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Herr Ozols

1

Schon zum vierten Mal ging er an dem Hause vorüber und entschloß sich nicht, einzutreten. Das Herz klopfte ihm so, daß es weh tat. Er machte einen Augenblick Halt, blickte in den unwirtlichen Torweg und begann seine Wanderung von neuem.

Es war ein Seitensträßchen mit charakterlosen, unschön heutigen Häusern. Nichts von dem unordentlichen Zauber der Gassenwelt, die sich bei seinem Herweg soeben flüchtig vor ihm aufgetan. Kleingewerbe, dem die Hauptstraße vorne zu teuer war, hatte sich hierher zurückgezogen. Er kannte die Geschäftchen schon auswendig. Es waren eine Schuhmacherwerkstatt, in der ein bleicher, etwas verwachsener Geselle vorne am Fenster hämmerte, eine Plissieranstalt, zwei Sattlereien, eine Hemdennäherei und ein Kolonialwarengeschäft, vor dem unfrisches Obst zur Schau lag. Die Näherinnen und die Mädchen in dem Plissierladen waren schon aufmerksam geworden und blickten durch die Scheiben, wenn Ludwig vorüberkam, aber der Schuhmacher tat, als sähe er ihn nicht, und schlug streng auf seine Sohle los.

An der Ecke das Straßenschild – er las es nun schon zum dritten Mal. Hopfenstokova hieß die Gasse. Immer wenn er seine Briefe nach Prag adressierte, hatte er das Wort mit einem Kopfschütteln niedergeschrieben. Da wohnten also Rotteck und Sanna in einer Gasse namens Hopfenstokova –

Warum eigentlich zauderte er? Mit ein paar raschen Schritten erreichte er von neuem das Tor und lief nun beinahe die Treppen empor, auf die durch Mattglasscheiben das Licht des Novembernachmittags schmutzig hereinrieselte. Viele Türen, zu viele. Auf jeden Treppenabsatz schienen vier Wohnungen zu münden. Von unten kam zirpende Musik. Es klang, als übe jemand auf der Harfe.

Da war das Schild, im obersten Stock. Das alte Schild vom Landgrafenberg, er erkannte es gut, aus solidem Kupfer und schwarz graviert. Dort vor der Villa war es immer sehr blank gewesen, hatte rötlich gestrahlt.

Da stand er nun also vor der einzigen Tür, hinter der, in Freiheit, Menschen wohnten, die ihn angingen. Er hatte sonst niemand. Es gab auf der Welt für ihn nur den davongejagten Professor Johannes Rotteck und seine Frau.

Die Glocke gab einen piepsenden Ton. Drinnen ging eine Tür. Schritte kamen. Vor ihm stand Rotteck.

Groß und hager ragte er auf in einem grauen Halblicht. Es war kein Korridor da. Unmittelbar von der Treppe ging es gleich in das erste Zimmer hinein. Ein Kleinbürgerzimmer, beklemmend. Sechs Stühle um einen Tisch in der Mitte, ein Sofa, eine Kredenz. Unter dem Tisch ein Stück Teppich. Geraffte Vorhänge. So wohnten sie, er hatte es immer gewußt.

Die Begrüßung war fast ohne Worte gewesen. Rotteck legte Ludwig die Hand um die Schulter und führte ihn um den steifen Eßtisch herum durch die offenstehende Tür in sein Arbeitskabinett.

»Jaja, mein Prinz«, sagte er, als er hinter seinem Schreibtisch saß, Ludwig ihm gegenüber im Mantel, den Hut auf den Knien, »wie geht's nun also, wie steht's? Vielfach sind zum Hades die Wege und einen gehst du selber, zweifle nicht –« Es schienen Verse zu sein. Sie endeten in einem Murmeln. Er schloß die steingrauen Augen unter den borstigen Brauen, lehnte sich zurück, schob die Finger ineinander und ließ die Gelenke knacken.

Sein Gesicht war noch kantiger geworden, er war schlecht rasiert, und der Bart keimte weiß. Er trug keinen Rock, nur ein blaues Trikothemd, an dem der Kragen offenstand und seinen Hals sehen ließ, dessen Falten aus Holz schienen.

Der Raum war ganz klein, nicht viel mehr als ein Verschlag, umstellt mit Büchern. Das einzige, hohe und schmale Fenster, links vom Arbeitstisch, sah über ein Gewirr von Kaminen und Dächern, auf denen Wäsche trocknete. Der Tisch, hinter dem er saß, war aus billigem Holz, ein Bureauschreibtisch ordinärer Sorte, mitgemietet offenbar wie die ganze Einrichtung. Auf seiner Platte regierte symmetrische Ordnung. Rechtwinkelig, militärisch exakt, war sie belegt mit sauber geschichteten Papierstößen und Nachschlagebüchern. Die Feder lag quer über dem Manuskriptblatt, an dem Rotteck schrieb. Es war, als hätte er seit zwei Jahren ununterbrochen so gesessen und auf diesem billigen Tisch geschrieben.

»Nun, und die Arbeit«, fragte er unvermittelt und hatte die Augen aufgeschlagen, »fertig wohl, und schon was Neues?«

»Leider nicht«, sagte Ludwig. »Ich bin unterbrochen worden.«

Es war höchst traumhaft, hier zu sitzen und, nach einem schweigenden Sprung über alles Geschehene, sich zu verantworten, daß ein Bilderkatalog noch nicht fertig war.

»Unterbrochen. Soso. Die Umstände, ich begreife. Die Umstände sind ja dort jetzt äußerst blutig, infam und skurril. Aber die Ausrede gilt nicht, mein Prinz. Wer sonst soll die Umstände negieren und ausstreichen als der Mann von Kopf, indem er sein Werk tut. Denken Sie an Vauvenargues mit erfrorenen Füßen in seinem böhmischen Zelt, denken Sie an den dort in seinem Sevillaner Gefängnis!«

Er deutete mit dem Kinn nach der Schmalseite des einen Bücherbords. Da hing ein Holzschnitt, das einzige Bild hier im Raum. Aber »der dort« war nicht Cervantes, der Dichter. Es war sein hohes Geschöpf, im Kerker gezeugt: der Don Quixote in Daumiers Vision, ungeheuer und mager, das heldenhafte und absurde Antlitz dunkelnd fast weiß in den Wolken.

Es folgte ein Schweigen. Rotteck hatte seine Feder zur Hand genommen und vollführte in der Luft runde Schreibbewegungen.

»Ich habe Sie in der Arbeit gestört«, sagte Ludwig befangen. »Soll ich später wiederkommen?«

»Aber was fällt Ihnen ein!« Rotteck legte eilig die Feder hin. Es war ihm anzusehen, wie er sich einen Ruck gab, sich zurückfand. Er blickte Ludwig freundlich in die Augen und sagte:

»Statt da Predigten zu halten, sollte ich Ihnen lieber danken, Ludwig, dazu ist Anlaß. Ohne Ihre Umsicht und Hilfe säße ich nicht hier, könnte nicht im Warmen schwatzen von Vauvenargues und Cervantes. Ohne Sie wären diese ersten Jahre nicht zu überwinden gewesen. Jetzt geht's wieder, die Galeere schwimmt.«

Noch immer wurde Susanna nicht erwähnt. War es nicht, als umginge er ihren Namen geflissentlich? Er sagte ich und nicht wir. Es wäre natürlich gewesen für Ludwig, ja geboten, nach Sanna zu fragen. Aber er vermochte es nicht.

»Ich bin ganz glücklich«, antwortete er, »Sie an Ihrem Werk zu wissen –«

»Ja, mein Lieber, dafür ist man eingesetzt. Sehen Sie her! Das ist entstanden.«

Er beugte sich ein wenig zur Seite, entnahm der unteren rechten Lade seines Schreibtischs einen schwarzüberzogenen Kasten, stellte ihn vor sich hin und öffnete. Der Kasten enthielt ein hoch aufgeschichtetes Manuskript.

»Tomus quintus operis. Da liegt er. Holland und Spanien. Zeitalter der Riesen. Rembrandt, Hals, Greco, et dii minores. In diesem Band darf ich blättern, es steht mir ganz frei, ich bin sein einziger Leser.«

»Sie haben ihn noch nicht drucken lassen?« fragte Ludwig beklommen.

»Nicht lassen. Nein. Ich habe das mit Teufelsgewalt verhindert. Sie haben sich einen ironischen Zug zugelegt drüben im Vaterland, lieber Prinz. Oder scheint es Ihnen am Ende befremdlich, daß sich für dies Buch auf Erden kein Verleger findet?«

»Kein Verleger?«

»Ich steh auf dem Index, nicht wahr. Die Herren Massenmörder haben mein Werk für staats- und jugendgefährlich erklärt. Und wenn sie die ersten vier Bände nicht öffentlich verbrannt haben, dann nur, weil so dicke Bücher schlecht brennen.«

»Ihr Name ist nicht auf Deutschland beschränkt! Sie werden übersetzt.«

»Wurde übersetzt, lieber Prinz, wurde! Als man noch ein Volk hinter sich hatte, eine Kultur. Ein deutscher Gelehrter, das hieß einmal was in der Welt. Aber jetzt! Warum sollen uns denn die anderen wollen, wenn das eigene Land uns nicht brauchen kann. Sollen die sich die Köpfe zerbrechen, wer recht hat? Macht legitimiert, mein Bester. Erfolg legitimiert. Heute geht's schnell. Jahre sind wie Jahrzehnte. Und hinterm Berg, in Paris, in New York, wohnen auch noch Leute. Sehr gute sogar. Ja über eine finnische Übersetzung wird verhandelt. So steht's.« Er richtete sich auf seinem Sitz in die Höhe. »Und trotzdem, mein Lieber, nein deshalb, gerade deshalb erst recht: immer so!«

Er nickte nach dem Daumier'schen Bilde hinüber, ergriff die Feder und hielt das kleine Holzstäbchen imitierend genau so, wie drüben der dunkelnde Ritter auf seinem Klepper die Lanze hielt.

Draußen entstand ein Geräusch. Ludwig blickte nach der Tür, durch die jetzt gleich Susanna eintreten würde. Schritte kamen heran, weibliche Schritte. Doch nicht die ihren, sicher und leicht, er hätte sie erkannt.

Ins Zimmer herein blickte, ohne zu sprechen, eine Magd im Kopftuch, bäuerlich von Aussehen. Sie fragte etwas auf tschechisch. Rotteck gab ihr Bescheid, nach seinen Worten suchend in dem fremden Idiom.

Ludwig fand sich zurück. Er sagte: »Andere Zeiten werden kommen. Und dann treten Sie hervor mit dem abgeschlossenen Werk. Es wird Ihr Ruhm sein, daß Sie es vollendet haben in solcher Zeit!«

»Werden sie kommen, die anderen Zeiten? Nicht für uns, Ludwig. Machen wir uns doch nichts vor. Dieser Einbruch der Werwölfe und Stinktiere ist keine Episode. Ganz so wie wir haben andere gesessen, als Rom sank, vor einem Jahrtausend und einem halben. In ihren schönen Säulenhöfen haben sie gesessen, in Aquileja und in Tarent, in Tingis und Timgad, und haben darauf gewartet, daß die Herren Germanen kämen und ihre Bibliotheken und Bäder zerschlügen. Und sie wußten, sie wußten, Ludwig, daß nun die Finsternis kam, dunkle Jahrhunderte, daß noch die Kindeskinder ihrer Kindeskinder das Licht nicht mehr sehen würden.«

»Geschichte wiederholt sich nicht. Den Satz hab ich aus ihrem eigenen Mund oft gehört. Wer weiß, vielleicht ist die wüste Narrheit, die wir erleben, samt Rassenveitstanz und Geisteshaß, das letzte Zucken einer verendenden Welt ...«

»Und danach kommt das Glück? Alle Gifte sind ausgeschwitzt, und in strahlender Schöne erhebt sich der neue Mensch? So war auch schon der prächtige Weltkrieg eine letzte Zuckung, und hinter ihm am Horizont ging der rote Sonnenball der Vernunft auf! Nein, Ludwig, es ist gut, sich nicht mehr zu täuschen. Nicht mehr zu glauben. Nicht mehr zu hoffen. Und ohne Täuschung und Trost das Sinnlosgewordene, das Anständige zu machen, so gut man nur kann.«

Er hatte eine seiner langen, knochigen Hände auf den nun wieder geschlossenen schwarzen Karton gelegt, der das Manuskript seines fünften Bandes enthielt.

Ludwig ließ ein paar Augenblicke vergehen. Dann fragte er sachlich: »War Ihnen das Material denn erreichbar? Die deutschen Bibliotheken –«

»O die! Nein, da hieß es verzichten. Die neuen Cimbern und Goten werden doch einem Verräter wie mir keine Bücher über die Grenze schicken. Aber unterschätzen Sie Prag nicht! Hier steht nicht umsonst die älteste Universität deutscher Zunge. Die Bibliothek hier ist zwar nicht aufgeschwollen in die Millionen, aber das Wesentliche ist da. Freilich, manches fehlt auch. Aber es ist ganz gut so. Der deutsche Gelehrte hat immer die Nase zu tief zwischen Pergamenten. Das verstellt einem nur den Blick. Ich bin jetzt freier gewesen. Macht man sich los vom Gängelband der sechshundert Vorläufer, so merkt man erst, was man selber besitzt. Man müßte so eine Geschichte des Portraits niederschreiben können von van Eyck bis van Gogh, ohne ein Buch aufzumachen. Das war erst das Rechte.«

»Aber die Anschauung? Die Bilder selbst?«

»Die müssen hier auf der innern Augenlidwand alle zu sehen sein, in Miniaturfresko.« Er lachte sonderbar und schloß die Augen. »Hier drin ziehen sie alle vorbei, wie Sternbilder«, sagte er und bewegte langsam die ausgespreizte Hand vor seiner Stirnfläche her, »die Abgeschiedenen alle, blutlebendig als wären sie noch im Licht. Die ruf ich hier an, mein Lieber, an diesem Fenster mit der Aussicht auf all die Wäsche. Eine geduldige Beschwörung. Da langweilt man sich nicht.«

Etwas nicht ganz Vernünftiges, Übermäßiges, leicht Unheimliches war in seinen Reden. Eine trotzige Überheblichkeit, die wehe tat. Der Mann hier, dieser Deutsche, den ein grausamer Schnitt vom Körper seines Volkes abgetrennt hatte, blutete unter seinem Panzer aus unstillbarer Wunde. Alles an seinem Benehmen war anders, als man hätte erwarten sollen. Wenn er reale Umstände streifte, so geschah es mit einer Art von Mißachtung. War es nicht verwunderlich, daß er an das Geschick des befreundeten Schülers auch nicht eine Frage wendete? Es schien ihm weiter nicht aufzufallen, daß er ihm nun hier gegenübersaß. Ludwig entschloß sich, ein wenig von sich selber zu reden. Schließlich gab es ja einiges zu berichten. Es war beinahe Affektation, es nicht zu tun. Und was eigentlich verbarg sich unter der Tatsache, daß Rotteck noch immer mit keiner Silbe seiner Frau gedachte –

»Wie geht es denn Frau Susanna«, hörte Ludwig sich fragen. Und schon brach er ab. Denn da war sie.

Diesmal war sie es. Er wußte schon, wie draußen die Tür ging. Gleich würde sie hier auf der Schwelle stehen – im rostbraunen Kostüm mit dem kleinen Hut und der frechen roten Feder darauf. Aber das war natürlich unmöglich. Frauen tragen Kleider nicht so lange.

Sie trug es wirklich. Dies war das erste, was er wahrnahm. Es war nicht mehr ganz frisch, wie hätte es frisch sein können. So arm war sie jetzt. Da stand sie im Türrahmen, hell, groß, schöner als jemals, betäubend. Er sprang nicht einmal auf. Und er sah, daß ihr das Blut in die Wangen einschoß, in zwei spitzen, dunklen Flammen.

2

Zeitig wie jeden Tag erwachte er und blickte sich um. Das helle kleine Gasthofzimmer war ganz banal und vollkommen unpersönlich, denn hier gab es nichts, was dem Bewohner gehörte. Ein paar Toilettengegenstände auf dem Waschtisch, sonst war nichts zu sehen.

Er sprang auf, wusch sich, zog seinen Anzug an und setzte sich nahe ans Fenster. Immer von neuem lockte der Ausblick. Das bescheidene Hotel, ein schmales und hohes Haus, gehörte zu einer krummen, eigensinnig geknickten Gasse der Altstadt. Aus seinem vierten Stockwerk blickte Ludwig hinab auf regelloses Gemäuer, schief und grau; ein Bogen spannte sich über den Gehweg, der einen hochgiebeligen Turm dahinter in zwei Hälften schnitt. Unter köstlich gebrochenen Balkonen zogen sich breit und weiß Ladenschilder und Plakate hin; ohne Rücksicht auf antiquarische Reinheit überdeckten sie halb die zartesten Schmiedeisengitter. Nichts Verletzendes lag darin, nur viel gutes Gewissen. Man hatte nicht weniger Lebensrecht als die Alten vor dreihundert Jahren. Schon zu so früher Stunde herrschte Verkehr, munter und ohne Hast. Selten fuhr ein Auto. Stimmen der sich Begrüßenden schallten herauf, es klang freundlich, niemand schrie.

Aber da sein Zimmer so hoch lag, erblickte Ludwig, zwischen zwei schrägen Dächern hindurch, dort hinten auf ihrem Hügel jenseits des Stromes die Burg. Breit hingelagert, mit ganz unzähligen Fenstern, die schlichte mächtige Front, dahinter die Gotik der Domtürme feierlich aufschloß. Es war das sechshundertjährige Haus der böhmischen Könige. Dort, er wußte es, arbeitete jetzt ein 85jähriger Greis, als Sohn eines slowakischen Kutschers geboren, ein alter Professor und Philosoph, klar, wahrhaftig und weise, aller Phrase und Pose mit Heiterkeit fern, Gründer, Schutzpatron, beinahe Gott dieses Staats, zu höchster Geltung aufgestiegen, ohne die Menschlichkeit je zu verletzen, ein Blickpunkt und Trost für alle, die in einer Epoche der maulvollen Roheit und des Völkerbetrugs vor Ekel verzweifelten.

Es schien Ludwig, und täglich sann er darüber nach, daß zwischen ihnen beiden die Schicksalsebene dieses Erdteils sich ausspannte wie zwischen Vergangenem und mutiger Zukunft: zwischen dem uralten Weisen, dem Sohn des Leibeigenen, gläubigem Schmied einer neuen Demokratie oben in seinem Königsschloß – und ihm selbst, letztem Nachkommen aus tausendjährigem Herrenblut, der in seiner Gasthofmansarde so ausgeschieden, so ausgeschlossen, so vom Heute zurückgewiesen saß wie keiner.

Alles schloß ihn aus, Name, Erziehung, Geschick. Noch im Nächsten, Notwendigsten, war ihm die Tat versagt. Er war zum Opfer bereit gewesen. Aber auch der Tod versagte sich ihm. Andere lebten für ihn unterm Beil. Die sich in seinem Zeichen vorgewagt hatten, waren der Qual und Mißhandlung ausgesetzt. Vielleicht fielen zu dieser Stunde die stählernen Hiebe auf ihre zerfleischten Rücken. Und er war ohnmächtig. Der Befehl, den man ihm an der Grenze vorgesprochen hatte, war eine teuflische Fessel.

Er hatte darauf gezählt, sich mit Rotteck zu beraten. Er kam vor den Richterstuhl seines Freundes und Meisters. Er sehnte sich danach, seinen Freispruch zu hören. Aber er fand keinen Freund, kaum einen lebendigen Menschen. Es war ganz unmöglich, mit Rotteck zu reden. Er saß wie in einer gläsernen Schale. Es hätte einen Axthieb gebraucht, die zu zertrümmern. Über das, was in Deutschland vorging, war bis heute zwischen ihnen kein Wort gewechselt worden – nicht über reale Vorgänge wenigstens. Kein Name einer der unsäglichen Figuren, die dort jetzt Volksschicksal spielten, war über Rottecks Lippen gelangt. Er wußte bis heute nichts von Ludwigs Geschick, er wußte auch nicht, warum Ludwig hier war. Er schickte keinen Blick hinaus über seine tägliche Pflicht, er wollte es nicht, er verbot es sich. Kaum verließ er sein Schreibkabinett. Notwendige Gänge zur Bibliothek, zweimal wöchentlich der Weg zu den privaten Kursen, die er abhielt, um seinen Unterhalt zu gewinnen, mehr war es eigentlich nicht. Bedürfnisse hatte er kaum. Stand er auf von seinem Manuskript, so geschah es widerwillig, Schlaf war eine lästige Unterbrechung. Und Ludwig hatte selbst das Gefühl, als dürfe Rotteck von seinem Dienst keinen Augenblick lassen. Erlaubte er sich's, so wäre das der Zusammenbruch. Nur so ertrug er die furchtbare Isolierung. Rief ihn das Leben an, so stürzte der Nachtwandler vom Dache.

Es war erschütternd zu sehen, mit welcher Bereitwilligkeit, ja Begier, er auf Ludwigs erste Frage sofort die Blätter zur Hand nahm, um vorzulesen – diese Blätter, die er aufschichtete Tag um Tag, und die vielleicht bestimmt waren, keines Lesers Auge mehr zu erreichen. Von den französischen Portraitisten des 17. Jahrhunderts war auf ihnen die Rede: die Richelieu-Welt erstand, dunkel glühend, in einer gütelosen Würde. Rottecks Stil schien Ludwig noch mehr zum Gebieterischen hin verwandelt. Er war härter geschnitten. Manche Perioden klangen wie aus dem Lateinischen übersetzt.

Es war, als nähme Susanna wenig Anteil an seiner Arbeit. Eine sonderbare Stummheit und Fremdheit regierte zwischen den beiden – oder war es vielleicht ein Verbundensein, so vollkommen, daß es der Sprache entraten konnte? Es fiel kaum ein persönliches Wort. Rottecks Haltung ihr gegenüber war die einer fast zeremoniösen Höflichkeit. Susanna schien wenig zu Hause zu sein, sie ging und kam wie sie wollte. Erschien sie, so war niemals von Menschen die Rede, denen sie begegnet sein mochte. Es war unklar, was sie in den vielen Stunden eigentlich trieb. Jetzt, da Ludwig gekommen war, hatte sie soviel Zeit für ihn, als er sich nur ersehnen konnte.

Der kalte und trübe Monat war schön geworden genau am Tag seiner Ankunft. In einem stillen, lockenden Silberlicht, einem zarten, nichts verhüllenden Nebel, lagen die Hügel der Stadt und ihr ziehender Strom. Sie gingen viel miteinander, so viel, als wären sie beide unbehaust, sie standen im hallenden Schweigen der Gotteshäuser, kamen zehnmal die gleichen Gassen, wanderten wieder und noch einmal zwischen den ausladenden Silhouetten der Standbilder über die Karlsbrücke, entgegen den immer neu zu entdeckenden, weiten Herrlichkeiten des Burgbergs. Und aus jedem Brunnenhof, jedem Stein drang die Lebenssicherheit eines Europas, das einmal gewesen war, jener Zeitalter, die Freude an sich selber gehabt hatten und den Trost eines Glaubens. Strahlend aufwärts deuteten die Türme von St. Veit und St. Niklas; aber mit Daseinslust, nobel und fest, lagerten weithin die Häuser eines großen, sich selbst vertrauenden Adels. Und dies alles war kein Museum, kein Brügge und kein Venedig. Allenthalben regte sich tapferes Leben einer Nation, die begann. Einer Stadt, die in Wahrheit erwacht war aus dem langen Provinzschlaf ihrer Vernachlässigung. Der das kaiserliche Gewand nicht zu weit saß, die es füllte mit der Prallheit tätiger Glieder. Hoffnung wehte durch diese Gassen, Hoffnung klang aus den lebhaften Lauten der fremden Sprache. Aber niemand, immer fiel es ihm auf, niemand sprach laut, dies war ein gelassenes, heiteres Volk – wie wohl das tat nach dem Geschnarr und Gewetter, mit dem dort drüben reglementierte Haufen ihre Unsicherheit zu übertäuben versuchten.

Wundervoll erschien ihm diese Stadt, er hatte keine schönere gesehen. Doch er konnte nicht bleiben. Zwar gehörte er nirgends hin, seine Flucht hatte kein Reiseziel. Er hätte hier, ebenso gut und ebenso schlecht wie irgendwo sonst, versuchen können, seinen Unterhalt zu erwerben. Aber es war ihm nicht möglich, mit Susanna am gleichen Ort zu leben.

Als sie dort in der Wohnung in den Türrahmen trat, da ging ihm, wie unter einem Blitz in der Nacht, die ganze Wahrheit seines Herzens auf. Er hatte zuvor kein Glück gekannt. Nichts, was dem Glück ähnlich sah. Es war alles nichtige Spielerei gewesen, die Zeit auszufüllen, bis er sie wiedersah. Bei ihr ganz allein war es, das Glück seiner Männlichkeit und seiner Jugend – ein streng untersagtes Glück, da es die Frau seines Meisters war, die er liebte. Es war betäubend gewesen, zu sehen, wie sie flammend errötete bei seinem unerwarteten Anblick. Da gab es nichts mehr zu leugnen. Rotteck, so schien es, hatte das nicht bemerkt. Zählte dies alles nicht mehr für ihn in seinem gläsernen Haus? Gleichviel, schon der Gedanke an eine Erfüllung war Frevel.

Er ging in seiner Beherrschung bis zum Zwang. Wenn sie nebeneinander dahinschritten, hielt er sich von ihr entfernt, er mied noch die Berührung mit ihrem Kleid. Aber zwischen ihnen war der Raum erfüllt von sengenden Wellen. Er hatte auch zu Susanna mit keinem Wort von seinem persönlichen Schicksal gesprochen. Sie wußte nichts. Er würde reisen, bald, sie nicht wiedersehen. Aber noch, wenige Tage lang noch, wollte er ihre Gegenwart spüren. Noch diesem tiefen Stimmklang lauschen, den lebensvollen Mund in dem hellen Gesicht sich regen sehen, ihren spähenden, verwundenden Blick, und die unnennbare Lockung ihrer Glieder unter dem abgetragenen Kleid.

Der Tag draußen vor seinem Fenster war strahlend schön geworden – ein seltsamer Nachsommer, tief im November. Das riesige Zifferblatt drunten in der Gasse, über dem Lädchen des Uhrmachers, zeigte halb elf. Es fiel ihm ein, daß er vergessen hatte zu frühstücken. Als er läutete, brachte ihm ein kleiner Kellnerjunge zwei Briefe.

Der eine enthielt seine Wochenrechnung. So war er schon sieben Tage in Prag – er prüfte die Ziffer: die Summe in tschechischer Währung kam ihm beträchtlich vor. Als er damals von Berlin nach Dresden verreiste, hatte er, eigentlich aus Zerstreutheit, einen größeren Geldbetrag in seine Tasche gesteckt. Es waren sechshundert Mark. Diese sechshundert Mark standen zwischen ihm und der Not. Er vermied jede Ausgabe, so gut er konnte. Aber er besaß keinen Anzug zum Wechseln, kein zweites Paar Schuhe.

Am zweiten Tag nach seiner Ankunft in Prag hatte er sich hingesetzt und hatte den treulosen Hermann Imme brieflich angewiesen, ihm einen Koffer mit Kleidern und Wäsche herzusenden. Die Abfassung dieses Schreibens hatte ihn bitter amüsiert. Der Erfolg schien ihm selber ganz zweifelhaft.

Aber der Verräter hatte gehorcht. Er hatte seinen Herrn zwar ans Messer geliefert, aber Befehl war Befehl. Denn als Ludwig das zweite Kuvert aufriß, enthielt es eine Benachrichtigung des Zollamts. Sein Koffer lagerte dort. Ludwig sah vor sich, wie vorschriftsmäßig alles gepackt war, Kleidungsstücke, Krawatten, weiße Hemden, farbige Hemden, und sicherlich die Frackknöpfe. Das Dasein wurde immer grotesker. Ludwig lachte laut vor sich hin in seiner Mansarde, so daß der kleine Kellnerjunge, der mit dem Frühstück vor der Tür stand, zögerte, anzuklopfen.

3

Sie waren langsam vom Hradschin heruntergekommen. Unter dem Turmgewölbe, durch das man zur Karlsbrücke gelangt, blieben sie stehen. Über diese Brücke führte ihr Weg zurück. Aber es war ihnen unmöglich, sich schon zu trennen. Ohne ein Wort kehrten sie um und wandten sich wieder zur Kleinseite, nicht die Straße hinauf, die sie gekommen waren, sondern nach links hin. Sie bogen um eine Kirche. Ein länglicher Platz tat sich vor ihnen auf, verwunschen und friedevoll.

»Was ist das?« fragte Ludwig.

»Der Grandprioratsplatz. Ich bin manchmal hier.«

Der Platz bestand eigentlich nur aus zwei Häusern, langhingestreckten Palästen, ziemlich niedrig, aus Steinen von verloschenem Grau. Bloß um die Fenster das lackweiße Holzwerk leuchtete und an dem Hause zur Linken, auf einem Wappenschilde, die Trikolore. Der französische Gesandte schien hier zu wohnen. Ein prächtiges neues Automobil hielt vor seinem Palais, verwunderlich inmitten dieser Versunkenheit.

Kein Laut und kein Mensch. Im Hintergrund, dort wo der Platz sich verengte, ein geschlossenes Tor. Sie begannen auf- und abzuwandeln über das unregelmäßige Pflaster, unter den entlaubten Akazien. Eine Bank stand zwischen zwei Stämmen. Es dämmerte schon.

Ludwig fand nicht das erste Wort. Aber sie waren zu einem Zustand gelangt, der ein längeres Schweigen nicht mehr vertrug.

»Jetzt werde ich bald einmal reisen müssen«, sagte er endlich.

»Sie sagen das so tragisch, Ludwig. Reisen! Es ist doch nur eine Trambahnfahrt.«

»Nicht für jedermann.«

»Da haben Sie recht. Nicht für jedermann. Manchmal geh ich auf den Masarykbahnhof und schaue mir ganz ungläubig die Waggons an mit den harmlosen Schildern – nach Leipzig, nach Hamburg. Aber für Sie?«

»Ich muß Ihnen endlich erzählen –«

Aber es erschien ihm plötzlich fürchterlich schwer, die Ereignisse darzustellen. Er fühlte von der Seite ihren verwunderten Blick auf sich gerichtet.

»Was verstummen Sie denn so geheimnisvoll?«

»Ich war da in etwas verwickelt. Erfahren müssen Sie's doch einmal. Also kurz und gut ...«

Er erzählte keineswegs kurz und gut, sondern stockend und farblos, aus lauter Scheu, sich in Szene zu setzen. Das eine jedenfalls erreichte er, daß die Rolle, die er selber gespielt hatte, äußerst unheldisch, beinahe fragwürdig erschien. »Also mit der Trambahnfahrt ist es auch bei mir nicht so einfach«, schloß er. Es war eine ziemlich verunglückte Coda.

»Nun«, sagte sie, »die Hauptsache ist: Sie sind mit heiler Haut davon!«

Das Wort traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Mit einem schmerzhaften Feingefühl, das ihm jede Regung in der begehrten Frau vermittelte, hatte er beim Sprechen wohl gespürt, wie sein Bericht auf sie wirkte. Sie wußte mit all diesen Fakten von Umsturzplänen, Verrat und Polizei nichts anzufangen. Sie wollte nichts davon wissen. Aber schließlich, mochte er noch so elend erzählt haben, die Szenen in dem SS-Keller, das Verhör, die Schreie zur Rechten und Linken, das Schicksal der Zurückgebliebenen, seine eigene schreckliche Ungewißheit – darüber ging man doch nicht einfach hinweg! »Die Hauptsache ist: Sie sind davon.« War das Fühllosigkeit? Sie war die Frau eines Mannes, dem die Brut dort drüben das Leben zerknickt hatte, sie mußte mitfühlen können. Aber sie wollte es nicht.

Eine brutale Lebensstärke hatte aus ihrer Antwort geklungen. Jenseits von Pflichtgefühl, Empörung, Mitleid forderte ein einfacheres Element mit gebietender Stimme sein Recht. Er spürte das mit einem Erschauern. Diese fast unmenschliche Gelassenheit steigerte nur sein Begehren. Er hätte sie auf das Pflaster niederreißen können und sie besitzen.

»Zurück können Sie nicht«, sagte sie wieder, »so bleiben Sie hier! Werfen Sie's hinter sich!«

»Das sagen Sie nicht im Ernst. Sie haben mich wahrscheinlich nicht recht verstanden, Sanna. Diese sieben Männer sind da in Schutzhaft. Schutzhaft – es klingt ganz harmlos, beinahe beruhigend. Aber es bedeutet, daß alles Recht für sie aufgehört hat. Wer sonst ins Gefängnis kommt, der sieht ein Ende. Hat man ihn für zehn Jahre eingesperrt, er kann doch die Tage zählen. Einmal geht das Tor wieder auf. Aber die Menschen in diesen Lagern liegen lebendig im Grab. Sie können schreien, niemand hört sie. Jeder Hund von einem Büttel darf sie ins Gesicht schlagen. Wird einer krank, es kümmert sich keine Seele um ihn. Stirbt er, so scharrt man ihn ein.«

»Das weiß man ja. Hunderttausende sollen so eingesperrt sein.«

»Aber diese sieben sind es für mich!«

»Sie können doch nichts machen, Ludwig. Also vergessen Sie's!«

Er sah sie an von der Seite, außer sich. Im sinkenden Abend erschien das schöne Gesicht sehr blaß. Sie blickte beharrlich vor sich nieder im Weitergehen.

Aus dem Portal der französischen Gesandtschaft trat jemand heraus. Es war ein Diener in Schurz und gestreifter Weste, ein weißhaariger Mann. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Abendluft. Ludwig spürte den Geruch der Rauchfahne, wie sie vorüberkamen, und registrierte, daß es Caporal-Tabak war, sicherlich bekam ihn der Diener mit der diplomatischen Post von daheim, zollfrei.

»Eingesperrt für Sie«, begann sie aufs neue, als sie umbogen, dort wo der Platz zu Ende war. »Das glauben Sie selbst nicht. Die sind eingesperrt für sich selbst. Für ihre eigenen Pläne und Wünsche. Wären Sie nicht dagewesen, Ludwig, die hätten sich eben einen andern Fürsten gesucht. Sie waren doch nur eine Fahne, das haben Sie selber gesagt. Und was ist Ihnen vorzuwerfen? Waren Sie vielleicht feige? Haben Sie sich zu entziehen versucht? Nun also. Was quälen Sie sich!«

Da war er, der Freispruch, den er sich von Rotteck erhofft hatte. Aber er erleichterte ihn nicht.

Sanna war vor der Bank zwischen den Akazienstämmen stehengeblieben. Sie setzten sich. Drüben der alte Diener warf seine Caporal weg, ging ins Palais, schloß die Tür hinter sich. Gleich darauf begannen an den Parterrefenstern die Rolläden niederzurasseln. Sie waren beide so allein auf diesem Grandprioratsplatz wie in einem verschlossenen Zimmer.

»Ludwig«, sagte sie, »jetzt will ich auch einmal reden. Sie lieben mich, Ludwig, nicht wahr – oder wie ist das? Als ich Sie da plötzlich vor mir sah vor einer Woche, da hab ich gedacht: endlich! jetzt ist er zu mir gekommen. Vielleicht hab ich auch gar nichts gedacht. Ich habe geglaubt, ich fall um und schlage mit dem Kopf auf den Boden. Denn ich habe ja gewartet, Ludwig, ich sage Ihnen das für den Fall, daß sie es noch nicht wissen, Männer sind begriffsstutzig manchmal. Sie denken da an Ihre Monarchisten in ihrem Cachot und wissen, wie es um die steht. Aber wie es um mich steht, das wissen Sie weniger! Die Welt ist ganz verdreht worden, sie ist voller Männernarrheit. Ihr lebt ja alle nicht mehr, ihr Männer, nur euren Wahnsinn gibt es für euch. Volk, Recht, Autorität, Freiheit, Krieg oder nicht, Presse, Verbot, Aufmärsche, Revolution, ein Führer, ein Fürst, was weiß ich! Bloß ein Leben gibt es nicht mehr. Lauter Gespenster, die mit Gespensterbeilen aufeinander loshacken. Die Tat! der Geist! das Werk! Ich kann Ihnen sagen, Ludwig, es ist eine Wonne und ein Spaß, wenn das ›Werk‹ so allein regiert ... Nein, auch Sie haben an mich nicht gedacht, sich nichts vorgestellt. Sie haben Ihren Part gespielt in dem Narrenschauspiel. Jetzt sind Sie gekommen. Ich habe geglaubt, Sie sind zu mir gekommen. Aber nein, man hat Sie über die Grenze gestoßen, zufällig dorthin, wo ich bin.«

»Sanna ...«

»Nein! Ich will jetzt nichts hören.« Sie ergriff mit einer jähen und festen Bewegung seine Hand. »Ich weiß, was Sie sagen könnten. Ludwig, es hat keinen Sinn mehr, zu beschönigen und zu vertuschen. Sie gehen da neben mir her, und ich spüre, wie es mit Ihnen ist. Sie streifen ja nicht an meinen Rock – als wär er aus Feuer und du könntest in Rauch aufgehen. Du denkst dir womöglich noch, das ist anständig. Ach wie anständig, Ludwig, wie hoch vornehm! Man hat seine Pflicht, sein Gesetz, nicht wahr? Die Frau eines Freundes und Meisters, die nimmt man nicht, da tut man sich Gewalt an und ihr – und ist man einmal davon, so war es ein süßer Schmerz und das Bewußtsein einer großen Entsagung. Wie sinnvoll, Ludwig, o wie sinnvoll.«

Sie hatte zuletzt ganz leise gesprochen, verlöschend, er hörte sie kaum. Ihr Gesicht war nur schwach zu erkennen, aber er sah, daß sie den Kopf rückwärts neigte über die Lehne. Ein letzter Fensterladen fiel drüben krachend hernieder. Ludwig faßte im Dunkel nach der Frau, umspannte mit beiden Armen ihren Leib, hob sie zu sich herüber, als hätte sie kein Gewicht, und warf sich mit einem stöhnenden Aufschrei auf ihren Mund, der lechzend geöffnet war.

4

Sie hatte in diesen Tagen ein erregendes Wort. »Wir müssen satt werden!« sagte sie, während sie ihm mit geschlossenen Augen nackt in den Armen lag. »Satt werden« – und auf Augenblicke erschien ein eigentümlich roher Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht. Als ob sich zu ersättigen nicht eben das ganz Unmögliche gewesen wäre. Nicht einmal seine Hände konnten sich sättigen an diesen Brüsten, die zu voll waren für die Schlankheit ihres Körpers, aber ihre Form noch bewahrten, eben noch. Satt werden – als wüßte sie, daß sie ihn in einem unstillbaren Verlangen zurückließ, Tag um Tag, wenn sie die Türe hinter sich zuzog, und er ihre Schritte über die Treppen hin sich verlieren hörte. Dann riß er das Fenster auf, beugte sich hinaus und sah sie in der Gasse auftauchen. So sicher ging sie, so ruhig, als läge keineswegs das Toben solcher Stunden hinter ihr. Beim Lädchen des Uhrmachers, unter dem Zifferblatt, sah er sie nach links hin verschwinden.

Wie sie heute angekleidet vor ihm stand, wieder in dem rostbraunen Kostüm, das in der Nähe die Fäden zeigte, packte sie noch einmal seine Hände. Sie bog sich im Stehen über ihn, größer als er, und unter dem sanften Gewicht ihres Leibes sank er rückwärts über das aufgerissene Bett. Er spürte den rauhen Kleiderstoff überall an seiner Haut. Ihr weißes Gesicht lag auf dem seinen, mit weitoffenen Augen, die aus großer Nähe blickten. Dann öffnete sie die Lippen zu einem letzten weiten tiefen Kuß. Strömend schmolz ihr Mund in den seinen. Aber kaum hatte sie ihn losgelassen, war er schon wieder durstig nach ihr und streckte die Arme aus. Sie war schon fort. Er lauschte ihr nach, benommen, zu lange. Denn wie er seinen Leinenmantel übergeworfen hatte und sich zum Fenster hinausbog, sah er sie schon nicht mehr.

Es lagen Tage eines zerrüttenden Glücks hinter ihm, die Tage seines ersten wirklichen Mannesglücks, dem der Stachel der Schuld eine äußerste, furchtbare Süßigkeit gab. Das Bewußtsein davon verließ ihn nicht einen Augenblick. Er sprach zu ihr darüber, er versuchte darüber zu sprechen. Aber beim ersten Satz verschloß sie ihm mit der Hand die Lippen. »Du wirst nicht reden«, sagte sie, »jetzt nicht. Einmal sei ganz auf der Welt! Du nimmst niemand etwas. Sprich nicht.«

Er schwieg also. Er faßte seinen Entschluß für sich allein. Da ging sie jetzt durch die dunkelnden Straßen nach Hause, über den Wenzelsplatz, die Vodickova hinauf, er verfolgte ihre Schritte beinahe Haus um Haus. Diesen Weg würde er morgen auch zurücklegen.

Den nächsten Vormittag ließ er vergehen, vergaß zu essen und kam erst gegen drei auf die Straße. Die schönen Tage waren vorbei, die Luft war grau, und es rieselte. Er wanderte umher in der Stadt, die ein verdrossenes Antlitz zeigte. Es schlug halb vier von Maria Tein, als er auf dem Altstädter Ring stand. Dies war keineswegs seine Richtung. Er kehrte um. Aber nahe vorm Ziel verließ ihn Entschlußkraft. Es regnete jetzt auch stärker. So betrat er ein Café, im ersten Stock gelegen, modern komfortabel, etwas kahl. Es war still hier. Schachspieler, einige Liebespaare und viele blasse Studenten, die mit den Zeigefingern in den Ohren hier über den Lehrbüchern saßen. Sie sparten so Heizung und Licht in ihren unbehaglichen Mietsstuben.

Nach Landessitte legte ihm der Kellner einen Stoß Zeitungen hin. Mechanisch griff er nach einem reichsdeutschen Blatt und fing an, die Seiten umzudrehen. Als wäre das Wort mit Leuchtbuchstaben gedruckt, sprang ihm eine Notiz entgegen, die »Camburg« datiert war. Aber es war gar nichts. Bericht über irgendeine Frauentagung. »Parteigenossin Meusel begrüßte – Kreisfrauenschaftsleiterin Krälisch dankte.« Kreisfrauenschaftsleiterin! Vornamen hatten die keine mehr. Wie dieser tierische Ernst vor Albernheit stank! Da hatten sie jetzt eine Kreisfrauenschaftsleiterin dort in Camburg ...

Er lachte plötzlich laut auf, so daß er selber erschrak und ein brünetter Student, der gleich neben ihm Pharmakologie memorierte, ihn gestört und vorwurfsvoll ansah. Ludwig schob die Zeitungen weg. Es war nicht Zeit mehr für solche Flucht. Wenn ihm die Kraft nicht kam, Rotteck gegenüberzutreten, so würde er schreiben. Der Kellner legte Briefpapier vor ihm hin. »Verehrter Herr Geheimrat!« Er sah die Worte an, nahm ein anderes Blatt und schrieb nun:

»Verehrter Herr Rotteck, ich habe einzugestehen, daß die Beziehung zwischen Ihrer Frau und mir sich in der letzten Zeit geändert hat. Sie ist heute mehr als bloße Freundschaft. Weder Verständnis noch Verzeihung kann ich dafür erbitten. Es ist mir nur eines zu sagen erlaubt: daß von keiner Leichtfertigkeit die Rede ist, sondern vom tiefsten Ernst –«

Es wurden zehn mühsame, qualvolle Zeilen.

Den Brief in der Manteltasche, ging er im jetzt strömenden Regen die Vodickova hinauf, um ihn dort im Hause beim Pförtner abzugeben. Der Satz, den Sanna ausgesprochen hatte. »Du nimmst niemand etwas«, rauschte ihm mit dem Regenfall in den Ohren. Mach dir keine Bedenken, hieß das, mach keine Tragödie daraus, ich bin frei ... Aber er vermochte danach nicht zu handeln. Jede Heimlichkeit schien gerade diesem einen Mann gegenüber unmöglich. Unmöglich wie der Gedanke, sich ein Glück brockenweise zu stehlen, das ganz und ungeteilt sein mußte. Nein, es gab keinen anderen Weg.

In der Hopfenstokova ließen sich die Nähmädchen in ihren weißen Schürzen heute nicht sehen. Aber der verwachsene Schuster hob den Kopf von seinem Leder, als Ludwig vorüberkam, hielt sein Hämmerchen in der Luft und betrachtete ihn aufmerksam.

Der Hausmeister wohnte hinten im Hof. Nur seine Frau war daheim, ein dürres junges Weib mit weißlichem Haar, an deren Kleid sich ein Kind hing. Aus einem Parterrefenster kam wieder jene zirpende Musik.

Ludwig griff nach dem Brief in seiner Tasche. Dann sagte er: »Nein, es ist gut, ich gehe doch lieber selbst«, ließ die erstaunte Frau stehen und stieg ganz langsam die traurigen Treppen hinauf. Aber als er oben ankam, tobte sein Herz derart, daß er sich erst an die Wand lehnen mußte.

Er schellte. Sehr schwere Schritte kamen, Rottecks Schritte. Mit der Möglichkeit, Sanna könne zu Hause sein, hatte Ludwig überhaupt nicht gerechnet, und sie war es auch nicht. Heute faßte Rotteck ihn nicht um die Schulter, er ging ihm voraus in sein Kabinett. Im Lichte des endenden Tags war das bedeutende Gesicht fahlgrau, und zum ersten Mal bemerkte Ludwig einen erschreckenden Zug: der linke Mundwinkel war so nach abwärts gezogen, daß es aussah wie Zerrung oder Lähmung. Aber die Schreibfeder lag über einem halbgefüllten Manuskriptblatt wie eh und je. Ein eisernes Öfchen glühte und überheizte den winzigen Raum.

»Lang nicht gesehen, Prinz und Herr. Vierzehn Tage wohl schon?«

»So lange, Herr Geheimrat, bin ich noch nicht in Prag.«

»Na ja, man verzählt sich. Sie rollt, sie rollt so hinunter, innumerabilis annorum series et fuga temporum ... Passiert es Ihnen eigentlich auch, daß Sie immerfort lateinisch denken müssen? Man ist in einer ganz verkehrten Sprache aufgewachsen. Nein, Ihnen wohl nicht – die Jüngeren haben's ja nicht mehr richtig gelernt.« Er blickte ins Öde und begann, vor sich hin zu brummen.

Ludwig saß vor ihm da, in einer schwer erträglichen Scham und Pein. Der Vorsatz, mit seinem Bekenntnis hervorzutreten, wurde von Sekunde zu Sekunde unausführbarer. Es leitete keine Brücke dorthin. Das Bewußtsein, an diesem Verstoßenen, nicht ganz mehr Vernünftigen, sich versündigt zu haben, preßte ihm das Herz zusammen wie eine Faust aus Eis. Und dabei strömte ihm von der Gluthitze der Schweiß über die Schläfen.

»Haben Sie sich was angeschaut hier in Prag, Bilder meine ich? Es lohnt immerhin. Guter Frans Hals, prachtvoller Gossaert und ein Hans Baidung Grien, den haben Sie doch immer gern gehabt. In's Palais Nostitz müssen Sie auch, da ist mancherlei.«

»Herr Geheimrat«, sagte Ludwig beinahe unhörbar, »heute möchte ich – darf ich Sie bitten –«

»Warum denn nicht«, sagte Rotteck und griff schon nach seinen Blättern. » Gern lese ich Ihnen ein bißchen vor. Daß ich es nur gestehe, Gönner und Herr, ich habe geradezu darauf gewartet. Sie sind ja mein ganzes Publikum jetzt, womöglich mein einziges überhaupt, hodie, cras et per saecula saeculorum.«

Seine Hand, die die Blätter hielt, zitterte greisenhaft. Es war ein Stoß Papier, ein langes Kapitel.

Unmögliche Situation, so grotesk wie furchtbar. Konnte er Rotteck lesen lassen, ihm schweigend zuhören, um dann nach einer Stunde zu sagen: »Herrlich, Herr Geheimrat, ein bedeutender Abschnitt, übrigens, Ihre Gattin und ich –«

Aber Rotteck las schon. Die Stimme klang hohl und hallend. Und da denn nichts andres zu tun war, so hörte sein schuldiger Schüler ihm zu. Erst war ihm unausgesetzt gegenwärtig, was bevorstand, dann aber fing er an zu vergessen, gefesselt. Stoßweise nur, in immer weiteren Abständen, überfiel ihn das Bewußtsein der Lage.

Was Rotteck hier aufgezeichnet hatte, war das Leben und die Arbeit jenes Philippe de Champaigne, der unter Ludwig dem Dreizehnten Hofmaler war. »Weder Sainte-Beuve noch Reuchlin habe ich zum Nachschlagen dagehabt«, schaltete er mit einem flüchtigen Lächeln ein, und fuhr dann fort in seiner Darstellung des Klosters Port-Royal, wo die Tochter dieses Meisters als Nonne lebte und wo ihr berühmtes Portrait entstand, Haupt- und Höhenwerk des Vaters. Seiten hindurch war von dem Bildnis die Rede, diesem wunderbar wahren, soliden Stück Malerei. So kräftig lebte es auf in Rottecks Sätzen, als hätte er's vor sich gehabt an der Louvre-Wand. Nichts in diesem Bericht war abstrakt. Und dennoch erstand hier mehr als ein einzelnes Werk: das Bild wurde zum Inbegriff einer ganzen wirklichkeitsnahen, redlichen französischen Geistesart.

»Also das wär's«, sagte er abschließend und legte den Blätterstoß hin. »Das war der Champaigne. Und dann gehen wir eben weiter – Rigaud, Nattier, Largillière, gesegnete Meister, so ist man beschäftigt. Legen wir Blatt auf Blatt, schichten wir's auf, sehen braucht's niemand, par delà les tombes en avant! Übrigens, daß ich's Ihnen nur sage, Ludwig, – Susanna ist von mir fort.«

»Fort?« flüsterte Ludwig. »Ich verstehe nicht.«

»Aber ich versteh's«, sagte Rotteck. »Sie ist fort von mir, weg, dahin, ganz, für immer. Es war ja auch fällig – was soll die lebendige Frau bei einem Kadaver. Denn es ist Ihnen ja wohl bekannt, daß Sie sich hier im Gespräch mit einem Kadaver befinden? Die Herren Deutschen haben reichlich gemordet, und mich so nebenbei mit, auf unblutige Weise, à l'amiable. Da sitzt der Kadaver und macht Papier schwarz. Ganz recht hat sie, Gottes Recht, Lebens Recht. Nur etwas bündig hat sie mir's mitgeteilt, in drei Zeilen.«

Er deutete mit vager Geste nach einem Zettel, der auf dem Schreibtisch lag. Ludwig erkannte die unordentliche Kleinmädchenschrift. »Heut früh lag das Briefchen auf meinem Tisch. Jajaja. Gar nichts mitgenommen hat sie außer ihrem braunen Kostüm. Hängt alles im Schrank. Wenn's nur gut gehen wird, Ludwig, draußen im Strudel ... Aber es wird, Ludwig, es wird. Fluctuat nec mergitur.«

Das Gesicht mit dem herabgezogenen linken Mundwinkel war ganz ohne Regung. Aber auf einmal sah Ludwig, wie aus den weitoffenen Augen die Tränen herabflossen, stromweis, unaufhaltsam. Rotteck machte keine Bewegung, sie abzutrocknen.

5

Die Redaktion der Wochenschrift ›Freies Wort‹ befand sich in einer der Straßen zwischen den Bahnhöfen, in denen die Langeweile der einstigen Provinzstadt ein letztes, graues Quartier gefunden zu haben scheint.

Es waren drei kleine Zimmer im zweiten Stock. Im vordersten, darin mehrere Leute arbeiteten, fragte eine kleine, wach und gutherzig aussehende Sekretärin nach Ludwigs Begehr. Der Ausdruck ihres klugen Gesichts wurde sogleich mißtrauisch, als er erklärte, Herrn Leo Breisach selbst sprechen zu wollen, und offen feindselig, als er seinen eigenen Namen verschwieg. Sie ging. Ludwig blieb als ein lästiger Bittsteller stehen in dem zu kleinen Raum, beim Geräusch zweier Schreibmaschinen, das bald stockte, bald überstürzt wieder anhob. Dann ließ ihn die Sekretärin zu einem traurig blickenden, groß und krumm gewachsenen Herrn eintreten, der vor seinem Schreibtisch stand.

»Sie wünschen?«

»Spreche ich mit Herrn Breisach?«

Der lange Herr schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich kann Ihnen noch nicht sagen, ob Herr Breisach Zeit für Sie hat. Wer sind Sie denn?«

Ludwig nannte seinen Namen.

»Ah. Hmhm. Sie werden begreifen, daß wir vorsichtig sind. Können Sie sich überhaupt ausweisen?«

»Wieder gehen kann ich«, sagte Ludwig, »wenn Sie weiter unhöflich sind.« Dann besann er sich. »Sie haben natürlich vollkommen recht. Herr Breisach muß sehr gefährdet sein.« Und er zog seinen Paß hervor.

»Gefährdet!« sagte der traurige Herr und gab ihm nach einem kurzen Blick das Papier zurück. »Das kann man wohl sagen. Vor dem Mördergeschmeiß schützt auch der fremde Boden nicht. Und Breisach ist leider unvorsichtig, er weiß überhaupt nicht, was Furcht ist, tut als hätte er wie eine Katze neun Leben.«

Das war in einem grollenden Ton gesprochen, jedoch eine zärtliche Verehrung brach durch; es war ganz klar, daß sich der übellaunige Herr für seinen Chef hätte in Stücke reißen lassen. »Also da will ich mal sehen«, sagte er und ging nach der Tür.

Aber die wurde schon halb geöffnet. »Gundelfinger!« rief eine helle, anziehende Stimme. Herr Gundelfinger begab sich hinein. Gleich darauf erschien Leo Breisach, schüttelte Ludwig die Hände und führte ihn in sein Kabinett, das noch schäbiger möbliert war als die Vorzimmer und zum Ersticken angefüllt mit blauem Zigarettenrauch. Er merkte es nach seiner kurzen Abwesenheit selbst. »Wird's Ihnen zu kalt, wenn ich aufmache?« fragte er Ludwig. »Eigentlich zu blöd, diese Raucherei! Angina pectoris mit fünfundfünfzig ist garantiert.« Wobei er seinem Besucher die Zigarettenschachtel hinschob.

Etwas ungemein Liebenswürdiges, Vertrauenerweckendes, ging von dem kleinen Manne aus. Mit Erleichterung, beinahe beglückt, empfand es Ludwig. Er hatte erwartet, einem ausgesprochenen Intellektuellentypus zu begegnen, etwas Ätzendem, Radikal-Unerbittlichem. Er hatte sich auch, aus welchem Grunde immer, vorgestellt, daß Breisach scharfes Berlinisch sprechen müsse. Aber er redete süddeutsch. Es gefiel Ludwig sehr. Und auf einmal, zu seiner Bestürzung, merkte er, daß dies ganz genau dasselbe warme und farbige Alemannisch war wie bei Rotteck. Mit geschlossenen Augen hätte man die beiden verwechseln können. Dieser kleine Jude mußte aus der gleichen Gegend herstammen.

In seinem dunkelblauen, mit Asche bestreuten Anzug und der unordentlich geknüpften Krawatte sah er unscheinbar aus; schön war er nicht mit seiner übergroßen Nase im bräunlichen Gesicht. Aber zwei herrliche, sehr helle Augen, voll von heiterem Licht und strömender Klugheit, dominierten so vollständig in diesem Gesicht, daß nach einer Minute nichts anderes mehr existierte. Er war frei in seinen Bewegungen, grenzenlos unfeierlich, ein kleiner behender lebensvoller Mensch vom Mittelmeer.

Ihn zu karikieren mußte nicht schwer sein, und das hatten sie denn auch reichlich besorgt, drinnen in ihrem Germanenpferch. Auf ihrem reglementierten Zeitungspapier war ein hakennasiger Dämon, der Breisach sein sollte, allwöchentlich aufgetaucht. Aber das war jetzt verboten. Sein Name, der ein Symbol geworden war für Freiheit und Widerstand, durfte nicht mehr genannt werden. Selbst ihn mit Unrat zu bewerfen, schien bedenklich. Wie sie ihn haßten, lieber Gott, die Fälscher und Hetzer, die Sudelköche und Mordanzettler in ihren Berliner Propagandazentralen! Ein Preis von fünfzigtausend Mark war auf seinen klugen und furchtlosen Kopf gesetzt; aber es war im schützenden Ausland immerhin nicht ganz leicht, dieses schöne Geld zu verdienen. Breisachs Freunde hätten ihn am liebsten auf Schritt und Tritt mit einer Garde umgeben, aber er verbat sich die Fürsorge; es war der einzige Anlaß, bei dem er heftig wurde. Zu seinem Geburtstag vor einigen Wochen – es war der vierzigste – hatten sie ihm einen hübschen kleinen Revolver geschenkt, vorzügliches teures Modell, obgleich sie arm waren. Da lag er auf seinem Schreibtisch als Briefbeschwerer, ungeladen.

Das ›Freie Wort‹ war seine eigene Gründung, beinahe ohne Kapital hatte er sie zustande gebracht. Man hätte vielleicht annehmen können, daß ihm aus jüdischen Quellen das Geld für sein Unternehmen zugeflossen wäre. Schon im vorbarbarischen Deutschland hatte er als Publizist einen Namen besessen, und gerade die Herren der jüdischen Finanz hatten sich an seinen klaren, fundierten, volkswirtschaftlichen Aufsätzen sehr nutzbringend orientiert. Viele von ihnen teilten jetzt sozusagen mit ihm das Exil. Sie wohnten nicht mehr in ihren Villen am Wannsee, und ihre Aubussons und chinesischen Vasen dekorierten die Paläste der neuen Machthaber. Aber sie besaßen Vermögen im Ausland. Sie hatten ihre Suiten im Savoy und im Claridge. Ein Kampforgan gegen die deutsche Weltgefahr zu finanzieren, hätte jedem einzelnen von ihnen nicht die kleinste Entbehrung auferlegt. Sie zogen statt dessen vor, sich zu »verhalten«. In Bereitschaft zu sein, schien ihnen alles. Eines nahen Tages, wer weiß, hatte der Führer und Reichskanzler sich die Hörner abgelaufen, dann fiel von seinem Neubau die antisemitische Ornamentik ab, und die loyalen Juden zogen in Ehren wieder ein. Für diesen Tag hieß es Vorkehrungen treffen! Am besten geschah dies dadurch, daß man, während in Deutschland das Hephep-Geschrei gellte, in Wallstreet und in der City Anleihen für die heimischen Judenjäger propagierte. Angriffe gegen den Hitler und seine Schweißhunde konnten solch kluge Vorsorge nur stören. Höchst bedauerlich in der Tat, daß dieser Breisach mit seinem ›Freien Wort‹ sich so lange hielt!

Denn er hielt sich nicht nur. Ohne Gönner, in doppeltem Kampf, völlig angewiesen auf das Abonnementsgeld, war die Zeitschrift eine moralische Macht geworden, ein Zentrum des Widerstands. Das ganze Unternehmen stand auf Leo Breisachs Augen. In zweieinhalb Jahren hatte er noch keine vier Wochen Urlaub gehabt. Die tageskritischen Glossen, die jedes seiner Hefte einleiteten, der große Aufsatz zum aktuellen Hauptproblem, der das Kernstück bildete, wurden durch Europa hin von zerstreuten Tausenden mit Begierde und Hoffnung erwartet. Hoffnung nicht auf billigen Trost, vielmehr Hoffnung auf Einsicht, Klärung, Einordnung der tumultuarischen Fakten in historischen Zusammenhang. Der Publizist hatte in manchem einzelnen Fall geirrt. Aber der große Fluß der Ereignisse hatte seiner Klarheit Recht gegeben. Das stückweise Zerbrechen aller Verträge, die an der Schwäche der Umwelt erstarkende Frechheit dieser Rüpeldiplomatie, der Weg einer mit gestohlenem Geld, hämmernder Propaganda und Mord arbeitenden Sprengungspolitik, das alles war in diesen weißen Heften vorgezeichnet worden. Man hatte allzu lange nicht zugehört. Heute hörte man.

Das ›Freie Wort‹ war ein Sammelbecken der Information über alles, was in Hitlers Käfigen vorging. Ein Unisono von Aufschrei und Anklage hallte in diese drei kleinen Zimmer. Wer den Fängen der deutschen Maschine entkam, sogleich oder später fand er seine Straße hierher. Der kleine lebhafte Mann hier vor Ludwig trug ein furchtbares Wissen um Leiden und Verzweiflung hinter seiner bräunlichen Stirn.

»Da wären Sie also«, sagte er gutmütig. »Ich hatte Sie fast schon früher erwartet. Man darf ja gratulieren. Es heißt, Sie seien als einziger davongekommen. Eigentlich ganz erstaunlich.«

Und Ludwig sah auf dem Hintergrunde der freundlichen Augen ein scharfes Mißtrauen.

»Darum eben bin ich hier, Herr Breisach. Ich kann nicht als einziger davongekommen sein.«

»Versteh ich zunächst noch nicht recht. Aber Sie werden's mir ja erklären. Wollen Sie uns Material bringen über das Unternehmen? Da müssen wir vorsichtig sein, sehr vorsichtig – der anderen wegen, nicht wahr!«

»Gewiß, o gewiß«, sagte Ludwig. »Aber ich wollte kein Material bringen. Ich nehme gar nicht an, daß diese Vorgänge für Sie besonders interessant sind. Schon während die Sache sich entwickelte, habe ich meine Zweifel gehabt. Solche Einzelaktionen führen schwerlich zum Ziel.«

»Einzelaktionen. Ich weiß doch nicht. Alles Leben und also auch alle Politik besteht aus solchen Einzelaktionen. Die materialistische Geschichtsdoktrin hat gewiß ihre Wahrheit. Aber sie ist nicht die ganze Wahrheit. Einmal« – er lächelte träumerisch – »einmal ist vielleicht dieser ganze Gewaltrummel doch vorbei, und als abgetakelter Soldat sitzt man in seiner Erasmus-Stube. Dann müßte man ein Buch schreiben unter dem Titel ›Wenn‹ – Sammlung historischer Phantasien. Wenn damals bei Poitiers Carl Martell ... Wenn damals Philipp von Spanien und sein reinrassiger Admiral ... Wenn damals die Jugendaquarelle unseres Adolf nicht solch unverkäuflicher Dilettantendreck gewesen wären, sondern nur ein klein bißchen besser. Wenn ... Was also darf ich für Sie tun?«

»Ich habe zwei Fragen. Halten Sie es für möglich, in Erfahrung zu bringen, an welchen Orten meine Gefährten gefangen sind?«

Breisach bewegte langsam den Kopf hin und her.

»Ich werde Ihnen eine Adresse geben. Aber auch dort ist es zweifelhaft. In der ersten Zeit hielten sich ja die Zahlen in Grenzen. Jetzt hat das Einsperren und Verschwindenlassen einen solchen Umfang angenommen ... Man spricht von dreihunderttausend Menschen. Dreihunderttausend – soviel Kinder werden hier in der Tschechoslowakei im ganzen Jahr nicht geboren. Sehen Sie her!«

Er hatte unten an seinem Schreibtisch eine Tür geöffnet, nahm ein zusammengelegtes Blatt hervor und entfaltete es. Es war eine mit Tusche gezeichnete Karte der Konzentrationslager und Zuchthäuser des Deutschen Reichs. Ungleichmäßig war sie übersät mit dicken, schwarzen Punkten. Die Lager waren durch ein K bezeichnet. In den Industriebezirken besonders wimmelten diese K's. Rheinland-Westfalen, Sachsen und die Gegend um Berlin waren ganz schwarz.

Ludwig schaute auf diese Landkarte nieder, und die vielen hundert Punkte verwandelten sich für ihn in das, was sie vorstellten: in Barackenlager im Ödland, von elektrisch geladenem Stacheldraht dreifach umstarrt, in Steinburgen, Kellerhöhlen in Prügelkammern, Isoliersärge, Todeszellen. Dies war die Welt, die sich unter jenem »geordneten« Deutschland ausspannte, auf dessen durch Zwangsarbeiter erbauten Autostraßen man die ausländischen Journalisten gratis spazierenfuhr.

»Eine entsetzliche Maschinerie«, sagte er leise.

Breisach nickte. »Es gehört etwas dazu, der in die Zahnräder zu greifen.«

» Sie dürfen das wohl sagen!«

»Ich? Lieber Gott! Aber diese Tausende von todesmutigen Leuten, junge Arbeiter, Jungkatholiken, bündische Jugend. Was sich da zusammentut unter harmlosen Namen, als ›Sportclub‹, ›Luftschutzbund‹, ›Gesangverein‹. Was da auf Trottoirs und Fabrikhöfen, in Kaufhäusern und in den Korridoren der Ämter selbst, seine Flugzettel ausstreut. Was da an Mauer und Hauswand bei Nacht seine Aufrufe hinmalt. Was da seine Braunbücher und antifaschistischen Schriften vertreibt unter unschuldigen Buchdeckeln, da sehen Sie« – er wies auf ein Büchlein – »›Gesundheitsfördernde Pflanzen‹, und innen ist's die Geschichte des 30. Juni! Was da in Berlin allein drei Dutzend Zeitschriften schreibt, setzt und herausgibt. Und nur so ein Blatt in der Hand zu haben, bedeutet gewissen Tod. Auf jeden dieser Namenlosen wartet so ein Höhepunkt oder das Beil. Federlesens wird nicht gemacht. Ein paar hundert Jahre Zuchthaus im Massenprozeß sind rasch verhängt! Was da allnächtlich sich über die deutschen Grenzen wagt, hin und zurück, beladen mit Material, durch ein immer dichteres Spitzel- und Wächternetz. Jeder fast ohne Hoffnung für sich, aber mit einem todestapferen Glauben an ein strahlendes Einst –«

Breisachs Stimme hatte sich getrübt, und sein heller Blick war traurig geworden. Er sah nicht aus, als teile er selbst so unbedingt diesen Glauben an das strahlende Einst. Ludwig vergegenwärtigte sich, daß sein ›Freies Wort‹ sich von Parteidoktrin fernhielt. Und nicht geringer als der Sterbensmut jener namenlosen und gläubigen Streiter erschien ihm die Leistung des Mannes, der voller Erkenntnis und Vorbehalt, beladen mit seinem kritischen Wissen um die Unvollkommenheit jedes menschlichen Zustands, täglich die Lanze einlegte gegen Gewalttat und Frevel.

Er sagte: »Darf ich meine zweite Frage stellen. Diese jungen Menschen überschreiten gewiß nicht alle die Grenze unter ihrem richtigen Namen. Ich bin im gleichen Fall.«

»Sie wollen nach Deutschland zurück?«

»Als man mich an die Grenze stellte, geschah es unter einer Drohung. Komme ich zurück, so bedeutet das für meine Mitschuldigen – es waren sieben – den Tod. Aber die Frage ist, ob meine Untätigkeit nicht erst recht und sicher ihren Tod bedeutet, wenn auch vielleicht einen langsameren. Ich muß versuchen, das Meine zu tun. Es sind Befreiungen vorgekommen.«

»Meist durch Bestechung. Die Leute sind ja käuflich. Aber bedeutende Mittel werden nötig sein.«

»Ich will versuchen, sie zusammenzubringen.«

»Und wenn man Sie faßt?«

Ludwig lächelte und machte eine leichte Bewegung nach dem Revolver auf der Schreibtischplatte.

»Sie meinen«, sagte Breisach, »ein toter Prinz ist denen noch lieber als einer im Ausland?«

»Ungefähr so.«

»Also zunächst, wenn ich recht verstehe, wollen Sie einen Paß.«

Ludwig nickte. Breisach sah ihn an. Dann nahm er ein Kärtchen, notierte eine Adresse und malte auf die Rückseite zwei Zeichen.

»Gehen Sie heute Abend hin. Man wird Ihnen helfen. Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Ich auch – das kann ich wohl sagen.«

Er erhob sich. Die untere Tür an Breisachs Schreibtisch, aus dem er jenen Lagerplan hervorgenommen hatte, stand noch offen, und Ludwig sah, daß auf ihrer Innenseite ein Bild aufgeklebt war. Eine billige Reproduktion, aus einem illustrierten Blatt ausgeschnitten, und sie klebte hier an verborgener Stelle. Es war aber wiederum der Don Quixote, Daumiers Ritter, ungeheuer und mager, die heilige Lanze in der Knochenfaust, das heldenhafte und absurde Antlitz dunkelnd fast in den Wolken.

Ludwig zögerte einen Augenblick. Er war im Begriff, noch etwas zu sagen. Aber dann ging er.

6

Allein mit seinen schweren Gedanken begann er zu wandern, achtlos wohin. Er ging zum Hradschin hinauf und weiter durch die Loretogasse, stand im trüben Nachmittagsende zwischen der gewaltigen Säulenfront des Palais Czernin und dem lieblichen Klösterchen, beladen, ohne etwas zu sehen. Er kam wieder zum Fluß hinunter, durchquerte die Stadt bis unter den Ziskaberg und vollführte dann einen weiten Bogen durch proletarische Viertel, bis er ganz südlich von neuem die gelb sich fortwälzende Moldau erreichte. Er ging, den Mantelkragen in die Höhe gestellt, die Hände in den Taschen, mit denselben, ein wenig schlendernden Schritten wie damals in jenem Gefängniskeller.

Einsamkeit – er mochte das Wort wohl bewegen in seinem Herzen. Da er zum ersten Mal erfuhr, was Glück war, als er es unterm Schauer der Schuld in den Armen hielt, entriß es sich ihm, und sein Verlangen griff ohnmächtig ins Leere hinaus.

Er war bereit gewesen, Verantwortung zu tragen, er hatte sich gestellt. Aber im Augenblick, da er bekennen sollte, war ihm der Mund verschlossen worden. Es wäre unmenschliche und sinnlose Grausamkeit gewesen, sich dem Verlassenen noch zu entdecken. Immer sah er Rotteck vor sich an seinem Tisch, das Gesicht mit dem gelähmten Mundwinkel ohne Regung, und aus seinen weitoffenen Augen flossen die Tränen herab, unaufhaltsam. So hatte Ludwig ihn verlassen. Bekenntnis und Sühne waren verschmäht. Eine ewige Lüge war hier gefordert.

Geheimnisvoll und schrecklich klang dies zusammen mit der Tatenlosigkeit, zu der er verdammt schien. Andere hatten für ihn geplant und gehandelt. Andere waren für ihn ereilt worden. Ihm schnürten Fesseln die Hände zusammen. Aber er würde diese Fesseln zerreißen. Er hatte denen, die für ihn litten, Hilfe zu bringen oder für sie unterzugehen. Das hatte er dumpf gewußt auch in den kurzen Tagen jenes geraubten, schuldhaften Glücks. Jetzt war er zu nichts anderem mehr auf der Welt. Wohin er um sich blickte, er ersah für sich keine mögliche Existenzform. Aber am unmöglichsten erschien dies: irgendwo unterzukommen und im Warmen zu vegetieren, während jene Männer Qualen ausstanden und vielleicht starben.

Bei völligem Dunkel fand er sich unter den Festungswerken des Wyschehrad. Auf Befragen erfuhr er, daß der Stadtteil Sejvice, nach dem er sich zu begeben hatte, entgegengesetzt lag, bestieg eine Straßenbahn, hatte mehrmals den Wagen zu wechseln und kam gegen neun Uhr an. In einer Seitenstraße der Verdunska lag das von Breisach bezeichnete Haus.

»Scheurer« stand auf dem Türschild. Ein halbwüchsiges Mädchen öffnete. Im Halblicht des Korridors sah Ludwig, daß sie sich die Lippen geschminkt hatte. Sonst wirkte sie ernsthaft, weit über ihre Jahre hinaus. »Warten Sie hier auf meinen Bruder«, sagte sie streng und nahm Breisachs Karte mit sich hinein. Gleich darauf erschien Scheurer – wenn er so hieß –, ein Mann Ende der Zwanzig in einer Art grauer Litewka mit aufrecht stehendem Kragen. Sein Gesicht erschien Ludwig leidenschaftlich und schön. Unter dichtem, glänzendem, schwarzem Haar, unter breit gewölbter Stirn leuchtete und blitzte ein blaues Auge, ein einziges, denn das andere lag im Schatten einer vorgekämmten Strähne. Als aber diese bei einer Kopfbewegung zur Seite glitt, zeigte das zweite Auge sich tot, als ein graugelblicher Gallert mit verbleichter Iris, schreckenerregend.

Der Raum, den sie miteinander betreten hatten, war eine Art Archiv oder Magazin, umstellt mit Regalen, auf denen Pakete lasteten. Auf einem langen, ungestrichenen Holztisch standen in ihren Wachstuchhüllen zwei Schreibmaschinen. Aus dem Raum nebenan kam Stimmengewirr.

Ludwig brachte mit kurzen Worten sein doppeltes Anliegen vor.

»Bis morgen werde ich wissen«, antwortete Scheurer, »ob Berichte da sind. Die Praxis der Staatspolizei in solchen Fällen ist es, die Teilnehmer zu dislozieren. Seien Sie darauf gefaßt, daß der eine in Schlesien sitzt, einer in Württemberg und der dritte oben an der dänischen Grenze.«

Ludwig nickte.

»Was den Paß angeht, so bekommen Sie noch heute abend Bescheid. Das wird gehen.«

»Ich bin Ihnen von ganzem Herzen dankbar.«

»Sie müssen natürlich Ihr Aussehen verändern und sich so photographieren lassen. Was für Sprachen sprechen Sie denn?«

»Französisch und Englisch gut. Spanisch mittelmäßig.«

»Damit kann man nichts anfangen. Warten Sie jetzt nebenan!«

Im Nebenzimmer waren zehn oder zwölf Personen versammelt, jüngere Leute meist, teil proletarischen, teils intellektuellen Aussehens. Ludwig fand seinen Platz auf einem primitiven Diwan neben einem jüdischen Mädchen mit Brille, das ein gewandartiges fließendes Kleid trug. Er bekam Tee, das halbwüchsige Kind brachte ihm mit vorwurfsvollem Blick eine Tasse davon, schon gezuckert, mit zuviel Milch. Es wurde mäßig geraucht, wahrscheinlich waren die meisten zu arm dazu.

Von den Stimmen, die Ludwig vorher vernommen hatte, war nur eine einzige übrig geblieben. Sie gehörte einer Frau mittleren Alters, die in einem Sessel eine Art Ehrenplatz einnahm.

»Walburga Nothaft«, flüsterte das jüdische Mädchen ihm zu. Aber er hätte auch so ihrer Rede entnommen, daß sie die Witwe Heinrich Nothafts war, des Dichters, Schwärmers und Wanderredners, dessen »Selbstmord« in einem der Lager vor kurzem bekannt geworden. Sie war eben aus Deutschland gekommen, voll von dem Grausigen, das sie wußte. Sie sprach in ununterbrochenem Fluß, in ihrem niederbayrischen Tonfall, und alle lauschten mit einem Ausdruck von Gram und fast religiöser Sammlung. Sie war eine bayrische Bäuerin, auch heute noch. Sie trug ihre Zöpfe so um den Kopf geflochten und ihr Vorstecktuch so geschlungen, wie es in den Dörfern nördlich von München Sitte ist. Während sie sprach, öffnete sich mitunter die Tür, Neuankömmlinge erschienen und nahmen ohne Umstände Platz. Einige Male zeigte sich Scheurer auf der Schwelle zum Nebenraum und winkte jemand hinaus. Das Kind mit den roten Lippen, abweisenden Blicks, ging lautlos umher und servierte den weißlichen Tee.

»Die haben schon ganze Arbeit gemacht mit ihm, das muß man zugeben«, sagte Frau Nothaft. »Sie haben dem Heinrich nichts geschenkt. Ich glaube, es hat sie geärgert, daß er trotz allem immer vergnügt war. Denn ihr wißt ja, wie der Heinrich gewesen ist, seine gute Laune ließ er sich gar nicht umbringen, und solang er gelebt hat, war's noch nicht ganz so arg und finster für die Kameraden im Lager. Fröhlich gelebt hat er, und die Frauen und das übrige hat er immer gern gehabt, und deshalb haben auch viele geglaubt, er sei kein ernsthafter Kämpfer gewesen. Aber das war ganz falsch. Es hat's kaum einer so blutig ernst genommen. Bloß hat er gemeint, daß man deswegen noch kein böses Gesicht schneiden muß. Dir werden wir das Lachen schon austreiben, haben sie ihm angekündigt, gleich als er verhaftet worden ist. Prügel, Essensentzug, Einzelhaft ohne Licht vierzehn Tage lang – aber wenn er herauskam, war er doch immer wieder der alte. Dann haben sie's immer schlimmer gemacht. Ich hab ihn ja bloß zweimal gesehen in der langen Zeit. Aber ein Kamerad, der entlassen worden ist, hat mir davon erzählt in Berlin. Das schlimmste war das mit dem Affen ... Man muß den Heinrich gekannt haben, um das recht zu verstehen.

Also an einem Sonntag war der Obersturmführer Hartwig fort, und ein anständiger Truppführer hat Dienst gemacht, und der hat einen Zigeuner vom Jahrmarkt ins Lager hereingelassen mit einem Affen, der Kunststücke gekonnt hat. Er dachte, die armen geschundenen Kerle müssen auch einmal ein Vergnügen haben. Der Affe war so ein kleiner, er konnte trommeln und präsentieren und sonst solche Sachen. Und mein Heinrich war ganz närrisch mit ihm. Viecher hat er immer so gern gehabt. Die wissen zu leben, hat er immer gesagt. Unsereiner, hat er gesagt, ist ganz selten einmal er selbst, meistens stehen wir am Morgen auf und sind miserabler Laune und verhunzen uns selber den Tag. Aber so eine Katz oder ein Pudel ist jeden Tag dasselbe, genau das Geschöpf wie Gott es gewollt hat, immer vollkommen, vom ersten Atemzug bis zum letzten. Die sind die große Lehre, das Beispiel. Und so müßten wir auch sein ... Also mein Heinrich ist ganz außer sich vor Glück mit dem Affen. Er redet mit ihm und springt mit ihm herum, er macht sogar einen Handstand vor ihm auf dem Hof, und der Affe macht's nach, und wie der Heinrich auf den Beinen steht, sehen die anderen, daß ihm die Tränen herunterlaufen, und sie denken, daß er doch ein bißchen ein verrückter Kerl ist, so gern sie ihn haben, denn daß einer weinen kann vor Freude über einen Jahrmarktsaffen, das verstehen sie nicht.

Aber da war auch das Unglück schon da. Auf dem Hof in einer Ecke ist der Obersturmführer Hartwig gestanden. Der war vor der Zeit heimgekommen und hatte das meiste gesehen. Der Hartwig hat immer schon einen besonderen Haß auf den Heinrich gehabt, wahrscheinlich weil er selber so ein häßlicher, trübseliger Kerl war. Jetzt kam er her. Alle standen gleich stramm, wie es Vorschrift ist, auch der Heinrich. ›Was, der gefällt dir, der Aff‹, sagt der Hartwig zu ihm. ›Zu Befehl, Herr Obersturmführer‹, sagt vorschriftsmäßig der Heinrich. Da macht sich der Hartwig seinen Dienstrevolver vom Gurt los. ›Deshalb darfst du ihn jetzt auch eigenhändig erschießen‹, sagt er. Der Heinrich meint erst, es ist ein ekelhafter Witz, und er steht da mit dem geladenen Revolver in der Hand, ganz ungeschickt. ›Na, wird's bald!‹ schreit der Hartwig, ›Finger an den Abzug! Los!‹ Es ist ihm ernst. Das merken alle, auch der Zigeuner merkt es und fängt an zu jammern, aber der Hartwig brüllt ihn an, er soll den Mund halten, sein Viech würde ihm schon bezahlt. Der Affe ist herangekommen, er sitzt gerade vor dem Heinrich und schaut ihn zutraulich an, wahrscheinlich möchte er wieder spielen.

›Das kann ich nicht tun, Herr Obersturmführer.‹

›Ah‹, sagt der Hartwig, ›das kannst du nicht tun. Sag mir mal den Paragraph zwölf der Lagerordnung her!‹ Im Paragraph zwölf heißt es, daß, wer den Gehorsam verweigert, als Meuterer auf der Stelle erschossen wird. Der Heinrich sagt den Paragraph zwölf her, mit lauter, vorschriftsmäßiger Stimme.

›Also!‹

›Ich kann es trotzdem nicht tun.‹

Der Hartwig schnappt nach Luft vor Wut. Vielleicht kriegt er's auch mit der Angst, denn der Heinrich hat ja immer noch den geladenen Revolver in seiner Hand. Er läßt alles wegtreten, auch der Zigeuner mit seinem Affen darf gehen, und alle bewundern den Heinrich und denken, es ist gut.

Aber nachts wird er von seiner Pritsche geholt und in die Isolierbaracke hinübergeführt. Da steht an einem Tisch der Hartwig und hat einen Holzhammer in der Hand. Dem Heinrich werden die Arme auf den Tisch geschnallt, und der Hartwig haut ihm mit seinem Hammer die Fingerspitzen zu Brei, ganz langsam, eine nach der andern. ›Du willst ja nicht abdrücken‹, sagt er dabei, ›da brauchst du sie nicht. Unnützes im Lager wird nicht geduldet.‹ Er macht es gründlich, er arbeitet eine Stunde an ihm herum, und auch wie der Heinrich schon lange ohnmächtig ist, macht er weiter. Er hat bis zu seinem Tod einen eitrigen Breiklumpen gehabt an jedem von seinen zehn Fingern.«

In der Stille, die nach dieser Erzählung entstand, öffnete sich die Tür zum anstoßenden Raum, und Scheurer machte Ludwig ein Zeichen. Benommen erhob er sich und stieß dabei klirrend an seine Tasse, die neben ihm auf dem Boden stand.

Im Nebenzimmer wartete ein unternehmend blickender junger Arbeiter, der nicht grüßte. Er hielt ein rotbraunes Leinwandheftchen in der Hand.

»Ich denke, wir werden einen Lettländer aus Ihnen machen«, sagte Scheurer ohne ein Lächeln.

7

Will jemand von einem zum andern sein Aussehen verändern, so kann er sich nur an die Haartracht halten. Ludwig dachte erst an ein einfaches Kurzscheren, dann aber wählte er einen anderen Schnitt, jenen, bei dem am sonst rasierten Schädel nur vorn in der Mitte eine kleine Haarfläche übrig bleibt. Zwar war dies deutsche Erfindung und wurde bei Angehörigen sonstiger Nationen nicht angetroffen; aber keine andere Frisur, so schien ihm, entstellte gleich gründlich. Mit Befriedigung betrachtete er die Photographie in seinem Paß: doppelt gestempelt durch die Polizeidirektion in Riga, Lettland, präsentierte sich da ein leer blickender Fremder mit abstehenden Ohren, der 1908 in Liepaja geborene Karlis Peteris Ozols, Kaufmann.

Immer wenn er alleinblieb auf seiner Reise, zog er das rotbraune Büchlein hervor und beschäftigte sich mit dem fremdartigen, ganz innerasiatisch anmutenden Text, unter dem eine französische Übersetzung angebracht war. ›Apraksts‹ hieß da Personalbeschreibung und ›Pavalstnieciba‹ hieß Nationalität. Niemand werde und könne ihn prüfen, hatte Scheurer versichert, Lettisch sprechen auf Erden nur eine runde Million Menschen, darum eben habe man diese Staatsangehörigkeit für ihn ausgewählt. Aber Ludwig hatte schon Mühe seinen Namen zu memorieren. Als an der Grenzstation die kontrollierenden Beamten den Waggon betraten, schlug ihm recht spürbar das Herz. Doch man behandelte den reisenden Ausländer mit betonter Zuvorkommenheit.

Es war Ludwig zu Mut, als wäre er lange fortgewesen. Mit entfremdeten Augen blickte er auf sein Vaterland. Die gehäuften Uniformen auf jedem Bahnsteig, das schreiende Hakenkreuztuch, das an den unmöglichsten Orten herumhing, es erschien ihm alles so neu. Vor allem fiel ihm das Gehabe der Leute auf, die wechselnd in das Abteil dritter Klasse einstiegen, um ihre kurzen Reisen zu tun: mit verschlossenen und verdrossenen Blicken betrachteten sie einander, und kam ein Gespräch zustande, so hielt es sich in den langweiligsten Allgemeinheiten. Da jeder in jedem einen der Spitzel vermutete, mit denen das Land überschwemmt war und die sich als Arbeitsplatz mit Vorliebe die Eisenbahnzüge aussuchten, empfahl es sich so. Das Volk hier in sächsischen und thüringischen Landen war sonst lebhaften Geistes und häufig von drastischem Witz; jetzt hörte Ludwig kein heiteres Wort.

Als es dunkelte, nickte er ein wenig ein im überheizten Coupé. Ein ruckweises Anhalten des Zuges erweckte ihn. Er sah durch die halbvereiste Fensterscheibe auf einen schwachbeleuchteten Bahnsteig hinaus, ohne viel zu erkennen. Plötzlich fiel ihm die Form des Zeitungskiosks auf – er war erbaut wie ein Schweizerhäuschen und übrigens schon geschlossen – und er wußte, daß er im Bahnhof seiner Heimatstadt hielt. Und nun las er auch seinen eigenen Namen auf dem Eisenrand einer Laterne.

Niemand war mehr im Abteil, aber im Augenblick der Abfahrt kam prustend und den Schnee vom Mantel abschüttelnd ein dicker Mann herein und machte sich's mit einem freundlichen Gruß bequem. »Auch hinüber nach Weimar?« hatte er schon gefragt, ehe der Zug recht in Bewegung war. Drei Minuten später wußte Ludwig, daß er den Konditor Hemmisch vom Hohen Markt vor sich hatte. Er erinnerte sich gut an den Laden und an seine berühmten Schaumkringel und Schokoladenkrapfen. Oft hatte er sich als Kind gewünscht, da eintreten und nach Herzenslust kaufen zu können, was ja aber leider für einen Prinzen des herzoglichen Hauses nicht anging. Mit Zuneigung betrachtete er den ehemaligen »Untertan« seines Vaters. Es beruhigte ihn sehr, daß Hoflieferant Hemmisch – ganz sicher hing das Wappenschild noch immer über der verlockenden Auslage ihn durchaus nicht erkannte, obwohl er ihn in Person und auf Photos hundertmal gesehen haben mußte. Dankbar strich sich Ludwig über seine abscheuliche Frisur.

»Lettland«, sagte Herr Hemmisch, nachdem er seinerseits Auskunft erhalten, »da haben Sie's kalt jetzt, wie?«

»So sehr kalt ist es nicht. Aber feucht. Viel Nebel.«

»Aha. Was ist denn Ihr Geschäft, wenn ich fragen darf?«

»Zündhölzer. Ich reise für eine Zündholzfabrik«, antwortete Ludwig und fröstelte bei dem Gedanken, Herr Hemmisch könnte irgendwelche Kenntnisse über Zündholzfabrikation an den Tag legen. »Meine Firma«, fügte er hastig hinzu, »ist eine von den wenigen, die noch übrig sind. Vor dem Krieg war das Land voll von Cellulose- und Zündholzfabriken, aber dann ist alles zu Grunde gegangen.« Der Satz schmeckte ein wenig nach dem Lexikon, aus dem er sich orientiert hatte.

Eine neue Station erschien und, auf erleuchteter Tafel, ein Ludwig vertrauter Ortsname. Es stand auch hier ein Schlößchen seiner Familie.

»Ist das Sachsen hier«, fragte er seinen Reisegefährten. »Königreich Sachsen?«

»Sachsen-Camburg. Ehemals herzoglich. Jaja, mit alldem ist's zu Ende.«

»Was ist eigentlich aus all diesen Fürsten geworden? Wir draußen können uns das gar nicht so vorstellen.«

»Nun, unsrer zum Beispiel wohnt immer noch hier, so in der Stille, ganz als Privatmann.«

»Armer alter Herr!«

»Alt ist er nicht. Kaum über dreißig. Er geht sogar nie außer Landes.« Herr Hemmisch war augenscheinlich in Versuchung, die Gründe dieser Selbstbeschränkung darzulegen. Ludwig sah förmlich, wie er sich auf die Zunge biß. Statt dessen zog er vor, die Existenz des Herzogs zu schildern. Das tat er nicht ohne Kritik; es war ungefährlich. Herzog August, wenn man ihm glauben konnte, hatte sein Leben nun gänzlich der Jagd gewidmet. Von dreißig Tagen galten ihr fünfundzwanzig. In den Monaten aber, da Hirsche und Hasen Schonzeit hatten, hielt er sich grämlich allein im Camburger Schloß und veranstaltete Taubenschießen – wobei die Tiere aus dunklen Kästen in die freie Luft hinaufgelassen und geblendet von der fürstlichen Kugel ereilt wurden. Dieser etwas grausame Sport schien in der Bevölkerung Mißfallen erregt zu haben. Mehr noch ein gewisser anderer Vorfall, Herr Hemmisch erzählte ihn ganz ausführlich.

Im vergangenen Oktober hatte der Herzog einmal einen besonders ergiebigen Jagdtag gehabt. Im sogenannten Bannwald nördlich von Camburg war für ihn eine Schußkanzel aufgebaut, und an der hatte man das Wild vorübergetrieben, so daß es ganz ohne Beschwer zu erlegen war. Die Strecke an jenem Tag betrug 7 Hirsche, 32 Rehe und 108 Hasen. Mit Befriedigung hatte der Herzog sein Werk betrachtet, war wieder und wieder die Reihe der Geschöpfe abgeschritten, die da mit glasigen Augen lagen, und hatte sich dann auf die Heimfahrt begeben, im Bedauern, daß die Nacht seiner Tätigkeit so früh ein Ende setzte. Der Weg führte an einer Geflügelfarm vorüber, die einer Familie Quendel gehörte. Unvermutet ließ Herzog August halten, befahl Lichter zu bringen, faßte Posto an einem der Fenster, scheuchte durch einen Schuß das schlafende Geflügel empor und begann unter nervösem Gelächter kunstgerecht zu feuern. Todesgegacker und herumwirbelnde Federn – Herr Hemmisch schilderte es anschaulich – erfüllten in dem niedrigen Schuppen die staubige Luft. Dem Aufsichtspersonal wurde versichert, daß alles bezahlt würde, und vergnügt und gesättigt fuhr der Herzog davon. Bezahlt wurde auch, aber Skandal gab es dennoch. Die Zeitungen – nicht weniger froh offenbar über das ungefährliche Thema als jetzt Herr Hemmisch – bemächtigten sich des Falles, und wochenlang hielt es Herzog August für angezeigt, sein Schloß überhaupt nicht mehr zu verlassen. Hoflieferant Hemmisch fand übrigens das Geschrei übertrieben. »Was wollen die Leute in Grunde«, meinte er, »gefressen werden die Hühner ja doch. Dem Huhn ist es einerlei, ob's eine Kugel trifft oder ob ihm die Köchin den Hals abschneidet. Man muß auch schließlich gerecht sein. Der eine schießt Hühner –« Hier aber, vielleicht im richtigen Augenblick, bremste der Zug, Herr Hemmisch war am Orte seiner Bestimmung angelangt.

Auf diese Weise erfuhr Ludwig einiges über die Lebensführung des Bruders, den sein Geschick so vorzeitig aus dem Blutkreislauf der Macht ausgeschaltet hatte.

Auch Ludwigs Reiseziel war nun bald erreicht. Im Städtchen Eisenach verließ er den Zug und wanderte, sein Köfferchen in der Hand, die schneeknisternde Bahnhofstraße hinunter, um einen Gasthof zu suchen. Einer, der »Kronprinz« hieß, sah billig genug aus. Aber auch hier wurde der dürftig anmutende Reisende eher zurückhaltend empfangen. Der Ton veränderte sich erst, und zwar zu fast bestürzter Ergebenheit, als man sein ausländisches Papier in Augenschein nahm. Offenbar hatte sich der deutsche Nationalstolz bereits derart entwickelt, daß auch die bescheidenste Ausländerexistenz ein Gegenstand unterwürfigen Neides war.

Es war noch keineswegs spät. Der Schlaf wollte nicht kommen. Ludwig schlug das Buch auf, mit dem er sich schon auf der Reise beschäftigt hatte. Es war eine einbändige Ausgabe von Gibbons ›Decline and Fall‹, zweitausend Seiten auf dünnem Papier. Das Lesezeichen lag beim Kaiser Diocletian und seinen Christenverfolgungen. Aber bald entsank ihm der Band. Vor Gibbons klassisch klaren Bericht schoben sich wüste, stärkere Bilder. Anders als unter diesen Prokonsuln und Präfekten, milden Vollstreckern der kaiserlichen Edikte, ging es zu in den Gefangenenlagern des Dritten Reiches. Was würde er morgen über das Schicksal seiner Gefährten in Erfahrung bringen?

Halb zehn war eine frühe Besuchszeit. Aber er vermochte seine Unruhe nicht länger zu bemeistern. Schon seit einer Stunde marschierte er auf der leeren, verschneiten Wartburg-Chaussee auf und ab.

Die Villa Zednitz, mit Türmchen und Giebelwerk in etwas irriger Gotik erbaut, lag inmitten eines geräumigen Gartens. Ein außerordentlich hübsches blondes Dienstmädchen erschien auf sein Läuten am Eingangsgitter. Trotz der Kälte nahm Ludwig den Hut ab.

»Kann ich Herrn von Zednitz sprechen?«

Sie öffnete unlustig und ersuchte um seine Karte.

»Hab ich leider nicht. Melden Sie Herrn Ozols aus Riga.«

»Riga«, wiederholte sie, »Ozols?« Sie war gerade wohlerzogen genug, um nicht den Kopf zu schütteln. Er folgte ihr über den Gartenweg, von dem der Schnee sauber weggekehrt war. »Warten Sie hier mal!« äußerte sie unterm Portal und hatte es ihm vor der Nase zugeschlagen.

Ludwig blickte sich um. Vier Jahre waren es jetzt her, da war er mit dem jungen Zednitz von der Universität aus hier gewesen. Damals war Juni, und die Zednitz'schen Eltern hatten ihm zu Ehren eine Gesellschaft veranstaltet, eine Art kleines Gartenfest.

Das Mädchen erschien wieder. »Herr Baron lassen fragen, in welcher Angelegenheit Sie ihn sprechen wollen.«

»Geschäftlich, mein Kind. Firma Peteris Söhne in Riga. Sehr wichtig.«

Eine Minute darauf erschien der alte Zednitz selbst unterm Tor. Ludwig hatte ihn frischer und jünger in Erinnerung. Aus dem allzu weißen Gesicht mit dem Spitzbart, das zuckerkrank wirkte, blickten blasse Augen mit Mißtrauen.

»Sie wünschen?«

»Ozols ist mein Name«, wiederholte Ludwig. Und als das Mädchen verschwunden war, fügte er leiser hinzu: »Sie erkennen mich nicht, Herr von Zednitz?«

»Keine Ahnung.«

Er nannte seinen Namen.

»Um Gotteswillen!« sagte Zednitz und ließ ihn eilig ins Haus.

Im Gartensalon war nicht geheizt. Die Wahl dieses Raumes schon war eine Aufforderung, sich kurz zu fassen.

»Meinen Sohn können Sie nicht sprechen, Prinz«, war das erste Wort.

Ludwig erschrak. Hatte der alte Herr unterm Schrecken der Ereignisse seinen Verstand verloren?

»Ich weiß, Herr von Zednitz«, sagte er behutsam. »Ich weiß, daß das nicht angeht. Mein Wunsch ist auch nur, zu erfahren, in welchem Lager er ist.«

»Sprechen Sie doch leise, leise!« flehte Zednitz – obwohl Ludwig flüsterte. Er spreizte nervös die Finger seiner linken Hand. »Mir ist jede Aufregung verboten. Und Sie regen mich auf, Prinz!«

»Das tut mir von Herzen leid. Ich wußte sonst niemand, an den ich mich wenden konnte. Sie werden verstehen, daß ich erfahren muß, wo meine Gefährten sind.«

»Wo kommen Sie eigentlich her?«

Er gab knappe Auskunft. Der alte Mann zitterte vor Kälte. Aber Ludwig konnte ihn ja nicht wohl ersuchen, die Unterredung in einem erwärmten Raume fortzusetzen.

»Mein Sohn ist hier«, sagte Zednitz mit weißen Lippen.

»Hier bei Ihnen?«

»Er ist seit acht Tagen frei.«

»Und alle die anderen?«

»Ebenso.«

Die Freude kam allzu unerwartet. »Großer Himmel«, sagte Ludwig und preßte mit beiden Händen seinen Hut gegen die Brust, »ist's denn auch wirklich wahr?«

»Selbstverständlich ist es wahr. Und der einzige, der noch Gefahr bringen könnte, sind Sie. Es macht Ihnen ja alle Ehre, daß Sie diese Nachricht so außer sich bringt –«

»Eisendecher, Unna«, fragte Ludwig noch einmal, »der herzkranke Unstrut? Den haben sie mißhandelt –«

»Ist in einem Sanatorium bei Düsseldorf. Es geht ihm ganz leidlich. Tja, einfach war es nicht. Wir haben alle Verbindungen spielen lassen. So vollkommen rechtlos ist man immerhin nicht.«

»Oberst Bruckdorf?«

»Sein Bruder ist Generalleutnant«, sagte Zednitz und lächelte blaß.

»Alle frei! Also Steiger auch?«

»Wer bitte?«

»Doktor Otto Steiger.«

»Ach, das ist dieser verrückte Schulmeister, der die ganze Geschichte angezettelt hat. Nein, den haben sie dabehalten«, sagte Herr von Zednitz ganz beifällig.

»Dabehalten! Wo?«

Zednitz zuckte die Achseln.

»An diesem närrischen Schulmeister oder wie Sie sich ausdrücken, liegt mir sehr viel. Er ist mein Lehrer, mein Freund.«

»Ja, da kann ich Ihnen auch nicht helfen, lieber Prinz. Und wenn Sie einen Rat haben wollen –«

»Den will ich. Raten Sie mir, wohin ich mich wenden muß, um Steiger zu finden. Sicherlich weiß es Ihr Sohn.«

»Ich darf Sie ersuchen, meinen Sohn völlig aus dem Spiele zu lassen! Mein Sohn steht unter Beobachtung. Für den Fall, daß binnen Jahresfrist nichts gegen ihn vorliegt, ist ihm Reintegration in Aussicht gestellt.«

»Ihr Sohn will unter dieser Regierung weiter dienen?«

»Mein Sohn wünscht seinem Vaterland weiter zu dienen. Das ist auch mein Wunsch und der seiner Mutter.«

»Ich muß wissen, wo Steiger ist.«

Zednitz schwieg. Sein Schweigen war feindselig.

Ludwig sah ihn an. Und er griff zu dem einzigen Mittel, das ihm blieb. Es war das Mittel des Bettlers, dessen Gegenwart stört und belästigt.

»Fragen Sie Ihren Sohn! Ich verschwinde dann augenblicklich aus dieser Stadt. Niemand wird erfahren, wer mir Auskunft erteilt hat. Ich gebe Ihnen mein Wort.«

Und da jener noch immer schwieg, fügte er mit Überwindung hinzu: »Ich gebe Ihnen mein Wort als deutscher Fürst.«

»Konzentrationslager Ginnheim bei Frankfurt am Main.«

Ludwig setzte seinen Hut auf und ging.

8

Ihm war, als habe er ein kostbares, über sein Dasein entscheidendes Geschenk empfangen. Die Weiterfahrt nach Frankfurt verging ihm so unvermerkt wie einem Ehrgeizigen, der in seinen Träumen schwelgt. Was für eine Erlösung, jene alle gerettet zu wissen. Mochten sie sich unter Opfern an Gesinnung und Würde gerettet haben, das zu erwägen war nicht seine Sache, er war ihrer ledig, er wünschte ihnen eine glückliche Zukunft. Jetzt erst wagte er sich einzugestehen, wie unausführbar sein Vorhaben noch gestern gewesen. Das ganz Unmögliche hatte er gewollt. Dies war nun anders. Nun ging es um das Leben eines einzelnen, jenes Nächsten, an dem er hing.

Die Wunden, die ihm die jüngstvergangene Zeit gerissen hatte, sie schmerzten auf einmal nicht mehr. Die verzweifelte Scham war fort, mit der er bei geschlossenen Augen immer wieder Rotteck vor sich gesehen hatte – verlassen und betrogen über seinen Arbeitstisch gebeugt. Er konnte mit einer Tat bezahlen. Eine Tat wurde von ihm gefordert, Einsatz seines Lebens zum klaren, fest umrissenen Zweck.

Aber als er im Frankfurter Bahnhof seine Tasche niedergelegt hatte und auf den freien, lebhaften Platz hinaustrat, wurde ihm bewußt, daß er auch zu dieser begrenzten Unternehmung die Wege nicht kannte. Da stand er in einer großen, ihm völlig fremden Stadt, ohne Beziehungen, ohne Mittel, mit abgestreifter Identität. Er wußte nichts als den Namen Ginnheim. Dies Ginnheim war leicht zu finden. Und dann stand er waffenlos vor dieser zehnfach verwahrten Festung des Vergessens. Den Freund da herauszuholen, das schien der Aufgabe gleich, mit den Händen einen Expreßzug aufzuhalten. Bestechung, war ihm gesagt worden, sei das einzige Mittel. Aber dazu gehörte Geld. Er besaß noch ein paar Objekte von Wert, seine Zigarettendose und eine sehr schöne Uhr. Es war unsicher, ob der Erlös genügen konnte. Vor allem aber wußte er nicht, wer zu bestechen war. Die Wärter? Ein Vorgesetzter? Der Kommandant des Lagers selbst? Wie kam man mit diesen Leuten in Berührung?

Er stand auf einer Asphaltinsel inmitten der Straßenbahnen und kreisenden Autos, hier festgehalten, weil er keinen sinnlosen Schritt weiter tun wollte, Wunschbilder hinter der Stirn, die sich erhoben, schwach aufglänzten und wieder zergingen.

In gewissen Ausnahmefällen, erinnerte er sich, war das eine oder andere Lager ausländischen Journalisten gezeigt worden, Korrespondenten solcher Zeitungen, deren Sympathie mit Hitlers Herrschaft außer Zweifel stand. Leuten, von denen gewiß war, daß sie alle Einrichtungen tadelfrei, die Behandlung der Eingeschlossenen mustergültig human, ihr Los beinahe beneidenswert finden würden. Spießgesellen mit einem Wort, dazu auserlesen, jenen »Greuelmärchen« entgegenzutreten, die im nicht narkotisierten Ausland beklagenswerter Weise immer noch umgingen. Sollte er waghalsig sich an die Frankfurter Parteileitung wenden und um solch eine Führung nachsuchen? Er kannte noch nicht einmal den Namen einer Zeitung in Lettland. Und wenn der in Erfahrung gebracht war, würde man nicht, selbstverständlich, seinen Journalistenausweis von ihm fordern? In seinem Passe stand »Kaufmann«. Gesetzt aber selbst, das fast Unmögliche gelang, so brachte ihn ein solcher offizieller Besuch schwerlich in Kontakt mit dem Personal. Mehr als eine oberflächliche Lokalkenntnis würde ihm nicht vermittelt werden, und die allein half nicht weiter. Das Wunschbild zerging.

Der Weg aber mußte gefunden werden. Es war nur noch einer, der für ihn litt. Doch das Schicksal dieses einen war um so schlimmer, um so unabsehbarer. Keiner von den adeligen Offizieren und Beamten, die durch ihre »Beziehungen« befreit worden waren, schien sich um diesen Outsider gekümmert zu haben. Wahrscheinlich war auch keinem die Möglichkeit dazu gelassen; sie alle mußten heilfroh sein, die eigene Haut zu retten. Der Vernichtungsapparat der Nazipartei hatte die sechs widerwillig aus seinen Zähnen gelassen, an dem einen Opfer, das blieb, würde man sich schadlos halten. Ein davongejagter Lehrer, halb proletarisiert – den schützte kein Bruder, der Generalleutnant war, und kein Vetter in der Großindustrie. Den würden die Eisenzähne festhalten, bis er hinlosch oder den Verstand verlor. Und es war der eine, den Ludwig liebte. Der seine Jugend bewacht hatte, seine Gedanken genährt, der innig an ihn geglaubt hatte. Ludwig stellte sich Steiger vor, wie der am Abend sich ausstreckte auf seiner Pritsche, wie er seine trostlosen Gedanken ausschickte aus seiner Verlassenheit – nach ihm, Ludwig, von dem sie ihm höhnisch gesagt haben mochten, er sei davon, sei außer Landes, habe sich feig in Sicherheit gebracht auf Kosten der andern.

Vergessen mußte sich Steiger glauben, völlig verlassen, dem langsamen Tode ausgeliefert. Das durfte nicht sein.

Ludwigs Standort war so, daß er dem Bahnhofsgebäude den Rücken zukehrte und die breite, belebte Kaiserstraße hinuntersah. Ein Doppelzug von Menschen bewegte sich herauf zum Platz und verteilte sich linkshin und rechtshin. Einzelne nur kamen mitten durch den Wagenverkehr auf ihn zu und strebten über seine Insel hinweg zur Station hinein.

Es sah ihn niemand an. Die Leute schienen es alle eilig zu haben. Es war auch weiter nichts Anziehendes mehr an Ludwig. Sein Gesicht sah müde aus, seine Kleidung war unfrisch, zerdrückt. Es gab keinen Grund, weshalb zum Beispiel Frauen hätten den Blick auf ihn heften sollen.

Eine tat es dennoch. Sie kam mit ziemlich gehetzten Schritten von der Kaiserstraße herüber, stutzte ganz auffällig, als sie zur Insel heraufkam, sah ihm aus großen Augen sonderbar starr und wild ins Gesicht, war schon vorbei und, ehe Ludwig sich umwandte, in der Bahnhofshalle verschwunden. Die Augen waren nachtdunkel gewesen, das Gesicht schmal und bräunlich, die Kleidung gering. Ein jüdisches junges Mädchen aus ärmerer Schicht.

Aber dieser nächtige und starre Blick hatte eine Erinnerung aufgerissen. Neben einem flammenlosen Kamin, auf steifem Holzstuhl, saß ein anderes jüdisches Mädchen – etwas jünger war sie damals gewesen, als diese fremde Kleine jetzt war. »Junge Leite!« Ludwig hörte die Stimme ihres Vaters – entschuldigend, weise, ironisch oder feig. Es war Frankfurter Jüdisch.

Natürlich – er wohnte hier, der alte Antiquar seines Vaters. Er wohnte nicht nur hier – er gehörte auch zu den Verfemten, den Ausgestoßenen, zu der winzigen und hilflosen Minderheit, aus deren Anprangerung, Besudelung, Beraubung, die herrschende Rotte sich ihre Effekte holte. Wetzlar konnte diese letzten Jahre nicht stillen Gemüts überdauert haben, trotz all seiner Skepsis und unterwürfigen Weisheit. Von ihm konnte Ludwig sich Rat erwarten, vielleicht Förderung. Ein Jude – er dachte nicht darüber nach, woher ihm die Gewißheit kam, aber sie war da – ein Jude würde einen Hilfsbedürftigen, der einem Hilflosen Hilfe bringen wollte, nicht ohne Beistand lassen. Es war ein Gnadengeschenk, das ihm die Vorübereilende mit ihrem Blick in die Seele geworfen hatte. Ludwig war versucht, ihr nachzugehen, sie im Bahnhofsgebäude zu suchen, ihr zu danken. Aber sie hätte ihn ja unmöglich verstehen können.

Er schlug in der nächsten Telephonzelle Wetzlars Adresse nach. Jacques Wetzlar – da stand es. Das Antiquariat am Roßmarkt war angeführt und die Privatwohnung in der Miquelallee. Anzurufen verbot sich. Es war noch zeitig genug am Tage, um das Geschäft offen zu finden.

Am Roßmarkt, einem wimmelnden Hauptplatz, fand er sogleich die Hausnummer. Mehrmals blickte er zu ihr empor, sich zu vergewissern. Kein Zweifel, hier war es. Hier mußte es gewesen sein. Denn die zwei breiten Schaufenster im Erdgeschoß waren leer. Man blickte in ein ausgeräumtes Magazin, das sich voll öden Dunkels tief ins Haus hinein erstreckte.

Es sah aus, als wäre dieser Laden nicht ganz friedlich geräumt worden. Das eine der Fenster wies ein Loch auf, von dem Sprünge strahlenförmig nach allen Seiten liefen. Hinter die zwei längsten hatte man im Winkel rohe Holzleisten genagelt. Noch ließen sich an der gläsernen Eingangstür Spuren des Namens erkennen, der da in kleinen, schwarzen, erhabenen Buchstaben zu lesen gewesen war. Man hatte ihn abgekratzt, diesen Namen, in Hast offenbar und ohne Rücksicht auf Schönheit. Das q von »Jacques« war stehen geblieben und von »Wetzlar« das W und das z. Es wirkte recht finster, unheilbedeutend.

Ludwig machte sich auf nach der Miquelallee.

Die elegante Wohnzeile war nur auf der einen Seite bebaut. Jenseits nickten aus einem langhingestreckten Park kahle Baumwipfel übers Gitter. Schöne Anwesen lagen hier, in vornehmer Stille, weit auseinander, gartenumgeben. Das Wetzlar'sche Haus präsentierte sich nobel, als ein niedriger, klassizistischer Bau mit einer kleinen Säulenvorhalle. »NS-Hago Frankfurt am Main« stand am Garteneingang zu lesen. Eine Art von geflügeltem Stock oder Pfosten trug das Schild mit dem Hakenkreuz. Hago? Es klang wie ein altnordischer Jagd- oder Schlachtruf. Gott mochte wissen, was für eine muffige Parteiorganisation sich derart maskierte. Jedenfalls war es ganz unwahrscheinlich, daß der Jude Jacques Wetzlar in einem Haus mit der Aufschrift »Hago« noch zu finden war.

Es lag kein Schnee hier in Frankfurt. Es rieselte im Dämmer. Ein laulicher Wind flötete mißmutig durch die kahlen Bäume der Allee. Ludwig stand überlegend. Sollte er eintreten und sich bei den Hagoleuten nach der Adresse des einstigen Inhabers erkundigen?

Die Straße war menschenleer. Aber fünfzig Meter entfernt hielt ein Automobil vor dem Nachbarportal. Der Chauffeur auf seinem Sitz las wartend die Zeitung.

»Sagen Sie bitte – hier nebenan hat doch immer eine Familie Wetzlar gewohnt. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie verzogen sind?«

»Kann leider nicht dienen.«

»Meinen Sie, man weiß dort im Hause Bescheid?«

»Wenig wahrscheinlich.«

»Da kann also nur das Adreßbuch helfen oder die Polizei.«

»Wird alles wenig Zweck haben, Herr«, sagte der Chauffeur und wandte mit Ostentation ein Blatt seiner Zeitung um, von der er kaum aufgeblickt hatte.

Er war ein junger, bartloser Mensch in einer dunkelgrünen Livree mit schmalen Goldlitzen. Er sah klug aus. Nun sandte er einen Seitenblick nach Ludwig aus, wie um festzustellen, ob der immer noch dastünde. Es fing stärker an zu regnen. Das schwarzlackierte Auto glänzte vor Nässe. Ludwig kam eine Erinnerung.

»Herr Wetzlar hatte einen Chauffeur in seinem Dienst, viele Jahre lang. Ist der immer noch bei ihm?«

»Martis? So, den haben Sie gekannt«, sagte der andere. Zum ersten Mal klang seine Stimme interessiert.

»Den Namen weiß ich nicht. Ein besonders groß gewachsener Mann, ein Riese geradezu. Besonders sympathisch.«

»Das glaube ich, lieber Herr, daß der sympathisch war. Ein Goldmensch. Gediegenes Gold sozusagen. Hat auch nichts zu lachen jetzt.«

»So – auch nicht? Bei Wetzlars ist er also nicht mehr in Stellung.«

»Der ist nicht in Stellung, nein. Aber sagen Sie mal, Herr, Sie erkundigen sich da ziemlich komisch!« Und er blickte Ludwig gerade und streng in die Augen.

»Mir läge sehr viel daran, Martis zu sprechen.«

»Kann alles sein. Aber jetzt möchte ich Sie bitten, von meinem Wagen wegzugehn. Ich hab's nicht gern, wenn man mich im Gespräch mit Fremden sieht.«

»Verstehe«, sagte Ludwig. »So ist das ja hierzulande.«

Diese Worte übten auf den Chauffeur eine Wirkung. Er betrachtete Ludwig aufmerksam und kniff dann leicht das linke Auge zu. Es wirkte wie ein Freimaurerzeichen. »Also, wenn Sie Martis durchaus sprechen müssen, dann nehmen Sie Linie 18 und fahren hinüber nach Sachsenhausen, Zwischenstraße 8A. Zwischenstraße. Dritter Stock hinten hinaus. An der Tür ist kein Schild. Sagen Sie mal, Herr«, unterbrach er sich, »ich mache da wohl keine Dummheit?«

»Sie machen keine Dummheit.« Ludwig vollführte eine Bewegung, um dem Mann durchs Fenster die Hand zu reichen. Dann unterließ er es. Es war besser so – hierzulande.

Die Zwischenstraße in Sachsenhausen, farblos wie ihr Name, war ein kurzer Durchgang in der Umgebung eines Bahnhofs. Als Ludwig im dritten Stockwerk an der unbezeichneten Tür läutete, rührte sich drinnen erst lange nichts. Dann meinte er Wispern zu hören. Er klopfte sacht. Spaltweit ging die Tür auf.

»Was wollen Sie?« fragte eine Frauenstimme, die jugendlich klang.

»Wohnt hier Herr Martis?«

»Er ist nicht daheim.«

»So, nicht? Das ist aber schlimm für mich.«

Der Spalt wurde weiter. Ludwig sah vor sich eine dunkelhaarige kleine Frau in blauem Schürzenkleid.

»Vielleicht sehen Sie noch einmal nach? Sie müssen sich nicht beunruhigen.«

Hinter und über der Frau faßte eine Hand nach dem Türrand. »Kommen Sie herein«, sagte der Baß eines Riesen.

Ludwig wurde in ein Gelaß geführt, das Küche und Wohnraum zugleich war. Der erste Eindruck war der einer pedantischen Ordnung. Das Zimmer sah aus wie ein Musterraum einer Ausstellung für Kleinbauten. Und da stand Martis – Martis, den er so oft im Hof des Camburger Schlosses gesehen hatte, immer hausfraulich putzend und blankreibend an Jacques Wetzlars Automobil. Ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren schob auf dem Tisch in der Mitte an einer Rechenmaschine die farbigen Holzperlen hin und her. Sie trug ein blaues Schürzenkleidchen genau nach dem Vorbild der Mutter, und war so sauber wie die Einrichtung. Sie verließ ihren Stuhl und knixte.

Die beiden Männer standen einander gegenüber. Martis überragte Ludwig um zwei Köpfe. Er sah matt und elend aus, in seinem breiten Gesicht hing das Fleisch in Säcken hernieder. Aber er war vorbildlich rasiert.

»Wir kennen uns, Herr Martis«, sagte Ludwig.

Der Arbeiter schaute ihm grübelnd ins Gesicht. »Geh mal raus, Agnes«, sagte er, »geh runter zu Frieda.« Das Kind nahm seine Rechenmaschine, knixte noch einmal und ging. »Soll ich auch meine Frau – aber sie weiß immer alles.«

Ludwig schüttelte den Kopf.

»Wir kennen uns von Camburg, vom Schloß. Sie sind oft mit Herrn Wetzlar zu uns gekommen. Ich kann seine Adresse nicht finden. Deswegen habe ich Sie aufgesucht.«

Statt aller Antwort begann das Kinn des Mannes zu zittern. Ein zuckender Kampf ging über das breite Gesicht. Seine Frau trat zu ihm und legte ihm zaghaft die Hand auf den Arm. Dann verließ sie das Zimmer.

Es dauerte eine Weile, ehe Martis anfangen konnte, zu erzählen.

9

Wetzlar lebte nicht mehr.

Seit mehr als zwei Jahren folgten einander die Gesetze, die die Ausplünderung und wirtschaftliche Vernichtung der jüdischen Bürger zum Ziel hatten. Schließlich war auch eine Verordnung herausgekommen, die jüdischen Antiquaren und Kunsthändlern die Fortführung ihrer Geschäfte verbot. Juden, hieß es da, seien von Bluts wegen unfähig, das aufgesammelte Kulturgut im Geiste des deutschen Volkes zu verwalten.

Die Altertumshändler sahen sich also in die Notwendigkeit versetzt, ihr Eigentum zu veräußern. Da auf diese Weise der Markt überschwemmt wurde, hieß das Enteignung. Deutsche Volks- und Parteigenossen standen bereit, um die freiwerdenden Schätze für ein Läppergeld zu übernehmen. Daß einer vielleicht einen Rubens nicht von einem Böcklin unterscheiden konnte und einen Boulle-Tisch nicht von einer Kredenz aus dem Jahr 1900, verschlug dabei nichts. Sie waren von Bluts wegen legitimiert und befähigt, Kulturgut zu verwalten.

Die Maßnahme, wie viele ihresgleichen, wurde lückenhaft durchgeführt. Antiquare, die schon länger die kostspielige Ehre hatten, die Paläste der Anführer zu beliefern, wurden durch Protektion ausgenommen. Bestechungsgeld, in die richtigen Hände serviert, tat ebenfalls gute Dienste. In allen größeren Städten betrieben vereinzelte jüdische Antikenhändler auch weiterhin ihr Geschäft.

Wetzlar als ein eigensinniger alter Mann verschmähte die Schleichwege. Er tat, als wisse er nichts von der neuen Verordnung, und fuhr weiter jeden Tag von der Miquelallee zum Roßmarkt. Eines Morgens fand er seinen Laden verriegelt und sein Personal ratlos auf dem Trottoir. Er suchte den Zweiten Bürgermeister von Frankfurt auf, einen gebildeten Juristen, den er seit zwanzig Jahren kannte. Der empfing den blinden Greis mit Höflichkeit und versprach, seine Sache an entscheidendem Ort zur Sprache zu bringen. Drei Wochen später erhielt Wetzlar die formelle Erlaubnis, seinen Beruf weiter auszuüben. Wer die Ausnahme verfügt hatte, wußte er nicht. Er wußte aber auch nicht, daß seinetwegen ein Kompetenzstreit ausgebrochen war, und daß es »oben« Leute gab, die ihm für die erlittene Niederlage Rache zugeschworen hatten.

Mehrere Monate lang ging alles gut. Zwar war von einem eigentlichen Geschäftsgang längst nicht mehr die Rede. Die öffentlichen Münzinstitute konnten natürlich mit einem jüdischen Händler keine Abschlüsse wagen; im privaten Publikum war, mit anderen feineren Neigungen, auch die Freude an schönen Altertümern im Versiegen; und die Verbindung mit Käufern im Ausland war durch die schikanösen und unerlernbaren Geldbestimmungen unterbrochen. Der blinde Mann konnte nicht seine Tage auf den Devisenämtern verbringen und Stunden hindurch vertrackte Formulare ausfüllen. Auch lag ihm an alldem wenig. Er war reich. Das geschäftliche Interesse hatte nie in ihm dominiert. Er war ganz zufrieden, sich weiter zwischen seinen Vitrinen zu bewegen und mit vereinzelten Kennern gelehrte numismatische Gespräche zu führen.

Um diese Zeit war seine Tochter längst ein erwachsener Mensch, ein zartes, schönes, ernsthaftes Mädchen. Ihre historischen und kulturhistorischen Studien hatte sie kurz vor der Doktorpromotion abbrechen müssen. »Sie können Ihr Studium an der hiesigen Universität nicht fortsetzen«, hatte es ohne Anrede und Formel auf dem offiziellen Wisch bündig geheißen; damit hatte es sein Bewenden gehabt.

Sie beklagte sich keineswegs. Zu lernen, meinte sie, gebe es bei den neugebackenen Professoren ohnedies nichts, die da mit dem Parteiabzeichen geschmückt die Katheder mißbrauchten. Es sei ihr nur hoch willkommen, sich mehr als bisher dem Vater widmen zu können.

An ihm hing sie leidenschaftlich. Nie riß den beiden, die Neigungen und Interessen gemeinsam hatten, der Gesprächsstoff ab. Es kam nicht vor, daß Ruth einen Abend außer Haus zubrachte.

Wo hätte sie übrigens hingehen sollen! Die jüdischen Familien pflegten kaum mehr Verkehr miteinander. Vielfach war in ihren Häusern mitten in der Nacht die Staatspolizei erschienen und hatte Gastgeber und Gäste verhaftet, unter der schreckenerregenden Anschuldigung, sie hätten »Moskau gehört«. Der Radioapparat war überhaupt nicht in Gang gesetzt worden, wenn aber, so hatte man vielleicht zur Musik aus dem Londoner Savoy ein wenig getanzt – doch wie war das zu beweisen! Ein Theater, ein Konzert zu besuchen, empfahl sich ebenfalls nicht. Anrempelungen allerdings waren seltener geworden; jedoch man saß in Atemnähe des uniformierten Gelichters. Ruths Empfindlichkeit aber war außerordentlich. Ihren Vater schützte in gewissem Maß sein Gebrechen und die freundliche Apathie des Alters. Ihr Dasein aber war ein ununterbrochener Ekel. Der Blick in eine Buchhandlung mit »nationaler« Literatur machte sie auf Tage krank. Gewöhnung stumpfte nicht ab. Sie reagierte auf die Photographie des »Führers und Reichskanzlers«, sie reagierte sogar auf das allgegenwärtige Hakenkreuz so heftig wie beim ersten Anblick. Sie brachte es nicht fertig, eine deutsche Zeitung zu lesen, und zwar war ihr das gestelzte Geschwafel der sogenannten »besseren« Blätter fast noch tiefer zuwider als die platte Ordinärheit der populären Parteipresse. Der Gedanke, fern von diesem besudelten Lande zu leben, ganz gleich wo, im tristen Frieden der französischen Provinz, in einem proletarischen Quartier in New York, war ein arkadischer Traum.

Doch eine solche Möglichkeit bestand nicht. Den Vater zu verlassen, konnte ihr nicht in den Sinn kommen. Und ebenso undenkbar schien es, den blicklosen und gebrechlichen Greis noch zu verpflanzen. Auch hätte er ja außerhalb der Reichsgrenzen keine Existenzmittel besessen. Durch seine verzweigten Verbindungen wäre es ihm gewiß möglich gewesen, zu gelegener Zeit Teile seines Vermögens ins Ausland zu schaffen. Aber bei der pedantischen Loyalität sogar gegen diesen Räuber- und Schandstaat, die sich gerade sehr viele Juden sinnwidrig zur Pflicht machten, hatte er solche Chancen immer von sich gewiesen. Jetzt war es zu spät dafür.

Er spürte, was in ihr vorging. Er wußte, daß sie litt. Er hatte oftmals versucht, sie wenigstens zu einem Erholungsaufenthalt draußen zu veranlassen. Endlich erreichte er's. Eine befreundete Genfer Familie, Eltern und zwei Töchter, forderte Ruth zu einer gemeinsamen Reise auf – nicht ohne sein Zutun. Diesmal also, nach vielem Zureden, nahm sie an. Man wollte von Triest aus die Adria hinunterfahren, ein paar Wochen auf Rhodos verbringen, Ägypten und die Heiligen Länder sehen und über Sizilien zurückkehren. Ruth war seit vierzehn Tagen unterwegs, da geschah das Unglück.

Es geschah als Folge eines neuen Gesetzes, das auf der Tagung der Hitlerpartei in Nürnberg zur Verkündigung kam. Diese Parteitage, ungeheuerlich aufgeblähte Rummelfeste zu Ehren des Volksheilands, gipfelten regelmäßig in irgendeinem politischen Blitz- und Donnereffekt. Der diesjährige Effekt bestand in der offiziellen Ausstoßung der Juden aus der Volksgemeinschaft. Die Merkmale rassischer Blutsreinheit wurden kodifiziert. In einem aberwitzigen Rechtskauderwelsch sonderte man deutsche Bürger, jüdische Mischlinge und eigentliche Juden voneinander ab. Da hieß es etwa:

»Staatsangehörige jüdische Mischlinge mit zwei volljüdischen Großeltern bedürfen zur Eheschließung mit Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes oder mit Staatsangehörigen jüdischen Mischlingen, die nur einen volljüdischen Großelternteil haben, der Genehmigung des Ministeriums.«

Es war, als ob, im Angesicht einer vor Angewidertsein schon ganz müden Welt, ein halbdressierter Gorilla die Gesetzgebertoga umnähme, um so angetan Recht und Vernunft zu verhöhnen.

Aber diese Judengesetze hatten noch einen kleinen, raffinierten Anhang. Es wurde Juden verboten, »arische Dienstmädchen« zu beschäftigen.

Es handelte sich um einen neuen niedrigen Trick, die jüdischen Männer zu infamieren. Tierisch hemmungslose Geilheit wurde ihnen zur Last gelegt: keine Kathi oder Lina vom Lande war sicher in Greifweite eines solchen orientalischen Satyrs. Nur die Kathis im kanonischen Alter durften weiter dienen.

Als die Nachricht davon in das Ausland drang, entstand Gelächter. Man hielt das Ganze für einen Witz. Es klang zu schamlos und albern. Aber es war ja die Stärke dieses einzigartigen Regimes, das Gelächter der Welt nicht zu scheuen. Eines Tages würde der Welt schon das Lachen vergehen. Dann nämlich, wenn Deutschlands militärische Rüstung vollendet war –

Im Lande selber, unter den deutschen Juden, gab es Zähneklappern. Opfer an Menschenwürde hatten viele von ihnen achselzuckend gebracht. Aber nun ging es an den Komfort ihres Alltags! Für manchen war diese Entbehrung das erste Ungemach, das er wirklich empfand. Die Dienstmädchen weinten. Stellungen bei Juden waren begehrt gewesen. Man bekam da genug zu essen und wurde angeredet wie ein Mensch. Einige erschienen bei den Behörden und frugen an, ob sie vielleicht weiterdienen dürften, wenn sie zum Judentum überträten.

Die neue Verordnung, aus ganz speziellen Gründen, wurde mit Strenge durchgeführt. Ausnahmen gab es diesmal nicht. Selbst Bestechung versagte. Die ausführenden Organe wußten, daß hier nicht zu spaßen sei. Denn dieses Dienstmädchengesetz war ein Herz- und Krongedanke des Führers.

Ruth also war auf ihrer Reise, als es erlassen wurde. Sie badete mit ihren Freunden auf Rhodos. Ohne allzuviel Sorge hatte sie den Vater zurückgelassen. Es war jemand im Hause, der ihre eigene Obhut und Pflege zu ersetzen im Stande war, ein Mädchen, das seit zehn Jahren in der Familie lebte, herzlich an Wetzlar hing, jede seiner Gewohnheiten kannte. Eine kräftige Dreißigerin, immer freundlich und guter Laune, eine angenehme Hausgefährtin. Ruth in ihrer südlichen Ferne konnte gewiß sein, daß der Vater wenigstens physisch wohl aufgehoben war.

In dem Haus an der Miquelallee war von dem neuen Gesetz niemals die Rede. Möglicherweise kannte Wetzlar es gar nicht, da er sich deutsche Zeitungen nicht vorlesen ließ und jetzt niemand da war, um ihm englische vorzulesen. Sicherlich kannte das Mädchen Hermine es nicht; sie war nicht ohne Selbstbewußtsein, lehnte den Verkehr mit anderen Dienstboten ab und ging fast nie aus. Der Chauffeur Martis, der mit Frau und Kind in drei Zimmern über der Garage lebte, hatte den giftigen Schwachsinn wohl gelesen, ihn aber sogleich wieder vergessen oder doch keine praktische Nutzanwendung daraus gezogen. Ein hilfsbedürftiger alter Herr und ein gesetztes, vernünftiges Mädchen, das halb zur Familie gehörte – den Fall konnte auch der beflissenste Nazipolizist nicht in das Gesetz einbeziehen.

Diese Überschätzung rächte sich. Martis hätte warnen müssen. Er warf es sich später aufs bitterste vor. Sein Leben lang kam er über diese verhängnisvolle Unterlassung nicht völlig hinweg.

Denn irgendein dienstwilliger oder bezahlter Schuft in der Nachbarschaft hatte die Geheime Staatspolizei auf »das Treiben im Wetzlar'schen Hause« aufmerksam gemacht, und eines Nachts um halb zwölf wurde der Antiquar aus seinem Bette heraus verhaftet. Er nahm das Begebnis erstaunlich gefaßt auf, leistete keinerlei Widerstand und folgte den Polizisten, die in Zivil erschienen waren, in das Untersuchungsgefängnis. Das ganze ging so still und ohne Aufhebens vor sich, daß Martis und seine Frau in ihrer Garagenwohnung nichts bemerkten und von dem Vorfall erst erfuhren, als alles vorüber war.

Es wurde wirklich Anklage erhoben. Der tierische Ernst, der ein Hauptmerkmal dieser Obrigkeit war, erlaubte es in der Tat, einem 68jährigen Blinden den Prozeß zu machen, weil er seine Pflegerin nach zehnjährigem Dienst weiter im Haus behalten hatte. Möglich immerhin, daß der Untersuchungsrichter sich schämte; jedenfalls erklärte er, daß bei dem hilflosen Manne keine Fluchtgefahr vorliege, und nach dreitägiger Haft wurde Jacques Wetzlar aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen. Die öffentliche Gerichtsverhandlung wurde anberaumt. Er kehrte nach Hause zurück.

Im Gefängnis war sein erster Gedanke gewesen, Ruth auf ihrer Erholungsreise die böse Nachricht zu ersparen. Er instruierte seinen Verteidiger. Sie blieb ohne Ahnung. Zwei Briefe aus Rhodos, die Wetzlar vorfand, atmeten Befreiung, Frieden, Glück.

Das Mädchen Hermine hatte natürlich das Haus verlassen müssen, sie lebte in ihrem hessischen Heimatort unter Polizeiaufsicht. So las ihm der Chauffeur Martis die Briefe vor. Plötzlich stockte er.

»Lies doch weiter, Martis«, sagte Wetzlar, »was ist denn?« Da hörte er den Mann vor ihm weinen. Er tastete nach seiner Schulter. »Sei mal vernünftig, Martis, das muß eben durchgemacht werden. Wollen froh sein, daß die Kleine nicht hier ist!«

Aber Martis war nicht mehr zu halten. »O Himmelherrgott!« brach er aus, »ich muß fluchen, verzeihen Sie, Herr Wetzlar, ich kann mir nicht helfen. Man erstickt ja dran. O diese gottverfluchte, stinkende Saubande – ist's denn die Möglichkeit, daß sich so was ein Volk gefallen läßt! Ja, was ist denn mit diesem Deutschland? Ist denn das hier ein Hyänenstall! Hier leben doch Menschen. Hier gibt's doch Männer mit Anstand und Mut. Ich war schließlich im Feld. Unsere Offiziere, das waren doch Männer. Schufte gab's auch darunter, aber die hat man gekannt und hat sie verachtet. Ich spreche ja gar nicht vom Volk, ich bin kein Kommunist. Ich spreche von den Herren! Die Herren, die stolzen Herren, die lassen sich das gefallen. Die erkennen das da als ihre Obrigkeit an. Das da! Das da! Da steht doch jedem die stinkende Lüge in der Fresse geschrieben. Von denen ist ja keiner normal. Das hat ja Jauche im Hirn. Und das macht Gesetze! Das verfolgt und bedreckt einen Mann wie Sie – einen Herrn, der nichts ist als Gutheit und Klugheit. Und das soll unsereins aushalten! Da soll unsereins nicht auf die Straße rennen und den Nächsten erschlagen, der daherkommt in seinem scheißbraunen Hemd ... Können Sie denn nicht fort, Herr Wetzlar, fort, weg, weit weg aus der Mistgrube, zu der die Deutschland gemacht haben! Unser Fräulein hält's ja auch nicht mehr aus, die weint ja vor Glück, daß sie fort ist. Ich gehe mit Ihnen, Herr Wetzlar! Wir gehen alle mit. Ich brauche kein Geld, ich kann arbeiten, ich bin geschickt. Ich lasse Sie nicht sitzen, Herr Wetzlar, ich nicht. Sie sollen es sehen. Und wenn Sie in einem Zimmer leben müssen irgendwo – es wird ein schönes Zimmer sein, Sie werden es schön haben. Sie können sich denen doch nicht hinstellen vor ihr Gericht! Das geht doch nicht an. Das darf doch nicht sein. Da kann man ja nicht mehr an Gott glauben, wenn so was passiert.«

Und dann weinte er wieder los, aber ganz hemmungslos jetzt, heulend, voller Wut und ratlosem Gram. Wetzlar reichte ihm die Hand hin und ließ ihn weinen.

»So«, sagte er schließlich, »und jetzt hol den Wagen heraus, Martis. Wir fahren zum Roßmarkt.«

Aber nun kam das Schwerste für Martis: seinem Herrn mitzuteilen, daß, während er im Gefängnis saß, der Laden am Roßmarkt geschlossen worden war und alles, was er enthielt, behördlich beschlagnahmt.

Jene Amtsstellen, die vor einigen Monaten knirschend hatten verzichten müssen, nahmen die neue, bessere Gelegenheit wahr. Zwar hatte das Antiquariat Wetzlar mit jenem »Gesetz zum Schutz des deutschen Bluts und der deutschen Ehre« nicht das allergeringste zu tun. Aber der Bemakelte war nun vogelfrei. Kein rechtskundiger Bürgermeister würde noch einmal wagen, für ihn Partei zu nehmen. Nun konnte man ihm endlich, endgültig, den Besitz und Stolz seines Lebens stehlen, konnte das kostbare Lager an die ungeduldigen germanischen Händler verschleudern, nachdem die ihrerseits ihre Schmiergelder verteilt hatten.

Unter dem neuen Schlag brach Wetzlar nieder. Diese rohe Sinnlosigkeit, dies hohnlachende nackte gemeine Unrecht war zu viel für ihn. Er schloß sich zwei Tage lang ein, nahm nichts zu sich, niemand bekam ihn zu Gesicht. Aber in der Nacht vom zweiten Tag auf den dritten weckte er den Chauffeur und fuhr durch die ausgestorbenen Straßen zum Zentrum.

Ein paar Ecken vom Roßmarkt entfernt, ließ er halten, verbot Martis kurz, ihm zu folgen, und begab sich auf einem rückwärtigen Wege, auf dem sein Fuß jede Bordschwelle kannte, zu seinem Geschäft. Er betrat den Laden durch die Hintertür. Da immer noch ein ganz schwacher Schimmer zu seinem Sehnerv drang, machte er Licht und tastete zwischen seinen Schätzen umher. Vermutlich wollte er sich überzeugen, ob noch alles vorhanden sei. Möglicherweise auch lag es in seiner Absicht, einzelne Stücke für sich zu retten, an deren Schönheit oder Seltenheit er hing: jedenfalls wurde später eine Münze, eine einzige, in seiner Rocktasche gefunden.

Jeder Zollbreit Boden hier war ihm vertraut. Trotzdem stolperte er über einen Schemel, der unordentlicher und ungewohnter Weise im Weg stand. Das ergab ein lautes Geräusch. Er lauschte lange. Nichts im Hause schien sich zu rühren. Aber eine Viertelstunde darauf war die SA zur Stelle. Zu acht drangen sie ein, herbeizitiert von irgendeinem parteifrommen Hausbewohner.

Aber diesmal ergab er sich nicht. Der sanfte alte Mann wehrte sich. Er hatte sich in eine Ecke geflüchtet und drosch ungeschickt, hilflos, mit seinen Fäusten auf die lachenden Parteisöldner ein.

»Jetzt laß es gut sein«, hörte er einen sagen, der gutmütig schien, »sonst kriegst du noch eines über dein auserwähltes Haupt, daß dir's reicht!«

»Das werden wir sehen«, schrie der Alte, »mir kommt keiner zu nahe!«

Er war verwandelt, die Wut gab ihm Kräfte, er reckte sich in die Höhe wie ein rasender Simson. Unversehens packte er mit beiden Händen einen der schweren Schaukästen, hob ihn hoch auf und ließ ihn niederkrachen auf den nächsten der Knechte.

Kein Unglück geschah. Der Münzkasten sauste dem Mann auf den Rücken, warf ihn aufs Knie, aber verletzte ihn nicht. Man vergriff sich denn auch nicht an Wetzlar. Man band ihm einfach die Hände zusammen uns schleppte ihn fort, in ein Haftlokal der SA.

Martis, den man bei seinem Wagen wartend gefunden, war schon zuvor überwältigt worden.

Als sie am Morgen kamen, um den Alten zum Verhör zu führen, fanden sie ihn tot. Der Zellenboden schwamm in Blut. Wetzlar hatte sich mit einer kleinen, scharfen Feile, die er mit anderen Instrumentchen in einem Bündel stets bei sich trug, in der antiken Art die Pulsadern geöffnet.

10

Dies waren die Vorgänge, die Ludwig im Umriß erfuhr. Martis erzählte sprunghaft und ungeschickt. Nicht überall war der Zusammenhang klar. Aber ihn herzustellen fiel Ludwig leicht.

»Und Ihnen, Herr Martis – was ist Ihnen selber geschehen?«

»Ich war acht Wochen im Lager. Mir haben sie wenig getan. Sie haben immerfort versucht, mich für ihre SS zu kriegen. Alter Wachtmeister bei den Kürassieren, 1 Meter 92 lang – das sticht den Brüdern in die Augen. Aber da können die warten. Fünf Kameraden sind mit Tod abgegangen, während ich da war! Drei davon ›Selbstmord‹. Und dabei gilt Ginnheim noch für ein gutes Lager.«

»Und was machen Sie jetzt? Arbeit zu finden ist wahrscheinlich schwer.«

»Mit dem Entlassungsschein! So was gibt's nicht. Auf die Weise machen sie einen mürbe. Bei mir ist das schwerer, ich habe gute Ersparnisse aus der Zeit beim Herrn Wetzlar. Ich brauche nur hinzugehen und erklären, daß ich zur Einsicht gekommen bin, dann stellen sie mich ein, als Chauffeur. Ihren neuesten Mercedes-Kompressor haben sie mir vorgeführt zur Verlockung. Da fährt das Oberpack drin spazieren. Aber Entschuldigung, Hoheit, ich rede da so! Deswegen sind Sie nicht hergekommen.«

»Es ist einfach eine Fügung, daß ich Sie gefunden habe. Sie waren in Ginnheim. Um Ginnheim handelt es sich für mich.«

Und er berichtete. Martis stand still wie ein Baum. Als Ludwig zu Ende war, atmete er tief und stöhnend aus. Es klang, als hätte er die ganze Zeit über den Atem angehalten.

»Nun ja. Also das Gescheiteste wird sein, Hoheit, Sie bleiben bei uns über Nacht. In ein Hotel dürfen Sie nicht. Ihren Koffer hole ich morgen früh von der Bahn. Ganz unnötig, daß der Beamte am Depot sich an Ihr Gesicht erinnert.«

»Überlegen Sie sich's! Sie kennen mich kaum, und Doktor Steiger kennen Sie gar nicht. Sie haben eine Frau und ein Kind. Vielleicht ist es richtiger –«

»Richtig ist immer nur eines, Hoheit: der Bande aus ihren dreckigen Zähnen zu reißen, was man nur kann.«

Nach einer Weile wurde das Abendbrot aufgetragen. Es war sauber gedeckt. Die dunkle Frau saß still mit bei Tisch und blickte aus blasser Miene gläubig zu ihrem Manne auf. Die artige Kleine aß mit niedergeschlagenen Augen. Als sie für einen Moment das Zimmer verließ, sagte Ludwig:

»Sie reden da sehr frei vor ihr. Haben Sie keine Sorge, daß sie in der Schule mal plaudert?«

»Die Agnes redet nicht«, sagte Frau Martis, und es war das erste Mal, daß sie selber den Mund auftat. »Ich hab's ihr eingeschärft, und sie hat es gleich verstanden. Jetzt soll sie ja in den BDM eintreten. Aber sie hat von sich aus gesagt, sie tut's nicht.«

»BDM?«

»Bund Deutscher Mädchen«, erläuterte der Chauffeur statt ihrer und lachte grimmig. »Die werden ja schon mit den Zöpfchen organisiert. Und ob die Agnes wirklich draußen bleiben kann, das weiß ich nicht. Wer da nicht mitmacht, der ist in der Schule wie aussätzig. Ein feines Land!«

Als abgedeckt war, blieben die beiden wieder allein. In einer Wohnung nebenan hatte man das Radio aufgedreht, dumpf brüllend, gehackt, schlug eine Männerstimme ins Zimmer. Es klang wie eine Ansprache vor Rekruten. Aber es war nur ein Vortrag über das Thema »Schach – ein deutsches Spiel«.

Ludwig hatte es mit Recht eine Fügung genannt, daß er den Chauffeur Martis gefunden hatte. Martis war zur Hilfe bereit. Martis kannte einen Weg, und er nannte ihn. Die Sache würde viel Geld kosten. Und Lebensgefahr, natürlich, war trotzdem dabei.

Ludwig nickte.

»Mir ist nur eines nicht klar, Herr Martis. Wenn dieser Sturmführer Linnemann einmal das Geld hat – was zwingt ihn dann noch, sein Wort zu halten? Nehmen Sie an, der Mensch stellt den Strom nicht ab, und der Stacheldraht bleibt elektrisch geladen, was dann?«

Martis lachte. »So dumm werden wir ja nicht sein, es ihm vorher zu geben.«

»Woher weiß er dann – entschuldigen Sie – daß er Ihnen trauen kann und daß er's bekommt, wenn Steiger einmal heraus ist? Wir hätten ja Gottes Recht, die Bande zu betrügen.«

»Kann man sich keineswegs leisten, und das wissen die gut. Dann dauert es keine zwei Tage, und ich bin ›umgelegt‹. Nein, das Geld ist ihm sicher.«

»Hm.«

»Wir wollen nur eines hoffen, nämlich daß Herr Steiger in Einzelhaft ist. Aus dem Schlafsaal kann er ihn nicht rauslassen.«

»Und fünfzehnhundert Mark, meinen Sie?«

»Darunter wird er's nicht machen. Der Junge hat noble Passionen. Hält zwei Weiber aus.«

Sie prüften dann zusammen die Wertgegenstände, die Ludwig besaß, seine goldene Zigarettendose und seine Uhr. »Ich habe da noch etwas«, sagte er und griff schon nach seinem Halse, um den Smaragd hervorzunehmen. Dann ließ er die Hand wieder sinken.

»Ich weiß nicht«, sagte Martis, »die silberne Uhr –«

»Das ist Platin, Herr Martis. Viel teurer als Gold.«

Der Chauffeur nahm die flache, schöngearbeitete Uhr in die Hand und wendete sie behutsam hin und her. Auf der Rückseite zeigte sie eingraviert Ludwigs Initialen und darüber den Herzogshut.

»Die werden Sie selber verkaufen müssen, Hoheit. Lieber wär mir's gewesen, es hätte Sie niemand gesehen. Aber wenn ich mit der Uhr anrücke, läßt mich der Juwelier gleich verhaften. Da muß schon ein Herr kommen.«

»Sehr herrenhaft seh ich nicht aus«, sagte Ludwig und lachte fröhlich – es klang ihm selber recht seltsam. Er warf einen Blick in den Wandspiegel im weißhölzernen Rahmen. »Mein stoppeliger Kopf –« Es war so. Rings um die Haarfläche vorn waren bereits dunkle Stoppeln nachgewachsen, was einen ziemlich abscheulichen Eindruck ergab.

»Nehmen Sie eben den Hut nicht ab, Hoheit!«

Sie lachten miteinander. Eine große, freie Dankbarkeit strömte durch Ludwigs Herz vor dem ruhigen Mannes da. So wie der gab es Hunderttausende, gab es Millionen im deutschen Volke. Die vergaß man, die wurden zugedeckt von dem schäbigen Gesindel, das brüllend den Vordergrund einnahm. Dieses Land mit allem darin, was anständig, wahrhaftig, liebenswürdig war, erschien ekel kompromittiert. War eines Tages der ganze Lügenspuk vorbei, so würde es Jahrzehnte dauern, ehe man die Deutschen wieder als Menschen ansah, wie es die anderen waren. Gründlich, auf lange Sicht, hatte der Führer und Reichskanzler die Ehre seines Volkes hergestellt.

Es wurde Ludwig in der Wohnküche ein Lager zubereitet, eine Matratze mit Kissen und Decke darauf. Als er lag,, kam Martis noch einmal zu ihm herein. Er machte kein Licht, aber durch die spaltweit offene Tür kam aus dem Schlafraum ein Schimmer.

»Sie hätten doch mein Bett nehmen sollen, Hoheit. So wird's Ihnen sicher zu hart sein.«

»Ich liege gut. Ausgezeichnet. Und nennen Sie mich bitte nicht Hoheit. Es geniert mich.«

Er blickte an dem Manne empor, der im Dreiviertelsdunkel aufragte wie eine Sagenfigur.

»Sagen Sie, Herr Martis, von ihr hat man seither überhaupt nichts gehört?«

Martis wußte sofort, von wem die Rede war. »Kein Sterbenswort. Keine Ahnung, wo und wie sie's erfahren hat. Denn in den Blättern stand nichts.«

»Vielleicht in den ausländischen.«

»Möglich. Wir haben an die Genfer Herrschaften geschrieben und ein paar Andenken hingeschickt. Aber es kam keine Antwort. Was würde es auch helfen! Vermögen ist keines mehr da. Alles beschlagnahmt, gestohlen. Weiß Gott, wo sie lebt ... So gescheit. So fein. Ein Aug, eine Stimme! Heulen könnte man. Gute Nacht, Hoheit.«

»Gute Nacht, Martis. Und danke.«

Es war seit Prag die erste Nacht, in der er nicht von Susanna träumte. Üppig, rätselhaft, aufpeitschend, nicht zu verscheuchen, hatte sie jede seiner Nächte heimgesucht. Heute kam sie nicht.

11

Das Auto, das Martis sich ausgeliehen hatte, war ein recht schäbiger Lieferwagen, dessen Führersitz überdacht war. Über den rückwärtigen Teil spannte sich eine schwarzlederne Plane, darunter lag eine Umhängetasche mit Reisebedarf bereit, und für Steiger Mantel und Mütze.

Martis nahm nicht den geraden Weg nach Ginnheim hinaus. Er verließ die Stadt im Osten und schlug einen weiten Bogen über Seckbach und Eckenheim. Es war halb eins, als sie ankamen. In der Hauptstraße des noch ganz dörflich anmutenden Ortes zeigte sich keine Seele. Beim Ortsausgang rechter Hand lag ein Friedhof. Hier bog Martis ab, fuhr fünfzig Meter den aufgeweichten Feldweg weiter und hielt dann hart an der Mauer.

»S'ist noch zu früh«, sagte er. »Eine gute Nacht.«

Die gute Nacht war absolut finster, und es goß in Strömen. Als der Motor abgestellt war, rauschte es betäubend um sie.

Bisher hatte sich das Unternehmen nach Wunsch entwickelt. Den portugiesischen Smaragd zu veräußern, hatte Ludwig nicht nötig gehabt – dies Geschenk seiner Mutter, das zudem ohne große Gefahr sich nicht anbieten ließ. Uhr und Golddose hatten genügt; sogar ein Überschuß blieb.

Martis hatte seinen Mann in dem kleinen Café im nahen Bockenheim aufgesucht, wo in ihren Freistunden die Wachmannschaften des Lagers verkehrten. Zweimal war sein Gang vergeblich gewesen. Er mußte schon fürchten, sich verdächtig zu machen. Aber beim dritten Mal hatte er Glück. Hinten im Hof auf der primitiven Toilette war mit zehn Sätzen alles abgemacht worden. Genau um Viertel nach eins würde der Sturmführer Linnemann den Schutzhäftling Steiger von seiner Pritsche holen. Genau fünf Minuten lang würde der doppelt geführte Stacheldraht ohne Strom sein. Dann mußte Ludwig bereitstehen.

»Ich werd's Ihnen noch einmal deutlich erklären«, sagte Martis. Sein Baß war so ruhig, als gehörte diese Expedition zu seinen Gewohnheiten. »Ich kenne das Gelände. Ich hab hier gekarrt. Also, Sie gehen hier um den Kirchhof herum, Hoheit. Bei der zweiten Mauerecke gehen zwei Wege ab. Der links führt übers Feld bis zur Landstraße. Den nehmen Sie. An der Landstraße stehen Häuser, fünf oder sechs. Da ist's aber nicht. Sie gehen am Straßenrand weiter. Dann kommen noch mal zwei Häuser. Da ist's. Da warten Sie. Gerade gegenüber ist das Lager – höher als die Straße gelegen. Dort kommt Ihr Herr Lehrer herunter. Dann kommt alles darauf an, wo Sie stehen.«

»Lassen Sie mich das wiederholen, Herr Martis.« Er sagte seine Lektion auf.

»Stimmt«, sagte Martis. »Haben Sie sich auch gut überlegt, daß Lebensgefahr dabei ist? Der Linnemann funktioniert. Aber wenn Alarm geschlagen wird, schießen die.«

»Ja, natürlich.«

»Ist es der Mann auch wert? Da irrt man sich manchmal, entschuldigen Sie.«

»Haben Sie es sich überlegt?«

Hierauf gab der Chauffeur keine Antwort. »Ja«, sagte er, »dann wird's langsam Zeit. Viel Glück!«

Ludwig ging erst die Schmalseite des Friedhofs entlang, dann die hintere Längsmauer. Nach den ersten Schritten war er gänzlich durchnäßt. Im aufgeweichten Lehm blieb er beinahe stecken. Zur Linken in der Ferne blinkten ein paar öde Lichter. Auf die ging er zu. Das Herz schlug ihm hämmernd, aus Freudigkeit. Dies war die herrlichste Stunde, seit unendlicher Zeit! Das Glück, wenn der Freund nun wirklich vor ihm stände, ließ sich nicht ausdenken. Er stürzte dem Augenblick der Tat und Erfüllung entgegen wie trunken. Das Leben war wieder gut – auch wenn es jetzt endete. Denn lebendig würde er sich nicht überliefern. Er umfaßte den rauhen, gerippten Schaft des Revolvers in seiner Hosentasche.

Früher, als er erwartet, waren die Häuser da. Mietshäuser, schmal, hoch, armselig, Gerümpel lag hinter ihnen herum, die Zäune waren verfallen. Ludwig stapfte weiter am Feldrand, ein wenig tiefer als die offene Straße. Jenseits stieg die Böschung steil an. Er war darauf gefaßt, auf Posten zu stoßen. Aber nichts rührte sich in der unwirtlichen Nacht. Auf einmal kläffte dicht vor ihm innerhalb einer Umzäunung ein Hund. Dies war das erste der beiden alleinstehenden Häuser. Und nun unterschied er auch jenseits der Straße, erhöht, die Barackenanhäufung des Konzentrationslagers.

Er faßte Posto, eng an die Mauer gedrückt. So wartete er. Plötzlich erschien ihm alles ganz sinnlos und aussichtslos. Es konnte einfach nicht sein, daß über den Fahrdamm jetzt sogleich Steiger käme, her zu ihm, in die Freiheit. Das gab es ja nicht. Der Sturmführer hatte Angst bekommen – der Sturmführer war abgelöst worden, versetzt – der Sturmführer ging mit dem Schalthebel nicht richtig um, Steiger blieb hängen im geladenen Draht – oder Steiger kam durch, lief aber verkehrt, eine Schildwache schoß auf ihn, und er, Ludwig, hörte im Regenrauschen nicht einmal den Schuß. Es war schon geschehen! Wie lange stand er denn schon! Es konnte nicht gut gehen. Es war bereits schlecht gegangen. Steiger war tot. Und er selber hatte ihn umgebracht –

Ihm war ganz unerträglich heiß. Das Blut schwoll ihm im Hals, zum Ersticken. Er riß Kragen und Binde ab, stopfte beides in seine Tasche. Dabei hatte er das Kettchen berührt, daran sein Smaragd hing. Die Gedanken irrten ihm ab. Mit Steiger saß er in seinem Camburger Zimmer, am Tag da man seine Mutter bestattete. Es ist kein Zufall, hörte er Steiger sagen, daß dieser Sarg nun neben dem Sarg des Kaisers steht ... Er lachte. Es klang irrsinnig, so daß er erschrak. Da stand der Camburger Kaiser und wartete auf seinen Paladin, ein durchnäßter Strolch. Das war durchdringend komisch, wenn man's bedachte, zum Schreien komisch, war das. Das mußte er erzählen – wem denn? Er hatte niemand.

Jenseits der Straße kam die Böschung herunter ein Mensch. Er lief nicht, er ging ganz langsam. Nun hatte er die Straße erreicht, stand still inmitten des Fahrwegs, drehte sich um und blickte zum Lager hinauf. Er benahm sich so sinnwidrig, daß Ludwig überzeugt war, es könne unmöglich der Flüchtende sein. Er strengte die Augen an in seinem Hauswinkel und erkannte, daß der linke Ärmel des Mannes schlaff herunterhing. »Steiger!« rief er, heiser und durchdringend flüsternd.

Der andere hörte vielleicht, aber verfehlte die Richtung. Ludwig trat ein wenig hervor. Steiger kam, starrte ihm ins Gesicht durch das fallende Wasser, er hob seinen Arm, sein Mund öffnete sich, und dann stürzte er Ludwig ohnmächtig an die Brust, die Beine einknickend. Ludwig umfaßte ihn und zog ihn gegen das Haus zurück.

Er lehnte den Bewußtlosen gegen die Mauer, rief seinen Namen, rieb ihm die Schläfen. Aus einem Roman fiel ihm ein, daß man Ohnmächtigen in die flache Hand schlagen müsse. Von Bourget war der Roman ... Steiger regte sich nicht. Jetzt wurde jenseits, oben im Lager, Geräusch laut, verworren kamen Menschenrufe durch den rauschenden Regen, die anschwollen. Ein breiter Lichtbesen fegte über die Straße der Scheinwerfer! Ludwig stand mit dem leblosen Manne im Arm. Es war ein Knochenbündel, das er da hielt. Zu tragen wagte er's nicht, um kein breites Blickziel zu bilden. So zog und schleifte er das Bündel um die Hausecke. Hier war man geborgen vorm Licht. »Steiger!« schrie er ihm wieder ins Ohr. Der hörte nicht. Er nahm Steigers Hand, führte sie zum Mund und biß hinein. Er spürte Blutstropfen. Der Körper spannte sich, reckte sich auf. »Los!« schrie er heiser, »komm weg hier, Steiger, fort!«

Über das Feld hin fegte das Scheinwerferlicht. War der Häuserschatten verlassen, so boten sie jeder Kugel ein Ziel. Das Geschrei war noch hörbar, doch gedämpft jetzt, es kam nicht heran. Ein Schuppen stand knapp am zerfallenen Zaun, Kleintierstall oder Werkzeughütte. Die Tür stand halb offen.

Ein Maschinengewehr begann zu tacken. Ludwigs Hirn arbeitete ganz exakt. Er sah eine Chance. Die Chance war eins gegen hundert.

Ein zweiter Scheinwerferstrahl kreuzte den ersten, er kam von der Seite her, von höherem Standort.

»Da hinein! Wenn es dunkel wird und ich bin nicht zurück, so lauf übers Feld, rechts hinüber, zum Friedhof. Dort steht ein Auto. Los!«

Steiger klammerte sich an, protestierte verworren, Ludwig stieß ihn heftig zurück, warf seinen eignen Mantel und Hut hinter ihm her, schlug die Brettertür zu. Und dann wagte er es.

Er rannte aufs freie Feld hinaus, ausglitschend, stolpernd. Das Doppellicht wischte über ihn weg. Knattern ohn Unterlaß, Knattern verstärkt. Jetzt war er gesichtet! Er tat einen Sprung, warf einen Arm in die Höhe – nur einen – und ließ sich niederstürzen nach vorn, aufs Gesicht.

Das Licht ging, kam wieder, schien zu verweilen, kam wieder und noch einmal. Sie sahen ihn daliegen. Schossen sie denn nicht nach, um sicher zu gehen? Er wartete. Den Mund im lehmigen Boden lag er da, seines Todes gewärtig. Das Licht kam und ging. Das Maschinengewehr schwieg schon längst. Es regnete schwächer. Tiefste Stille – und Dunkel. Niedergeduckt, halb kriechend, schlich er zurück.

»Da bin ich, Steiger«, sagte er, als er die Tür öffnete. Im Finstern tappte der andere auf ihn zu. Werkzeug fiel um, es schallte ihnen wie Donner. Dann hatte ihn Steiger ertastet. Er umschlang Ludwig mit seinem Arm, er suchte mit dem Mund seine Brust und küßte ihn auf das Herz, wieder und noch einmal, inbrünstig »Du wirst dich schmutzig machen, du Lieber«, sagte Ludwig.

War es angezeigt, noch zu warten? Schwere Entscheidung. Wenn sie vom Lager herunterkamen, um den Toten zu holen! Wenn sie nochmals das Feld ableuchteten und der Tote verschwunden war ...

Sie verließen den Unterschlupf. Sie tappten über das dunkle Feld. Eine Furcht fiel Ludwig an, Martis könne beim Maschinengewehrfeuer sie beide erledigt geglaubt und sich selber in Sicherheit gebracht haben.

Da sah er an jener Mauer als einen schwarzen Klumpen das wartende Automobil.

Der Führersitz bot Platz für drei. Sie wollten aufsteigen. »Der Herr Doktor muß unter die Plane«, sagte Martis. Steiger kroch unter die Lederbespannung.

Der Chauffeur schnürte sie fest. Dann fuhr er an. Aber die Räder waren im Lehm tief eingesunken. Martis legte seinen Mantel unter, stieg wieder auf, schaltete den Rücklauf ein und gab Vollgas. So kamen sie zur Landstraße zurück.

Sie durchfuhren das Dorf Ginnheim und bogen nach Westen. Ratternd schwankte der Karren um die Kurven. Sie donnerten über den Rhein bei Mainz, im ersten Tagesschein durchjagten sie Kreuznach, vor Trier schwenkten sie rechtshin ab – einen Waldweg.

Martis hielt. Zum ersten Mal sah er Ludwig ins Gesicht. Er lachte. »Sie sehen aber aus, Hoheit«, sagte er »ganz voller Lehm! Und das hier ist Luxemburg.«

Sie schnürten die Plane auf. Steiger lag schlafend. Das höllische Stoßen und Rattern hatte ihn nicht gestört. Sein armes Gesicht lächelte im Schlaf.

Ludwig dachte daran, daß noch kein Monat vergangen war, seit ihn, auf der anderen Seite des Reichs, der Polizeirat Donner an die tschechische Grenze geliefert hatte.


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