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Carmer ging seinen täglichen Weg. Er hatte ihn nicht einmal versäumt in den nahezu drei Wochen, die er nun hier verweilte.
Er ging die Gasse hinunter, über den Platz, vorbei an der uralten Erztür der Kathedrale, er durchquerte den Ort und stieg jenseits hinan, um zur Villa Cembrone zu gelangen. Seltsamer Weg, erregend immer von Neuem! Dies Ravello war ein Ruinengrab, über dem dürftiges Leben sich rührte. Was heute nicht mehr war als ein Dörfchen, nach Menschenzahl und Bedeutung, das war einst eine mächtige Stadt gewesen, beherrschend rundum gelagert auf der Bergkuppe, Residenz eines Bischofs und großer üppiger Herren. Volksmäßige maurische Rauten waren geblieben, aus schwarzem Tuffstein alles, schwach besiedelt, verwahrlost, verfallen; von den 26 Wundersitzen aber jener Afflitti, Castaldi, Ruffoli, mit ihrer alhambrischen Pracht, ihren sarazenischen Saalfluchten, ihren Lusthöfen, Fontänen und Marmorbassins nichts Andres mehr übrig als die Gärten voll tobender Blütenfülle, eine stehengebliebene Marmorwand einmal mit zierlich enggeordneten Säulchen, ein Bogen, als Hufeisen köstlich geschwungen, gefüllt mit Myrthe und Lorbeer, das abgesprengte Stück von einem Brunnenrand.
Dies alles war schön und war seltsam; es war nicht das, was er liebte. An jedem Morgen stieg er zu jener Höhe hinauf.
Eine Art Treppenweg führte hin, schmutzig, schlechtgehalten auch er. Vor den Häusern aus Tuff spielten Kinder, halbnackt, im sonderbarsten Typengemisch, so daß man zurücksank durch die Jahrhunderte und es einem taumelig, traumhaft zu Mut werden konnte. Knaben waren da, die aussahen wie Beduinen Nordafrikas, ein schlankes Dirnchen zeigte Stirn und Haaransatz der hergeruderten Hellenin, wieder eins trug einen Helm aus goldenem Haar, vom 27 normannischen Urahn leuchtend überkommen. Und in manchem Gesichtchen stieß das alles zusammen: die ganze wirre Geschichte dieses fruchtprangenden Küstenstrichs mochte man aus ihm ablesen, dem die Völker Europas und Afrikas nacheinander, miteinander, verlangend ihre Schiffsschnäbel zugekehrt hatten. Sie waren fröhlich und freundlich, die vorzeitlich Gemischten. Sie kannten den Fremden, der allmorgendlich ihre Gassenstufen erstieg, viele grüßten. Bald war er außerhalb.
Die Sonne wütete schon, als er zur Villa Cembrone gelangte. Das Haus blieb zur Linken, und langsam, in wieder neuer Vorfreude, durchschritt er den langen Rebengang, der quer durch den Garten läuft. Zu Seiten war alles voll von aufbrechenden Rosen und Hortensien. Er atmete ihren Duft, aber er sah sie nicht, er blickte geradeaus, dorthin, wo die Pergola abbrach und dem Auge sich nichts weiter mehr bot als ein Abgrund von Bläue. Ihm schlug das Herz. Er zögerte noch. Er trat hinaus.
Das Belvedere Cembrone ist eine breite und 28 lange Terrasse, am Rand des Berges, ungeheuer hoch überm Meer. Zwei Marmorbänke stehen da.
Carmer trat vor an die Balustrade. Nie war dies auszuschöpfen. Schöneres gab es nicht auf dieser Erde – nicht für ihn. Oh, daß er wußte um diesen Ort! In frühen Jahren einmal war er hier gewesen, und der Jüngling hatte es köstlich gefunden. Nicht so unvergleichbar aber, wie es sich mit werdender Reife seiner Seele darstellte. Er war gereist, wie heute alle reisen. Aber mit jedem Jahre hatte er deutlicher gewußt, daß dies hier, dieser Ort, genau dies, dieser Marmorbalkon von fünf Metern Breite und zwanzig in die Länge, die wahre Heimat seines Herzens sei. Nun kam er her, Tag um Tag. Nur für diesen Fleck Boden war er so weit gereist. In den Nächten wachte er auf, unruhig vom Glück einer bevorstehenden neuen Heimkunft am Morgen.
Großer, gewaltiger, herzläuternder Ausblick von dieser Terrasse. Tiefer Absturz, schwindelnd tief, über Hänge voll Wein, Maulbeer 29 und Feigen, gleiche Hänge nahehin zur Rechten, zur Linken, bronzebraunes Gebirg sodann, vortretend, umfangend, umschließend, wieder sich weitend, und zwischen ihm, licht und leicht ins Grenzenlose sich öffnend, die Bucht. Eine Meerbucht, sonnenleuchtend, sonnensatt, von einer Bläue, die hier zum Purpur sich aufhebt und dort zu violetten Tiefen sich sänftigt, satt, satt, nicht trunken machend, nicht sehnsuchterweckend, sondern Friede atmend, Gewißheit und Dauer. Nirgends am lichtschimmernden Himmel eine einzige Wolke, kein halber Ton, nichts Zweifelhaftes, eindeutig jede Linie, jede Färbung, alles ganz Klarheit, ganz Leben, ganz Diesseitigkeit.
Oh, hier stehen und den ruhigen Blick aussenden nach rechtshin, ihn folgen lassen dem reinen Umriß des Festlands, langsam, langsam zum Cap Licosa, bis er einbiegt zum Golf von Policastro und so dem Auge entschwindet. Halt machen aber inmitten des Wegs, wo deutlich herscheinend im hellen Tage in Paestum der Griechentempel steht, 30 Poseidons Wohnhaus am Meer, dessen Stufen er triefend emporsteigt. Den Horizontbogen umreisen sodann mit dem Aug und Capri erreichen zur Rechten, das felsig sich aufhebt, Inselsitz der Sirenen, sich am festländischen Cap gegenüber den Zauberstuhl der Circe. Denn ringsum hier war fabelhaftes homerisches Land, aus dieser Bläue waren die ewigen Schiffermärchen aufgestiegen, früheste Vollendung abendländischer Poesie. Auch über ihnen kein Wolkenschatten der Ungewißheit, alles klar an ihnen und rein, fester großer Begriff, alles Figur, umrissen und gültig. Mittelländisches Meer, leuchtende Wiege alles Rechten und Schönen, das uns noch tröstet, von Wein und Feigen umfangen!
Wein und Feigen. Er mußte lächeln. Ihm fiel ein, was er vor Zeiten einmal gelesen hatte: daß jetzt noch in einigen Sprachen des Nordens aus normannischer Südzeit ein Wort fortbestehe, das vom Verlangen nach Feigen sprach: figiakasta, daß aber die Isländer, die es im Munde führen, seinen frühen Sinn nicht mehr kennen und jede Art von Sehnsucht 31 damit meinen. Ja, hier war alle Sehnsucht gestillt. Hier war man am Ziel. Hier gesundete das Herz von aller Wirrnis, von aller Dumpfheit, die über dem gequälten Erdteil lag, von aller unsaubern, stickigen Schwärmerei, von allen Pulverdünsten und Kirchendünsten, die in der Heimat unter dem bleiernen Himmel das Atmen erschwerten. Nichts davon reichte an diesen Ort, kaum mochte man hier sich erinnern, daß weit im Norden ein geplagtes, dunstiges Reich lag, in Krämpfen sich wehrend gegen Asien, das herandrang mit schneidender Heilslehre, und gegen das friedenlos Kolossale von jenseits des Ozeans. Hierher drang kein Erlösungsschrei vom tausendjährigen Reich und hierher nicht der leere Lärm einer eisendröhnenden Neuen Welt. Schauen und atmen und da sein, mit Würde und Heiterkeit seinen Lebenstag durchschreiten, einfach sein einfaches Werk tun, Mensch sein, sonst nichts, kein Schwärmer, kein Träumer, kein Tier, das seines Leibes sich schämt, kein Adept des Abgrunds und nach dem Riesigen ohne Gier, kein Brünstiger, der 32 nicht die Gegenwart kennt, kein Knecht der Idee, kein Hassender – oh stillende Frucht und kräftiger Wein und heilende Südluft! 33