermessen, wie sehr ich erschrocken war, erinnerte ich mich doch sofort sehr genau, daß ich Ihnen umgehend Bescheid zugesichert hatte.
Ich habe dann unverzüglich meine Besprechungen abgebrochen, um zunächst diese Angelegenheit, die mich sehr stark belastet, zu regeln.«
Schniewind hatte seinen Bericht beendet, der in seiner sachlichen Kürze großen Eindruck auf die lauschende Frau machte.
Schon während er sprach, war ihr Gesicht immer freundlicher, ja froher geworden, und nachdem er geendet, schien es, als glitte ein Leuchten über das feine Frauenantlitz.
Voller Herzlichkeit reichte sie ihm die Hand: »Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen in Gedanken Unrecht tat, aber ich wußte ja nicht...«
Matthes Schniewind zog die schmale Hand an die Lippen: »Ich habe nichts zu verzeihen, Sie müßten mich ja für wortbrüchig halten. Aber ...« und nun richtete er seine Augen gespannt auf sein Gegenüber: »Haben Sie noch einen Ausweg gefunden? Ich fürchtete schon, Sie hier nicht mehr anzutreffen, öder müssen Sie Ihr Haus doch noch verlassen?«
Sie schüttelte mit beruhigendem Lächeln den Kopf: »Nein – es fand sich Gott sei Dank noch ein Ausweg...«
»Herrgott, da bin ich froh! Sie ahnen ja nicht, wie sehr mich die Ungewißheit in diesen wenigen Stunden gequält hat. Ich hätte mich unbedingt schuldig gefühlt, wenn inzwischen hier Unwiderrufliches vor sich gegangen wäre«, unterbrach sie Schniewind erleichtert.
»Aber nein, wie sollten Sie das?« fragte Frau Andrea zurück, »es stand und steht ja durchaus nicht fest, ob Sie überhaupt hätten helfen können. Noch haben Sie ja meine Arbeiten noch nicht prüfen können, und unsere Abmachung lautete doch so, daß eine Vorfinanzierung der Manuskripte nur dann in Frage käme, wenn sie Ihnen zusagen.«
»Aber ich habe sie doch schon gelesen, wenigstens teilweise«, fiel ihr der Mann ins Wort...
»Ja – ich verstehe nicht«, sie sah ihn hilflos an, »sagten Sie nicht, daß Sie vor Ihrer Erkrankung noch nichts gelesen hatten und erst heute sich an meinen Besuch erinnerten?«
»Das stimmt – aber ich bin gleich morgens heimgefahren, habe die eine Novelle und den Roman teilweise gelesen und kann ihnen deshalb auch die Mitteilung machen, daß ich Ihre Arbeiten so ausgezeichnet finde, daß wir sie unbedingt bringen können. Ihre Novelle &‹Frau Diogenes&› ist so stark und innerlich empfunden, spiegelt so deutlich die ewige Sehnsucht der Frau nach Wärme und Güte und einer schöneren Lebensform, daß ich regelrecht erschüttert war, eine Frau zu finden, die so denkt und so stark empfindet.«
Andrea war aufgesprungen und stand, keines Wortes mächtig, vor Schniewind, der sich gleichfalls erhoben hatte.
»Mein Gott – das ist – das ist – ach«, ein paar große Tränen rollten über das schmale Gesicht. Beschämt wischte sie die Tränen mit dem Handrücken fort und sagte unter strahlendem Lächeln: »So ist das nun – wenn man Kummer hat, findet man keine Tränen mehr, und wenn man glücklich: ist, dann kommen sie plötzlich – ach«, die Stimme versagte ihr.
»Liebe gnädige Frau, Ihre Tränen beschämen mich, aber Sie wissen ja nun, daß mich keine Schuld trifft«, sagte Schniewind erschüttert und wußte gar nicht, daß die Tränen nicht nur dem Glück des Erfolges, sondern aus einem ganz anderen Grund flössen.
Frau Andrea war glücklich, daß es doch noch Schönheitssinn und Herz gab, so daß sie ihrem Idol getrost wieder einen Altar in ihrem Herzen errichten konnte.
Die vergangene Zeit war ja so schwer gewesen, weil man nichts mehr hatte, woran dieses dumme, törichte Herz glauben und sich aufrichten konnte, weil alles so entsetzlich leer gewesen war. Denn wenn man auch kein Glück mehr erwartet, so war es doch schön, bisweilen davon zu träumen. Und das konnte sie nun wieder, mehr denn je, brauchte sich nicht mehr zu verhärten gegen sich selbst. Konnte wieder schreiben, wie es ihr Herz ihr eingab, ohne in den Chor jener einzustimmen, die allen Glauben verloren hatten. Ein tiefer, herzbanger Seufzer verklang im Raum. Andrea riß sich energisch zusammen und wußte gar nicht, daß sie in dieser Stunde ihr Herz restlos an den Mann verloren hatte, der abwartend vor ihr stand.
»Entschuldigen Sie, es kam alles so plötzlich«, sagte sie mit einem zagen Lächeln, »es ist alles so wunderbar.«
»Ich kenne das, gnädige Frau«, nickte Schniewind zustimmend. »Sooft habe ich schon erlebt, daß Menschen, die kaum noch an den Erfolg ihrer Mühe und Arbeit glaubten, nachher ganz erschüttert waren, wenn man ihnen sagte: du kannst etwas. Aber Sie werden sich noch daran gewöhnen, das ist sicher, denn Sie werden noch viele schöne Bücher schreiben, weil Sie begnadet sind.«
»Machen Sie mich nur nicht gleich eitel, Herr Dr. Schniewind«, lächelte Andrea, und wieder glitzerte es verdächtig in den großen blauen Augen.
Und dann fragte sie, zwar etwas zaghaft, ob Herr Schniewind ihr die Freude machen würde, den Tee mit ihr zu nehmen, was dieser nur zu gern annahm.
Dabei wurde dann alles Nähere besprochen, und Schniewind erfuhr auch, auf welche Weise Frau Andrea noch Hilfe fand. Als sie ihm dann noch erzählte, daß ihr Vater Inhaber des Rütten-Verlages in Berlin gewesen sei, wurde Schniewind noch einmal stark erschüttert.
Er kannte das alte, einst so angesehene Verlagshaus und verstand erst jetzt so richtig, wie hart das Leben der zarten Frau mitgespielt hatte.
*
Gisela hatte Dr. von Repkow fast eine Woche nicht zu Gesicht bekommen. Selbst Geißler war zum Schluß nicht mehr so optimistisch gewesen wie am ersten Tag. Er fand selbst, daß wohl nicht nur der Föhn schuld sein könnte, sondern daß es seinem Herrn wirklich so schlecht ging.
Schließlich war der Alte, Getreue genau so bekümmert, wie das junge Mädchen, bis dann Repkow eines Tages wieder aufzustehen begehrte.
Zwar sah er sehr angegriffen aus, um die Augen hatte er dunkle Ringe, als er zum erstenmal am Frühstückstisch erschien, aber Geißler war doch sehr zufrieden, daß es nun wieder besser ging.
Etwas zwiespältiger waren die Empfindungen, mit denen Gisela ihren Chef begrüßte, als er mühsam, fest auf seine Stöcke gestützt, das Zimmer betrat.
Wohl war sie glücklich, daß er den Anfall überwunden hatte, aber andererseits hatte sie immer noch Angst, daß er ihr noch böse wäre.
Scheinbar las er ihr von dem etwas blassen Gesicht die Furcht ab, die sie bei seinem Anblick empfand, denn er nickte ihr beruhigend zu:
»Jetzt gibt es wieder Arbeit für Sie, Fräulein Rütten, ich hoffe, Sie haben die Tage gut genützt, an denen ich keine Zeit für Sie hatte.«
&‹Keine Zeit für Sie hatte&›, wiederholte Gisela in Gedanken seine Worte und dachte bewegt, so kann man es auch nennen, wenn man sich mit seinen Schmerzen herumplagen muß.
Laut aber antwortete sie: »Ich habe einige Museen besucht und mich ein bißchen in den Hörsälen der Uni umgesehen.«
»So, das ist recht«, meinte Repkow freundlich, »das war sicher interessant und aufschlußreich für Sie. München vermag ja auf diesen Gebieten mit enormen Schätzen aufzuwarten.«
Später saßen sie dann in seinem Arbeitszimmer einander gegenüber, beantworteten die inzwischen eingegangene Post und mühten sich beide, möglichst unbefangen zu sein, obgleich noch etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand.
Das Gespräch des letzten gemeinsam verbrachten Abends hatte doch noch nicht den rechten Abschluß gefunden. Aber beide hüteten sich, darüber zu sprechen.
Man saß abends nicht wie sonst zusammen am Kamin, sondern arbeitete nur tagsüber gemeinsam. Gleich nach dem Abendessen zog sich Repkow zurück, da er sich, wie er kurz sagte, noch angegriffen fühlte.
Und Gisela saß in ihrem Zimmer und wartete mit bangem Herzen auf den Bescheid, den ihr Professor Jünger, den sie um ein Gutachten an Hand der Röntgenaufnahmen gebeten hatte, zukommen lassen wollte.
Es war gar nicht so einfach gewesen, an diesen berühmten Mann heranzukommen, der vorher an der Hamburger Universität doziert hatte und erst seit kurzer Zeit in München weilte.
Außerdem war das Ganze auch eine Geldfrage, und davon hatte Gisela ja nicht allzuviel.
Seit nun Repkow wieder sein Krankenlager verlassen hatte, schwebte sie allerdings, und mit ihr Geißler, ständig in der Angst, daß Repkow womöglich das Fehlen der Röntgenbilder entdecken könnte.
Heute saß Gisela Rütten wieder, wie immer am zeitigen Nachmittag, wenn Repkow noch Mittagsruhe hielt, in seinem Arbeitszimmer und tippte einige Briefe für ihn.
Fast ein bißchen zornig hieb sie gerade auf die Tasten, mußte sie doch einen langen Brief an den Schniewind-Verlag, Herrn Dr. Schniewind persönlich, wie sie grimmig dachte, der sogar ein Freund ihres Chefs war, schreiben. Ob Repkow wohl ahnte, was für einen Freund er in diesem Schniewind hatte? Ein feiner Mann, der Herr Schniewind, dachte sie böse, der viel verspricht und nichts hält.
Plötzlich hob sie lauschend den Kopf. Das schien doch ganz so, als gingen Schritte auf dem Korridor. Kein Zweifel, die Verwandtschaft wollte den Herrn Doktor mit ihrem Besuch wieder einmal &‹erfreuen&›.
Gisela hieb kräftig auf die Tasten, ganz bewußt das Eintreten der Gäste überhörend.
Grußlos kam Frau Jutta Vollmer an ihren Tisch.
»Ach, Fräulein Rütten – Sie sind hier?« Die kalten Augen musterten prüfend das junge Mädchen. Sie taten es ganz ungeniert, war doch der Bruder nicht anwesend, der daran hätte Anstoß nehmen können.
Und was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. Schon das vorige Mal hatte sie gefunden, daß selbst ein so kranker Mann wie ihr Bruder sich nicht ungefährdet eine so hübsche und junge und zweifellos auch sehr raffinierte Sekretärin leisten konnte.
Man wußte ja genau, worauf es solchen Mädchen ankam, sicher wäre es diesem Mädchen nur willkommen, hier Hausherrin werden zu können. Da nahm man schon einmal für einige Jahre einen kranken Mann mit in Kauf.
Währenddem schlüpften Rolf und seine Schwester hinaus, sie liebten die Art der Mutter nicht, wie sie sich überall einmischte.
Während Rolf sich fachmännisch einen Cocktail mischte, begutachtete er den Wert der Einrichtung des Raumes.
»Weißt du, Ingrid, es ist schon eine Schande, wenn man das hier sieht«, sagte er zu der Jüngeren, die genießerisch einen Eierlikör schlürfte. »Da stehen hier überall so alte Klamotten herum, lauter totes Kapital, das keinem nützt. Wenn ich hier etwas zu sagen hätte, würde der ganze Kram verkauft. Was meinst du, was das für Geld brächte.«
»Och, warum verkaufen?« widersprach die Schwester pomadig. »Ich finde das alles eigentlich enorm. Sieht so feudal aus. Alte Kultur. Nee – Onkel Eike hat ja Geld genug, der kann sich das doch leisten.«
»Das ist es ja gerade«, ereiferte sich der Bruder, »Onkel Eike, der doch nichts mit dem Mammon anfangen kann, hat zuviel und wir zuwenig.«
»Bist du wieder mal in der Klemme, Rölfchen?« fragte Ingrid unerschüttert und schlürfte vernehmlich den dickflüssigen Likör, ihre Lieblingssorte.
»Was heißt hier in der Klemme«, knurrte der Bruder unwillig, »als wenn ich das allein wäre. Aber ich glaube, Papa sitzt noch mehr fest. Deshalb müssen wir ja heute hier antreten und brave Kinderchen spielen.«
»Fällt dir natürlich sehr schwer – kann ich mir denken«, mit offener Schadenfreude lachte das Mädchen den Bruder an.
»Du bist doch wirklich noch eine Gans«, stellte der Bruder wenig galant fest. »Aber im Ernst, wenn das alles mal uns gehört, dann haben wir ausgesorgt.«
Ingrid richtete sich aus ihrer bequemen Stellung auf: »Findest du nicht, daß es eigentlich gemein ist, wenn du so redest?« fragte sie ruhig und fuhr, sich in eine ehrliche Empörung hineinsteigernd, fort: »Ganz miserabel ist das, sage ich dir. Dem Onkel, der schon ein bejammernswertes Leben führt, nicht einmal dieses Leben zu gönnen. Pfui Deibel!« Der Backfisch schüttelte sich. »Und so was ist nun mein Bruder.«
»Ich hab' ja gesagt, daß du eine Gans bist«, stellte der Bruder ungerührt fest und fühlte sich in seiner männlichen Sachlichkeit, wie er bei sich seine Denkungsart bezeichnete, der warmherzigen, anständig denkenden Schwester gegenüber gewaltig überlegen.
Vielleicht wäre sein schönes Selbstbewußtsein stark ins Wanken geraten, wenn er geahnt hätte, daß hinter der schweren Portiere, die an Stelle einer Tür das Rauchzimmer von dem danebenliegenden Salon trennte, der Mann, von dem er so lieblos sprach, in seinem Fahrstuhl saß und Zeuge der Unterhaltung wurde.
Gewiß erschienen dem Mann die Gedankengänge des Neffen nicht so unbekannt, hatte er doch immer schon vermutet, in welcher Weise die Verwandten auf das Erbe, daß er einmal hinterlassen würde, spekulierten. Er fand also jetzt nur die Bestätigung für die Richtigkeit seiner Vermutungen.
Die kleine Ingrid dachte zwar anders, war sogar tapfer für ihn eingetreten, aber wie lange noch, und dann würde sie genauso von der Geldgier ihrer Angehörigen angesteckt sein. Schade, aber wohl kaum zu ändern.
Aber bitter war das alles, sehr, sehr bitter. Krank sein ist schlimm, dachte der Mann, aber krank und einsam sein, das ist die Vorstufe der Hölle.
Mit einem Ruck setzte er seinen Fahrstuhl in Bewegung und ließ ihn zurückrollen. Sehr hörbar öffnete und schloß er dann die Tür. Nun waren die beiden gewarnt, würden ihr verfängliches Gespräch abbrechen und nicht ahnen, daß er zugehört hatte.
Er war seiner Schwester gegenüber, die gerade mit hochrotem Kopf und ziemlich erregt aus dem Arbeitszimmer kam, als er die beiden jungen Menschen im Rauchzimmer begrüßte, ziemlich kurz.
Er bedauerte sehr, daß man ihn zu einer für ihn so ungünstigen Zeit aufgesucht habe, und schob dringende Arbeit vor, die ihn verhinderte, heute Besuch zu empfangen.
Er empfahl der Schwester freundlich, sich künftig doch lieber vorher anzumelden, da er gerade jetzt äußerst angestrengt an einem neuen Buch arbeite, auf das sein Verleger schon seit geraumer Zeit warte.
Damit hielt er ihr die Hand entgegen, die sie widerwillig ergriff und verabschiedete auch Nichte und Neffe, wobei sein Blick voller Wärme und Mitleid einen Augenblick auf dem offenen Gesicht Ingrids verweilte.
Mit einem Ruck wandte er den Fahrstuhl und strebte in sein Arbeitszimmer.
Seine Sekretärin stand nachdenklich am Fenster, und fuhr zusammen, als sie das Öffnen der Tür hörte. Hastig wandte sie sich dem Eintretenden zu, dessen Augen forschend auf ihrem Gesicht ruhten.
Trotzdem sie sich Mühe gab, unbefangen zu erscheinen, entging es dem Mann doch nicht, daß sie innerlich erregt war.
Eine Frage lag ihm auf der Zunge, aber er hielt sie zurück, denn wie er seine Sekretärin kannte, würde sie ihm doch keine Auskunft geben.
Damit hatte er auch unbedingt richtig vermutet, nie hätte Gisela ihm sagen mögen, welcher Art ihre Unterhaltung mit Frau Jutta Vollmer gewesen war.
Nun, sie war dieser Dame wahrhaftig nichts schuldig geblieben, die ihr ziemlich deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß es mehr als unschicklich sei, wenn ein junges Mädchen im Hause eines Junggesellen lebte, und daß man sich vielleicht nicht mit Unrecht Gedanken darüber machte, was ein Mädchen wohl dazu veranlassen könnte, seinen guten Ruf so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Ohne sich davon außergewöhnliche Vorteile zu versprechen, mache das ein anständiges Mädchen nicht, hatte die Dame dann noch gemeint, hielt es aber immerhin für möglich, daß Gisela sich gar nicht bewußt sei, welchen Mißdeutungen sie sich aussetze und sicher, nachdem sie nun, gewissermaßen mütterlich, von Frau Vollmer darüber aufgeklärt worden sei, die Konsequenzen ziehe und ihre Tätigkeit bei Dr. von Repkow aufgeben würde.
Nun, Gisela war der fürsorglich auf ihren guten Ruf bedachten Dame nichts, aber auch gar nichts schuldig geblieben. Das temperamentvolle, sehr gerecht empfindende Mädchen hörte den falschen Ton nur zu gut heraus, der in Frau Vollmers Stimme lag, und so fielen auch ihre Antworten entsprechend scharf aus.
Es lag also eine etwas gedrückte Stimmung über den beiden Menschen, als sie sich wieder an die Arbeit machten.
Repkow vermochte sich nicht zu konzentrieren, nur stockend diktierte er, als müsse er mühsam jedes Wort suchen. Still saß ihm Gisela Rütten gegenüber, vermied jede unnötige Bewegung, um ihn nicht noch mehr zu irritieren.
Aber schließlich gab er es auf. »Ich bin heute nicht in der richtigen Stimmung, Fräulein Rütten«, sagte er müde. »Es hat keinen Zweck, etwas erzwingen zu wollen.«
»Wollen Sie sich nicht ein bißchen in die Sonne setzen, Herr Doktor?« fragte Gisela schüchtern. »Es ist schon so herrlich warm, und ich könnte Ihnen eine Decke holen.«
»Wenn Sie das tun wollten«, antwortete Repkow dankbar und wenig später saß er auf der Terrasse, in seinem verstellbaren Fahrstuhl lang ausgestreckt.
Verstohlen schritt Gisela ans Fenster und schaute auf den Ruhenden, der mit geschlossenen Augen dalag. Erst jetzt, wo er sich unbeobachtet glaubte, konnte man so richtig erkennen, wie herb sein Gesicht vom Geschick gezeichnet war. Ach, wenn man doch helfen könnte. Das war der Wunsch, der mächtiger denn je in dem jungen, warmherzigen Mädchen lebendig wurde.
*
Noch am Abend klang die Unterhaltung, die der Neffe mit Ingrid voller Lieblosigkeit und Berechnung geführt hatte, in Repkow nach.
Ein Zorn hatte den Mann gepackt, und er wünschte nichts sehnlicher, als einen Strich durch die kalten Berechnungen seiner Verwandten zu machen.
Noch einmal gesund sein – einmal nur, dachte er verzweifelt und sah im Geiste, wie man mit gierigen Händen nach seinem Besitz greifen würde, wenn er einmal nicht mehr sein würde.
Er tastete nach seinen Stöcken und schleppte sich zu einem Schrank, in dem er alle die Papiere aufzuheben pflegte, die ihm klar und deutlich sagten, daß er ein hoffnungsloser Fall sei, von allen Ärzten aufgegeben.
Seine Hände griffen suchend in das Schrankfach. Da war wohl die Mappe mit den Gutachten, aber wo waren die Röntgenaufnahmen? Sie hatten doch immer hier gelegen. Es bestand kein Zweifel, er hatte die Mappe und die Aufnahmen stets zusammen in diesem Schrank aufbewahrt – hatte beides in letzter Zeit auch nicht mehr gebraucht.
Er läutete nach dem Diener.
Über Geißlers Gesicht zog deutlich ein Zug des Erschreckens, als er seinen Herrn vor dem geöffneten Schrankfach sah. Hätte er sich doch nur nicht auf diese dumme Geschichte eingelassen, dachte er.
»Wissen Sie, wo die Röntgenbilder hingekommen sind, Geißler?« fragte Repkow streng.
Der Mann druckste herum, aber schließlich – man hatte es ja nur gut gemeint. Er hob den Kopf und sah seinen Herrn, im Bewußtsein der guten Absicht, die seinem Vergehen zugrunde lag, frei an.
»Die Aufnahmen habe ich Fräulein Rütten gegeben«, sagte er ruhig.
Repkow fuhr auf: »Fräulein Rütten? Ja, was hat denn Fräulein Rütten mit meinen Röntgenbildern zu tun? Wie kamen Sie dazu, Geißler?«
»Fräulein Rütten meinte...«
»Was meinte Fräulein Rütten?« fuhr Repkow den Mann aufgebracht an.
»Als es Ihnen nicht gut ging, meinte Fräulein Rütten, daß man doch versuchen müsse, Ihnen zu helfen. Und da fragte sie mich, ob ich wüßte, wo sich Röntgenbilder von Ihnen befinden, und als ich ihr sagte, daß wir sie hier hätten, wollte sie die Aufnahmen haben, um sie einem berühmten Professor zu zeigen. Und da sind sie noch.«
Auf seine beiden Stöcke gestützt, stand Repkow und lauschte den Worten seines Dieners nach. Die widerstrebendsten Gefühle bewegten ihn, er hätte das Mädchen hier haben mögen und ihr am liebsten gesagt, daß er es sich ganz entschieden verbitte, wenn man sich in seine ureigensten Angelegenheiten mische, und dann wiederum fragte er sich: Warum tut sie das?
Ging ihr Mitleid mit ihm so weit, daß sie sich wirklich ernsthaft mit ihm beschäftigte?
Aber es war müßig, darüber nachzudenken, morgen würde er sie deshalb zur Rede stellen. Mit diesem Beschluß wandte er sich seinem Diener zu und ließ sich von ihm in sein Schlafzimmer bringen.
*
Voller Bestürzung vernahm Gisela am anderen Tag, als sie zum Frühstück herunterkam, von Geißler, daß Repkow das Fehlen der Röntgenaufnahmen entdeckt hatte.
Das war mehr als peinlich. Stumm nahm sie ihr Frühstück ein, das ihr heute gar nicht schmecken wollte, zumal Repkow unsichtbar blieb.
Dann machte sie sich an die Arbeit.
Mechanisch griff sie nach der Post, die inzwischen gekommen war. Auch für sie war ein Brief dabei, den Geißler auf ihren Arbeitsplatz gelegt hatte. Von Andrea.
Interessiert begann sie zu lesen, nachdem sie den Umschlag aufgeschnitten hatte.
»Meine liebe Gisi-Schwester!
Heute bekommst Du einmal etwas extra Gutes zu hören. Etwas, woran wir schon gar nicht mehr zu glauben wagten. Mein Roman und die beiden Novellen sind vom Schniewind-Verlag angenommen worden! Was sagst Du nun, Gisilein? Ich bin so glücklich, so glücklich, Liebes und wünschte nur, daß wir zusammen wären und ich Dir alles erzählen könnte.
Wir haben Dr. Schniewind sehr Unrecht getan, der Ärmste hatte einen Unfall, war bei Glatteis gestürzt und zog sich eine schwere Gehirnerschütterung dabei zu. Deshalb hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Er kam jetzt sehr besorgt zu mir nach Kirchberg, um mir die gute Nachricht persönlich zu bringen.
Wir hatten nun auch schon einige Besprechungen miteinander, er nimmt seine Aufgabe als Verleger scheinbar sehr ernst.
Auch hinsichtlich des Honorars bin ich sehr zufrieden. Vor allem brauche ich bei Schniewind nicht um mein Geld Sorge zu haben.
Mit dem Vorschuß, den ich bekommen habe, konnte ich nun schon unseren Kredit fast restlos abdecken. Du brauchst also dort nicht mehr länger auszuhalten, Gisi, sondern könntest Deine Studien nun wieder aufnehmen. Jetzt schaffe ich es ja allein. Im Mai beginnt doch das neue Semester, vielleicht sprichst Du mit Herrn von Repkow, damit er sich rechtzeitig nach einem Ersatz für Dich umsieht. Dann wären wir doch endlich wieder zusammen, mein Kleines, ich habe doch recht Sehnsucht nach Dir.
Papa geht es verhältnismäßig gut. Tante Christine ist gesund und munter, wie immer. Hoffentlich bleibt sie noch recht lange so rüstig. Aber beide haben auch Sehnsucht nach Dir. Bitte, komm also bald heim.
Mit innigen Grüßen Deine Andrea«
Giselas Gesicht nahm einen Zug angestrengten Nachdenkens an. Nein, so wie Andrea sich das dachte, ging das nicht. Sie könnte nicht plötzlich, nur weil nicht mehr die zwingende Not zum Geldverdienen trieb, Dr. von Repkow verlassen, sondern mußte schon ihr Versprechen, wenigstens ein halbes Jahr bei ihm zu bleiben, einhalten. Hier wurde sie jetzt nötiger gebraucht als daheim.
*
Dr. Repkow hatte während der ganzen Nacht keine Minute Schlaf gefunden. Ruhelos lag er auf seinem Lager, von ständig wechselnden Gedanken gepeinigt.
Gegen Morgen stand sein Entschluß fest. Niemals würde er seinen Verwandten sein Erbe überlassen. Was bedeutete ihm schon seine Schwester? Was die Bande des Blutes, wenn nicht eine echte Zuneigung Menschen miteinander verband.
Wohl hatten seine Schwester und er gemeinsame Eltern, aber wie oft hatten auch die Eltern, als sie noch lebten, über die oberflächliche, eigennützige Art der Schwester geklagt, die so ganz aus der Art geschlagen sei, wie sie bekümmert feststellen mußten. Und auch Vollmer war ihnen als Schwiegersohn wenig willkommen gewesen.
Nein – er beging kein Unrecht, wenn er seiner Schwester ein Erbe vorenthielt, das ja doch nur in kurzer Zeit verschwendet werden würde, so, wie sie ihr elterliches Erbe nutzlos vertan hatte.
Ingrid – ja, die kleine Ingrid hätte es eher verdient, aber sie war noch lange nicht mündig und stand unter der Vormundschaft und dem Einfluß ihrer Eltern, auch sie kam nicht als Erbin in Frage. Man könnte ihr vielleicht eine Mitgift sicherstellen, überlegte der Mann, ja, das ginge.
Aber alles andere? Sollte er eine Stiftung einrichten? Irgendeinen Hilfsfond? Die Kunstgegenstände einem Museum überweisen?
Viele einsame Menschen hatten es schon so gemacht – aber – es war so unpersönlich, so fremd. Da würde dann gelegentlich noch einmal sein Name in wohlgesetzten Worten als der eines edlen Stifters gerühmt, und dann – aus!
Man müßte einen Menschen, jemand, der voller Verständnis und Güte war. mit seiner irdischen Habe beglücken, dann hätte man doch am Ende des Lebens noch eine wirklich gute Tat vollbracht.
Ein Mädchengesicht tauchte vor ihm auf, ein Paar Augen, in denen Wärme und Verstehen, kein billiges Mitleid, sondern echtes, von Herzen kommendes, Mitempfinden lag. Ja – war es das? Würde das richtig sein? Seine Gedanken verwirrten sich, wurden schwerer – entglitten in das Dunkel dumpfer Müdigkeit. Als die ersten Amseln im Garten zu flöten begannen, fielen dem einsam Wachenden die Augen zu. Er schlief.
Wirre Träume wechselten miteinander ab. Er stöhnte im Schlaf, gemartert von fratzenhaften Bildern, von Angst und Schmerz, und er lächelte, wenn ein lichtes Bild ihm beglückende Liebe vorgaukelte, alte, längst vergessene Empfindungen wachrufend.
Erwachend verspürte er einen dumpfen, brennenden Schmerz – die holden Gesichter verschwanden vor der rauhen Wirklichkeit – was blieb, war bitteres Elend...
Erst am späten Nachmittag erschien Repkow in seinem Arbeitszimmer. Befangen blickte seine junge Sekretärin zu ihm auf, senkte aber vor seinem finster forschenden Blick sofort die Augen.
Schweigend schaute Repkow auf den gesenkten Kopf, um den die Märzsonne einen goldenen Schein wob.
Eine beklemmende Stille lag im Raum – und ebenso bedrückend wirkte auf das Mädchen das Schweigen des Mannes.
Entschlossen richtete sie sich auf, sie vermochte diese Spannung nicht länger zu ertragen, die nun schon seit dem Morgen, als Geißler ihr erzählte, daß Repkow das Fehlen der Aufnahmen entdeckt hatte, auf ihr lastete.
»Sie sind mir böse, weil ich so eigenmächtig war«, fragte sie zupackend, wie es ihre Art war.
»Und hätte ich dazu nicht allen Grund?« fragte Repkow grollend.
»Gewiß – ja – aber ...« Gisela stockte. Wie sollte sie ihm das alles erklären, ohne seine krankhafte Empfindsamkeit zu verletzen?
»Sehr aufschlußreich, was Sie zu Ihrer Entschuldigung vorbringen«, spottete der Mann, »aber vielleicht können Sie mir doch etwas deutlicher erklären, welche Gründe Sie zu Ihrem Tun verleiteten?«
Unruhig begann das Mädchen mit dem Brieföffner zu spielen, suchte nach Worten.
»War es ein rein medizinisches Interesse der zukünftigen Ärztin an dem schwierigen Fall, der Sie veranlaßte ...«
Das Mädchen fuhr empört hoch. Zornig funkelten ihn die blauen Augen an:
»Wie können Sie nur so etwas denken, Herr von Repkow! Nicht kaltes, sachliches Interesse, sondern...« sie schwieg, die erregten Worte, die ihr auf der Zunge lagen, mit Mühe zurückhaltend.
»Sondern, Fräulein Rütten? – Ich habe schließlich ein Recht zu erfahren, weshalb...?«
»Aus menschlichem Mitempfinden, Herr Doktor von Repkow«, erwiderte Gisela ernst, die Augen voll zu ihm aufschlagend, und dann, lebhafter werdend:
»Weil es mir keine Ruhe läßt, daß es keine Hilfe für Sie geben soll – und weil sich niemand um Sie kümmert. Weil man Sie ganz allein läßt, deshalb.«
Aufatmend hielt sie inne und schaute, die Wirkung ihrer Worte nicht beachtend, an den Augen des Mannes vorbei.
Wieder hing ein Schweigen im Raum, das mit Spannung geladen war, wie eine Gewitterwolke, die drohend am Himmel steht.
»Also weil Sie mir helfen wollten, Gisela, haben Sie so eigenmächtig verfügt«, sagte er nach längerer Zeit mit völlig veränderter, warm klingender Stimme. »Dafür müßte ich Ihnen ja eigentlich dankbar sein, und ich bin es auch«, fügte er hinzu und sah sie mit einem Ausdruck an, den sie sich nicht zu deuten wußte. Nur froh war sie, unendlich froh, daß er endlich sprach, daß dieser gräßliche Druck von ihr genommen wurde.
»Ich bin glücklich, daß Sie es so sehen«, erwiderte sie schlicht, »es war mir klar, daß ich etwas tat, wozu ich durchaus nicht befugt bin, aber darf man danach überhaupt fragen, wenn es gilt zu helfen? Es wäre gerade so, als sollte man einen Menschen verbluten lassen, nur weil er auf einem Boden liegt, der einem nicht gehört – das würde man doch aber in solch einem Augenblick auch nicht beachten.«
»Ja – bei Ihnen ist es wohl so, daß Sie kompromißlos das tun, was Ihnen recht erscheint«, gab Repkow langsam zurück. »Ich wüßte nur gern...«, er schaute sie mit unruhigen, fast fiebrig glänzenden Augen an und sprach langsam, jedes Wort wägend: »Ich möchte nur wissen, wie weit Ihre Hilfsbereitschaft gehen würde, wenn ich Ihnen einen, wie ich zugeben muß, etwas ungewöhnlichen Weg zeigen würde, auf dem mir, in bestimmter Hinsicht, mit Sicherheit geholfen werden könnte.«
»Ich müßte den Weg zunächst kennen, bevor ich Ihnen sagen könnte, ob ich ihn gehen kann«, erwiderte das Mädchen offen, obgleich etwas in seinem Blick lag, was sie irritierte...
»Was würden Sie sagen, wenn ich Sie bäte, meine Frau zu werden?«
»Ihre – Ihre Frau?« Mit weit aufgerissenen Augen, in denen grenzenloses Erstaunen, ja mehr noch, eine völlige Verwirrung stand, schaute das Mädchen den Mann an, der so ruhig, betont langsam, gesprochen hatte.
»Ja, Fräulein Rütten, meine Frau«, wiederholte Repkow seine Worte und sprach, fast begütigend, weiter: »Ich gebe Ihnen gern zu, daß es Ihnen ungeheuerlich erscheinen muß, daß ich, der Krüppel, ein schönes, gesundes Mädel – und Sie sind schön, Gisela – bitte, meine Frau zu werden. Aber Sie brauchen deshalb nicht zu erschrecken. Ich denke an keine Ehe im eigentlichen Sinn, Sie hätten also nichts zu befürchten.«
»Aber warum – warum denn dann..« Völlig verwirrt brach Gisela ab.
»Vielleicht – weil es mein innigster Wunsch ist, einen Menschen zu haben, der zu mir gehört.«
»Dann hätte ja Frau Vollmer doch recht«, entfuhr es dem Mädchen.
»Wieso?« fragte Repkow gespannt.
»Weil sie mir gestern andeutete – daß ich besser daran täte, wenn ich meine Arbeit bei Ihnen aufgeben würde. Es gehöre sich für ein junges Mädchen nicht, mit einem Junggesellen zusammen in einem Hause zu leben. Ich hatte aber den Eindruck, als sei der Grund für diese moralische Besorgnis ein anderer.«
Repkow stieß ein kurzes, grimmiges Lachen aus.
»Damit haben Sie sicher nicht unrecht, Gisela, Ihre Tugend ist meiner Schwester völlig gleichgültig. Aber – sie hält sie für eine Gefahr, sie fürchtete, das sichere Erbe zu verlieren. – Ja, ich habe es geahnt, daß gestern zwischen Ihnen eine Auseinandersetzung stattgefunden hat.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er in ruhigem Ton fort.
»Ich hoffe, Sie werden verstehen, daß ich meinen Besitz nicht ausgerechnet Menschen überlassen möchte, die meinen Tod herbeisehnen, um mit gierigen Händen nach dem zu greifen, was mir lieb war.« Er schöpfte tief Luft, bevor er weitersprach – diese Unterredung strengte ihn doch sehr an.
»Ich wüßte keinen Menschen, dem ich mein Erbe lieber überlassen würde als Ihnen, und außerdem – ich wüßte dann, daß Sie in meinem Sinne damit verfahren würden. Ich wüßte, daß bis zu meiner letzten Stunde ein Mensch bei mir sein würde – der voller Güte und Verstehen ist«, schloß er leise.
Sinnend schaute Gisela in die dunklen Männeraugen, die in herzlicher Bitte auf ihr ruhten.
»Es wird kein leichter Entschluß für Sie sein, aber...« Ein schmerzliches Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. »Es dauerte ja nicht lange, ein paar Jahre. Zwei, vielleicht auch drei, und dann sind Sie wieder befreit. Oder sind Sie schon irgendwie gebunden?« fragte er drängend, in plötzlicher Angst, daß da schon jemand wäre, der Rechte geltend machen könnte.
»Nein, es gibt keinen Mann in meinem Leben«, antwortete Gisela beruhigend. »Aber trotzdem...«
»Würde es Ihnen so schwer fallen, mir ein paar Jahre Ihres Lebens zu schenken? Sie sind doch noch so köstlich jung, haben noch ein langes Leben vor sich.« Traurig schwieg der Kranke. »Nein, das ist es nicht!« Gisela rief es fast verzweifelt. »Aber bedenken Sie doch bitte, welche häßliche Rolle ich in den Augen anderer Menschen spiele! Man muß mich ja für eine ganz raffinierte Person halten, eine – Erbschleicherin...«
»Sie sind doch sonst so mutig und fürchten sich nicht vor dem Urteil der Menschen, Gisi...«
»Bitte, Herr Doktor, lassen Sie mir bis morgen Zeit. Ich muß das erst in Ruhe überdenken«, bat das Mädchen voller Qual. »Man kann doch nicht in wenigen Minuten einen so schwerwiegenden Entschluß fassen.«
»Gut, ich will Sie nicht bedrängen, Gisela«, sagte Repkow warm. »Aber überlegen Sie gut und bedenken Sie, daß Sie mir für den Rest meines Lebens Frieden und – Sonne geben würden.«
Der Kranke wendete jäh seinen Fahrstuhl und fuhr hinaus – an der Tür dem Mädchen noch einen bittenden Blick zuwerfend.
*
An diesem denkwürdigen Sonnabend Ende März, an dem Gisela vor eine so entscheidende Frage gestellt wurde, fuhr ihre Schwester nach Stuttgart, um den Schniewind-Verlag zu besichtigen.
Schniewind hatte ihr seinen Wagen mit einem Fahrer geschickt, damit Frau Andrea nicht mit dem langweiligen Bummelbähnchen fahren mußte.
Für Andrea war dieser Tag ungeheuer anregend, die lebhaft geführte, oft spritzige Unterhaltung, wo die Geister oft hart aufeinanderprallten und bisweilen vor Witz sprühten. Sie hätte es selbst nicht für möglich gehalten, daß sie noch so unbeschwert und heiter sein konnte. Und nicht minder überrascht wäre sie gewesen, wenn sie jetzt einen Spiegel zur Hand gehabt hätte.
Immer wieder streiften Schniewinds Blicke verstohlen das angeregte, freudig strahlende Gesicht der Frau, die solange im Schatten gestanden hatte und nun sichtbar aufblühte.
Als Andrea später neben Schniewind im Wagen saß und wieder heimfuhr, plauderte sie noch immer froh und angeregt von den Eindrücken, die sie gewonnen hatte.
Mit einem Anflug leiser Rührung lauschte der Mann. Wie unverwöhnt war doch diese mädchenhafte Frau, daß ein so kleiner Anlaß wie diese heutige Besichtigung genügte, um in ihr diese zufriedene Heiterkeit eines beschenkten Kindes, denn so erschien sie ihm, hervorzurufen.
Ein Gedanke tauchte blitzartig in ihm auf – und schon stoppte er die schnelle Fahrt. Fragend blickte ihn seine Begleiterin an.
Er lachte jungenhaft, und es lag etwas Spitzbübisches darin, als er sie listig anzwinkerte.
»Wenn während meiner Schulzeit die Frühlingssonne so herrlich schien, dann pflegten wir an die Wandtafel zu schreiben: &‹Der Himmel ist blau, das Wetter ist schön, Herr Lehrer, wir möchten spazierengehn!&›«
Lachend sahen sie einander an.
»Einverstanden?« fragte Schniewind.
Eine Sekunde überlegte Andrea. Dann nickte sie mit dem Kopf.
»Man soll eigentlich die Feste feiern, wie sie fallen«, lächelte sie etwas ernster. »Dieser Tag ist so einmalig schön.«
Lächelnd bemerkte der Mann ihre Verwirrung, glitt aber darüber hinweg und fragte:
»Was halten Sie von Freudenstadt? Das Kurhaus ist eines der schönsten, die es gibt.«
»Mein Gott, was fragen Sie mich? Ich kenne Freudenstadt nicht, und ein Kurhaus habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. – Aber – ist das nicht. doch ein bißchen weit?«
»Nur ein kleiner Umweg«, lachte Schniewind wieder, »wir fahren nach Kirchberg nun nicht dreißig Kilometer, sondern – na ja, etwa hundertfünfzig Kilometer.«
»Wirklich nur ein ganz kleiner Umweg«, ging sie auf seinen Scherz ein und funkelte ihn mit den heute so strahlenden Augen schelmisch an. –
Und es wurde für die beiden noch ein wunderbarer Tag.
*
Nicht so beglückt und ruhig wie ihre große Schwester in Kirchberg schlief Gisela in dem großen, unheimlich stillen Haus in München.
Die Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Was wollte sie tun? Wie sich entscheiden? Das waren die Fragen, die immer wieder aus dem Dunkel auftauchten und auf die sie noch keine Antwort wußte.
Immer wieder richtete sie sich im Bett auf und schaltete das Nachttischlämpchen ein, und ebensooft zog sie unter ihrem Kopfkissen ein Mäppchen hervor und betrachtete eingehend die Bilder, die darinlagen.
Grübelnd, in schwerem Ernst, ruhten ihre Blicke auf dem Männergesicht. Ach, wenn dieser Repkow da auf dem Bild sie gefragt hätte, sie hätte sicher nicht lange überlegen müssen, ob sie seine Frau werden wollte. Da hätte es nur eines gegeben, ein Ja aus vollstem Herzen.
Unwillig mit sich selbst schaute sie blicklos ins Leere. Auf was für Ideen kam sie da nur! Den gesunden Repkow glaubte sie, lieben zu können, und den Kranken nicht? War der es etwa nicht wert, geliebt zu werden?
Sie leuchtete bis in den tiefsten Winkel ihrer Seele. Ihr ganzes Gleichgewicht war ins Wanken geraten.
Entweder man liebt, oder man liebt nicht, dachte sie ärgerlich, und ich wäre ja ein ganz miserables Geschöpf, wenn ich meine Liebe davon abhängig machte, ob ein Mann gesund oder krank ist. Also, fragte sie sich selbst, was ist los mit dir, Gisela Rütten?
Aber auch diese energische Frage an ihr Ich vermochte ihr keine Klarheit zu geben. Es blieb dabei, den gesunden Repkow, ja, den Kranken, nein.
Oder – doch?
»Ach, ich weiß nicht«, stammelte sie hilflos und merkte gar nicht, daß sie laut sprach. »Er ist mir sympathisch; ich achte und schätze ihn, er tut mir leid, aber...«
Und dann fiel ihr wieder etwas anderes ein. Sicher, diese ganzen Umstände machten eine Entscheidung schwer. Der Gedanke, man könnte sie für eine Erbschleicherin halten – ja, das war es. Bestimmt. Bei solch einer verworrenen Sachlage konnte man sich ja nicht frei entscheiden, das beeinflußte einen doch zu sehr.
Wieder flatterten die Gedanken wie aufgeregte Vögel durcheinander. Gab es denn keinen Ausweg aus diesem Dilemma?
Unwirsch warf sie die Bettdecke zur Seite und sprang aus dem Bett. Grübelnd stand sie am Fenster und schaute hinaus in die Nacht, empor zu dem dunklen Sternenhimmel, an dem die Sichel des zunehmenden Mondes silbern glänzte.
Ganz allmählich kam etwas Frieden und Klarheit in die junge Seele, fanden die verstörten Gedanken einen Punkt, der sich verdichtete und Ziel wurde.
Ja – so würde es vielleicht gehen, dachte sie, aber auch nur vielleicht.
*
Repkow wartete schon seit einiger Zeit im Frühstückszimmer auf Gisela Rütten. Nervös schaute er immer wieder auf seine Uhr, deren Zeiger stillzustehen schien. Sie mußte doch bald kommen.
Mit fieberhafter Spannung richteten sich seine Augen auf die Tür, als er ihren leichten Schritt vernahm, und, während er sich schwerfällig auf die Lehne des Sessels stützte, erhob er sich und stand, gestützt auf seine Stöcke, erwartungsvoll im Zimmer, als sie eintrat.
Seine Stimme klang gepreßt, als er ihren leisen Morgengruß erwiderte. Fast, angstvoll suchte er ihren Blick. Erschüttert sah Gisela dieses Fragen, las die Qual in den dunklen Augen des Mannes, die von tiefen Ringen umschattet waren.
Mit offenem Blick nickte sie ihm beruhigend zu – sie ahnte wohl selbst nicht, wieviel frauliche Güte in ihrem Blick lag.
»Sie – Sie wollen...?« fragte der Mann heiser.
»Ja«, antwortete sie schlicht, und trat auf ihn zu, ihm die Hand mit festem Druck reichend.
»O Gisela, ich danke Ihnen, danke Ihnen so sehr!« Fast stammelnd kam es von seinen Lippen, während er sie mit Augen ansah, in denen Qual und Glück zugleich lag.
Auch er hatte in dieser Nacht, genauso wie in der vergangenen, wenig geschlafen, und merkwürdigerweise hatten sich seine Gedanken in einer ähnlichen Richtung bewegt wie Giselas.
Liebe ich Gisela Rütten auch wirklich? Das war die Frage, die in ihm aufstieg, als er Zwiesprache hielt mit sich und mit staunender Verwunderung feststellte, mit welcher ungeheuren Spannung er auf die Antwort des Mädchens wartete.
Die Angst, daß sie nein sagen könnte, war doch nicht nur damit zu erklären, daß er seine Hinterlassenschaft in guten Händen zu sehen wünschte. Es mußte doch noch etwas anderes sein, was ihn so bangen ließ, grübelte der einsame Mann und wagte es nicht einmal vor sich selbst zuzugeben.
Bewußt verschloß er seine Augen vor der Erkenntnis und fürchtete sich an Dinge zu rühren, die es für ihn nicht mehr geben konnte.
Trotzdem war aber jetzt ein heißes Freuen in ihm. Er würde nun nie mehr allein sein, Gisela, die kleine Gisi würde bei ihm bleiben, bis zur letzten Stunde.
Er atmete tief auf – es tat so weh, daran zu denken – und doch, er war glücklich.
Ganz still hielt die kleine Gisi, als seine Hände bebend und scheu über ihr Haar glitt.
»Du wirst es nicht bereuen müssen, Gisi«, gelobte er bewegt.
»Das weiß ich, Herr von...«, sie stockte. Ihre Verwirrung rief ein gutes Lächeln auf sein Gesicht.
»Willst du dich nicht daran gewöhnen, mich du und beim Vornamen zu nennen? Denn wir sind ja nun verlobt, meinst du nicht auch?« fragte er behutsam.
»Ja, Eike, ich will«, kam es mit großer Herzlichkeit zurück. »Aber ...« und nun versuchte sie den Bann, der auf ihnen beiden lag, erregend und sie gefangenhaltend, zu durchbrechen, »ich glaube, du hast gar nicht gut geschlafen, siehst ganz überwacht aus. Da wird dir eine Tasse Kaffee jetzt guttun.«
Fürsorglich geleitete sie ihn an den Tisch, läutete nach dem Kaffee und war ganz wieder das resolute, zupackende Mädchen, das trotz seiner Jugend so viel Sicherheit ausströmte.
Nach dem Frühstück saßen sie einander in seinem Arbeitszimmer gegenüber und besprachen alles Erforderliche für die Heirat.
»Ich muß aber eine Bedingung stellen, Eike«, sagte das junge Mädchen ernst.
»Und die wäre?«
»Daß unsere Ehe geschieden wird, wenn du gesund werden solltest.«
Der Mann lachte laut auf – ein bitteres Lachen.
»Ach, Kind, du gläubiges, vertrauensvolles Kind! Glaubst du denn wirklich, daß sich daran noch einmal etwas ändern könnte?«
»Ja, daran glaube ich, solange du lebst«, kam es mit großer Entschiedenheit und schier unglaublicher Zuversicht von den rosigen Lippen.
»Ich wollte, ich könnte deinen Glauben teilen, du kleine Wundergläubige.« Ein schmerzliches Lächeln begleitete diese Worte. »Aber, wie es auch sei, dieses Versprechen kann ich dir getrost geben, es wird mir nicht schwerfallen, es zu halten«, schloß er mit einem Anflug von Ironie.
»Nun, warten wir es ab«, meinte Gisela und lächelte ihm aufmunternd zu. »Jedenfalls macht es mir meinen Entschluß leichter.«
»Wenn ich nur wüßte, wieso?« fragte Repkow kopfschüttelnd.
»Damit du mich fortschicken kannst, wenn du mich einmal nicht mehr brauchen solltest, Eike«, bekannte sie ernsthaft.
»Ach, Kind, du liebes Kind!« rief Repkow überrascht aus. »Was du dir für Gedanken machst!« – und fügte hinzu, während seine Augen von dem klaren Gesicht des Mädchens abirrten. »Ich glaube, das würde nie geschehen, daß ich dich je wieder fortschickte.«
*
Andrea Dornbach starrte fassungslos auf den Brief, als könne sie ihren Augen nicht trauen.
Das war doch nicht möglich, das konnte doch Gisi nicht tun! Ihr lebenssprühendes, fröhliches Schwesterchen – und ein Krüppel!
Nein, nein, das ging nicht, auf keinen Fall! Das konnte man nicht zulassen!
Dieses warmherzige, mitleidige Kind ahnte ja nicht, was es sich mit dieser Ehe für eine Last aufbürden wollte.
Es war einfach unerhört von diesem Repkow, solch ein junges Menschenkind an sich und sein trauriges Geschick ketten zu wollen.
Wieder und wieder las die Frau den Brief und lief erregt im Zimmer auf und ab.
Das ging nicht, nein, auf keinen Fall!
Man mußte Schniewind fragen. Er würde Auskunft geben können über diesen Repkow.
Gleich morgen würde sie zu ihm fahren, beschloß Frau Andrea erleichtert.
Zunächst würde sie dem Vater nichts sagen.
Schniewind war überrascht, Frau Andrea so unerwartet zu sehen. Aber sein frohes Gesicht verdüsterte sich schnell, als er den Grund ihres Besuches erfuhr.
Es dauerte lange, bevor er zu sprechen begann.
»Sie stellen mich da vor eine sehr schwierige Frage, liebe gnädige Frau«, sagte er langsam, jedes Wort sorgsam wägend. »Repkow ist tatsächlich mein Freund. Mein einziger und bester Freund«, betonte er.
»Er ist ein außerordentlich wertvoller Mensch, dem ich von Herzen jedes Glück gönnen würde. Wenn es jemand verdient hätte, dann er. Und ich hätte mich über seine Verlobung ganz aufrichtig gefreut, wenn ich nicht um die Bedenken wüßte, die Sie mir vorgetragen haben und für die ich vollstes Verständnis habe. Ich bin sogar sehr glücklich, daß Sie so vertrauensvoll gleich zu mir kamen.«
Bedrückt schaute Andrea vor sich hin. Was sollte man tun?
Schniewind spürte den Kampf, der sich im Innern der von ihm so sehr geschätzten Frau abspielte.
»Was würden Sie davon halten, wenn wir zusammen nach München fahren würden, gnädige Frau?« schlug er vor, um ihr irgendwie zu Hilfe zu kommen.
»Das wollen Sie wirklich?« rief Andrea erleichtert.
»Ja – es wäre mir auch sehr lieb, wenn ich selbst einmal mit Repkow sprechen könnte. Wir wissen ja beide nicht, was eigentlich dieser Verlobung zugrunde liegt, und deshalb kann man auch nicht urteilen.«
Impulsiv reichte ihm Andrea die Hand: »Ich danke Ihnen, Herr Dr. Schniewind. Sie ahnen ja nicht, um wieviel leichter mein Herz geworden ist.«
*
Freudig überrascht empfing Repkow die Ankömmlinge, während Gisela etwas mißtrauisch diesem Besuch der Schwester gegenüberstand. Sie ahnte sofort, daß Andrea vielleicht nur gekommen war, um sie von dieser Heirat abzuhalten. Sie nahm auch sofort eine abwehrende Haltung ein, als Andrea, die sich in Giselas Zimmer etwas erfrischte, auf die Verlobung zu sprechen kam.
»Du wirst mich nicht umstimmen, Andrea, und wenn du erst alles weißt, wirst du das auch nicht mehr wollen«; sagte sie in ihrer temperamentvollen Art, die sich nicht mit langen Vorgeschichten aufhielt.
Kurz und sachlich klärte sie die Schwester über die Vorgänge auf, die gespannt lauschte.
Als Gisi mit ihrem Bericht fertig war, glänzten Tränen in den Augen Andreas.
Liebevoll zog sie die Jüngere in ihre Arme.
»Wenn es so ist – dann darf man dir ja wohl nicht dreinreden. Aber selbst wenn es sich nur noch um zwei oder drei Jahre handeln sollte ...«
»Um Gottes willen, sei doch still! Ich kann es nicht hören, Andrea«, schrie das junge Mädchen gepeinigt auf und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, während sie in bitteres Weinen ausbrach. »Und wenn er noch zehn, noch zwanzig Jahre lebte – und nie gesund wäre – ich bliebe bei ihm!«
Betroffen schaute Andrea diesem jähen Ausbruch zu. In ihren Augen lag ein heiseres Erbarmen. Wenn es so stand? – Dann arme, arme Gisi!
Sie setzte sich auf den Bettrand und richtete das junge Geschöpf auf, hielt die Schwester eng umschlungen und vermochte auch nichts weiter zu tun, als mit ihr zu weinen.
Mit eisernen Händen hatte das Schicksal die kleine, sonnige Schwester in ein Geschehen hineingestellt, das so eingreifend war in alles Bisherige und in seiner düsteren Tragik nur Leid, nichts als Leid verhieß.
Andrea faßte sich wieder – man durfte der Schwester nicht das Herz noch schwerer machen.
»Man muß nur ganz fest an das Wunder glauben, Gisi – dann kommt es auch«, sprach die Ältere fest und suchte die innere Stimme zu übertönen, die zweifeln wollte.
Arm in Arm gingen die beiden jungen Frauen wieder hinunter, und nun vermochte Andrea sich erst eingehender mit der Persönlichkeit des Mannes zu beschäftigen, der Gisis Schicksal geworden war.
Wenn er ihr auch schon beim ersten Sehen sympathisch erschien, so erwachte in ihr sehr bald eine warme, schwesterliche Zuneigung, je länger sie sich mit ihm unterhielt und ihn beobachten konnte.
Als sie mit ihm für kurze Zeit allein blieb, Gisela war mit Schniewind ins Arbeitszimmer gegangen, um ihm einige Schriften auf den Wunsch ihres Verlobten zu zeigen, fragte Repkow beklommen:
»Hat Ihnen Gisi erzählt, wie es zu dieser Verlobung kam, gnädige Frau?«
»Ja, sie sagte mir das Wesentliche. Und ich möchte Gisis Zuversicht teilen und hoffen, daß all Ihre Sorgen unnötig sind und Sie doch noch einmal gesund werden«, erwiderte sie herzlich und ermutigend zugleich.
»Und Sie heißen meinen Wunsch gut, sind nicht böse, daß ich Gisela an mich kette, gnädige Frau?« fragte Repkow und ahnte nicht, wie bittend seine Stimme klang.
»Ja – es ist richtig so«, nickte sie ihm beruhigend zu, »man darf sich einem großen Schicksal nicht in den Weg stellen, Eike. Und Gisis Bestimmung ist es nun einmal, bei dir zu sein.«
Ein dunkles Rot überflog das blasse Gesicht des Mannes. Er zog fast andächtig ihre Hand an die Lippen: »Ich danke dir, Schwester Andrea ...« sagte er mit einer Stimme, die vor innerer Bewegung fast heiser klang.
Als sie später zusammen beim Schein der großen Stehlampe saßen, kam es fast zusammenhanglos mit dem Gespräch, das sie gerade führten, von den Lippen des Kranken: »Heute bin ich zum ersten Male glücklich, seit meinem Unfall.« Er suchte nach Worten – bevor er fortfuhr. »Alles Leid wird unwesentlich, wenn man es nicht allein trägt, wenn man Menschen hat, die zu einem gehören ...«
Als Andrea am nächsten Tag mit Schniewind wieder heimfuhr, hielt er kurz vor der Einfahrt zur Autobahn an:
»Zu welcher Ansicht sind Sie nun gekommen, gnädige Frau?« erkundigte er sich und blickte sie aufmerksam prüfend an.
Frei und offen erwiderte sie seinen Blick: »Sie wissen es schon. Man muß ganz still werden, wenn das Schicksal so gewaltig spricht. – Sie – lieben einander ...«
Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen.
*
Drei Wochen später fand die Hochzeit Repkows mit Gisela Rütten statt. Man hatte das Aufsehen, das dieses ungleiche Paar vielleicht in Kirchbach erregt hätte, vermeiden wollen, und deshalb fuhren die wenigen Hochzeitsgäste in Schniewinds Wagen nach München.
Nur zögernd hatte der alte Herr Rütten seine Einwilligung zu dieser Heirat gegeben, auch ihn schmerzte es unsagbar, daß seinem Liebling, die junge, sonnige Gisi, eine so schwere Last auferlegt wurde.
Aber als er Repkow sah, der trotz seines Leidens in Kirchbach um seine Braut beim Vater geworben hatte, vermochte auch er nicht seine Zustimmung zu verweigern, wenn ihm auch das Herz sehr schwer war.
Die vier Menschen, die der Feier beiwohnten, hatten alle Selbstbeherrschung nötig, um ihre Fassung zu bewahren, als der Pfarrer die Worte sprach: Bis daß der Tod euch scheide.
Wie erlöst atmeten sie auf, als diese Feier vorüber war, die an ihren Nerven riß. Unbegreiflich erschien es ihnen, daß die Gesichter des jungen Paares einen so glücklichen Ausdruck zeigten, als gäbe es nichts, was ihr Glück trübte.
Sie ahnten allerdings auch nicht, daß neue Hoffnung im Herzen Repkows blühte und auch einen Abglanz in die Seele seiner jungen Frau warf.
Beide hatten zu keinem Menschen darüber gesprochen, daß Professor Jünger die Genesung Repkows für möglich hielt.
Zunächst hatte der Arzt mit vorsichtiger Zurückhaltung an Gisi geschrieben und ihr mitgeteilt, daß er natürlich nicht an Hand der Röntgenaufnahmen allein ein abschließendes Gutachten abgeben könne. Um das zu tun, sei es notwendig, daß sich der Patient von ihm noch gründlich untersuchen lasse. Es sei aber durchaus denkbar, daß eine Operation Rettung bringen könne. Allerdings könne er nicht verhehlen, daß es sich um einen Eingriff auf Leben und Tod handele, wie das immer in derartigen Fällen sei. Eine Querschnittlähmung, und um eine solche handele es sich ja leider, gehöre nun einmal zu jenen furchtbaren Krankheiten, die nur schwer zu heilen seien.
Diese Untersuchung hatte nun ein günstigeres Ergebnis gezeigt als alle vorangegangenen. Daß die Operation lebensgefährlich sei, hatte der Professor nicht in Abrede stellen können, aber die Chancen, daß sie gut und ohne Komplikationen verlaufen könne, waren doch größer, als die bisherigen Gutachten verhießen.
In den Tagen, die dieser Untersuchung folgten, wagten beide nicht, ihre Gedanken zu dieser Frage laut werden zu lassen. Und doch dachten beide an nichts anderes, suchten beide, jedes für sich, sich zu einem Entschluß durchzuringen.
Wenn es für Repkow schon eine unerhörte Qual war, sich für oder gegen eine Operation zu entscheiden, für Gisela war es eine unmenschliche Marter.
Sie wußte, daß sie inzwischen einen sehr starken Einfluß auf ihn gewonnen hatte, daß er auf ein Wort von ihr, auf ihre Ansicht wartete. Aber was, was sollte sie ihm jetzt raten? Wie konnte sie überhaupt zu einer Frage Stellung nehmen, die über Leben und Tod eines anderen Menschen entschied? Durfte man das überhaupt? Mußte Eike sich nicht ganz allein entscheiden? Mit Wunderglauben und Hoffnungsseligkeit war hier nichts getan, man mußte sich mit den Dingen auseinandersetzen, mußte eine Verantwortung übernehmen bis zur letzten Konsequenz.
Langsam krochen die Tage dahin, wurden mit jeder Stunde unerträglicher, bis eines Morgens Eike wieder nicht am Frühstückstisch erschien.
»Es hat den Herrn Doktor wieder einmal gepackt«, sagte Geißler traurig, »er gefiel mir schon die ganzen letzten Tage nicht mehr.«
Erschrocken schaute Gisela den treuen Diener an: »Es ist zu furchtbar«, sagte sie tonlos, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Kann ich zu ihm, oder schläft er?« fragte sie knapp.
»Er ist wach«, kam es kurz zurück.
Eilig lief sie die Treppe hinauf. Als sie nach kurzem Anklopfen das Zimmer betrat, war es, als überkäme sie wieder die alte, frohe Lebenssicherheit. Nichts Zweifelndes, Zagendes war mehr in ihr.
Sie setzte sich vorsichtig auf den Bettrand und reichte dem Leidenden die Hand, hielt die seine mit festem Druck, ohne sie wieder loszulassen.
»Eike –!« Zuversichtlich, ermutigend schaute sie ihn an mit Augen, in denen die starke innere Erregung einen fiebrigen Glanz hervorrief, »ich denke – wir wagen es doch ...«
Da war es gesagt – nun muß man stark sein, ganz stark, dachte das Mädchen – jetzt muß ich tragen, was ich mir auflade – und sie preßte die Hand des Kranken ganz fest – als wolle sie gleich ihre Kraft erproben.
Eikes Hand bebte in der schmalen Mädchenhand, von der es wie ein warmer Strom zu ihm hinüberglitt.
Ruhig und ernst hielt sie seinen forschenden Blicken stand.
»Du bist so gerade, so ehrlich. Gisi – und so mutig. Ohne dich würde ich es nicht mehr gewagt haben.«
»Willst du also?« stieß sie hastig hervor.
»Ja, Gisi, für dich werde ich es wagen«, sagte der Mann.
»Für dich will ich es tragen«, dachte das Mädchen und zeigte ihm ein frohes Gesicht.
Und ganz selbstverständlich hatte sie, als er sich am Abend der Hochzeit von ihr verabschiedete, ihm einen Kuß gegeben. Ganz leicht hatten ihre Lippen einen kurzen Augenblick auf seinem Mund geruht, daß er glaubte, zu träumen.
*
Repkow hatte seine Verwandten nur durch eine gedruckte Karte von seiner Verheiratung in Kenntnis gesetzt, um nicht vorher schwere Kämpfe mit ihnen auszufechten. Er fürchtete nicht zu Unrecht, daß sie alles versuchen würden, um ihn von seinem Entschluß abzubringen.
Und sicher hatte er damit nicht falsch gedacht. Das bewies ihm Frau Jutta, als sie rücksichtslos ihrer Empörung über diese verrückte Ehe, wie sie es nannte, Ausdruck gab.
»Ich hätte nie gedacht, daß du noch so unvernünftig sein würdest und einem raffinierten Frauenzimmer auf den Leim gingest«, schleuderte sie ihm böse entgegen.
»Und ich muß dich dringend ersuchen, von meiner Frau in anderen Worten zu sprechen!« herrschte er sie drohend an.
»Ach was, was wahr ist, ist wahr! Ich habe gleich gewußt, daß dieses Mädchen dein Erbe an sich bringen wollte – aber du, du!« Vor ohnmächtiger Wut fehlten ihr die Worte.
»Noch einmal – ich wünsche nichts Derartiges zu hören, sonst müßte ich dich bitten, mein Haus zu verlassen!« forderte er sie mit eisiger Stimme auf.
»Daß die Männer sich doch von jedem hübschen Lärvchen den Kopf verdrehen lassen, selbst wenn sie ein ...« sie hielt erschrocken inne, es kam ihr wohl zum Bewußtsein, daß sie das Wort Krüppel wohl doch nicht aussprechen dürfte.
Aber dem Mann genügte es auch so. Er drückte auf die Klingel.
»Geißler, Frau Vollmer wünscht zu gehen. Bitte begleiten sie die Dame hinaus«, sagte er mit eiserner Ruhe, als sei es selbstverständlich, zu dem eintretenden Diener.
»Du – du, man hätte dich entmündigen sollen!« stieß die Frau erregt, bar jeder Würde und ohne Rücksicht auf die Anwesenheit des Dieners hervor.
»Bitte, gnädige Frau«, sagte dieser nur – und öffnete in nicht mißzuverstehender Weise die Tür.
Tief, ganz tief atmete Repkow auf, als sich die Tür hinter der Frau, die seine Schwester war, geschlossen hatte.
Das war also vorbei, dachte er und schloß erschöpft die Augen.
Ein leichter Schritt erklang hinter ihm, eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Bist du da, Gisi?« fragte er müde.
»Ja, Eike, leider zu spät. Du hattest wieder Besuch?«
»Ach laß, Kind – es war nicht der Rede wert, gut, daß du nicht dabeigewesen bist.«
»War es so schlimm?« forschte sie besorgt.
»Nicht schlimmer als erwartet, und nun laß uns nicht mehr darüber sprechen.«
*
Mit glücklichem Lächeln nahm Andrea das Paket in Empfang, das ihr der Postbote überreichte. Sie ahnte, was es enthalten mochte, stand doch als Absender der Schniewind-Verlag darauf.
Die Belegexemplare ihres Romans, der als erste ihrer Arbeiten erschien. Ihre Hände zitterten etwas vor freudiger Erregung, als sie die Verschnürung löste.
Und dann nahm sie eines der Bücher in schlichtem gelblichweißem Schutzumschlag mit der leicht hingeworfenen Zeichnung fast andächtig in die Hand.
Es war doch ein eigenes Gefühl, das, was man dachte und ersann, nun so vor sich zu sehen, wie es hinausging in die Welt, zu den Menschen.
Andrea Dornbach – da stand ihr Name. Fast zärtlich strich sie über das Buch und raffte dann alle zusammen, um sie in ihr Zimmer zu bringen.
»Also, zum ersten Male Andrea Dornbach, nicht mehr Pseudonym«, stellte der alte Herr lächelnd fest und betrachtete mit Kennermine den Einband. Schmunzelnd schaute er seine Tochter an:
»Ja, Kind«, sagte der alte Herr verständnisvoll, »ich kann es dir nachfühlen, habe es oft bei anderen miterlebt.«
Am Abend verschwand Andrea zeitig in ihrem Zimmer. Sie rückte die Vase mit den zwei hellrosa Rosen zurecht, damit der Schein der Lampe die Schönheit der Rosen voll zur Geltung brachte und kuschelte sich dann so recht behaglich und genußfreudig auf die Couch.
Mit großer Spannung begann sie zu lesen – es war ihr, als wüßte sie gar nicht, was in diesem Buch stand, als habe sie es nicht selbst geschrieben, so stark wurde sie von ihrer eigenen Phantasie gefesselt.
Aber nach einiger Zeit hatte sie wirklich das Gefühl, als habe sie das Buch nicht selbst geschrieben, wenigstens nicht allein, sondern als habe ein anderer Mensch mit daran gearbeitet.
Unwillig krauste sie die Stirn – das, das war bestimmt nicht von ihr. Man mußte nachher einmal im Durchschlag des Manuskriptes nachschauen.
Ungestüm riß sie ein Schubfach ihres Sekretärs auf und zerrte einen Aktendeckel, der das Manuskript barg, hervor.
Und dann begann sie zu vergleichen. Machte sich auf einem Zettel Notizen.
Ach – sie hätte weinen mögen vor Zorn. All ihre Freude war dahin!
Daß Schniewind ihr das hatte antun können!
Und nun weinte sie vor Enttäuschung, daß Schniewind ihr das antun konnte ... Es war lange nach Mitternacht, als Andrea endlich den Bleistift beiseite legte und das Buch mit dem Manuskript bis zum Ende durchgesehen hatte.
Völlig erschöpft legte sie sich ins Bett. Morgen würde sie nach Stuttgart fahren, das stand fest. Noch im Einschlafen, als draußen schon die ersten, zarten Vogelstimmen erklangen, dachte sie an nichts anderes als an das, was sie Schniewind sagen wollte.
*
Groß war Andreas Enttäuschung, als sie im Verlag hörte, daß Schniewind nicht anwesend sei. Man wußte auch nicht zu sagen, ob er noch heute zurückkäme, denn er sei bereits gestern nach Frankfurt gefahren, und da wüßte man nie wann – na ja, das Übliche.
Andrea ließ sich bei Dr. Ebers melden, der sie sofort mit größter Zuvorkommenheit empfing.
Schnurstracks ging sie auf ihr Ziel los.
»Was haben Sie um Gottes willen aus meinem Roman gemacht, Herr Dr. Ebers, ich bin ja ganz entsetzt!« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Alles, alles haben Sie verändert. Und ohne mich zu fragen!«
»Aber, gnädige Frau«, Ebers war sichtlich betroffen, »das ist doch ganz ausgeschlossen ...«
»So – bitte, schauen Sie sich das an!« Mit einem an ihr sonst ungewohntem Temperament knallte sie ihre Aktentasche auf den Schreibtisch und holte Buch und Manuskript hervor, dazu ihre Notizen.
Und nun verglichen sie beide. Dr. Ebers wurde es mehr und mehr unbehaglich, je länger er las.
Hin und wieder warf er einen forschenden Blick auf das blasse Frauengesicht ihm gegenüber. Steif, in gespannter Haltung saß Andrea da – geladen wie Ebers es bei sich bezeichnete. Allerdings nicht grundlos. Da konnte einen auch schon die Wut packen. Dr. Ebers hob den Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Dr. Lohmann möchte bitte zu mir kommen«, verlangte er kurz.
»Herr Dr. Lohmann ist der Mann, der Ihre Arbeit auf dem Gewissen hat, gnädige Frau. Er ist sonst ein sehr fähiger, tüchtiger Lektor, noch nicht sehr lange bei uns, aber wir glaubten unbedingt, daß wir ihm Ihre Arbeit anvertrauen dürften. Aber er war früher bei einer großen Zeitschrift tätig, einem von jenen Journalen, die mit Vorliebe Reißer herausbringen. Leider scheint das etwas auf ihn abgefärbt zu haben, denn er hat in Ihre Arbeit durch seine Korrekturen eine Note hineingebracht, die der ganzen Sache einen – ja eben diesen Anstrich eines Reißers gibt.« Ebers atmete nach dieser Erklärung bedrückt auf.
Das gäbe einen Mordskrach mit Schniewind, mutmaßte er, gerade bei dieser Frau Dornbach, für die der Chef scheinbar eine besondere – sogar verständliche Vorliebe hatte, hätte das nicht passieren dürfen.
Ziemlich betreten schaute der noch verhältnismäßig junge Dr. Lohmann drein, als er von Ebers erfuhr, weshalb dieser ihn hatte rufen lassen.
»Ja, aber ...« er war ganz konsterniert, »ich habe, ich dachte – ja«, er suchte seine Gedanken zu sammeln, ebenso wie Ebers mit sehr viel Widrigkeiten beim Chef rechnend:
»Wirklich, gnädige Frau, ich wollte nicht etwa in Ihrer Arbeit herumpfuschen – nur, es ist doch ein absolut moderner Roman, ein modernes, höchst aktuelles Thema, und da glaubte ich, daß man dem Geschmack des Leserpublikums, das bei moderner Literatur eine gewisse Realistik liebt, Rechnung tragen zu müssen«, verteidigte er sich.
Andrea schnitt ihm das Wort ab: »Wenn ich diesem Publikumsgeschmack hätte Rechnung tragen wollen, hätte ich das selbst tun können. Aber das wollte ich eben nicht. Vorläufig verstehen noch genug Menschen das gute, anständige Deutsch, und wer das nicht will, braucht meine Bücher nicht zu lesen. Ich«, sie legte eine starke Betonung auf das &‹Ich&›, und fuhr sehr nachdrücklich fort. »Ich bin jedenfalls der Meinung, daß unsere schöne Sprache in fünfzig Jahren nicht mehr wiederzuerkennen ist, wenn man weiterhin in dieser Weise dem sogenannten Publikumsgeschmack entgegenkommt. Es gibt Dinge, über die auch moderne Menschen nicht sprechen, und wenn, dann, in der einzig zulässigen, nämlich sauberen Form, und nicht in einer Gangstersprache.«
Sie hielt erregt inne. »Ja, was geht denn hier vor?« erklang plötzlich erstaunt die tiefe, sonore Stimme Schniewinds, der unbemerkt eingetreten war, da man ihm gesagt hatte, daß Frau Andrea Dornbach bei Dr. Ebers sei.
Überrascht wandte sich Andrea um, auch die beiden Herren hatten Schniewind nicht bemerkt.
Sie reichte dem Verleger die Hand mit kurzem Druck, was diesem nicht entging, auch nicht die Erregung, die auf dem zarten Gesicht lag. Und einiges hatte er ja schon beim Eintreten gehört.
»Es tut mir sehr leid, Herr Dr. Schniewind, aber mit meinem Roman sind von Herrn Dr. Lohmann Veränderungen vorgenommen worden, mit denen ich durchaus nicht einverstanden bin«, erklärte sie Schniewind ihre Auseinandersetzung mit seinen Mitarbeitern.
Sachlich stellte Schniewind einige Fragen an die Herren. Mehr und mehr verfinsterte sich sein Gesicht.
»Es ist ja unglaublich, Lohmann, was Sie sich da geleistet haben!« wetterte er, nun selbst auch ziemlich aufgebracht, los.
»Wir haben Ihnen das Manuskript von Frau Dornbach gegeben, damit Sie Korrektur lesen, aber nicht, um willkürliche Änderungen vorzunehmen. Und das obendrein in einer Form – nun, wir sprechen später noch darüber!«
Er wandte sich Andrea zu, die, peinlich von diesen unerquicklichen Dingen berührt, sehr müde und gedrückt neben dem Schreibtisch stand.
»Ich würde vorschlagen, wir sehen zusammen die Sache noch einmal durch, gnädige Frau«, sagte Schniewind ruhiger als zuvor, »wenn ich Sie deshalb hinüber bitten darf?« Er machte eine einladende Geste zur Tür.
Den Zurückbleibenden stumm zunickend, verließ Andrea an der Seite Schniewinds den Raum.
Wieder wurde jede Änderung Lohmanns durchgesprochen – ach, Andrea mochte schon gar nichts mehr sagen. Es war eben ganz scheußlich, dachte sie, wurde aber bald wieder interessierter, je mehr sich Schniewind erregte.
Es machte sie ja schon froh, daß diese Änderungen nicht auf seine Veranlassung erfolgt waren, daß er davon genauso überrascht, und zwar unangenehm überrascht war wie sie. Im stillen bat sie ihm schon wieder ihren Verdacht ab.
Und es war so bezeichnend für ihr unverbildetes, natürliches Frauentum, daß sie, je ärgerlicher Schniewind wurde, desto mehr versuchte, ihn zu beschwichtigen, einzulenken.
»Ich könnte die ganze Auflage einstampfen lassen«, sagte er aufgebracht.
»Aber ich bitte Sie, das geht doch nicht!« stammelte Andrea entsetzt. »Wie kann ich zugeben, daß Sie meinetwegen einen so großen Verlust erleiden.«
»Die Schuld trifft ja nicht Sie, sondern den Verlag, gnädige Frau«, bekannte Schniewind ehrlich. »Man hätte die Anweisungen an Lohmann noch viel exakter geben sollen ...«
»Ach – es wäre ja nicht so schlimm, wenn das Buch nicht unter meinem Namen erscheinen würde«, sagte sie beruhigend.
»Das ist Ihnen das Schlimmste?« fragte er gespannt.
»Nun – was soll ich sagen«, sie überlegte, »gewiß, das Buch hat viel von seinem ursprünglichen Charakter verloren – ich hätte es gern so gehabt, wie ich es schrieb«, sagte sie offen. »Aber ich schreibe ja wohl noch mehr Bücher und könnte dieses eine verschmerzen. Nur – ja, es stört mich, daß etwas unter meinem Namen herausgeht, was mir und meinem ganzen Empfinden völlig widerstrebt.«
»Ja – was soll man da machen«, meinte Schniewind, bekümmert scheinend, während in seinen Augen ein heimliches Lachen lag. Er stand auf und stellte sich vor Andrea, die von einer plötzlichen Unruhe gepackt, steil in ihrem Sessel saß.
»Daß wir die Auflage einstampfen, gefällt Ihnen nicht. Aber man könnte sich die Sache mal durch den Kopf gehen lassen. Ja, und sonst...« die grauen Männeraugen blickten sie freundlich an, »sonst wüßte ich nur einen Ausweg. Wir müssen Ihren Namen ändern.«
Verwirrt schaute die junge Frau zur Seite. Das Herz klopfte ihr wie unsinnig, aber trotzdem bemühte sie sich krampfhaft um eine gute Haltung und sagte beklommen:
»Leider ist es ja kein Pseudonym, sondern mein Name, der sich nun einmal nicht ändern läßt...«
»Wirklich nicht, Andrea?« fragte Schniewind zärtlich und zog die bebende Frau mit sanfter Gewalt zu sich empor.
»Kann man diesen Namen wirklich nicht ändern? Vielleicht in – Andrea Schniewind? Was meinst du wohl, Liebes?« Mit unverhüllter Liebe suchten seine Augen die ihren.
Er brauchte auch keine Antwort abzuwarten – spürte er doch, wie sich der schmale Frauenkörper scheu in seine Arme schmiegte – und ahnte er doch schon lange, daß ihr Herz ihm gehörte.
Mit großer Innigkeit küßte er ihr das Ja von den Lippen.
»Du weißt doch immer einen Ausweg, Matthes«, sagte Frau Andrea später und strich sich das Haar glatt. »Immer hast du mir geholfen, und nun gar unter Einsatz deiner ganzen Person.« Ein schelmisches Lächeln glitt über ihr strahlendes Gesicht. »Auf die Idee wäre ich nie gekommen.«
*
In sehr herzlichen Worten gratulierte das junge Paar in München Andrea und Schniewind zur Verlobung, sie gönnten den beiden Menschen von ganzem Herzen und völlig neidlos viel Glück.
Aber es glitt alles an ihnen vorbei, sie wären zu sehr mit dem Kommenden beschäftigt. Die Operation.
Dunkel drohend wie eine Wetterwolke stand sie am Himmel ihres Lebens, was würde sein, wenn sie verschwand? Würde helleuchtende Sonne dahinterstehen oder finstere Nacht?
Ach – sie sehnten den Zeitpunkt des Eingriffs herbei und fürchteten ihn zugleich, aber jeder hütete sich, dem anderen zu zeigen, wie es in ihm aussah.
Wieder war es Gisela, die mit betonter Frische verhinderte, daß eine Weichheit sie beide zu übermannen drohte, die gerade jetzt nicht am Platze war. Man mußte stark sein, ganz stark.
Eifrig arbeiteten sie täglich an seinem neuen Buch, oder sie hielten sich im Garten auf, der täglich schöner wurde.
Langsam schritt sie dann neben seinem Fahrstuhl her und immer war sie bemüht, keine trübe Stimmung aufkommen zu lassen.
Und dann war es eines Tages soweit. Professor Jünger schrieb, daß er jetzt mit den Vorbereitungen zu der Operation zu beginnen wünsche. Das bedeutete, daß Repkow in die Klinik übersiedeln mußte und dort die letzte Zeit vor dem Eingriff zubringen sollte.
Mit aller Gründlichkeit wollte der Professor die Operation vorbereiten, um die größtmögliche Gewähr für einen günstigen Verlauf zu haben.
Fast reute den Kranken sein Entschluß. War es nicht schön und gut jetzt gewesen? Wollte er das wenige, was er noch besaß, leichtfertig aufs Spiel setzen?
»Oh, Gisi«, sagte er am letzten Abend, den er daheim verbrachte, »das ist das Ärgste, dieses Warten, das mir jetzt noch bevorsteht.«
Bekümmert nickte sie mit dem Kopf, auch ihr war das Herz schwer. »Weißt du, mir geht es gerade so, Lieber, aber da müssen wir nun durch, das ist wie im Märchen, erst muß man sich durch den Hirsebrei futtern, ehe man ins Schlaraffenland kommt.«
»Hoffentlich erreiche ich dieses märchenhafte Schlaraffenland«, versuchte er zu scherzen, »ich wünschte es mir so sehr, schon deinetwegen.«
»Du mußt glauben und den Willen haben, gesund zu werden, dann hat der Doktor halbe Arbeit«, erwiderte die junge Frau tapfer.
Mühsam ein heißes, brennendes Schluchzen unterdrückend, küßte ihn Gisela noch einmal, bevor sie ihn abends verließ, vermochte sie sich nur mit Aufbietung aller Energie von ihm loszureißen. Er durfte ja nicht spüren, welche Angst in ihr war, wie sehr sie um ihn bangte.
Gerührt hatte der Kranke ihr zugehört, das war so ganz seine Gisi, wie er sie kannte.
*
Bange Tage vergingen. Die Operation war vorüber, aber noch immer vermochte der Professor nicht zu sagen, ob sie ein Erfolg war.
Gewiß, Eike lebte – aber würde er gesund werden, gesund wie einst?
Dieses Warten, dieses unerträgliche Warten ließ Gisis Gesicht schmal und blaß werden, trotzdem sie sich täglich viele Stunden im Garten der Klinik aufhielt, denn sie durfte ja immer nur für wenige Minuten den Kranken sehen, der die meiste Zeit des Tages schlief.
Besorgt musterte die Oberschwester oft verstohlen das junge, verstörte Gesicht.
Da half nur eines, dachte Oberschwester Marta: Arbeit. Und so kam sie eines Tages und bat die junge Frau, von der sie wußte, daß sie einige Semester Medizin studiert hatte, um ihre Hilfe bei Laborarbeiten.
Dankbar hatte Gisela die alte, erfahrene Schwester angelächelt, sie verstand, was diese beabsichtigte, und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Ja – Arbeit war das einzige, was helfen konnte, sich etwas abzulenken, nicht nur an das eine, einzige zu denken.
Und mit jedem Tag, den Eike lebend überstand, stieg auch ihre Hoffnung wieder höher auf.
Eines Tages kam der Professor dann zu der jungen Frau in ihr Zimmer.
»Ich glaube, wir haben es geschafft, gnädige Frau«, sagte er froh, »unser Patient ist über dem Berg.«
»Ist – ist das wahr?« stammelte Gisela erschüttert, und dann sank sie in einen Sessel und brach in heißes, erlösendes Schluchzen aus. Alle Spannung, alle Qual der letzten Wochen, wurden von diesen Tränen hinweggespült.
Eine kurze Weile ließ der Professor sie gewähren, er kannte dieses Versagen der Nerven, wenn plötzlich eine ungeheure seelische Bedrückung nachließ. Stumm schaute er auf die zarte Gestalt, die vom Schluchzen geschüttelt wurde.
»Gnädige Frau«, meinte er betont fröhlich und setzte sich auf einen Stuhl neben die junge Frau, »alles Gute hat einmal ein Ende, auch dieses erlösende Weinen. Ich denke, wir gehen jetzt erst einmal zu unserem Patienten, der nämlich noch gar nichts von seinem Glück weiß. Er hat so brav mitgeholfen, denn seine Zuversicht hat alle Komplikationen verscheucht, die ich befürchten mußte.«
»Wie, er weiß es noch gar nicht?« fragte Gisela und richtete sich auf. Sie strich, sich besinnend, mechanisch das Haar glatt. Dann sprang sie auf:
»Ja, aber dann müssen wir doch gleich zu ihm, müssen es ihm sagen! Mein Gott«, stammelte sie verwirrt und sah zu dem alten Herrn auf: »Ich habe Ihnen ja noch gar nicht einmal gedankt, Herr Professor«, und ehe der Gute wußte was ihm geschah, drückte ihm die junge Frau einen, Kuß auf die Wange, wurde sich dann aber errötend des Ungewöhnlichen ihres Tuns bewußt und sagte entschuldigend:
»Ach, ich bin ja ganz durcheinander.«
»Ich finde das gar nicht so übel«, schmunzelte der Professor und streichelte lächelnd mit seiner Hand über die Stelle, wo der junge Mund geruht hatte. »So bald komme ich nicht wieder zu einem Kuß von einer so jungen und so reizenden Frau.«
*
Langsam aber stetig machte Repkows Genesung Fortschritte. Und eines Tages war es soweit – er durfte zum ersten Male aufstehen.
»Ein Wunder – ein Wunder«, stammelte Gisela schier andächtig, als er vor ihr stand, nur leicht auf einen Stock gestützt, und dann, wenn auch noch etwas schwerfällig, die ersten Schritte versuchte.
»Das ich dir verdanke, du kleine Wundergläubige«, sagte Repkow und zog sie, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit des Professors, leicht in seinen Arm.
»Ohne diese kleine Frau stände ich heute nicht hier, wäre ich noch immer der hilflose Krüppel!« stellte er, zu dem Arzt gewandt, fest.
»Ja«, erwiderte Jünger, »die kleine Gnädige hat eine ungeheure Energie entwickelt. Das Schicksal hatte es doch gut mit Ihnen gemeint, daß es Ihnen Ihre Frau in den Weg schickte. Eine gute und kluge Frau vermag viel, alles, wie Sie gesehen haben.«
»Um alles, Herr Professor, ich laufe 'raus«, lachte Gisela, der es unbehaglich war, ihr Loblied mitanhören zu müssen.
»Nein – lieber verschwinde ich«, gab dieser heiter zurück, »ich habe noch, ein paar andere Patienten, die auf mich warten. Aber daß Sie mir gut aufpassen, daß der Wiederauferstandene sich bald wieder in sein Bettchen legt. Er darf sich nicht überanstrengen.«
Freundlich grüßend verließ Jünger die beiden Glücklichen.
»Weißt du, Gisi, du könntest doch jetzt wieder nach Hause gehen, es ist nun nicht mehr notwendig, daß du hierbleibst, wirst froh sein, wenn du nicht immer Klinikluft atmen mußt«, meinte Repkow, bestrebt, ihr damit eine Freude zu machen. Er fand es nicht sehr schön, immer in einem Krankenhaus sein zu müssen.
»Ach, was soll ich daheim ohne dich«, fragte die junge Frau etwas erstaunt über diesen Einfall.
»Du wirst sicher Beschäftigung genug finden. Bestimmt tut es dir gut, wenn du hier herauskommst, hast dich lange genug für mich aufgeopfert, und ich brauche dich ja nun nicht mehr so nötig«, redete ihr Repkow zu.
Ich brauche dich nicht mehr so nötig! Dieses Wort setzte sich bei der jungen Frau fest. Ein Erinnern überkam sie.
Sicher – war es ein Hinweis auf das Versprechen, das sie ihm abgefordert hatte, bevor sie ihre Einwilligung zur Heirat gab.
»Wenn du gesund werden solltest, lassen wir uns wieder scheiden«, so hatte sie damals gesagt, das war ihre Bedingung gewesen, und nun?
Nun erinnerte er sie schon daran, gleich am ersten Tage, als er zum ersten Male das Krankenlager verlassen konnte.
Ein brennender Schmerz durchfuhr sie, als sie das dachte, sie hätte schreien mögen vor Qual und fand doch nicht ein Wort. Unterdrückte tapfer die aufquellende Bitterkeit und ging willig auf seinen Vorschlag ein.
Als sie sich nach einiger Zeit erhob und ihm gute Nacht wünschte, wartete er vergeblich auf einen Kuß.
Sie blickte an seinen fragenden Augen vorbei – entzog ihm sehr schnell die kleine, eiskalte Hand und verließ hastig das Zimmer, als triebe sie etwas hinaus.
*
Von dieser Stunde an wandelte sich das Verhältnis zwischen den beiden Menschen grundlegend.
Es war, als wüchse eine Mauer zwischen ihnen, die von Tag zu Tag höher wurde und das alte, schöne Vertrauen, das sie beide verband, mehr und mehr zerstörte.
Warum hat sie mich nicht geküßt? grübelte Repkow, als sie ihn an jenem Abend verlassen hatte. Und noch oft fragte er sich das, wenn er nie mehr eine Zärtlichkeit von ihr erfuhr.
Sie blieb nie sehr lange bei ihm, es war, als säße eine geheime Unruhe in ihr, die sie dem Mann zu verbergen trachtete, die er aber deutlich spürte.
Je länger der einsame Mann, der viele Stunden des Tages sich selbst und seinen Gedanken überlassen war, nachsann, desto mehr schien es ihm zur Gewißheit zu werden, daß Gisela es nunmehr bereute, seine Frau geworden zu sein.
Sicher war es das. Sie wollte wieder frei sein.
Hatte sie nicht selbst gesagt, daß sie nur unter der Bedingung seine Frau würde, daß sie sich wieder trennten, falls er wider Erwarten gesund werde? Nur dem Todgeweihten hatte sie sich mitleidsvoll zugeneigt, für den Gesunden erschien es ihr nicht notwendig, sich aufzuopfern.
Für zwei bis drei Jahre hatte sie auf eigenes Glück verzichten wollen, nicht aber für ein ganzes Leben, das hatte sie ja damals mit ihrem Verlangen zum Ausdruck gebracht.
Repkow ahnte nicht, daß sich seine junge Frau mit ähnlichen, qualvollen Gedanken herumplagte, nur daß sie die Dinge von einem anderen, von ihrem Standpunkt aus sah.
Hatte er ihr nicht ohne Widerrede, als sei es die selbstverständliche Sache, zugesichert, daß man sich trennen würde, wenn er genesen sollte?
Jeder Tag, an dem sie noch zu ihm gehen konnte, erschien ihr als ein Geschenk, eine Gnadenfrist, und oft saß sie abends allein in dem großen Wohnzimmer, schaute sehnsüchtig in den leeren Sessel am Kamin, in dem er sooft neben ihr gesessen hatte, und blickte abschiednehmend durch den schönen, ihr so liebgewordenen Raum.
Das würde nun bald vorbei sein ...
Während die junge Frau immer ernster, immer stiller wurde, ihre fröhliche Lebensbejahung immer mehr schwand, ging in Repkow eine gegenteilige Wandlung vor.
Je mehr seine Kräfte zurückkehrten, je stärker er seiner wiedererlangten Gesundheit inne wurde, desto gewaltiger erwachte in ihm der Wille, das Leben zu packen, es zu meistern, und es wurde sein fester Entschluß, seine Frau niemals kampflos aufzugeben.
Er machte sich klar, daß ja in ihrer bisherigen Gemeinschaft von einer Ehe im eigentlichen Sinne niemals gesprochen wurde, ja nicht konnte, und daß Gisela in ihm nur ihren Schützling, einen Kranken, den sie stützen mußte, sah.
Mochte sie in ihm jetzt ruhig noch den Kranken sehen, eines Tages würde es anders sein. Daran glaubte er felsenfest.
Aus diesem Grunde hatte er auch ihre Begleitung abgelehnt, als Professor Jünger vorschlug, daß er im Anschluß an den Aufenthalt in der Klinik gleich noch einen Badeort aufsuchen solle, damit das Rückgrat durch entsprechende Kurmittel noch weiterhin gekräftigt würde.
Es erschien ihm aber notwendig, daß zwischen das alte und das neue Leben ein gewisser Abstand gelegt wurde. Und manchmal ertappte er sich dabei, daß er prüfend sein Spiegelbild einer scharfen Kontrolle unterzog. Er war eitel geworden, eine Eigenschaft, die er noch nie an sich bemerkt hatte.
Was doch eine Krankheit aus einem Menschen machen kann, dachte er und mußte über sich selbst lachen. Da genügt es einem plötzlich nicht mehr, gesund zu sein, nein, da will man sogar noch schön sein, damit man einer Frau gefällt. Nicht irgendeiner Frau, nein, einer ganz bestimmten...
*
Andreas großer Tag war gekommen. In dem kleinen Häuschen am Marktplatz hatte man in der ersten Etage die Zimmer umgeräumt, damit die wenigen Gäste, es kamen außer Gisela noch ein paar Verwandte des Brautpaares, Platz fanden. Andrea hatte es abgelehnt, die Feier in einem Hotel ausrichten zu lassen.
Ihre Schwester war schon am Abend zuvor angekommen, hatte der Schwester ein wundervolles Kaffeeservice aus Alt-Meißner Porzellan gebracht und stürzte sich kurz nach ihrer Ankunft Hals über Kopf in die Vorbereitungen, die noch für den nächsten Tag getroffen werden mußten.
Andrea sah sie manchmal forschend an.
Sicher, Gisi war fröhlich, lachte und schwatzte drauflos, ganz in der Weise wie früher – aber irgend etwas klang falsch, irgendwie erschien diese laute Fröhlichkeit unecht.
Es war auch nicht zu übersehen, daß Gisi bemüht war, der älteren Schwester auszuweichen, als am späten Abend endlich Ruhe in dem kleinen Haus einzog und Andrea den Wunsch aussprach, noch ein bißchen mit der Jüngeren zu plaudern.
»Du lieber Himmel, Andrea«, lachte Gisi laut, etwas zu laut vielleicht. »Du hast morgen Hochzeit, da mußt du gut ausgeschlafen sein. Und ich – ich bin ja so müde«, und als wolle sie gleich beweisen, wie müde sie sei, gähnte sie laut.
»Schade«, sagte Andrea und ihre Stimme klang enttäuscht. »Ich hätte so gern noch einmal in meinem Zimmer mit dir gesessen, wie früher mit dir erzählt, Gisi.«
»Nun werde nur nicht sentimental, Mädchen«, meinte Gisela burschikos, »Wir werden noch oft zusammensitzen können. Jetzt ist es besser zu schlafen.« Und dann gab sie der Schwester einen kürzen, flüchtigen Kuß und verschwand in ihrem Zimmer, das solange verwaist war.
Seufzend blickte Andrea auf die Tür, hinter der die Schwester verschwunden war. Irgend etwas stimmte nicht, das steht fest, dachte sie bekümmert.
Am anderen Morgen herrschte, wie es nun einmal bei einer Hochzeit üblich ist, ein lebhaftes Durcheinander in dem kleinen Haus.
Väterchen lief schon viel zu früh im feierlichen schwarzen Anzug herum und bot dauernd seine Hilfe an. Aber auch ebensooft wurde diese bereitwillig angebotene Hilfe abgelehnt. Man kannte den unpraktischen alten Herrn zu gut, um nicht zu wissen, daß er nur heillose Verwirrung anrichten würde.
Tante Christine hatte über ihr schwarzseidenes Kleid eine große Schürze gebunden und kommandierte in der Küche, wo heute eine Köchin ihres Amtes waltete. Zwischendurch lief sie in das große Vorderzimmer, wo die festliche Tafel bereits gedeckt war, oder stieg behende die Treppen hinauf in das Zimmer der Braut.
Andrea stand und betrachtete sich im Spiegel. Sie kam sich ein bißchen sonderbar vor in der Rolle der Braut. Eine Braut, die fünfunddreißig Jahre alt ist, dachte sie, nein – es war doch alles etwas eigenartig. Ihr Blick glitt zu dem Bild ihres ersten Mannes, das auf ihrem Schreibtisch stand. War es damals schöner gewesen, war sie glücklicher? Sie hätte es nicht zu sagen vermocht. Es lag so weit – so weit. War nur ein blasses Erinnern; ein flüchtiger Traum.
Sicher wäre ihre Ehe mit Heinz Dornbach glücklich geworden – und sie hatte jahrelang sehr darunter gelitten, daß er so früh von ihr ging.
Aber das war nun vorbei, die Unrast der Nachkriegsjahre und das Leben hatten einen weiten Abstand zwischen ihr und jenem Mann gelegt, der mit so vielen anderen in fremder Erde zum letzten Schlaf lag.
Sie schüttelte die ernsten Gedanken ab. Man konnte nichts ändern. Das Leben rollte nach ewigen Gesetzen ab, vereinte und trennte, es wäre sinnlos, sich dagegenzustemmen.
Und das wollte sie auch nicht, dem Toten nahm sie nichts mehr, wenn sie glücklich war. Nie hätte sie gedacht, daß es noch einmal zu ihr kommen würde, das Glück, das große Glück.
Das Zuschlagen einer Autotür riß sie aus ihren Gedanken. Sie eilte zum Fenster. Ja, er war es, Matthes, In wenigen Stunden war er ihr Mann.
Aber da war ja auch – sie lachte froh, da war auch Repkow, der hoch und kraftvoll eben neben Schniewind trat und mit ihm zusammen auf die Haustür zuschritt.
Das war eine Überraschung, an die sie nicht gedacht hätte. Repkow hatte doch geschrieben, daß er seine Kur nicht unterbrechen und deshalb nicht kommen könne.
Nun – sicher hatte er Gisi überraschen wollen – dachte Andrea und eilte hinaus, zuvor noch einen prüfenden Blick in den Spiegel werfend.
*
Andrea hatte richtig vermutet. Repkow wollte Gisela überraschen, wollte ihr plötzlich gegenüberstehen, um an ihrem Verhalten ermessen zu können, welchen Eindruck sein Erscheinen auf sie machte.
Er hoffte so sehr, irgendein kleines Anzeichen zu finden, daß sie ihm vielleicht doch nicht so gleichgültig gegenüberstand, daß doch irgend etwas in ihr lebte, was mehr war, als nur freundschaftliche Zuneigung.
In dieser Erwartung wurde er aber enttäuscht, wohl war Gisi grenzenlos überrascht, so sehr, daß sie im ersten Augenblick den Vater übersah, der gerade aus dem Wohnzimmer kam, und gegen ihn anrannte. Da sie eine kunstvoll garnierte Schüssel mit einer Süßspeise in den Händen trug, fiel die Schüssel bei dem Zusammenprall zu Boden.
Weit verstreut lagen die Scherben, und an den Beinkleidern des alten Herrn machten sich große Spritzer von der leckeren Speise breit.
Blutübergossen stand die junge Frau vor den drei Herren, aber – Repkow dachte es mit einem gewissen Galgenhumor, dieses Erröten galt leider nur ihrem Mißgeschick, aber nicht ihm.
Schniewind, in rosigster Stimmung, lachte laut: »Oh, Gisela – Scherben bringen Glück! Hättest es nur einen Tag früher tun sollen, da war Polterabend, und eine Schüssel ohne Inhalt hätte auch genügt.«
Dieser Zwischenfall hatte Gisela tatsächlich Gelegenheit gegeben, sich wieder zu fassen, auch sie lachte, während sie die Herren begrüßte und sich bei ihrem Vater entschuldigte.
»Bitte, seid nicht böse über den stürmischen Empfang«, sagte sie lebhaft. »Und entschuldigt mich einen Augenblick, ich muß doch erst schnell versuchen, mein Malheur wieder gutzumachen.«
Besorgt betrachtete sie das Unheil: »Komm, Papa, wir wollen einmal sehen, was noch zu retten ist.«
Mit diesen Worten verschwand sie eilig im Badezimmer, den alten Herrn hinter sich herziehend.
Sehr langsam stieg Repkow hinter dem Freund die Treppen hinauf in den zweiten Stock, an deren oberster Stufe Andrea stand, um die Herren zu empfangen.
Also – mit der Überraschung wäre es nichts gewesen, dachte er resigniert. Nun, man mußte eben Geduld haben.
Das war jedoch schwieriger, als er angenommen hatte, noch oft mußte er sich an diesem Tage zur Geduld mahnen.
Gisela war fröhlich und sehr nett zu ihm, aber – es ließ sich nicht leugnen, es stand trotzdem eine Wand zwischen ihnen, eine gläserne Wand, durch die man einander wohl sah und hörte, die aber keine Annäherung zuließ.
Vergeblich versuchte er, eingedenk der vor wenigen Monaten vollzogenen Trauung mit Gisela, einen Blick von seiner Frau zu haschen, einen Blick, in dem ein verständnisvolles Erinnern lag, eine Gemeinsamkeit.
Gisi hatte nur Augen für die Schwester oder blickte lauschend auf den Geistlichen.
Repkow atmete tief auf, er spürte mit aller Deutlichkeit, daß er noch sehr weit von seinem Ziel entfernt war. Fast wollte ein leiser Neid in ihm aufsteigen, als er das frohe, aus tiefstem Herzen kommende »Ja« des Freundes hörte. Ja – Schniewind hatte erreicht, was er wollte, was ihm Erfüllung seines Lebens wurde. Er würde glücklich werden mit Andrea, klar und hell lag die Zukunft vor diesen beiden Menschen.
Und wie schön Andrea aussah.
Sie trug auf Schniewinds Wunsch nicht, wie sie ursprünglich beabsichtigte, ein schwarzes Kleid, sondern stand hell und licht, in cremefarbene Spitzen gehüllt, vor dem Altar.
Das Kleid war eng gearbeitet, ließ die zierliche Figur höher erscheinen und brachte die Zartheit der Braut voll zur Geltung.
»So schön bist du, meine Andrea, und so jung, so jung«, flüsterte Schniewind ihr zu und vermochte seine Augen nicht loszureißen von dem bezaubernden Bild.
»Mach mich nur nicht eitel, Matthes«, erwiderte Andrea glücklich, als sie Auge in Auge auf ihre gemeinsame Zukunft anstießen.
Für Gisela, war jede Stunde dieses Tages eine Qual. Was sollte sie nur tun?
Sollte sie überhaupt noch einmal mit Repkow nach München zurückkehren? Ach, sie wußte nicht aus noch ein. Zu plötzlich trat die Entscheidung an sie heran. Nicht im geringsten war sie darauf vorbereitet.
Wenn sie geahnt hätte, daß Eikes Kur schon beendet sei, dann hätte sie doch ganz anders disponiert. Hätte ihre Kleider und Bücher und was sie sonst noch in München hatte, einfach mitgenommen, als sie zur Hochzeit hierherkam, und brauchte nicht noch einmal zurückfahren.
Mit wachen Augen beobachtete Repkow die Unruhe, die über dem Wesen seiner jungen Frau lag, ließ sich nicht täuschen durch ihre zur Schau getragene Fröhlichkeit.
»Ich denke, wir fahren morgen heim, Gisi«, sagte er, während man den Mokka nahm, zu ihr.
»Jaja, natürlich – je eher, desto besser«, gab sie nervös zurück. »Du bist sicher auch noch schonungsbedürftig.«
»Nein – das ist es nicht, Gisi– aber ich möchte, daß wir nun beide endlich zur Ruhe kommen und wissen, wohin wir gehören«, antwortete er bestimmten Tones.
»Ganz wie du meinst.« Gisela sprang auf und eilte hinaus, ließ Repkow einfach in seinem Sessel sitzen, nachdem sie eine kurze Entschuldigung gemurmelt hatte.
Was sollte das nun bedeuten? grübelte Repkow.
»Eike, alter Junge, du siehst ja aus, als suchtest du den Stein der Weisen«, riß ihn die Stimme Schniewinds aus seinen Gedanken, der sich breitbeinig vor ihm aufbaute und lachend auf den Sitzenden heruntersah.
»Vielleicht habe ich das auch nötig«, rettete sich der Angesprochene in einen Scherz, »manchmal reicht das Hirn eines gewöhnlichen Sterblichen nicht aus ...«
»Das müssen ja tolle Rätsel sein, die du lösen willst«, neckte Schniewind, »aber eigentlich solltest du das nicht nötig haben, nachdem sich das größte Rätsel deines Lebens so glücklich gelöst hat. Im Ernst, Eike, wenn ich dich jetzt so vor mir sehe, gesund und kräftig, dann vermag ich mir kaum noch vorzustellen, wie elend du einmal gewesen bist. Es hat mir oft schwer auf der Seele gelegen, wenn ich dich so hilflos in deinem Fahrstuhl sah.«
»Ja, Matthes«, Repkow stand groß und aufrecht neben dem Freund, »es ist ein Wunder, ein vollkommenes Wunder.« Sein Blick flog suchend durch das Zimmer, streifte seine junge Frau mit dankbarem Leuchten. »Ich vermag es manchmal nicht zu fassen, daß ich wieder frei und unbehindert aufstehen und gehen kann. Ich lebe wieder – was vorher war ...« In seinen Augen lag. ein Widerschein vergangener Qual, »...das war nur ein Warten – ein Versuch, das Ende in anständiger Haltung auf sich zukommen zu sehen.«
Schniewind griff nach der Hand Repkows und drückte sie stumm. Einen Augenblick schauten sich die alten Freunde ernst an.
»Das ist nun aber Gott sei Dank vorbei. Eike«, sagte Schniewind herzlich. »Ja, Matthes – Gottlob!« ein tiefer Seufzer, ein befreites Aufatmen begleitete diese wenigen Worte.
*
Repkow betrat mit seiner jungen Frau Seite an Seite sein Haus in München. Mit bewegtem Gesicht öffnete der alte Geißler die Tür, und auch die Haushälterin, die wie Geißler schon so viele Jahre im Hause war, hatte Mühe, ihre Freudentränen zu verbergen, als sie den Herrn so frisch und gesund vor sich stehen sah.
Freudig erregt schüttelte Repkow den beiden Getreuen die Hand und betrat dann aufatmend sein Arbeitszimmer.
»Gisela!« seine Stimme klang erstickt vor innerer Bewegung. »Wie soll ich dir nur danken, daß du mir geholfen hast, gesund zu werden! Wenn ich dich nicht gehabt hätte...«
»Dann wärest du auch gesund geworden«, fiel ihm die junge Frau ins Wort.
»Wenn ich es nicht gewesen wäre, hätte irgend etwas anderes die Veranlassung geboten, dich für die Operation zu entscheiden. Es war dir bestimmt, gesund zu werden – ich war nur ein Werkzeug, das zufällig am Wege lag.«
»Weshalb willst du dein Verdienst verkleinern – du weißt genau, wie es um mich stand«, sagte er mit leisem Vorwurf in der Stimme.
»Was heißt hier Verdienst?« meinte die junge Frau abwehrend. »Wie kann man in solchen Dingen von Verdienst reden? Nicht einmal der Professor, der den Eingriff wagte, könnte das – denn all sein Können ist sinnlos, wenn Gott nicht sein &‹Ja&› dazu sagt. Aber lassen wir das. Ich bin glücklich, dich gesund zu sehen – und nun...« sie wandte sich bereits zum Gehen, »bitte entschuldige mich, ich möchte mich etwas erfrischen und dann zur Ruhe gehen.«
Noch lange, nachdem die junge Frau das Zimmer verlassen hatte, stand Repkow unbeweglich am gleichen Platz und starrte auf die Tür, als müsse sie sich öffnen und die kleine Gisi zurückkommen, so heiter und aufgeschlossen, wie sie sonst immer zu ihm gekommen war.
Aber Gisi saß regungslos auf dem kleinen Sofa in ihrem Zimmer und hing ihren unerfreulichen Gedanken nach.
Vielleicht glaubte er sogar, er müsse diese Ehe nun aus Dankbarkeit aufrechterhalten.
Dieser Gedanke erregte sie so sehr, daß sie aufsprang und unruhig im Zimmer auf und ab marschierte, wie immer, wenn sie innerlich etwas stark bewegte.
Nein – dem mußte sie gleich vorbeugen, sie mußte ihm klar und eindeutig zu verstehen geben, daß sie diese Ehe als Fessel ansah und auf seinem einmal gegebenen Versprechen beharrte.
Gleich morgen wollte sie mit ihm darüber sprechen. Er sollte gar nicht erst befürchten müssen, daß sie nun für alle Zeit mit ihm hierhergefahren war.
Ein paar Tränen wollten sich unter den langen, seidigen Wimpern hervorwagen. Energisch wischte sie Gisela fort.
Das fehlte gerade noch, zu heulen, vielleicht gar um verlorenes Glück, suchte sie sich selbst zu verspotten.
Aber sie würde heute nicht mehr hinuntergehen, sondern schlafen, schlafen, das war das einzige, was helfen konnte, um den marternden Gedanken zu entfliehen.
Doch der Schlaf, jener milde Tröster aller Unglücklichen, wollte nicht zu Gisela kommen. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere.
Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf. Mit leiser Stimme rief sie herein. Eike würde wissen wollen, warum sie nicht zum Abendessen herunterkam.
Aber da stand, nicht wie erwartet, Geißler an der Tür, sondern Eike selbst.
»Gisi, wo bleibst du nur?« fragte er mit mildem Vorwurf und tastete nach dem Lichtschalter.
»Ich – ich war so müde und wollte deshalb gleich schlafen gehen«, gab sie etwas befangen zurück.
»Aber du mußt doch etwas essen, Kind«, sagte der Mann besorgt, »oder fühlst du dich nicht wohl?«
Er blickte sie nachdenklich an, ein grübelndes Forschen lag in seinen dunklen Augen. Schließlich sagte er in bestimmtem Ton:
»Gut, ich sehe ein, daß du sehr müde sein wirst, aber trotzdem wirst du eine Kleinigkeit essen, bevor du schlafen gehst. Und ich werde dir dabei Gesellschaft leisten, damit du auch schön brav ißt.«
»Aber nicht doch, Eike, das ist doch nicht nötig, ich werde auch so essen. Wirklich, ich mag nicht mehr hinunterkommen«, wehrte sie fast ängstlich ab.
»Wer sagt denn, daß du hinunterkommen sollst, du Dummerlein?« lächelte Repkow ihr zu, »wir werden sehr gemütlich hier auf deinem Balkon speisen. Geißler kann alles heraufbringen. Du wirst doch nicht wollen, daß ich heute ganz allein in dem großen Speisezimmer sitze, heute, wo ich zum ersten Male wieder daheim bin?«
»Nein – das will ich – natürlich nicht«, zögernd gab Gisela ihre Zustimmung und blickte an ihm vorbei, sah nicht das warme, glückliche Aufleuchten seiner Augen.
»Na also«, lachte er jetzt fröhlich, »warum nicht gleich so?«
Ein Beben überlief die zarte Gestalt, das dem Mann nicht entging. Kleine Gisi, dachte er zärtlich, ich glaube, du kennst dich selbst noch nicht. Bist viel mehr ein kleines, weiches Mägdelein, als du ahnst.
Stumm saß er ihr dann ein Weilchen gegenüber, versuchte in dem schmalen Gesicht, das undeutlich nur wie durch einen Schleier im ungewissen Licht des Abends zu ihm herüberschimmerte, zu lesen.
Eine traumhafte Stimmung lag über beiden, eine Stimmung, vor der die junge Frau sich fürchtete, die an ihren Nerven riß und zerrte, sie um ihr wohlausgewogenes Gleichmaß zu bringen schien.
Erleichtert atmete sie hörbar auf, als Geißler mit einem großen Tablett erschien, auf dem allerhand gute Sachen appetitlich angerichtet standen.
Geschickt stellte er die Gedecke im milden Schein der Stehlampe, die er herbeigeholt hatte, auf. Über sein gutes, altes Gesicht war ein Ausdruck der Zufriedenheit gebreitet, als er sein Werk vollendet hatte und wieder hinausging.
»O Gisela, ist das nicht wunderschön?« lachte Repkow glücklich, während er den Wein in die Gläser füllte, »zu Hause, endlich zu Hause zu sein! Und gesund, durch dich, meine liebe kleine Frau. Komm, laß uns anstoßen auf dich und auf unser Glück«, bat er mit einer Stimme, aus der eine tiefe innere Bewegung klang.
Mit zitternden Händen hob Gisela ihr Glas, ein leises Klingen verschwebte, so, wie der tiefe Seufzer, der den jungen, roten Lippen entfloh.
Ahnte Repkow, was in ihr vorging? Spürte er den Kampf, den dieses junge Menschenkind mit sich ausfocht?
Ein gutes, liebevolles Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich jetzt zu ihr neigte und sein Glas erhob.
Man muß tun, was er will, dachte das zitternde Geschöpf hilflos und griff zum Glase – was soll das nur werden?
»Du solltest nicht soviel denken, kleines Mägdelein«, sagte Repkow mit dunkler Stimme, »höre auf das, was dir dein Herz eingibt...«
»Aber Eike«, ihre Stimme klang unwillig, man spürte den Wunsch, sich zu verschanzen. »Was redest du für dummes Zeug? Ich bin kein Mägdelein, wo gibt es denn heute noch so was, ich bin...«
»Ja, ich weiß, du bist – nein, du willst ein Rauhbautz sein, gelt? So sagtest du doch? Aber...« ein listiges Zwinkern saß in seinen Augen. »Du bist es nicht. Wirklich, du bist es nicht.«
Bei diesen Worten hob er seinen Sessel leicht an und rückte an die Schmalseite des Tisches, Nun saß er ihr nicht mehr gegenüber, sondern neben ihr, ganz dicht neben ihr sogar, stellte sie erbittert fest.
Was sollte das nur? grübelte sie. Weshalb tut er das?
»Gisi, denk doch nicht soviel. Schau doch nur, wie schön es ist, viel zu schön, um schwere Gedanken zu wälzen.« Er legte seinen Arm leicht um ihre Schultern. »Kind, ist nicht alles schön und gut geworden? Hab' doch Vertrauen, glaube mir, wie ich dir glaubte – und genieße diese Stunde – eine Sternstunde, die es nur selten im Menschenleben gibt.«
Bittend, drängend sprach die weiche, dunkle Männerstimme – brachte alle Sehnsucht in dem jungen Menschenkind zum Klingen, übermächtig – ach – konnte nicht doch noch alles gut werden?
Und Gisela dachte nicht mehr nach, warf alle quälenden Gedanken über Bord und lauschte nur der Stimme ihres Herzens und der betörenden Stimme des Mannes, ihres Mannes, die so viel liebe, gute Worte zu ihr sprach, Worte, die sie in sich hineintrank und deren Sinn sie doch kaum mehr erfaßte.
Sie fühlte nur das eine, ihre Liebe, ihre große, tiefe Liebe zu ihm, alles andere versank ins Wesenlose, als er sie jetzt in seine Arme zog und sie küßte wie nie zuvor.
*
Es war sehr spät, als Gisela am nächsten Morgen erwachte. Die Sonne stand schon hoch am Himmel.
Mit suchendem Blick schlug die Schläferin die Augen auf – was hatte sie eigentlich für törichte Dinge geträumt?
Aber dann setzte sie sich mit einem Ruck im Bett auf – in ihre Augen trat ein wacher Blick. Ja, das war gar kein Traum gewesen, das, das hatte sie wirklich erlebt. Eike – und sie ...
Sie ließ sich mit einem Seufzer wieder in die Kissen fallen und überlegte. Was war nun? Was sollte nun werden?
Jetzt, jetzt konnte sie doch gar nicht mehr fort. Jetzt nicht mehr. Ein weiches, seliges Lächeln huschte über das junge Gesicht. Nein – Eike würde das ja gar nicht wollen, Eike ...
»Mein Eike – mein lieber Eike«, unendlich zärtlich sagte sie die wenigen Worte vor sich hin, all ihre Liebe umschlossen sie.
»Herrgott, ich bin ja so glücklich!« laut jubelte sie das hinaus und sprang mit einem Satz aus dem Bett.
Nur schnell, schnell sich anziehen, und dann hinunter zu ihm, zu ihrem Eike. »Mein Mann«, dachte sie voller Seligkeit und begann mit der Morgentoilette.
Wenig später eilte sie leise, auf leichten Sohlen, die Treppe hinunter. Als sie sich seinem Arbeitszimmer näherte, stockte ihr Fuß – eine leichte Verlegenheit wollte sie überkommen.
Zaghaft öffnete sie die Tür einen Spalt breit und lugte hindurch.
Aber – was war das? Sie fuhr entsetzt zurück.
Da stand Eike, ihr Eike und hielt ein Mädchen im Arm – ein Mädchen, auf das er beruhigend und zärtlich einsprach:
»Du darfst dir keine Sorgen mehr machen, du gehörst zu mir, für immer.
Ich sehe keine Hindernisse, die sich nicht beseitigen ließen, und Gisi wird auch Verständnis haben ...«
Nur diese wenigen Worte verstand Gisi – dann jagte sie, als würde sie von bösen Geistern verfolgt, davon.
Rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, verschloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Beide Hände drückte sie fest auf das wie rasend klopfende Herz und stammelte keuchend:
»Eike, Eike – warum hast du das getan?«
Mit irrem Blick sah sie um sich her – vermochte nichts zu erfassen, nichts zu denken als nur das eine, daß Eike sie getäuscht, betrogen hatte. Daß alles, was er gestern sagte, Lüge war.
Dort unten, bei ihm, da war das Mädchen, das er liebte, das zu ihm gehörte. Und sie, Gisela, war nichts weiter als ein Hindernis, das sich aber beseitigen ließ, ja, Gisela hatte ja Verständnis.
Ich muß fort, dachte sie verzweifelt. Und hastig, wie von Furien gehetzt, riß sie den kleinen Koffer aus dem Schrank und packte das Nötigste hinein. Zerrte mit bebenden Händen das duftige Sommerkleid herunter und schlüpfte in das Kostüm.
Tränen brannten in ihren Augen – aber jetzt nicht, jetzt nicht, dachte sie.
Ängstlich lauschte sie hinaus – es war still – still und ruhig wie immer in dem weiten Treppenhaus.
Sie warf einen besorgten Blick auf ihre Uhr, überlegte. Geißler würde jetzt wahrscheinlich in der Küche sein und der Haushälterin helfen. Hastig ergriff sie den kleinen Koffer und eilte die Treppen hinab, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend.
Ohne die schwere, schmiedeeiserne Tür, ein Meisterstück handwerklicher Kunst, zu schließen, eilte sie die stille, ruhige Villenstraße entlang.
Nicht einen Blick warf sie zurück, nur vorwärts – fort von allem, was sie geliebt hatte, galt ihr Streben.
*
Nun weilte Gisela schon seit einigen Wochen in einer Hütte bei Garmisch. Sie isolierte sich völlig von den anderen Gästen, die hier Erholung suchten, und ging stets ganz allein, oft stundenlang, in den Bergen spazieren, machte auch gelegentlich eine weitere Tour, ohne daß sie dazu einen Führer mitnahm.
An Repkow hatte sie nach einigen Tagen geschrieben. Lange, sehr lange hatte sie überlegt, was sie ihm als Begründung für ihr Verschwinden sagen solle.
Bis sie dann endlich die Lösung fand, die ihr als einzig möglich erschien, aber ihr Gesicht sah sehr verbittert, ja, fast böse aus, während sie schrieb:
Lieber Eike!
Du warst sicher etwas überrascht, weil ich Dein Haus so sang- und klanglos verließ. Bitte habe nach allem, was vorgefallen ist, Verständnis dafür, es enthebt ja auch uns beide der Peinlichkeit eines Wiedersehens. Ich wäre auch ohnehin nicht bei Dir geblieben, so, wie wir es vereinbarten, als wir diese Ehe eingingen, und das war ja schließlich auch Dein Wunsch.
Meinen großen Koffer laß bitte nach Kirchberg schicken. Frage aber dort nicht nach mir, denn ich kehre vorläufig nicht nach Hause zurück. Bitte reiche auch Du die Scheidung ein, Grund hast Du, da ich Dich ja nach dem Gesetz böswillig verließ, außerdem ist es mir von hier aus nicht möglich, die notwendigen Schritte selbst zu unternehmen. Dein Anwalt kann mich über die untenstehende Adresse erreichen.
Für die Zukunft wünsche ich Dir alles Gute.
Gisela
So lautete der Brief, den Gisi aus verletztem Stolz, aus qualvoller Liebe, die sich verraten glaubt, geschrieben hatte.
Sie hätte mit der Wirkung ihres Briefes zufrieden sein können. Repkow, der seit ihrem Verschwinden und dem für ihn völlig unverständlichen Telegramm wie ein Irrer herumgelaufen war, rastlos im Hause herumgeisterte, Türen öffnete und schloß, als müsse sie hinter einer dieser Türen versteckt sein, lachte laut auf, als er den Brief gelesen hatte.
Sie hatte also doch recht gehabt, weiß Gott, er war ein Narr zu glauben, sie sei ein weiches, schmiegsames Mägdelein. Nein, sie war alles andere eher als das, sie war sogar schlecht, grausam war sie.
Wie hatte das nur passieren können, daß er Gisela so völlig falsch einschätzte? Konnte denn das alles Lüge gewesen sein? Und aus welchem Grund? Weshalb zeigte sie sich bisher stets besorgt, als guter, ja liebevoller Kamerad, wenn sie doch in Wahrheit schlecht, abgrundtief schlecht war?
Repkow Vermochte das nicht zu verstehen, vergeblich suchte er nach Zusammenhängen, nach Aufklärung.
Seine junge Nichte, die am gleichen Tage, als Gisela das Haus verließ, hilfesuchend zu ihm gekommen war und nun bei ihm lebte, fürchtete sich manchmal fast vor dem Onkel.
Weder Sie noch Repkow ahnten, daß Ingrid, ohne es zu wissen und zu wollen, Gisela aus dem Haus getrieben hatte.
Das junge Mädchen war an diesem Morgen zu dem Onkel gekommen, nachdem es sich durch einen Telefonanruf vergewissert hatte, daß der Onkel zurückgekehrt sei.
Ingrid war in großer Not. Die Eltern hatten, nachdem Repkow jede Verbindung mit ihnen abbrach, den letzten Boden unter den Füßen verloren. Verpflichtungen, längst fällige Zahlungen, untergruben die Stellung Vollmers vollständig. Er verlor nicht nur den letzten Besitz, sondern auch die Existenz.
Vollmer und Frau Jutta sahen daher nur noch eine Möglichkeit vor sich, nämlich ins Ausland zu gehen und zu versuchen, dort Boden zu fassen. In dieser Hoffnung wurden sie bestärkt, als sich Vollmer, der Diplom-Ingenieur war, eine Stellung in Persien bot.
Während der Bruder sogleich bereit war, mit den Eltern zu gehen, empfand Ingrid nichts als Furcht und Grauen vor der Zukunft.
Seit Ingrid den Kinderschuhen entwachsen war, den Vorgängen und Gesprächen im Elternhaus mit größerem Verständnis folgte, hatte sie mehr und mehr das Vertrauen zu den Eltern verloren. Sie hatte einfach Angst, mit den Eltern zu gehen, wollte ihnen nicht in ein unbekanntes Land folgen und kämpfte verzweifelt darum, in Deutschland bleiben zu dürfen.
In ihrer höchsten Not hatte sie den Onkel aufgesucht und ihn gebeten, ihr zu helfen. In seinen Armen hatte sie sich ausgeweint, von ihm sich trösten lassen.
Und gerade in dieser Situation mußte Gisela Onkel und Nichte antreffen! Da Repkow mit dem Rücken zur Tür stand, hatte Gisi das junge Mädchen auch nicht zu erkennen vermocht, wurde Ingrid doch völlig von dem breiten Rücken Repkows verdeckt.
Die Worte, die Gisela hörte, waren nichts weiter, als ein Versprechen Repkows, dafür einzutreten, daß Ingrid in Deutschland unter seinem Schutz zurückblieb.
So nahe war den beiden Menschen das Glück gewesen, und ein kleiner, grausamer Irrtum vermochte es restlos zu verscheuchen. Vielleicht wäre Gisela auch nicht so kopflos davongelaufen, wenn ihr Glaube an Repkows Liebe schon stark genug gewesen wäre. Aber es war zu viel, was innerhalb von wenigen Stunden auf sie einstürmte.
*
Strahlend vor Glück waren Andrea und Matthes Schniewind von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt. Es ging etwas Leuchtendes von diesen beiden Menschen aus, die sich in ihrem ganzen Fühlen und Denken so wundervoll ergänzten.
In beiden lebte die frohe Zuversicht, daß sie im gemeinsamen Leben und Arbeiten jene Erfüllung finden würden, wie sie nur wenigen Auserwählten zuteil wird. Die Furcht vieler Menschen, die im reiferen Alter eine Ehe schlössen, daß man zu alt, als Persönlichkeit zu fertig sein könnte, um sich, an die Eigenheiten eines Partners zu gewöhnen, kannten sie nicht. Da war außer der innigen Zuneigung zueinander noch sehr vieles, was sie verband und worin sie harmonisch übereinstimmten.
Ihr leuchtendes Glück wurde aber sehr stark verdunkelt, als sie am Tage nach ihrer Ankunft nach Kirchberg fuhren.
Gisela hatte, um die Glücklichen nicht während der Hochzeitsreise zu betrüben, bisher nur dem Vater Mitteilung davon gemacht, daß sie ihren Mann verlassen habe.
Der alte Herr war ziemlich erbittert, als er Andrea und Matthes diese Mitteilungen machte. Er wurzelte noch zu sehr in einer Zeit, wo eine Scheidung etwas Ungeheuerliches war.
Andrea zeigte sich, wie auch ihr Mann, sehr bestürzt.
»Aber sie liebten sich doch, trotz allem«, sagte sie bekümmert, »was die beiden miteinander verband, war mehr als eine Ehe – war alles. Verstehst du denn das, Matthes?« fragte sie ihren Mann und blickte ihn hilfesuchend an.
»Nein, Andrea – mir ist das ganze auch völlig unverständlich, ich war derselben Überzeugung wie du, alles deutete doch darauf hin, daß sie sich herzlich liebgewonnen hatten«, gab er niedergeschlagen zurück.
Es traf diesen aufrechten Mann sehr hart, daß der Freund, kaum genesen, wieder allen möglichen schweren Stürmen ausgesetzt war. Wie würde er es tragen?
Man würde sich um die beiden einmal kümmern müssen, das war die Ansicht der vier Menschen, die ratschlagend beieinander saßen.
»Man müßte Gisela den Kopf zurechtsetzen«, meinte Tante Christine. »Sicher schwirren ihr allerlei Flausen durch den Sinn, denn Repkow erscheint mir zu vernünftig, als daß er solchen Unsinn anzetteln würde.«
Die alte Dame war richtig ärgerlich, glaubte aber in ihrer resoluten Art mit großer Sicherheit daran, daß doch noch alles gut werden würde.
»Kümmert euch um Repkow«, riet sie, als die anderen schwiegen, »der wird es nötig haben. Gisela soll sich nur erst einmal den Schädel einrennen, mag sie ruhig sehen, daß wir sehr unzufrieden mit ihr sind.«
Recht bedrückt fuhr das Ehepaar wieder nach Stuttgart. Daß doch immer gleich große Schatten da waren, wenn sieb einmal die Sonne hervorwagte, dachte Andrea.
*
Frau Josephine Stadelhuber rüttelte energisch am Ofen und schüttete Kohlen auf. Ihr Blick streifte fast mütterlich die kleine, zusammengekauerte Gestalt. Es war schon ein Kreuz mit der Frau Baronin.
Gisela war für sie, wie für alle Österreicher, eine Baronin, man war hier sehr freigiebig mit Titeln, und anfangs hatte die gute Stadelhuber große Schwierigkeiten gehabt, ob sie sich für »Frau Doktor«, oder »Frau Baronin« entscheiden sollte. Das Letztere fand sie aber doch dann entschieden großartiger, noch nie hatte eine Baronin bei ihr gewohnt, immer nur simple bürgerliche Studentinnen, die allerdings bei ihrer rundlichen Wirtin schneller promovierten als an der Universität. Aber Wiener sind höfliche Menschen, und wer würde sich nicht über eine Rangerhöhung freuen?
Früher hätte Gisela sicher mit all ihrem Übermut diese Eigenart der Wiener belacht, jetzt aber fand sie kaum ein blasses Lächeln dafür.
In diesem Augenblick verfolgte sie nur mit ängstlichen Blicken die Großzügigkeit, mit der ihre rundliche Wirtin mit den teuren Kohlen umging. Kohlen kosteten Geld, viel Geld, und Gisela hatte nur sehr wenig davon. Sie mußte sparen, sehr sparen, denn wo sollte sie Geld hernehmen, wenn – ja, wenn sie für zwei sorgen mußte?
Ängstlich berechnete sie jeden Schilling, bevor sie ihn ausgab, verzichtete auf alles, was ihr Freude machen könnte, und lebte nur ihrer Arbeit.
Nicht ein einziges Mal kam ihr der Gedanke, daß sie sich notfalls an Andrea um Hilfe wenden könnte. Nein – diese Möglichkeit schied für sie vollständig aus, niemand sollte daheim wissen, daß sie ein Kind erwartete, ein Kind, dessen Vater Repkow war.
Sie war deshalb auch Weihnachten nicht heimgefahren, sondern hatte geschrieben, daß sie einer Einladung von einen Studienkameradin folgen und die Weihnachtsfeiertage auf dem Semmering verbringen würde. Mochte man sie daheim ruhig für lieblos und undankbar halten, was machte das schon?
Je mehr man sie verurteilte, desto weniger würde man sich um sie kümmern, dachte sie und schrieb deshalb unbekümmerte, oberflächliche Briefe nach Hause, um so eine weite Kluft zwischen sich und ihren Lieben aufzureißen. Allerdings tat das Herz sehr weh dabei. Aus jeder Antwort, die sie erhielt, klang zwar nach wie vor Besorgnis um sie, aber immer stärker machte sich ein vorwurfsvoller Ton breit, und obzwar sie das ja beabsichtigte, war sie sehr unglücklich darüber.
Sie spürte es kaum, daß sie sich selbst immer stärker in eine zwiespältige, unheilvolle Stimmung hineinsteigerte. Sie sah auch nicht, daß ihr einstmals so frisches, lebenssprühendes Gesicht schmal und blaß geworden war, daß tiefe Schatten unter den trübgewordenen Augen lagen.
Still und unscheinbar lebte sie inmitten all der jungen Menschen, mit denen sie in den Hörsälen und Kliniken in Berührung kam, die sie aber außerhalb des gemeinsamen Arbeitsbereiches ängstlich mied.
Frau Stadelhuber, die inzwischen das Zimmer verlassen hatte, kam mit einem Tablett zurück.
»Da, Frau Baronin, i hab' an Apfelstrudel backen, probieren S' amal, er is gut. Und die Mülli wird Ehna auch schmecken.«
Fürsorglich rückte die Frau ein Tischchen neben den Sessel und stellte den Strudel und die Milch darauf. Ihrem guten Herzen tat die junge Frau arg leid. Das mochte schon ein rechter Hallodri sein, der seine junge Frau in diesem Zustand allein ließ, dachte sie oft.
Dankbar blickte Gisela die gutherzige Frau an:
»Sie verwöhnen mich sträflich, liebe Frau Stadelhuber, Und Ihren Strudel esse ich so gern, niemand bäckt ihn so gut wie Sie. Ich werde doch noch einmal bei Ihnen in die Lehre gehen, Frau Stadelhuber«, sagte Gisela mit einem leisen Lächeln, »bei uns weiß man nicht so guten Strudel zu backen.«
»Ja – bei uns in Wean – da wird gut 'kocht ...« Frau Stadelhuber wurde aber durch das Aufschrillen der Klingel an der Vorsaaltür gehindert, ihrer jungen Mieterin einen längeren Vortrag über die Vorzüge der Wiener Küche zu halten.
Hurtig eilte sie hinaus, die junge Frau wieder ihren Gedanken überlassend, deren Gesichtchen sofort wieder einen tieftraurigen Ausdruck annahm.
Gisela hörte Stimmen im Vorsaal, aber was ging sie das schon an? Zu ihr kam ja doch niemand, und sie wollte das ja auch nicht. Ganz erschrocken blickte sie deshalb nach der Tür, in der nach kurzem Anklopfen eine hohe Männergestalt erschien.
Ein jäher Schreck durchfuhr sie – mit blassen Lippen stammelte sie hilflos:
»Matthes – du?«
»Ja, liebe Schwägerin – in Lebensgröße. Aber du scheinst nicht sehr entzückt zu sein, durch mich daran erinnert zu werden, daß du noch irgendwo eine Familie hast, Menschen, die auf dich warten und sich vergeblich den Kopf zerbrechen, weshalb du sie so beharrlich meidest.«
Mit diesen Worten näherte sich Schniewind der Sitzenden und streckte ihr die Hand entgegen. Zaghaft legte Gisela ihre kleine, kalte Hand in die große des Mannes.
»Natürlich freue ich mich, dich zu sehen, Matthes«, sagte sie leise, »ist Andrea auch mitgekommen?«
»Nein – Andrea ist etwas erkältet, sonst hätte sie mich bestimmt begleitet. Sie hatte sich sehr auf ein Wiedersehen mit dir gefreut und auch auf den Kongreß, von dem sie sich vielerlei Anregungen versprach. Aber es war nicht ratsam, daß sie reiste, und so bin ich allein gefahren.«
»Es ist doch nichts Ernstes, Matthes?« fragte die junge Frau beunruhigt.
»Nein, durchaus nicht, Gisela«, Schniewind zog einen Stuhl heran und nahm neben der Schwägerin Platz. »Wirklich nur eine Erkältung, wie man sie in dieser Jahreszeit schnell einmal hat.«
Er versuchte, durch lebhaftes Gespräch die lähmende Stille zu durchbrechen, die sich zwischen ihnen auszubreiten drohte. Bereitwillig ging Gisela darauf ein. Nur Zeit gewinnen, Zeit. Überlegen können, was man tun müßte, um den Schwager schnell wieder loszuwerden, ohne daß er ihr Geheimnis entdeckte.
»Sag, Gisi«, fragte der Mann lächelnd, »kann man bei dir eigentlich auch eine Tasse Kaffee bekommen? Ich muß gestehen, daß ich rechten Kaffeedurst habe. Ich kam direkt vom Bahnhof zu dir, habe nur meinen Koffer im Hotel abgesetzt, weil ich hoffte, dich um diese Zeit eher anzutreffen. Abends bist du doch sicher oft unterwegs.«
»Ach du lieber Himmel.« Gisela wußte gar nicht, wie unendlich trüb ihr Gesicht aussah, während sie sprach. »Entschuldige, daß ich dir nicht gleich etwas angeboten habe. Selbstverständlich kann uns Frau Stadelhuber einen Kaffee machen. Wenn du so lieb sein und sie rufen würdest? Sie ist sicher in der Küche.«
Verständnislos sah Schniewind sie an. Warum stand sie nicht selbst auf, um der Wirtin den Auftrag zu geben?
»Kannst du nicht aufstehen, Gisi? Bist du krank?« gab er seinen Gedanken Ausdruck.
»Ach nein!« Gisela verzog das Gesicht zu einem kümmerlichen Lächeln und versuchte zu scherzen. »Ich bin nur ganz entsetzlich faul und habe mich gerade so schön in die Decke eingemummelt.«
Schniewind lächelte, obgleich ihn ihre Antwort irgendwie beunruhigte. Das paßte doch gar nicht zu Gisela. Da stimmte doch etwas nicht.
Aber er ging dennoch hinaus, um die Wirtin zu rufen.
Wenig später dampfte dann ein besonders guter Kaffee in den Tassen und auch für den Gast, der so plötzlich hereingeschneit war, opferte die gute Frau Stadelhuber noch ein großes Stück Apfelstrudel.
Als man sich die Zigaretten angezündet hatte, meinte Schniewind freundlicher: »Was hältst du davon, wenn wir heute abend einmal einen Bummel durch Wien machen, Gisela?«
»Ach nein!« Die junge Frau nahm eine starre, abwehrende Haltung an. »Weißt du, es geht nicht. Ich habe sehr viel zu arbeiten, Matthes, ich kann wirklich nicht.«
Ein heißes Flehen lag in den dunkelumränderten Augen, eine Bitte, daß man nicht weiter in sie dringen solle.
»So – das ist schade«, erwiderte Schniewind langsam und blickte dem Rauch seiner Zigarette nach. »Ich hatte mich sehr auf einen Abend mit dir im schönen Wien gefreut. Aber freilich...« Ganz langsam sprach er jetzt und sah sie scharf an: »Wenn es dein Zustand nicht erlaubt?«
»Was – was weißt du darüber?« tonlos kam es von den blassen Lippen.
»Nichts weiter als – nun eben, daß du ein Kindchen erwartest, Gisi«, sagte er mit warmer Stimme, die beschwichtigen sollte und Vertrauen heischte. »Du kannst dir denken, daß ich mir Sorgen um dich mache, daß ich nach Zusammenhängen suche. Dein ganzes Verhalten in letzter Zeit war uns allen ja schon so unverständlich, wir alle glaubten, daß deine Ehe mit Repkow zu einer echten, glücklichen Gemeinschaft führen würde, und nun ist nichts weiter daraus geworden, als daß du in erbarmungswürdiger Verfassung hier in Wien sitzt und Repkow nicht minder unglücklich in München ist.«
»Oh – ich, ich fühle mich ganz wohl hier, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Und Eike ist in München bestimmt nicht unglücklich, das bildet ihr euch nur ein«, wehrte Gisela ab. Sie wollte nicht weich werden, man sollte sie in Ruhe lassen, das war ihr einzigster Wunsch.
»Aber Gisi!« Mit leichtem Vorwurf sprach Matthes Schniewind. »So wie du es dir denkst, geht es doch wirklich nicht. Du bist doch auch deinem Kind verantwortlich!«
»Das werde ich auch!.« kam es trotzig zurück.
»Nein, das wirst du nicht, du vergräbst dich in ein Leid, das, wie ich vermute, nur ein Hirngespinst ist.«
»So laßt mich doch, ich will ja nichts von euch!« fuhr die junge Frau auf, nur noch mit Mühe die Tränen zurückhaltend.
»Nein, wir lassen dich nicht, du kleiner Trotzkopf.« Noch näher rückte der Mann seinen Sessel heran und legte den Arm leicht um die bebende Gestalt.
»Hab' doch Vertrauen zu mir, Gisi«, bat er herzlich. »Du kannst doch nicht von mir erwarten, daß ich wieder gehe und dich einfach deinem Schicksal überlasse?« Erwartungsvoll schaute er mit ernstem Blick in die großen, traurigen Augen.
Aber nur noch fester preßten sich die blassen Lippen zusammen.
Schniewind seufzte leise auf. Wie schwer machte sie es doch sich – und ihm.
»Gisela – sag, ist Repkow der Vater? Bitte ...«
»Ja, ja, ja«, die junge Frau schrie es fast, schleuderte mit einem Ruck die Decke beiseite und sprang auf.
»Ja – es ist Repkow, wer sollte es wohl sonst sein? Aber ...« Ihre Augen nahmen einen verzweifelten Ausdruck an: »Wenn du es ihm sagst – dann, dann weiß ich nicht, was ich tu!«
Auch Schniewind war aufgesprungen, nur mit Mühe alle jene Fragen, die sich ihm aufdrängten, zurückhaltend. Ruhe, Ruhe, predigte er sich selbst und legte, behutsam den Arm um die Schwägerin, die jetzt in bitterliches Weinen ausgebrochen war.
»Kind, reg dich doch bitte nicht auf«, sagte er beschwichtigend. »Du schadest dir doch nur, und ich will dir doch helfen.«
Langsam schritt er mit ihr in dem kleinen Zimmer auf und ab – sie mußte erst ruhiger werden, bevor man weitersprechen konnte. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Andrea müßte hier sein, sie würde wissen, was man tun muß. Frauen verstehen einander besser und sind wohl auch viel geschickter in solch einer schwierigen Lage.
»Willst du mir nicht sagen, weshalb du Eike verlassen hast?« fragte er nach geraumer Zeit behutsam.
»Du kennst doch die Umstände, unter denen diese Ehe geschlossen war. Sie war doch sinnlos geworden, nachdem Eike wieder gesund wurde«, kam es merkwürdig ruhig zurück.
»Aber Gisela, das kann ich gar nicht glauben, daß sie sinnlos wurde. Und außerdem, ihr liebt euch doch!«
Gisela errötete und wandte den Kopf ab. – Sie war an ihrem Schreibtisch stehengeblieben und schob achtlos einige Blätter beiseite. Alles, was sie sagen würde, erschien ihr falsch, und die Wahrheit – die konnte sie nicht sagen.
Sie gab sich einen Ruck und sprach, mit aller Energie ihrer Stimme Festigkeit gebend:
»Ich denke, wir lassen alles so, wie es ist. Ich fühle mich hier ganz wohl und irgendwie werde ich mich und das Kindchen schon durchbringen. Ich habe nur den einen Wunsch, daß Eike nichts davon erfährt. Wenn du mir also das versprechen könntest ...«
»Aber Gisela!« Erschrocken blickte sie Schniewind an: »Das kannst du doch nicht von mir verlangen. Dein Kind hat doch ein heiliges Recht auf seinen Vater. Du kannst ihm doch dieses Recht nicht ohne ganz triftige Gründe vorenthalten. Außerdem hat auch Eike ein Anrecht an sein Kind. Und da eure Ehe noch nicht geschieden ist, wird er auch die Existenz eines Kindes erfahren müssen.«
»So sorge, daß er endlich die Scheidung einreicht!« rief die junge Frau gequält aus. »Das ist die einzige Hilfe, die ich von dir erbitte!«
Unschlüssig betrachtete Schniewind die zusammengekauerte Gestalt. Er wußte sich keinen Rat. Schließlich sagte er nachdenklich:
»Ich glaube, wir sprechen heute nicht mehr darüber. Wir sind beide zu erregt, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. Morgen sieht vielleicht alles schon anders aus, meinst du nicht auch, kleine Schwägerin?«
Ein Seufzer flog durch den Raum.
»Und morgen?«
»Nun, morgen werden wir beide einmal schwänzen, Gisi. Ich den Kongreß und da das Kolleg und uns Wien bei Tage anschauen. Wenn du es schon bei Nacht nicht sehen willst«, versuchte der Mann zu scherzen.
*
Eike von Repkow legte mit zitternden Händen den Telefonhörer auf die Gabel zurück, strich sich mit einer verlorenen Gebärde durch das Haar.
Das, das mußte erst verdaut werden, was ihm der Freund, der ja nun auch sein Schwager war, gesagt hatte. War denn das überhaupt möglich? Nicht nur, daß Gisi ihn, ohne einen stichhaltigen Grund anzugeben, urplötzlich verließ. Sie brachte es sogar fertig, zu verschweigen, daß ...
Repkow dachte nach. Matthes hatte recht, daß er ihn bat, unverzüglich nach Wien zu kommen.
Erleichtert seufzte Repkow. Ja, er würde sofort fahren. Das verschaffte Ablenkung, Erleichterung – war besser als dieses Grübeln, das ja doch zu nichts führte.
Mit schnellen Schritten verließ er sein Arbeitszimmer und eilte hinaus, um die notwendigen Anweisungen für seine Reise zu geben. Dabei lockerte sich unwillkürlich die Spannung, in der er sich seit Giselas Verschwinden befand.
Man konnte doch endlich wieder einmal etwas tun. –
*
Während Repkow mit sicherer Hand seinen Wagen nach Wien lenkte, stand Matthes Schniewind, zur Untätigkeit, zu quälendem Warten verdammt, in einem kleinen, schmucklosen Zimmer und starrte hinunter in den Garten.
Das häßliche Aprilwetter, das draußen mit Schnee und Regen tobte, paßte so ganz zu der trüben Stimmung, in der er sich befand.
Dieses Warten, dachte er und wandte sich vom Fenster ab, gedankenlos in ein paar zerlesenen Zeitschriften blätternd. Man könnte verrückt werden!
Wieviel Stunden wartete er nun schon hier? Und immer noch nichts.
Da war er vormittags, wie verabredet, zu seiner Schwägerin gekommen, aber sie war nicht mehr da. Sie war bereits in der Klinik.
Noch in der Nacht hatte man sie fortbringen müssen, und nun kämpfte sie irgendwo, ein paar Zimmer weiter, um ihr Kind. Und so lange ließ es auf sich warten, dieses kleine Wesen, als sträube es sich, in eine Welt zu kommen, die ihm kein friedliches, geschütztes Elternhaus bot.
Er hatte sofort die Klinik aufgesucht und mit Repkow sich sofort in Verbindung gesetzt.
Jetzt durfte er einfach nicht mehr zögern. Was auch vorgefallen sein mochte, Repkow gehörte hierher, zu seiner Frau, zu seinem Kind.
Andrea – nein, sie sollte noch nicht beunruhigt werden – es wäre sinnlos.
Wieder marschierte er wartend durch das Zimmer, blieb am Fenster stehen, an das heftige Regenboen peitschten.
Er überhörte das Öffnen der Tür. Erst als ihn eine leise Stimme anrief, drehte er sich hastig um.
»Ein Junge, Herr Doktor«, sagte die Schwester freundlich, »ein kräftiger Bub, trotzdem er ein bissel früh kommt.«
»Und meine Schwägerin?« Angstvoll fragte es der Mann.
Die Schwester nickte ihm beruhigend zu:
»Es ist alles in bester Ordnung. Sie können bald zu ihr.«
»Dem Himmel sei Dank«, rief Schniewind erleichtert aus. »Ich war schon ganz verzweifelt...«
»Das ist immer so«, lächelte die Schwester. »Diesen Kummer sind wir gewöhnt. Ich werde Sie also abholen, wenn es soweit ist.«
Erleichtert blickte Schniewind der Davoneilenden nach. Mit dem Taschentuch fuhr er sich über die Stirn. Unglaublich heiß hier drin, stellte er in Gedanken fest, das war ihm vorher nicht aufgefallen. Na ja, da mußte einem ja auch heiß werden, dachte er lächelnd. Das Ganze war eine ziemlich anstrengende Angelegenheit. Aber nun war ja erst einmal alles gut, was weiter kam, mußte man abwarten ...
*
Wie Schniewind in den folgenden Tagen bemerken konnte, war mit Gisela seit der Geburt des Kindes eine erstaunliche Veränderung vorgegangen.
Zwar lag sie sehr blaß und erschöpft in den Kissen, aber ihre Augen strahlten so glücklich, so von innen herausleuchtend, als gäbe es nichts, was sie beschwerte.
»Es ist wie ein Wunder«, sagte er zu Repkow, als dieser eintraf. »Sie spinnt sich ganz in ihr Mutterglück ein und schiebt alles zurück, was sie stören könnte.«
Und so war es auch. Das gesunde Kind beglückte die junge Mutter so stark, daß sie einfach an nichts anderes denken wollte. Dank der Fürsorge Schniewinds lag sie in einem Einzelzimmer, konnte also nicht sehen, wie andere Mütter von ihren Männern besucht wurden, und vermißte deshalb nichts.
Kam ihr einmal der Gedanke, daß es anders noch schöner, noch beglückender sein könnte, kehrte sie sich ganz bewußt davon ab. Sie wollte jetzt nichts denken – das hatte Zeit. Diese Tage sollten nur ihr und dem Kind gehören – was später kam, nun, man mußte abwarten.
Und dann richtete sie sich meist auf und schaute mit frohen Augen auf ihr Kind, das neben ihrem Bett in einem Wagen stand.
Weniger ruhig als die junge Mutter, ertrug Repkow das Warten. Der Arzt hatte, nachdem Repkow ihm kurz die Lage geschildert hatte, abgeraten, daß Repkow seine Frau jetzt besuchte. Es würde die junge Frau möglicherweise sehr beunruhigen, sicher wäre es besser, man wartete einige Tage.
Treulich hielt Schniewind in diesen für den Freund so schweren Tagen neben ihm aus, nachdem er mit Andrea telefoniert und ihr gesagt hatte, daß er im Anschluß an den Kongreß noch einige geschäftliche Dinge erledigen wolle, da er nun schon einmal in Wien sei.
Und Andrea war eine verständnisvolle Frau und fand das durchaus richtig, wenn sie ihm auch gestand, daß sie doch rechte Sehnsucht nach ihm habe.
Nun, auch in Matthes stieg die Sehnsucht nach seiner Frau übermächtig auf, als er ihre weiche Stimme hörte – aber er bezwang sich tapfer. Und er suchte den Freund durch alles mögliche abzulenken.
Er schleppte ihn durch Museen und Theater, fuhr mit ihm hinaus in die herrliche Umgebung der Donaustadt und ließ ihn kaum zur Ruhe kommen.
Zwei Tage, bevor Gisela die Klinik verlassen sollte, war es dann soweit, daß der Arzt einen Besuch Repkows bei seiner Frau erlaubte.
Schniewind war es etwas unbehaglich, als er am Bett der Schwägerin saß mit dem Auftrag, sie auf den Besuch des Gatten vorzubereiten. Mehr als einmal überzeugte er sich nervös davon, daß seine Krawatte auf dem richtigen Platz saß, fuhr er mit dem Finger unter seinen Kragen, als sei er ihm zu eng.
Verwundert betrachtete ihn die junge Frau, was hatte er nur?
»Sag, Matthes, was ist nur mit dir los?« fragte sie lächelnd. »Du machst ein Gesicht wie ein Schulbub, der seine Aufgaben nicht gemacht hat.«
In drolliger Verzweiflung schaute der Mann die junge Frau an: »So ähnlich ist mir auch zumute, Gisi, ich möchte dir nämlich etwas sagen, aber ich weiß nicht wie.«
Seine Worte weckten die ganze Aufmerksamkeit der Schwägerin. Sie setzte sich im Bett aufrecht hin und forschte, leicht beunruhigt:
»Was hast du mir denn zu sagen, was dir scheinbar so viel Schwierigkeiten macht, Matthes?«
»Hm«, er gab sich einen energischen Ruck: »Draußen ist jemand, der dich sprechen möchte.«
»Andrea?« fragte Gisela leise.
»Nein – Eike.« Mit einer an ihm völlig ungewohnten Unsicherheit sah er die junge Frau an. Wie würde sie es aufnehmen?
Eine Weile hing ein banges Schweigen im Raum. Man hörte nur das schnelle, kurze Atmen der jungen Frau, die sich zurückgelegt hatte und blicklos gegen die weiße Decke des Zimmers schaute.
Schniewind wagte nicht, sich zu rühren. Seine Gedanken flogen zum Freund, der draußen in dem langen Gang wartete. Welchen Bescheid würde er ihm bringen können?
Ein schwerer, zitternder Seufzer drang an sein Ohr.
»Warum hast du das getan, Matthes?« fragte Gisela traurig. »Es war alles so schön in diesen Tagen.« Und als er schwieg, fuhr sie fort:
»Ja – es war so schön, einmal an nichts denken zu müssen. Aber – es wäre ja doch bald vorbei mit dieser friedlichen Zeit. – So laß ihn kommen, es hilft ja doch nichts.«
Erleichtert sprang Schniewind auf. Herzhaft drückte er die blasse Frauenhand, und dann, ohne sich noch länger aufzuhalten, stürmte er hinaus, um Repkow zu holen.
»Alles Glück mit dir, alter, Freund«, sagte er mit rauher Stimme und preßte die Hand des Freundes, als wolle er sie zerdrücken.
Wortlos nickte ihm Repkow zu und schritt mit festen Schritten zu der Tür, hinter der er Frau und Kind wußte. Tief atmete er auf, als er die Klinke niederdrückte. Dann öffnete er mit einem kurzen Ruck die Tür und zog sie schnell hinter sich zu.
Mit brennenden Augen blickte er hinüber zu dem Bett, wo seine Frau in aufrechter Haltung saß und vor seinem fragenden Blick die Augen niederschlug.
Schöner denn je erschien dem Mann das junge Geschöpf, deutlich spürte er, wie sein Groll schwand.
Mit ein paar schnellen Schritten stand er an ihrem Bett: »Gisi, warum mußte das sein?« fragte er, heiser vor Erregung.
»Solltest du das nicht wissen?« kam es in herber Gegenfrage zurück.
»Nichts weiß ich, wirklich nichts.« Voller Bitterkeit rief es der Mann. »Ich glaubte, es sei alles gut – und dann – warst du auf einmal plötzlich fort. Ließest nichts nicht von dir hören, schriebst mir nur einen unverständlichen Brief – o Gisi, wie konntest du nur diesen Brief schreiben?« fragte er gequält.
»Ja – wie konnte ich nur...?« kam es leise von ihren Lippen.–
Ein feines Stimmchen unterbrach sie. Repkow wandte den Blick zur Seite und sah zum ersten Male sein Kind, dieses winzige Menschlein, das, als hätte es eine Ahnung, wie wichtig es bei dieser Auseinandersetzung sei, sich energisch zu melden begann.
»Unser Kind, Gisi – und du konntest es mir verheimlichen ...«, sagte er vorwurfsvoll.
Die junge Mutter senkte vor den dunklen Augen ihren Blick. War es wirklich falsch, was sie getan hatte? Hätte sie ihm nicht trotz allem, was zwischen ihnen stand, nicht alles sagen müssen? Die mahnenden Worte Schniewinds fielen ihr ein.
»Ich weiß nicht, ob es richtig war – aber, ich konnte nicht anders«, erwiderte sie leise. Sie beugte sich zur Seite und versuchte, das Kind aus dem Bettchen zu heben.
»Komm, ich werde es dir geben«, sagte Repkow und nahm mit einer Vorsicht, als sei es eine zerbrechliche Kostbarkeit, das winzige Geschöpf auf.
Mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit blickte er in das Gesichtchen seines Jungen. Etwas Großes, Ungekanntes ging in ihm vor. – Das kleine Wesen da war sein Kind, sein und Gisis Kind. Ein Wunder – ein vollkommenes Wunder – und vielleicht würde nun alles wieder gut werden. Dieses kleine Wesen, würde es nicht mit seinen winzigen Händchen ihm Gisi wieder zuführen können? Er brauchte sie doch, sie und das Kind.
Stumm schaute die junge Mutter in das Gesicht des Mannes, sah, wie es in ihm gärte und arbeitete, fühlte die Erschütterung, die ihn durchrann.
»Wie ruhig er geworden ist«, sagte sie nach einiger Zeit leise. »Man darf ihn nicht verwöhnen.«
»Meinst du?« fragte Repkow zweifelnd, »er schrie doch vorhin so arg.«
»Das tun Babies gern«, belehrte ihn die junge Mutter weise. »So klein sie sind, wollen sie doch schon ihren Kopf durchsetzen.«
»Du weißt das sicher besser als ich, Gisi.« Unsicher sah Eike zu ihr hin.
»Ja – Männer wissen damit weniger Bescheid ...«
»Aber das kann man ja lernen«, meinte Eike hoffnungsvoll.
Gisela schwieg – was sollte sie darauf antworten?
Der Mann spürte, daß in diesem Schweigen Ablehnung lag. Das durfte nicht sein. Das kleine Bündel fest an sich gedrückt, als wolle er es nie mehr lassen, sagte er bestimmt:
»Wir werden übermorgen heimfahren, du, ich und unser Kind, Gisi. Der Arzt hat gegen diese Reise keine Bedenken. Wir richten alles so bequem als möglich für dich und den kleinen Mann ein.«
»Ich möchte das nicht, Eike«, erwiderte die junge Frau tonlos. »Laß mich hierbleiben, bitte. Mich und das Kind ..«
»Nein, Gisi – das geht nicht.« Mit aller Entschiedenheit wurde das gesagt.
»Wir dürfen nicht nur an uns denken. Wir haben Pflichten, Elternpflichten. Unser Kind hat ein Anrecht darauf, daß wir persönliche Dinge zurückstellen, damit es in der Obhut beider Eltern aufwachsen kann.««
»Eike – ich kann aber doch nicht!« Klagend kam es von den Lippen der Frau, deren Augen sich mit Tränen füllten.
»Man kann alles, was man will – besonders eine Mutter.« Sehr ernst sagte es Repkow.
Giselas Hand hob sich mit unendlich müder Gebärde – blieb einen Augenblick in der Luft hängen und sank dann schwer zurück.
Den Mann ergriff diese kleine, hoffnungslose Gebärde mehr, als alle Worte es vermocht hätten.
»Laß uns heute nicht über diese Dinge sprechen, Gisi. Werde erst wieder gesund und fröhlich, und dann werden wir sehen, wie wir unser Leben einrichten. Und sorge dich nicht, es wird alles viel leichter sein, als du jetzt denkst, kleine Frau.«
Warm und zuversichtlich klang seine Stimme – voller Güte schaute er in die großen Blauaugen seiner Frau, in die Augen, nach denen er sich sooft gesehnt hatte.
»Wie du meinst ...« Voller Resignation sagte es die junge Mutter.
»Ich will nur das Beste für dich und unser Kind, Gisi«, erwiderte Repkow herzlich, »denke immer daran. Und nun nimm deinen Jungen, vielleicht weiß er dir besser zu raten als ich.«
Voller Scheu küßte der Mann die Kinderstirn, drückte die zarten Händchen ganz fest an seine Wange, bevor er das Kind der Mutter in den Arm legte.
»Ich werde dich jetzt allein lassen, Gisi, damit du in Ruhe über alles nachdenken kannst.«
In stummer Bitte sah er sie an – sie verstand und reichte ihm zaghaft die Hand, die Repkow wortlos an die Lippen zog.
Dann wandte er sich um und schritt schnell hinaus.
*
Nun weilte die junge Frau schon einige Wochen wieder im Hause des Gatten.
Mit strahlendem Gesicht standen der treue Geißler und die Wirtschafterin vor dem Haus, als die kleine Familie ankam. Ihre ehrliche Freude tat der jungen Frau wohl.
Aber dann sah sie ein junges Mädchen, das sie mit ernsten, aufmerksamen Augen betrachtete. Und irgendwie kam ihr dieses junge Gesicht bekannt vor. Fragend blickte Gisela ihren Mann an.
»Meine Nichte Ingrid«, sagte er ruhig. »Ich glaubte, ihr kennt euch bereits?«
»Ja – natürlich – wir sahen uns schon einmal.« Gisela war etwas verwirrt. Wieso kam diese Ingrid plötzlich hierher? Eike hatte doch völlig mit seiner Familie gebrochen?
Zögernd streckte sie dem jungen Mädchen, dessen Augen so bittend die ihren suchten, ihre Hand entgegen.
»Ich – freue mich so sehr, daß Sie endlich da sind«, sagte Ingrid unbeholfen und ergriff die dargebotene Hand mit krampfhaftem Druck.
»Nun kommt nur«, unterbrach Repkow die Begrüßung, die durch unausgesprochene Fragen beeinträchtigt wurde. »Gisela braucht noch sehr viel Ruhe. Die Fahrt hat sie sehr angestrengt.«
Behutsam legte er seinen Arm um die Schultern seiner jungen Frau und führte sie ins Haus.
Später, als Gisela ermattet in ihrem Bett lag, in dem gleichen Zimmer, das sie früher bewohnt hatte, nur, daß neben ihrem Bett jetzt ein zweites kleines Bettchen stand, kam Repkow noch einmal zu ihr.
Besorgt erkundigte er sich nach ihrem Befinden. Dann, als müsse das so sein, setzte er sich neben ihr Bett und sagte erklärend:
»Du bist überrascht gewesen, Ingrid hier vorzufinden. Ich hatte gar nicht an sie gedacht, sonst hätte ich dir schon vorher davon erzählt. Ich hoffe aber trotzdem, daß es dich nicht stört, wenn Ingrid einige Monate bei uns ist.« Und dann erzählte er ihr, wie Ingrid in sein Haus gekommen war.
Als er geendet hatte, sagte Gisela in ihrer alten, warmherzigen Art:
»Das ist doch ganz selbstverständlich, daß Ingrid hier ist. Mich wird sie sicher nicht stören, das arme Kind.«
»Ich freue mich, daß du so denkst«, erwiderte Repkow erleichtert. Einen Augenblick war er versucht, über das schmale Antlitz mit den großen, blauen Augen zu streichen, aber er bezwang sich. Man durfte nichts tun, was sie beunruhigen konnte.
»Du mußt jetzt schlafen, Gisi«, sagte er nur. »Die Fahrt war reichlich anstrengend für unser kleines Mütterchen.«
Aber noch lange, nachdem er sie verlassen hatte, konnte Gisela nicht einschlafen. Sie dachte sehr angestrengt über etwas nach. Ingrid. Wann war Ingrid hierhergekommen?
Das war die Frage, die sie ausschließlich beschäftigte und erst sehr spät Ruhe finden ließ ...
Am nächsten Tag lag Gisela im Liegestuhl auf ihrem Balkon. Wohlig empfand sie die wärmenden Strahlen der Maisonne. Ja – irgendwie empfand sie den augenblicklichen Zustand als angenehm, nach all dem Kummer der vergangenen Monate. Es war so schön, sich nicht sorgen zu müssen. Alle Schwierigkeiten wurden ihr fürsorglich abgenommen.
Da war eine Säuglingsschwester, die sie und das Kind betreute – alles war so gut und wohltuend, wenn – ja, wenn eben nicht das eine gewesen wäre, das sie damals aus dem Haus getrieben hatte und sie auch heute nicht ruhig sein ließ.
Ein leichter Schritt näherte sich der Ruhenden. Gisela öffnete blinzelnd die Augen.
»Ich wollte schauen, wie es Ihnen geht«, sagte die kleine Ingrid zaghaft.
»Das ist lieb von dir«, erwiderte Gisela herzlich und reichte dem jungen Mädchen die Hand, »aber meinst du nicht auch, es sei richtiger, wenn wir du zueinander sagen?«
Ein dankbarer Blick aus den dunklen Augen traf die junge Frau.
»Oh, so gern«, sagte Ingrid leise. »Na also«, lachte Gisela, »aber ich glaube, du nennst mich nur beim Namen, um eine richtige Tante zu sein für ein so großes Mädchen, bin ich wohl noch nicht alt genug.«
»Nein, bestimmt nicht«, nickte Ingrid eifrig. »Du bist ja noch so jung. Wenn ich auch Gisi sagen darf?«
»Aber natürlich, du Schäfchen«, lächelte die ältere. »Wir werden versuchen, recht gute Freundinnen zu werden, nicht wahr?«
»Das wäre herrlich!« Das junge Mädchen strahlte vor Freude. »Ich wollte immer so gern eine Freundin haben, die meisten Mädchen in meiner Klasse sind nämlich Gänse.«
Zum ersten Male seit langer Zeit lachte Gisela hellauf.
»Das ist nicht gerade schmeichelhaft für deine Klassengenossinnen«, sagte sie fröhlich. »Womit haben sie sich denn dieses vernichtende Urteil verdient?«
Eifrig erklärte Ingrid ihre Abneigung, die darin wurzelte, daß die meisten jungen Mädchen nach ihrer Ansicht viel zu übertrieben modern seien, etwas, was ihr durchaus nicht gefiel.
Nachdenklich hörte ihr Gisela zu. Im Grunde genommen, hatte sie die gleichen Erfahrungen gemacht. Dann aber irrten ihre Gedanken ab, lenkten sie wieder auf jene Frage, die sie, seit sie hier war, bewegte.
Vorsichtig lenkte sie das Gespräch in andere Bahnen, auf Ingrids Anwesenheit in diesem Haus.
»Wann bist du eigentlich gekommen, Ingrid?« fragte die junge Frau und hatte Mühe, die heimliche Spannung zu verbergen, mit der sie auf Antwort wartete.
»An dem Morgen, als du abgereist bist«, erwiderte das Mädchen offen.
»An jenem Morgen also«, sagte Gisela in tiefem Sinnen nach einiger Zeit.
»Ja – ich war sehr enttäuscht, daß du nicht mehr dagewesen bist, als ich am Nachmittag mit Sack und Pack ankam. Vormittags schliefst du ja noch.«
»Wie kann man nur so dumm sein«, sagte Gisela laut.
Verblüfft schaute Ingrid die junge Frau an. Was meinte denn Gisi damit?
Die junge Frau lächelte ihr beruhigend zu.
»Ich habe eben laut gedacht, Ingrid, mir kam da ein Gedanke.« Sie schwieg und sagte dann leise: »Die größten Dummheiten macht man, ohne es zu wissen, und ich glaube, ich habe, da kürzlich eine Riesendummheit gemacht.«
»Nun, wenn du es nur einsiehst«, sagte Ingrid lustig, deren junges Herz, sich mit jeder Minute mehr der älteren zuneigte. »Dann kann man sie nämlich meistens wieder gutmachen, die Dummheiten.«
»Meinst du?« fragte Gisela und richtete sich auf.
»Aber sicher«, beteuerte Ingrid lebhaft.
»Das wäre schön – wunderschön ...« Ganz leise, wie ein Hauch, kam es von den Lippen der jungen Frau. Sie schloß die Augen und legte sich wieder zurück.
Still saß Ingrid neben der Ruhenden. Nach einiger Zeit erhob sie sich. Sie ist eingeschlafen, dachte das junge Mädchen und entfernte sich leise.
Aber Gisela schlief nicht. Sie dachte sogar sehr angestrengt nach. Es blieb dabei nicht aus, daß sie sehr scharf mit sich ins Gericht ging, denn ihr wurde allmählich klar, daß sie vor Ingrid, der kleinen Ingrid davongelaufen war.
Es war kein Zweifel, daß es nur Ingrid gewesen sein konnte, die sie an jenem unglückseligen Morgen in den Armen Eikes gesehen hatte, das heißt, richtig gesehen hatte sie ja das Mädchen nicht. Nein, sie sah nur Eikes breiten Rücken und davon halb verdeckt ein weibliches Wesen, auf das er so gütig einsprach.
Und dann war sie gleich davongelaufen.
Wie hatte sie Eike nur so wenig vertrauen können? Das war der Vorwurf, der ihr keine Ruhe ließ und den sie sich mit aller Heftigkeit ihres Wesens selbst machte.
Würde ihr Eike das je verzeihen können? Das war die zweite Sorge, die sich ihr aufdrängte. Eike, der sie vielleicht ehrlich geliebt hatte – und den ihr Verhalten tief gekränkt haben mußte.
*
Es war eine sehr merkwürdige Zeit, die nun für Gisela anhub. Die Entdeckung, daß sie auf die Nichte ihres Mannes eifersüchtig gewesen war, daß sie einem törichten Irrtum zum Opfer fiel, hatte sie um ihre ganze Sicherheit gebracht.
Ihr ganzes Wesen drückte eine scheue Verhaltenheit aus, die Repkow rätselhaft war. Allerdings kam er nur sehr wenig zu seiner jungen Frau, glaubte er doch, es würde ihr leichter fallen, sich wieder einzuleben in seinem Haus, wenn er sich ihr möglichst fernhielt.
Manchmal schien es ihm, als wolle sie ihm etwas sagen – aber stets preßte sie wieder die Lippen fest zusammen und sprach irgend etwas Belangloses.
Dabei blühte sie sichtlich auf, es schien dem Mann, als würde sie täglich schöner. Das schmale Gesicht rundete sich wieder, die Augen strahlten wieder glänzend und hell in die Welt, und ihre Haltung wurde wieder straff und elastisch wie einst.
Nur in ihrer ganzen Art sich zu geben, war etwas, was früher nicht gewesen war, etwas Weiches, Hilfloses, das ihn mehr und mehr bezauberte. Unsagbar schwer wurde es ihm, unbefangen mit ihr zu sprechen, jenen freundschaftlich ruhigen Ton beizubehalten, den er für richtig hielt.
Sehr oft verließ er sie ziemlich hastig unter irgendeinem Vorwand, weil er es nicht mehr ertragen konnte, in ihre Augen zu blicken, in denen etwas Fragendes, Lockendes lag, das ihn in seiner Ruhe erschütterte und das er sich nicht zu deuten wußte.
Und sehr oft ließ dann Gisela traurig das Köpfchen hängen und dachte, daß sie sich wohl seine Liebe verscherzt habe.
Manchmal aber auch meinte sie, daß doch noch alles gut werden könnte... Das war, wenn sie plötzlich aufschaute und sein Blick mit einem Ausdruck an ihr hing, der ihr Herz schneller schlagen ließ.
Immer schwerer wurde es der jungen Frau, ihre Sehnsucht zu verbergen. Oft saß sie noch bis in die Nacht hinein auf ihrem kleinen Balkon und dachte an den Mann, den sie schlafend wähnte und der doch, gleich ihr, keine Ruhe fand.
Ganz allmählich kam ihr in diesen einsamen Stunden die Erkenntnis, daß es wohl richtig sei, wenn sie ihren Irrtum gutmachen würde. So ähnlich hatte ja auch die kleine Ingrid gesagt.
Aber das war schwer, furchtbar schwer. Ja, wenn man wüßte, daß Eike sie wirklich noch liebte, daß man seine Verzeihung erhoffen konnte. Aber hatte er sie denn auch wirklich geliebt?
Immer schöner wurde die Welt, immer mehr Blüten entfalteten sich täglich in dem großen Garten, einen Duft verströmend, der alle Sehnsucht weckte.
Und immer unerträglicher wurde Gisela das unklare Verhältnis zu ihrem Mann. Ein Brief Andreas, die in den ersten Tagen nach Giselas Rückkehr zu einem kurzen Besuch gekommen war, um den kleinen Neffen zu bewundern, beendete die Unentschlossenheit und ließ alle Energie, die ihr sonst eigen war, in Gisela wach werden.
»Auch ich werde nun ein Kindchen haben, liebe Gisela«, schrieb Andrea. »Und ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht, besonders, wenn ich sehe, wie Matthes sich so unendlich darauf freut. Wenn du ihn in seiner rührenden Glückseligkeit sehen könntest, würdest du erst ermessen können, was Du deinem Mann vorenthalten hast. Du wirst sehr viel gutmachen müssen an ihm ...«
So schrieb Andrea. Einen Augenblick wollte ein ungutes Gefühl gegen die Schwester aufkommen, die ja nicht ahnen konnte, aus welchem Grunde Gisela damals fortgegangen war. Wenn sie auch irrte, so hatte sie doch nie bewußt böse handeln wollen. Aber dann siegte doch die Gerechtigkeit in dem jungen Geschöpf, und sie beschloß, gutzumachen, was in ihren Kräften stand.
Als sie nach dem Abendessen im Begriff war, ihr Zimmer aufzusuchen, sagte sie bittend zu Repkow:
»Könntest du nachher noch einen Augenblick zu mir kommen, Eike?«
Überrascht sah Repkow sie an. Dann neigte er zustimmend das Haupt.
»Gewiß, gern«, sagte er ruhig und sah der zierlichen Gestalt nach mit Augen, in denen eine große Frage stand.
Was mochte sie nur wollen, dachte er unablässig und hatte Mühe, ihr nicht sofort zu folgen.
Ruhelos wanderte er durch die immer dämmriger werdenden verschlungenen Wege des Gartens, bevor er sich entschloß, seine Frau aufzusuchen.
Und ebenso unruhig wartete Gisela in ihrem Zimmer. Immer wieder prüfte sie vor dem Spiegel ihr Aussehen, um gleich darauf, unwillig über sich selbst, den Kopf zu schütteln. Bei Eike würde nicht das Kleid, das sie trug, ausschlaggebend sein, sondern einzig und allein seine Liebe, die nicht nach Äußerlichkeiten fragen würde.
Ein fester Schritt näherte sich ihrer Tür, und dann stand er vor ihr, Eike, ihr Mann, und blickte sie fragend an.
»Ich wollte dir etwas sagen, erklären«, begann Gisela zaghaft und senkte scheu ihren Blick. »Bitte, wollen wir uns draußen hinsetzen?« fragte sie leise und wies mit der Hand leicht nach dem Balkon.
Mit einem langen Blick schaute der Mann auf das junge Geschöpf. Es war, als wolle er prüfen, ob sie sich an einen anderen Abend erinnere, einen Abend, an dem sie auch auf dem kleinen Balkon saßen.
Gisela errötete dunkel und schritt dann leicht hinaus. Eike folgte langsam und setzte sich ihr gegenüber, sie erwartungsvoll anblickend.
Noch einen Augenblick zögerte Gisela, es war doch sehr schwer. Dann hob sie tapfer das Köpfchen und sagte fest:
»Ich wollte dir erzählen, weshalb ich dich damals verlassen habe.«
Repkow zuckte jäh zusammen. »Sprich«, sagte er rauh.
Unaussprechliches ging in ihm vor, während er ihren Worten lauschte. Das war ja Wahnsinn! Um eines blöden Irrtums willen all die Qual, all die kostbare Zeit verloren!
Ein unterdrücktes Stöhnen kam aus seiner Brust. Ängstlich schaute seine Frau zu ihm auf. Sie konnte nicht ahnen, daß er sich selbst im Moment die heftigsten Vorwürfe machte. Weil er sie nicht gesucht hatte, ihr nicht nachgefahren war, damit sie ihm Rede und Antwort stand. Dann hätte sich dieser unselige Irrtum sehr bald aufgeklärt. Er hätte wissen müssen, daß seine Frau nicht grundlos davonlief, daß irgend etwas Zwingendes sie dazu veranlaßt hatte. Aber da war der Brief, dieser böse Brief, der so verletzend, ja frivol geschrieben war.
»Oh, Gisi, hättest du doch den Brief nicht geschrieben!« sagte er erschüttert, mit schwerem Vorwurf.
Verständnislos schaute ihn die junge Frau an. »Den Brief?« fragte sie leise.
»Ja, diesen Abschiedsbrief, den du mir schriebst. Wäre der nicht gewesen, ich wäre zu dir gekommen, sobald ich wußte, wo du warst. Viel Qual wäre dir und mir erspart geblieben.«
Flehend suchten die großen, jetzt so bangen Augen Giselas die des Mannes.
»Ich war ja so unglücklich, Eike, du ahntest nicht, wie sehr.« Und dann klang es ganz leise zu ihm: »Kannst du mir verzeihen, Eike?«
Stumm, ergriffen senkte sich der Blick des Mannes in die schimmernden Augen seiner jungen Frau.
»Ich möchte gutmachen, Eike.« Wie ein Hauch kamen diese Worte zu ihm.
Wartend stand er vor ihr – zwingend und fordernd schaute er das junge Geschöpf an, und Gisela verstand diesen Blick. Mit beiden Händen umfaßte sie sein Gesicht und bog seinen Kopf zu sich herunter. Leicht und scheu legte sie ihre Lippen auf die seinen, in stummer Abbitte.
»Hast du mich denn lieb, Eike?« fragte sie mit weicher, zärtlicher Stimme ...
»Ob ich dich lieb habe, Gisi? Mehr als alles auf der Welt, mehr als mich selbst. Ich habe mich ja so nach dir gesehnt«, sagte er mit bebender, dunkler Stimme, und dann zog er sie ganz fest in seine Arme, als wolle er sie nie mehr lassen, und küßte sie.
Alles ausgestandene Leid, aller Schmerz versank, wurde ausgelöscht durch diesen Kuß. Sie fühlten nur das eine, daß sie zusammengehörten, für alle Zeit. Daß alles, was sie füreinander gelitten, miteinander durchlebt hatten, zu einem festen Band geworden war, das nichts mehr zu lösen vermochte.
Als die erste Erschütterung abgeklungen war, gingen sie Arm in Arm hinüber in das helle, freundliche Kinderzimmer, in dem jetzt das Bettchen ihres Jungen stand.
»Ohne dieses winzige Kerlchen hätten wir vielleicht nie mehr zueinander gefunden«, sagte Repkow sinnend.
Ein Beben rann über die zarte Gestalt in seinem Arm. »Bitte, sprich nicht davon, es wäre zu furchtbar gewesen, ein ganzes Leben ohne dich«, bat Gisela.
»Das habe ich auch oft gedacht«, meinte Eike ernst und verließ mit ihr das friedlich schlafende Kind.
Später saßen sie dann, wie schon einmal, im silbernen Licht des Mondes auf dem kleinen Balkon. Eike hatte den Arm um seine junge Frau gelegt, hell klangen die Gläser aneinander, in überströmender Liebe sahen sich die beiden Glücklichen an.
»Meine kleine, liebe, liebe Frau«, raunte Eike mit großer Innigkeit dicht an ihrem kleinen Ohr. »Wirst du auch morgen nicht wieder fortlaufen und mich allein lassen?«
»Nein, Eike, nie mehr«, gelobte sie ernst. »Ich gehe nie mehr fort von dir.«
Und dann legte sie das Köpfchen an seine Brust, hörte das rasche Schlagen seines Herzens und ließ sich einhüllen in seine Liebe, die Geborgenheit und Glück verhieß für alle Zeit.