Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Großkanzler

Er war eigens von Potsdam zur Stadt gekommen, um die Arnoldsche Angelegenheit zu beenden, und saß nun im schlechtesten Zimmer dieses Schlosses, das er nicht mochte, einem einfenstrigen, schmalen Gelaß, kaum ausgestattet, von einem primitiv, in Eile angebrachten Ofen bis zum Ersticken überheizt. Angezogen war er wie immer, nachlässig und ärmlich wie nicht der letzte Fourageoffizier in einer westpreußischen Garnison: zu abgeschabten Reithosen und klobigen Stiefeln trug er einen blausamtenen Überrock, der ins Grünliche schimmerte, und auf dem Kopf, seltsame Gewohnheit seit den Ahasverus-Jahren des großen Feldzugs, einen alten verbogenen Militärhut; der saß schief, die Generalsfeder war abgerissen, und an der Rißstelle hingen die Fäden herunter. Frisiert war er nicht, kaum recht gewaschen, die Haare waren ihm auf einer Seite des Kopfes schon weiß, auf der anderen noch graulich, in seinem Mund staken ein paar gelbe Stummel, der Körper war gekrümmt von der Gicht und entsagte jedem Anspruch auf Haltung; der König bot einen häßlichen und verwahrlosten Anblick. Die Augen aber, die großen, sonderbar geschnittenen, bei denen man fast immer auch oberhalb der Iris das Weiße sah, sie strahlten und triumphierten über diesem Verfall, wie die Sonne über einem Tümpel.

So war noch kein König herumgegangen in seinen Zimmern, nicht in diesem Anstand und Repräsentation liebenden Jahrhundert und vielleicht in keinem. Das wußte er. Auch wenn man das Herz und das Hirn seines Staates ist, auch wenn man vierzehn Stunden am Tage sich abschuftet, auch dann noch kann man die Muße aufbringen, sich ein wenig zu pflegen und ordentlich zu kleiden, sofern man es will. Er aber wollte es nicht, aus Verachtung. Aus Verachtung für den Typus des Rokoko-Souverains, der sich schmückt und amüsiert, aus Verachtung für seine Minister, Funktionäre und Generale, die in Galakleidern vor ihn hintraten, aus Verachtung für seinen Körper, der nicht dauern wollte, der nach dem Grabe neigte, aus Verachtung für das Grab, dem er nichts Rechtes mehr zu rauben lassen wollte, aus Verachtung aber auch für das Leben, das ihm kurz und jämmerlich und jeder Hoffnung bar erschien und dem man nicht die Ehre erweisen durfte, es auch nur durch ein paar kosmetische Handgriffe anzuerkennen. Aber es gab noch einen besonderen Grund, warum er sich selber so verkommen und verfallen ließ und mit geheimer Freude seiner elenden Silhouette sich bewußt blieb. Er wog seine Taten, er sah seine Staaten, er kannte seinen Ruhm, der die Meere und alle Gipfel überflog. Er wußte sich mit Ehrfurcht und Staunen beredet und beflüstert in den Sprachen weißer und gelber und brauner Menschen, er wußte, daß sein traditionelles Porträt vor aller Augen hing in Stuben und Sälen, und es erfüllte ihn mit einer schlimmen und traurigen Lust, sich, das Urbild dieser Überlieferung, zu entstellen und zu verderben.

Ja, es freute ihn, wenn ihm wieder ein Zahn aus dem Munde fiel, es freute ihn, wenn seine Kleidung recht sauer und dumpfig nach Tabak roch, es war schön, so armselig und heruntergekommen in einer Art Weißzeugkammer in der Brutwärme zu sitzen, während einen das ganze Geschlecht der lebenden Menschen über die Wolken versetzte, während man wußte, daß man dort oben durch die Zeiten unverrückbar stehenbleiben würde als ein Sternbild. Das war, in zynischer Greifbarkeit genossen, ein Höchstes, Schönstes, der wahre radikale Triumph des Geistes.

Er saß im Armstuhl, schlief zusammengekauert. Die eine Hand, die fast unerträglich schmerzte, hatte er in einen großen Muff aus schäbigem Pelzwerk stecken, der neben ihm auf einem Tische lag. Auf einem gleichen zur andern Seite stand eine große, achatene Dose, mit Brillanten überreich verziert, der er vielmals Schnupftabak entnahm, und Aktenstücke waren aufgehäuft. Eines hielt er in der freien, halbgesunden Hand. Es begann mit den Worten »Im Namen des Königs« und war das Urteil. Er kannte die Formel als obligat, wie er alles kannte in seinen Staaten, aber er wollte das vergessen, er wollte in dieser Anrufung seiner Autorität einen besonderen, einmaligen Übergriff sehen; und er brachte es fertig.

»Meinen Namen cruel mißbraucht!« sagte er in die Stube hinein, und die Schläfenadern schwollen an seinem Greisenschädel, »wartet, Kanaillen!«

Es war ein kleiner privater Rechtsfall. Der Graf von Schmettau, ein Magnat im Frankfurter Kreise, beabsichtigt, einem Wassermüller die Mühle zu versteigern, weil der ihm die Pacht nicht bezahlt hat. Der Müller wendet ein, er sei ohne Schuld: der Landrat von Gersdorff, Schmettaus Verwandter, habe oberhalb am Bache einen Fischteich angelegt, der entziehe seiner Mühle das Wasser und mache ihn arm. Das Küstriner Gericht entscheidet gegen den Müller. Der geht zum König. Der König bemüht sein Kammergericht, er bemüht den Großkanzler, den ersten Ziviljuristen seiner Staaten. Alle entscheiden gegen den Müller. Die Mühle soll versteigert werden, es gibt keine Appellation mehr, der Rechtsweg ist zu Ende.

Seit Monaten ist der König besessen von dieser Sache. Wenn in den Winternächten die Gicht ihn einmal schlafen läßt, jagt ihn ein seelisches Fieber in die Höhe, ein Fieber der verwundeten Gerechtigkeit. Ein Großer kann nicht Recht haben gegen einen Kleinen – es ist eine Maxime jenseits und bar aller Logik und darum desto unerschütterlicher. Oh, warum mußten die Kräfte eines Menschen begrenzt sein! Warum brauchte es zur Verwaltung eines Staates Gerichte und Ämter, warum reichte er selber nicht aus, er ganz allein! Der König, hatte er ausgesprochen, sei der erste Diener seines Landes, aber sein Wunsch, sein marternder Traum war es, nicht der erste zu sein, sondern der einzige. Er mißtraute jedermann aus seiner tiefen Kenntnis von der Schlechtigkeit des Herzens, sich selber nur gestand er den Willen zu, gerecht zu sein, zu helfen, zu heilen. Er hätte mögen alles prüfen und entscheiden in seinen Staaten, die Streitigkeiten der Provinzen untereinander, der Gemeinden untereinander, der Familien untereinander, der Brüder gleichen Blutes unter sich. In den Menschen, die er regierte, sah er ein gewiß geringwertiges, aber vor allem ein armes, ein wundes Geschlecht, er hätte die Kräfte eines mythischen Riesen haben wollen, um nur alles selber zu tun. Sein Ekel vor den Inhabern der fremden Throne, die sich schön kleideten und Weiber aushielten und Feste gaben, war unsäglich; er hätte mögen die Weltkugel in den Armen halten, keineswegs mehr aus Herrschgier, denn er war aller Kriege und Eroberungen satt, sondern aus Dienstgier. Er spie zum Himmel; wohl erklärte er ihn für leer, aber er verhöhnte auch noch den Traum von einem Lenker, der dort thronend seinen Königsplatz so jämmerlich ausfüllte, der so viel Elend und Unrecht auf dem beherrschten Planeten zuließ.

Hier aber, hier – und die schwache Hand knitterte am Urteil –, hier hatte er einen Zipfel des allgemeinen Unrechts und der Niedertracht gefaßt, den hielt er wie ein Glücksgeschenk. In Preußen wenigstens wachte er und war König und Manns genug, die Frechheit der Großen und der Ämter zu erwürgen. Er las nicht die Urteilsgründe, es konnte keine geben. Er haftete an der Formel »im Namen des Königs«, und das Blut eines empörten und altersstarren Vaters drohte seine Schläfen aufzusprengen.

Die Standuhr schlug eilig und hell die fünfte Stunde, im gleichen Augenblick trat der Heiduck ein und meldete die Richter. Der König stieß mit dem rechten, gesünderen Fuß die kleine, grünbezogene Bank um, die vor ihm stand. »Laß sie herein!« Er war so zornig, wie er sein wollte.

Es traten ein der Großkanzler Freiherr von Fürst, Rebeur, Präsident des Kammergerichts, und die zwei Räte. Er, statt zu grüßen, zog sich den grotesken Hut noch ein wenig weiter in die Stirn und musterte die Männer, die in einer Reihe vor ihm stehen blieben. Endlich sagte er und raschelte mit dem Urteil:

»Ihr seid also die, die das gemacht haben?«

Die drei Richter verbeugten sich und murmelten etwas, der Großkanzler, eine distinguierte, im Galakleid schöne Erscheinung, wurde fleckigrot und biß die Zähne zusammen.

»Das ist Lumpenwerk und ganz schändlich.«

Der Kanzler hielt sich nicht länger. »Euer Majestät wollen verzeihen ...«

»Gar nichts verzeih' ich. Er hat's bestätigt, ich weiß Bescheid, mir macht Er nichts vor.«

Der Kanzler sah ihm finster ins Gesicht. Er war aus großem Haus und sehr begütert, weitgereist, jeden Erfolg in der Gesellschaft gewohnt, stolz und nicht ohne Grund stolz auf eine untadelige Amtsführung, voller Geringschätzung für die jämmerliche Quisquilie, mit der er hier befaßt wurde, dazu unerschütterlich im Bewußtsein, den Fall gründlich untersucht und gerecht entschieden zu haben. Unmutig, beinahe mit Ekel, blickte er auf den verwahrlosten, starrsinnigen, alten Menschen da im Sessel, diese proletarische Karikatur eines Weltruhms.

»Er dort«, sagte Friedrich und wandte sich an den Kammergerichtsrat Graun, einen kleinen dicken Mann, der in seiner gestickten Uniform von allen am subalternsten aussah, »geb Er mir Antwort: was hat euch der Schmettau bezahlt für eure Sentenz?«

Dies war seine stete Idee, er hielt jeden Beamten und jeden Richter für bestechlich.

»Bezahlt«, stammelte der dicke Mann, »der Graf von Schmettau hat nichts bezahlt.«

»Euer Majestät mögen doch nicht glauben«, sagte der Präsident Rebeur, ein alter Herr in guter Haltung mit hellen freundlichen Augen, »daß ein preußisches Gericht anders urteile als nach seinem Gewissen.«

Der König murmelte ein Schimpfwort, mit schiefem Blick.

»Der Müller behauptet, jener Karpfenteich entziehe seiner Mühle das Wasser. Nun liegt aber zwischen dem Teich und der Arnoldschen Mühle noch eine andere Mühle, eine Schneidemühle ...«

»Andere Mühle, Schneidemühle«, schrie der König, »will Er sich lustig machen über mich? Bei mir wird nicht divagiert!« Er schrie, weil er einen sachlichen Einwand kommen fühlte, und er wollte keinen hören.

Aber der Präsident war nicht von seinem Gedankengang abzulenken. »Diese Schneidemühle, Euer Majestät, könnte gleichfalls nicht funktionieren, wenn der Müller Arnold recht hätte. Sie funktioniert aber vortrefflich, und also hat der Müller Arnold unrecht, und der Graf von Schmettau hat recht. Auf diesem Grund ruht das Urteil des Küstriner Gerichts und auch das unsere«, schloß er mit einer Kopfbewegung nach der zerknitterten Rolle, die der König noch immer in Händen hielt.

Friedrich stand auf. An seinem Stock richtete er sich in die Höhe, ächzte kurz und korrigierte das Ächzen durch ein Räuspern. Dann begann er im Zimmer auf und ab zu gehen, hinkend und stampfend. Die drei Richter folgten ihm mit den Augen, nur der Großkanzler verschmähte das und blickte kalt geradeaus.

Friedrichs Phantasie arbeitete lebhafter, wenn sein Körper in Bewegung war; im instinktiven Wunsch, sie solle arbeiten, war er aufgestanden. Er bedurfte jetzt deutlicher Bilder und starker Gefühle, denn logisch schien unangreifbar, was der Präsident vorbrachte. Mit gesammelter Vorstellungskraft führte er sich das Schicksal des verurteilten Müllers vor Augen.

Er sah die königlichen Gerichtsdiener die Bauernstube betreten, mit ihren dreieckigen Hüten und schwarzen Portefeuilles, er sah sie die Siegel mit dem Königswappen anlegen an den kümmerlichen Hausrat, er sah in einer Stubenecke die jammernde Frau und die unwissenden Kinder, denen ihr Erbe genommen wurde. Der Müller stand dabei, verstummt und erledigt, mit dem einen Gedanken in seinem eckigen Kopf, daß also auch der Ruf an den König nichts gefruchtet habe, daß auch der König nichts vermöge gegen die Bedrückung durch einen Großen, daß auch in Preußen der Arme rechtlos und elend sei. Dann ging der Mann fort aus seinem Haus, das ihm nicht mehr gehörte. Er schaute noch einmal auf den Bach, der jetzt so flach und träge daherschlich, damit der Landrat seine Karpfen mästen konnte und sein Cousin billig die Mühle ersteigern.

Er stand mit den Seinen auf der Landstraße, ohne Dach, ohne Brot, ein ungerecht geschlagener und also rebellischer Untertan, unschlüssig, wohin sich wenden, ob links in den Obrabruch, ob rechtshin nach Schwiebus, stumpf gleichgültig auch dagegen, da ja in Preußen doch nirgends Recht zu finden war, nirgends, auch nicht beim König ...

Nun hatte der sich dort, wo er sich haben wollte. Er trat dicht vor die Richter hin und zischte ihnen von unten her zu:

»Mich werdet ihr nicht bête machen. Mich schiert kein Geschwätz. Ihr haftet mir dem Arnold mit eurem Vermögen, das andere werdet ihr sehen.«

Der Großkanzler ging einen Schritt zur Seite, von dem wütenden Alten fort.

»Euer Majestät«, begann er in bestimmtem Ton.

»Halt Er Sein Maul!« schrie Friedrich.

Das hatte gefehlt! Der dort in seiner kühlen Eleganz brauchte ihn jetzt nur noch zu reizen. Im Innersten war er froh darüber. Es war ihm willkommen, diesen Aristokraten mit Schimpf und Schande davonjagen zu können. Es gab dafür einen großen und wichtigen Grund, weit abseits von der Arnoldschen Angelegenheit.

»Ich ersuche um meine Entlassung aus dem Staatsdienst.«

»Ersucht Er? Ersucht Er? So geh Er doch schon, so pack Er sich doch!«

Der Großkanzler stand leichenblaß, unfähig noch, sich aufzuraffen.

»Marche, marche!« schrie der König in der Fistel, »Seine Stelle ist schon vergeben.« Und er stieß mit dem verdickten Ende seines Stockes so heftig gegen die Tür, daß sie von unten bis oben ins Zittern geriet.

Der Großkanzler blickte den König fest an, grüßte nicht und ging.

»Mißbraucht crüell meinen Namen und wird noch frech!« schrie Friedrich ihm nach, keifend wie ein böses Weib. Seine Augen glänzten, es bereitete ihm Freude, diese ganz unkönigliche Szene aufzuführen.

»Und ihr da«, sagte er zu den andern, die reglos standen, »was seid ihr noch hier? Packt euch auch, wartet auf euer Verdikt!«

Aber als sie gegangen waren und schon das dritte Zimmer durchschritten, hörten sie ihn hinterherkommen und rufen: »Warten! Warten!«

Sie blieben stehen, resigniert und betäubt. Nach kurzem erschien ein Offizier: er habe Order, sie ins Stadtgefängnis zu führen. Der Offizier war bestürzt und höflich, er wußte, wen er vor sich hatte, die ersten Richter des Königreichs; mit betretenem Gesicht geleitete er die Herren die Treppe hinunter. Durch sein schmales Fenster oben sah der König sie in die Kutsche steigen.

Als der sich ins Zimmer zurückwandte, lag es schon in Dämmerung. Er holte ein Licht hervor, entzündete es, setzte es auf einen der kleinen Tische, nahm mühselig wieder Platz und kramte unter den Papieren. Von dem Justizminister von Zedlitz, dem Chef des Kriminaldepartements, lag ein Schreiben vor; der König hatte ihn kurzerhand beauftragt, die Räte vom Kammergericht zu Festung zu verurteilen. Aber Zedlitz schrieb:

»Ich habe Eurer Königlichen Majestät Gnade jederzeit als das größte Glück meines Lebens vor Augen gehabt und mich eifrigst bemüht, solche zu verdienen. Ich würde mich aber derselben für unwürdig erkennen, wenn ich eine Handlung gegen meine Überzeugung vornehmen könnte.«

Friedrichs Ausdruck war nicht zornig bei dieser Lektüre, er zeigte aber auch nichts von der Achtung, die der aufrechte Mann ihm hätte abnötigen müssen. In seinen Augen stand eine höhnische und traurige Überlegenheit über diesen Männerstolz vor Thronen. Er griff zur Feder und wischte, beschwerlich vorgeneigt, die Schreibmappe auf seinem Knie, das folgende hin:

»Der Herr wird mir nichts weismachen. Ich kenne alle Advokatenschliche und lasse mich nicht verblenden. Ein Justitiarius, der schikanieren tut, muß härter als ein Straßenräuber bestraft werden. Denn man vertraut sich am erstern, und vor letzterm kann man sich hüten.«

Siegelfertig faltete er dies zusammen und warf es hin. Dann aber atmete er tief, er richtete sich auf, ein Lächeln trat auf seine Züge, ein reines, neues, unironisches Lächeln. Er wählte sorgfältig ein anderes Briefblatt, er betrachtete es sogar auf der Rückseite, ob es auch tadellos sei. Dann tauchte er langsam die Feder ein und schrieb mit runden, deutlichen Zügen die Anrede: »Mein lieber Großkanzler von Carmer!« Es war die Bestallung für den neuen Mann.

Doch dabei blieb es für jetzt. Er verweilte bei dieser Erfüllung, er zögerte sie hinaus, er genoß einen der Augenblicke großen, weitschauenden Glückes, die für Plag' und Sorge und Müdesein und Kranksein und Einsamkeit entschädigten.

»Mein lieber Großkanzler von Carmer!«

Diese Augenblicke traten ja nicht gerade dann ein, wenn die Welt sie gekommen wähnte. Vor sechzehn Jahren, damals, als er aus dem Kriege gegen Europa zurückkehrte, blickten die Völker auf ihn und glaubten, seine größte Stunde mit ihm zu teilen, und die Stadt Berlin schickte ihm einen Prunkwagen ans Tor entgegen, mit goldbehängten Rossen bespannt. Aber er brachte es nicht fertig, ihn zu besteigen, und lenkte durch dunkle Nebenstraßen im Reisewagen nach seinem Schloß. Dieser Krieg, dieser Sieg, dieser Frieden lag ja schon sternenweit hinter ihm, da gab es nichts mehr zu triumphieren; er hing nicht am äußeren Merkmal, er lebte und dachte in Jahrhunderten.

Auch sein verschwiegener Triumph eben jetzt, hier in der Kammer, galt einem Werk, das durch Jahrhunderte stehen sollte.

Das Landrecht! Sein Wunsch, seine Sorge seit mehr als einem Menschenalter. Von ihm als junger Monarch begonnen, mit Hilfe Coccejis. Die große Kodifikation, das umfassende Gesetzbuch für eine Justiz, wie sein Hirn und Herz sie wollte, für eine rasche, solide Justiz nach Vernunft, Recht und Billigkeit, zur dauernden Sicherung des Staats und der Untertanen. Aber die Kriege waren gekommen und unermeßliche Arbeit danach, drängende Aufgaben im Nächsten, Handgreiflichen, jeder einzelne Tag randvoll mit ihnen, und friedlicher Erwerb neuer Provinzen und friedliche Durchdringung der mit dem Schwert eroberten. Cocceji tot, sein Entwurf vergessen, verloren sogar sein Manuskript. Nur selten und schamhaft erwähnte der König noch das große Projekt und äußerte bloß mitunter, es komme ihm vor, als wenn die Justiz wieder anfange einzuschlafen.

Allzu tief konnte ihr Schlaf wohl nicht sein, da er immer bereit stand, sie aufzurütteln. Aber er selbst würde ja bald im Schlafe liegen, und dann wachte keiner. Der Gedanke an den Tod verließ ihn in den letzten Jahren kaum einen Augenblick, sein Körper war ja auch freigebig mit Mahnzeichen. Sollte er einen Staat hinterlassen, in dem die alten, schlechten, unklaren Gesetze galten, einen Staat, dessen Rechtspflege ohne sein drohendes Auge bald wieder völlig in Wust und Verschleppung einsinken würde? Er brauchte einen Damm, er brauchte ein Fundament, er hatte kein Recht, sich zum Tode auszustrecken, ehe das nicht gemauert war.

Da hatte sich vor nun fünf Jahren Carmer gezeigt. Es war in Neiße, am Abend nach einer großen Revue; als oberster Verwaltungsmann Schlesiens hatte er Audienz nachgesucht und trat nun ein, sicherer, ungehemmter, als Friedrich es von seinen Beamten gewohnt war, gebürtiger Rheinländer von fast französischer Urbanität. Er bat um die Erlaubnis, sein Projekt zu entwickeln, es werde zwei Stunden dauern, vielleicht länger.

Friedrich nickte. Er war müde vom langen Reiten, von der Sonne und vom Staub, aber er hörte zu, erst mit Anstrengung, dann plötzlich überwach, voll zustimmend, enthusiastisch. Ja, dies war sein Weg, sein Plan.

Das Landrecht! Nicht eine bloße Sammlung bürgerlicher Rechtsvorschriften sollte es sein, ein umfassender Kodex vielmehr, der überall da feste Begriffe schuf, wo sie bisher schwankten und der Willkür Raum ließen. Sätze der Staatslehre gehörten hinein. Normen sozialer Gesetzgebung, Teile des Strafrechts, Prozeßvorschriften. Der König erschrak beinahe, wie genau dieser Carmer um alle Mängel und Lücken des bisherigen Zustandes wußte. Würden Revolutionäre aus solchem Holz geschnitzt, die Throne hätten zu zittern.

Abkürzung der Prozesse mußte sein, ihr Hinschleppen diente dem Begüterten gegen den Armen, dem notwendig die Mittel ausgingen. Mündliches Verfahren also, Befragung durch den Richter statt endloser Schriftsätze. Vereinfachung des Instanzenwegs. Schutz des Bauernstandes gegen den Adel, Schutz aber auch des adeligen Grundbesitzes gegen das mächtig werdende bürgerliche Kapital. Bekämpfung der Erwerbslosigkeit: Recht auf Arbeit. Schutz der Arbeiter in der aufkeimenden Industrie, Verbot ausbeuterischen Druckes auf die Löhne, Verbot willkürlicher Entlassung. Garantie der Gewissensfreiheit, Abgrenzung der Rechte von Staat und Kirche.

Und dann der gewaltige Zug der einzelnen Gesetze. Der König, ganz gegen seine Gewohnheit, unterbrach ihn selten. Nur beim Kriminalrecht wies er ein paarmal auf Änderungen hin, die ihm am Herzen lagen, verlangte mildere Strafen für den Diebstahl aus Not, für Kindesmörderinnen. Dann fuhr Carmer in seinem Vortrag fort, frei, ohne Notizen, eindringlich, überzeugend.

Es war spät in der Nacht, als Friedrich den Juristen entließ. Er war entschlossen. Dies war sein Gesetzbuch. Dies war sein Mann. Aber es ging kaum an, Carmer nun kurzerhand nach Berlin zu berufen. Die Amtsführung des Kanzlers von Fürst bot keine Blößen, auch hatte er wertvolle Dienste getan, in Wien seinerzeit als Spezialgesandter, dann in Westpreußen. Friedrich suchte die beiden Männer zu vereinigen, es erwies sich als unmöglich. Carmer war ein Denker und Schöpfer, Fürst ein Beamter, von Bluts wegen konservativ, dazu eigensinnig im Gefühl seines Wertes, Kompromissen ganz abgeneigt. Zehnmal war der König in Ungeduld daran, den Personalwechsel einfach zu verfügen, zehnmal scheute er davor zurück, den Untadelhaften vom Sitze zu stoßen. Aber er wartete auf die Stunde. Er mußte vor sich selber ein Recht haben, dem Großkanzler Unrecht zu tun – Unrecht, das in einem hohen Sinne doch wieder Recht war. Carmer inzwischen, auf seinem schlesischen Posten, bereitete in der Stille des Arbeitszimmers sein Werk vor. Ging es an, ihn ins Ungewisse hinein warten zu lassen? Menschen sind sterblich. Sterblich war vor allem auch er, der König, und es blieb der Angsttraum seiner Nächte, einem schlaffen und beschränkten Thronfolger sein Königreich ungesichert zu überlassen. Fürst mußte fort, mit seiner langen, eleganten Figur stand er als Hindernis vor einer Tür, die aufgestoßen werden mußte. Endlich nun, heute nun, war das Hindernis fortgesprengt, die Tür war offen. »Mein lieber Großkanzler von Carmer!«

Augenblick der Erfüllung. Augenblick des Glücks. Mit geschlossenen Lidern lehnte der König im Sessel, die Hand schmerzte gerade nicht, es war äußerst still in der Kammer, die Kerze brannte schief, und ihr gelbes Licht tanzte. Er war am Ziel, er durfte ganz wahr mit sich sein. Ja, er hatte sich eines Untertanen angenommen, er hatte sich mit Leidenschaft hineingefühlt in ein geringes Schicksal, er hatte das Erbarmen aufstehen lassen in seiner Brust und die Empörung gegen den Stärkeren, er hatte diese Rechtssache durch alle Instanzen gejagt, hatte Einwände mit Machtspruch abgetan, Kabinettsjustiz geübt, die er sonst verpönte – aufrichtig in dem allem und doch Geheimes planend, frei entscheidend und doch eines Schicksals, einer Notwendigkeit sich bewußt, von keinem unterstützt noch gebilligt, vollkommen allein mit sich, nur sich selber verantwortlich. Sein Lächeln wurde härter und ging in ein Grinsen über. Ja, es wäre wohl schwierig gewesen, etwa seinen Vetter von Frankreich die Wege zu führen, auf denen er, Friedrich, sein Glück suchte.

Er richtete sich auf, schob den Hut zurecht und schrieb die Bestallung.

Als er bei der Unterschrift war, zuckte durchs Fenster roter Lichtschein über das Blatt; Räderrollen wurde laut, das sich in kurzen Abständen wiederholte, zugleich mit der Helligkeit. Die Uhr schlug acht, und mit dem letzten Schlag trat sein Kammerhusar Strützky ein und brachte das Nachtmahl. Es bestand aus einer stark konzentrierten, glühend heißen Bouillon, neben der Tasse standen zwei Teller, einer mit gestoßenen Muskatblüten, einer mit Ingwer. Löffelweise warf der König Gewürz in den kochenden Trank, umklammerte die Tasse mit beiden Händen und stürzte den Inhalt hinunter. Dies war seine Art von Hygiene.

Inzwischen dauerte das Räderrollen fort, und immer neuer Flammenschein schlug herein.

»Was geht da draußen vor, weißt du's?« fragte Friedrich. Sonst immer lag um solche Stunde der Schloßplatz in Dunkel und Schweigen.

Der Kammerhusar zeigte ein verlegenes Gesicht. Dann gab er Auskunft.

Seit Tagen hielt die Arnoldsche Angelegenheit die Gesellschaft der Hauptstadt in Atem. Was heute am Nachmittag geschehen war, hatte sich mit Eile verbreitet; die Empörung, das Bedauern für die verhafteten Richter waren allgemein. Dem gestürzten Kanzler aber brachte die vornehme Welt eine Ovation: mit fackelgeschmückten Kutschen fuhr man in langer Reihe bei dem beliebten Manne vor und nahm dazu ausdrücklich den Weg am Schlosse vorbei, durchaus nicht den nächsten.

Friedrich stapfte zum Fenster, um sich das Schauspiel anzusehen. Ohne Erregung, mit ein bißchen matter Neugier und einem kleinen spöttischen Mitleid, blickte er hinunter, wie ein verwahrloster Vater auf das Treiben seiner glänzenden Kinder, von dem er nicht viel hält.

»Komm, bring mich ins Bett«, sagte er dann. Strützky leuchtete.

Das Schlafzimmer lag gleich nebenan. Strützky zog dem König mit Vorsicht die alten Kleider ab und band ihm ein wollenes Tuch um den Kopf. Die Schmerzen waren wieder stärker geworden, er sank sitzend auf den Bettrand. »Laß nur«, sagte er matt, als ihm der Diener, abgewendet, ein anderes Hemd reichen wollte, »ich kann in dem da schlafen.«

Er streckte sich aus, mit Ächzen. Strützky deckte ihn zu, wartete stumm, ob noch ein Befehl käme, ließ sich dann auf ein Knie nieder, deutete den Handkuß an, löschte das Licht und ging aus dem Zimmer. Der König lag auf dem Rücken, ein Knie schief gebogen in ausgeprobter, schonender Haltung, die linke, leidende Hand kompliziert unter der Decke zurechtgelegt. In der Wärme ließen die Schmerzen nach. Plötzlich war er sehr müde. Sein kleines Gesicht, grotesk eingerahmt von dem wollenen Tuch, war nach oben gewendet. Er schlief ein.

Noch immer, in längerem Abstand, rasselten Wagen über den Schloßplatz: hastige Nachzügler, die nicht zurückstehen wollten im Bürgermut. Immer wieder zuckte Fackelschein herein durch die dünnen Vorhänge und fuhr blutig über das schlafende Gesicht. Endlich aber kam niemand mehr.


 << zurück weiter >>