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Man hatte Vieles voraussehen können: die Hilflosigkeit der schweren Galeeren, die Gefahr einer fehlenden Basis in Holland, die Schwierigkeit des Zusammenschlusses mit dem flandrischen Landheer. Furchtbare Stürme fielen Philipps schwimmende Festungen an. Aber die letzte Entscheidung kam von den englischen Seeleuten. Des Kampfes um die bürgerliche und religiöse Freiheit klar bewußt, unter geschickten und verwegenen Kapitänen, schlugen sie die plumpe Streitmacht des alten Glaubens in Trümmer.
Als unfähig hatte Admiral Medina-Sidonia sich selber bekannt. Doch er erwies sich zudem als feige. Als noch Vieles zu retten war, ergriff ihn die Todesfurcht, und er floh sinnlos nach Norden. Um seine Flotte kümmerte er sich nicht ferner. Halbzerstört, leck, ohne Lotsen, trieb der Rest der spanischen Kolosse hilflos an Schottlands, Irlands, Norwegens Küsten entlang.
König Philipp hob kaum den Kopf von seinen Papieren, als er im Escorial die zerschmetternde Nachricht empfing. Seine Beherrschung blieb sich auch in der Folge gleich. Er trug die Schuld. Er wälzte sie nicht auf Andere. Gnädig empfing er den heimkehrenden Admiral. Und er ließ Gott in den Kirchen danken, ganz als wäre ein Sieg erfochten. »Es macht nicht viel aus,« war seine gelassene Äußerung, »daß sie uns die Zweige abgehauen haben, so lange der Baum bleibt, aus dem wieder neue hervorgehen.«
Aber es war nicht an dem. Der Stamm war 327 getroffen. Für immer war es aus mit der spanischen Seemacht, mit katholischem Weltregiment.
König Philipp hatte sein Alles auf die eine unfehlbare Karte gesetzt. Die militärischen und die materiellen Kräfte seiner Völker waren geopfert.
Zwanzigtausend der besten alten Soldaten lagen auf dem Grund des Kanals. Dort lagen die adeligen Herren, die sich die Zeit vor der Ausfahrt so prahlerisch und standeswürdig vertrieben hatten. Dort lagen übrigens auch die Scharen von spanischen Ammen, die auf der Kampfflotte mitgenommen worden waren, damit die englischen Säuglinge keine Ketzermilch mehr, sondern gleich Papistenmilch zu trinken bekämen.
Zwanzig Millionen Dukaten waren vertan. Es war kein Real in den Kassen. Philipp wandte sich an seinen Vizekönig in Peru um rasche Entsendung von Hilfsgeldern. Aber dort beherrschten Piraten das Meer, Räuber die Landstraßen. Es war nichts zu bekommen. Neue Anleihen also bei den europäischen Bankiers, ganz gleich zu welcher Bedingung! Allein der Großkönig der katholischen Welt hat keinen Kredit mehr. So hält er sich an das eigene, schon weißgeblutete Volk.
Alle Steuern, direkte und indirekte, werden erhöht, die Ämter beauftragt, mit verdoppelter Schärfe vorzugehen.
Wie ein Verdammter zieht Miguel Cervantes seines unseligen Wegs. Ihm ist, als wäre er ihn immer gezogen. Zwischen Malaga und Jaen, zwischen Granada und Jerez gibt es keinen 328 steinigen Pfad, den die Hufe seines Maultiers nicht kennen. Immer wieder kommt er die selben Straßen, er scheint sich selber entgegenzureiten wie ein Gespenst.
Er kassiert seine Gelder ein, requiriert Naturalien, kämpft mit den Ortsbehörden, wird handgemein mit den Bauern, gibt plötzlich nach, von Erbarmen, Müdigkeit, Düsternis überwältigt. Er läßt selber das Korn mahlen, steht an der Waage, versteckt bares Geld, das er eingenommen hat, schläft nicht, weil er für seine Vorräte fürchtet. Auf kurze Tage kehrt er immer nur ein in Sevilla, betrübt sieht Gutierrez, wie von seiner frohen Laune das Letzte verschwindet, er lebt in einem Wust von Rechnungen, Quittungen, Auszügen, Listen, Verzeichnissen, Referaten, Bittschriften, Denunziationen und Protokollen. An seinen Vorgesetzten findet er nie eine Stütze. Ewig ist er in Konflikt mit der Bureaukratie von Sevilla. Der vornehme Guevara vollends in der Residenz ist der Feind seiner ausführenden Organe. Ängstlich und eng will er nur Eines: um des Himmels willen kein Aufsehen! Wie er stirbt, ist sein Nachfolger Isunza nicht besser. Seine privaten Geschäfte sind undurchsichtig, stets weiß er den Verdacht so zu lenken, daß er auf seine Einnehmer fällt. Wenn die Bevölkerung gegen sie losbricht, läßt er sie freudig im Stich. An einem Septembertag in Castro del Rio – einem zwanzigsten – wird Miguel Cervantes in den Schuldturm gesteckt, auf Weisung irgend einer Instanz. Kein Mensch weiß genau, warum. Nach wenigen Tagen schon wird er 329 entlassen, wieder weiß niemand, warum. Auf den habgierigen Isunza folgt Herr de Oviedo, ein unerträglicher Pedant. Wegen eines Läpperbetrags gehen Aktenstöße zwischen Madrid und Sevilla hin und her. Ein geübter Rechner selbst kennte sich in diesen verwickelten Zahlenkolonnen nicht aus. Und Cervantes hat keinen Sinn für Zahlen. So schließt er die Augen. Ein Fehlbetrag von 70 Talern wird angemahnt. Er schickt seine Quittungen. Auf einmal sind aus den 70 Talern 450 geworden, niemand erklärt ihm, wodurch. Er antwortet gar nicht, pilgert weiter seines höllischen Weges. Er hört auch nichts mehr. Die Sache schläft ein. Er weiß selbst nicht mehr, ob seine Rechnung in Ordnung war oder nicht.
Wie soll er es wissen! Sein Gehalt wird nicht pünktlich bezahlt, Monate lang bleibt es aus. Und es ist ihm nicht erlaubt, Gehalt und Reisediäten von den Steuergeldern in Abzug zu bringen. Er tut es dennoch. Alle machen es so. Wovon hätte man existieren sollen! Aber nun ist er völlig im Netze gefangen. Unmöglich, das verfluchte Amt jetzt noch hinzuwerfen, er wäre sofort der Unterschlagung verdächtigt. So wird er denn ewig weiterziehen, bis ihn einmal sein Ende in irgend einem Dorfwirtshause ereilt.
Immerhin, es gab doch noch Leute, die groß von seiner Staatsstellung dachten. Einen zum mindesten gab es. Auf Umwegen erreichte ihn ein Brief seines Bruders Rodrigo, der noch immer in Flandern diente, im Regiment Villar. Er war immer noch Fähnrich, ein bald fünfzigjähriger 330 Fähnrich. Und vom Einfluß des angebeteten Bruders fest wie je überzeugt. Schüchtern, schamhaft fragte er an, ob denn Miguel nicht irgend etwas zu seiner Beförderung tun wolle. Es werde ihm doch ein Leichtes sein. »Du, mein Miguel, als Generalintendant...«
Einmal, ein einziges Mal, versuchte der Geplagte dennoch, der Tretmühle zu entkommen.
Die Mitglieder des »Rates für Indien« waren vermutlich erstaunt oder fanden es komisch, als sie in ihrem Einlauf das Gesuch eines gewissen Cervantes fanden, der seine unbekannte Person für wichtige Kolonialämter vorschlug.
Was für Mühe hatte es ihn gekostet, die vier erledigten Posten in Erfahrung zu bringen, die in dieser Eingabe figurierten! Es waren sehr verschiedene Ämter: Gouverneur der Provinz Soconusco in Guatemala. Zahlmeister für die Flotte in Neu-Cartagena. Richter der Stadt La Paz. Finanzminister für das Königreich Neu-Granada. Wie gestochen war das Gesuch ins Reine geschrieben, sauber gefalzt, spatiiert, adressiert an den Ratspräsidenten.
Er machte sich auf monatelanges Warten gefaßt. Der Geschäftsgang der Kammern war schleppend. Wenn nur inzwischen die vier Posten nicht alle besetzt wurden! Er träumte von einer neuen, reineren Welt, einer erneuerten Jugend.
Aber schon nach wenigen Tagen war der Bescheid da. Er war kurz und war schnöde.
»Soll sich hierzulande was Anderes suchen. Dr. Nunez Morquecho, Referent,« stand am rechten, untern Rande der Bittschrift.
331 Etwas Anderes? Es gab unter den siebzigtausend Ämtern, die König Philipp zu vergeben hatte, für Miguel Cervantes kein andres als das ihm verhaßte. Und auch in diesem hing er von kleinlicher Willkür ab. Denn als er von seinem nächsten Einnehmerritt in die »Griechische Witwe« heimkehrte, fand er die Mitteilung vor, sein Gehalt sei von zwölf Realen am Tag auf zehn herabgesetzt worden. Beliebter Einsparung halber.
In diesen Tagen starb seine Mutter. Sie starb nicht in Alcala. Sie starb in Madrid bei Fremden, in der Wohnung eines Gerbers und Lumpenhändlers.
Es war nicht logisch, daß Miguel diesen Tod mit seinem verringerten Beamtengehalt in Zusammenhang brachte. Es war sogar unsinnig. Aber er wurde den Gedanken nicht los. War es nicht, als wollte die Mutter ihrem gehetzten Sohn nun nicht länger zur Last fallen? Genau die sechzig Realen, um die man ihn monatlich verkürzte, waren ihre regelmäßige Rente gewesen.
Seltsame Vorstellungen und Verknüpfungen, Schrullen beinahe, traten jetzt häufiger bei ihm auf. Gutierrez beobachtete den Freund mit Sorge, mit Kopfschütteln.
Der Vertrag zum Beispiel, den er mit dem Theaterdirektor Osorio abschloß, konnte kaum als das Werk eines verständig-praktischen Mannes gelten.
Es war derselbe Osorio, der die schöne Elena Velazquez geheiratet hatte, Lope de Vegas Geliebte. Er besaß einen Namen in der Theaterwelt, 332 das Gastspiel, das er augenblicklich hier in Sevilla veranstaltete, war Tag für Tag ausverkauft. Er hatte für diese Zeit Quartier in der »Griechischen Witwe« genommen, in Begleitung von Elena, die, sehr in die Breite gegangen, gleißend und schweigsam neben ihm zu sitzen pflegte, die schönen Augen leer träumend in eine Ferne gerichtet.
Mit ihm also schloß der Steuerbeamte Miguel Cervantes seinen Kontrakt. Es muß gesagt werden, daß die Paragraphen zu Stande kamen, als viel getrunken worden war. Mit mißtrauischen Augen beobachtete der servierende Gutierrez das Paar in der Ecke.
Cervantes, so wurde bestimmt, soll sechs Komödien für Herrn Osorio schreiben. Herr Osorio verpflichtet sich, alle sechs aufzuführen, stets binnen zwanzig Tagen nach Ablieferung des Manuskripts. Honorar je 50 Dukaten. Aber nur dann soll dieses Honorar zu entrichten sein, wenn sich bei der Aufführung eines Stückes herausstellt, »daß es eines der besten ist, die man jemals in Spanien gespielt hat.«
Dies zeigte Cervantes voller Stolz Gutierrez. Der blickte bald in sein Gesicht, bald auf diesen Vertrag, an dem Illusion und Trotz so seltsam gleichmäßigen Anteil hatten.
»Mein armer Miguel,« sagte er nur. Glaubte der Freund denn wirklich, hier etwas in Händen zu halten? »Eines der besten« – das hieß doch garnichts. Wer entschied denn über den Wert? Das Publikum? Oder Osorio selbst? Dort hinten in seiner Ecke saß er beim Wein, die schöne, fette 333 Frau stumm neben sich. Lachte er nicht? Gewiß er lachte. Er lachte den armen Miguel aus.
Nie wurde eines von den sechs Stücken geschrieben.
So hatte er denn aller Dichtung völlig den Rücken gewendet? Das nicht. Da gab es zum Beispiel in Saragossa ein Poetenturnier zu Ehren des heiligen Hyazinth: er schickte Verse hin und gewann drei silberne Löffel. Er schrieb auch noch Anderes. Für den Doctor Diaz etwa ein Einleitungsgedicht zu seinem Buch über Nierenkrankheiten. Für Schwachbegabte Liebhaber Kanzonen fürs nächtliche Ständchen, zu zwei Realen die Strophe. Er schrieb auch, um Gotteslohn, Romanzen für Straßenbettler.
Einmal, ein einziges Mal, erhob der Geschlagene zu anderem Ton seine Stimme.
Vor Cadix überfiel eine englisch-holländische Flotte spanische Schiffe, vernichtete sie und drang in den Hafen ein. Klägliche Gegenwehr! Die Kanonen brachen zusammen vor Altersschwäche wie einst in Oran, keine Kugel paßte zum Kaliber der Rohre, unverteidigt überließ man die reiche Stadt dem plündernden Feind. Aber als alles zu Ende war, Cadix geräumt, die Engländer fort, da zog wie ein Triumphator, unter Vorantritt von Bannerträgern und geputzten Toreros, der ein, der sie hätte beschützen sollen: der »Generalkapitän des Ozeans und der andalusischen Küsten«, Herzog Medina-Sidonia, vom König noch immer geehrt und befördert.
Das Sonett, das diesen Vorgang glossierte, 334 formvoll, von einer leise sausenden Ironie, wurde nicht sogleich gedruckt. Aufgeschriebenen Handzetteln ging es in Cadix und Sevilla von Kneipe zu Kneipe. Es stand kein Name darunter, doch Manche wußten, daß es einen gewissen Cervantes zum Verfasser haben sollte, der angeblich sogar Beamter war.
Beliebter hatte er sich schwerlich gemacht. Die großen Herren hingen zusammen, waren versippt und befreundet, Jagd- und Bankettgenossen. An den vorgeordneten Stellen suchte man nach Gelegenheit, dem verdächtigen Subalternen am Zeuge zu flicken. Gelegenheit bot sich.
Wieder einmal war er zur Rechnunglegung nach der Hauptstadt beschieden. Da die Straßen unsicher waren, deponierte er den abzuliefernden Betrag bei dem Bankhaus Freire de Lima, gegen Wechsel auf Madrid. Als er anlangte, war bei dem dortigen Korrespondenten keine Deckung vorhanden. Freire de Lima hatte Bankerott gemacht und war durchgebrannt. Ein Vermögensrest war vorhanden. Mühsam erreichte Cervantes, daß seiner Forderung, die öffentliche Gelder betraf, ein Vorrang zugestanden wurde. Er bezahlte den Fiskus. Er atmete auf.
Aber nun tat man an oberer Stelle, als hätte er schuldhaft doch irgend etwas mit diesem Fallissement zu schaffen gehabt. Er wurde vom Amt suspendiert.
Gutierrez tröstete ihn. Das Bett und der Teller Suppe seien immer für ihn vorhanden, er möge doch froh sein. Er war auch beinahe froh. Er 335 schlief sich aus, fand wieder Lust an Gesprächen, wärmte in der guten Sevillaner Sonne seine alternden Knochen.
Allein in Madrid ruhte man nicht. Ganz unversehens ordnete die Oberrechnungskammer eine Nachprüfung aller seiner Konten aus dem Jahr 1594 an. 1594 – das lag vier Jahre zurück.
Jetzt hätte er wach und exakt sein müssen. Methodisch die Dokumente und Zettel sichten, die in seiner Gasthofstruhe in Bündeln vergilbten. Wie war das damals in Salobreña? In Baza, in Loja, in Almuñecar?
Doch er vermochte es nicht. Er war sterbensmüde. Es ging gewiß alles in Ordnung, die Quittungen mußten ja da sein. Es wäre geraten gewesen, sofort wieder nach Madrid zu reisen. Er stellte sich taub. Er blieb in Sevilla.
Da erfolgte der Donnerschlag. Eine königliche Verfügung langte an, zu Händen von Don Gaspar de Vallejo, Rat am Obergericht für Andalusien.
Der gewisse Cervantes Saavedra habe sich auszuweisen über Steuereingänge in Höhe von 2 557 029 Maravedis. Ein Fehlbetrag sei bereits konstatiert: 79 804 Maravedis. Der Cervantes habe sich binnen drei Wochen vor der Oberrechnungskammer persönlich zu stellen. Für sein Erscheinen dort und für die geschuldete Summe seien unverzüglich Bürgen zu benennen. Mangels tauglicher Bürgen jedoch sei Cervantes zu arretieren und sofort in Schuldhaft zu setzen.
Die Beträge sahen gewaltiger aus, als sie waren. 336 Die Gesamtsumme stellte sechstausend Taler dar, der Fehlbetrag noch keine zweihundert.
Gutierrez eilte zu Herrn de Vallejo. Die zweihundert Taler sei er bereit zu bezahlen.
Herr de Vallejo sah ihn feindselig an. Nicht darum handle es sich. Es handle sich um den ganzen Steuerbetrag, um Bürgschaft für 2 557 029 Maravedis.
Das war offenkundiger Unsinn, eine mit Willen bösartige Deutung des königlichen Edikts.
Gutierrez kam in sein Gasthaus zurück. »Sie verlangen Sicherheit für sechstausend Taler, mein Miguel. Nicht schlimm eigentlich. Wenn ich die »Witwe« hypothekarisch ein wenig belaste...«
Miguel war schon dabei, seine Sachen zu packen. Er richtete sich auch nicht empor, vielleicht um seine Augen nicht sehen zu lassen. Er murmelte, über die Truhe gebückt:
»Etwas zu essen kannst Du mir manchmal schicken und ein Quart Wein! Die Verpflegung soll miserabel sein in Euerm berühmten Gefängnis. 337