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Zwischen den Stationen X und Y liegt im freien Felde, hart an der Landstraße eine Ausspännerei »zur Zufriedenheit« benannt; in der voreisenbahnlichen Zeit mit gutem Recht, da die Post vor derselben anhielt, um etwaigen Passagieren der Pflege den Umweg von oder nach Station X und Y zu ersparen.
Vor dieser im Dampfe der Zeit verkümmerten »Zufriedenheit« hielt an einem schneestürmenden Decembernachmittage, von einem Seitenwege einbiegend, ein Schlitten, der mit zwei in stattliche Pelze eingemummten Herren besetzt war. Der jüngere von ihnen fragte den herbeieilenden, ihm wohlbekannten Wirth mit sichtbarer Unruhe, ob die Post nach X schon vorüber sei? und als die Frage mit der Erklärung verneint ward, daß das Schneewetter die Fahrt verzögert haben möge, rief der Herr »Gottlob!« und sprang aus dem Schlitten.
Sein älterer Begleiter folgte ihm gelassentlich, bestellte sich einen erwärmenden Abendtrunk und sagte, nachdem er die Gaststube betreten hatte: »Ich erreiche mein Nachtquartier noch früh genug, wenn ich zuvor mit Ihnen hier ein Glas Grog nehme. Doch wiederhole ich meinen Rath, lieber Sohn: begleiten Sie mich nach Y, 222 übernachten dort mit mir und kehren morgen in Gemächlichkeit nach Rosenhain zurück. Wer weiß wie lange Sie hier noch auf den schweren Postwagen warten müssen? Wer weiß auch, ob Sie bei dem Heidenwetter Ihre Equipage in X vorfinden? Morgen bei Tage kann der kleine Umweg über Y nicht für Sie in Betracht kommen. Geschäfte, wie sie mich treiben, sind für Sie unbekannte Größen. Einen Tag früher oder später, Sie erreichen Ihr Haus allemal zur rechten Zeit. Wir haben noch manches mit einander abzusprechen und kommen so jung nicht wieder zusammen, Freund. Fahren Sie mit mir.«
Der Wirth stimmte dem Rathe bei, nachdem er den »Herr Wolfram« Angeredeten vergeblich eingeladen hatte, das Nachtlager in seinem Hause zu nehmen. Der Weg werde heillos sein, die in das Thal führende Hohle am Ende gar verschneit.
»So steige ich vor der Hohle am Kreuzweg aus und gehe zu Fuß nach Rosenhain,« entgegnete ungeduldig der junge Mann und zu seinem Schwiegervater gewendet, setzte er hinzu: »Ich muß vor Nacht in meinem Hause sein. Eine unerklärliche Angst treibt mich zu den Kindern zurück.«
»Wir haben sie heute früh wohl und munter verlassen,« wendete der alte Herr ein, »Sie werden sie morgen wie heute wohl und munter wiederfinden.«
»Wie leicht kann ihnen ein Unfall zugestoßen sein wie leicht – –«
»Wem nicht zu rathen, ist, nicht zu helfen,« unterbrach den Aengstlichen nun seinerseits ungeduldig der 223 Mann der Vernunft. »Sie sind ein Thor, Edmund, sich so eigenwillig zu quälen.«
»Daß Sie leider doch Recht haben, lieber Vater,« entgegnete Wolfram mit einem Seufzer. »Aber meine Stimmung ist unüberwindlich. Die Unruhe treibt mich aus dem Hause und wieder in dasselbe zurück. Ich sehne mich nach den Kindern, sobald ich von ihnen bin und habe ich sie um mich, weiß ich Nichts mit ihnen anzufangen. Sie sind aus Langeweile unartig, ich ärgere mich über sie, ich – – ach, ich bin ein unglücklicher Mann!«
»Es war ein harter Schlag, der Sie betroffen hat, lieber Sohn,« versetzte der alte Herr; »wer könnte ihn richtiger ermessen, als ich, dem er die einzige Tochter, das einzige Kind geraubt. Sie entbehren eine fünfjährige Herzenslust, ich – nun für wen habe ich ein Vierteljahrhundert gestrebt und geschafft. Aber sagen Sie selber, Freund, was sollte aus der Menschheit werden, wenn jedweder, den ein Leidwesen trifft, sich anstellen wollte, wie Sie, oder Gott sei's geklagt! noch weit unerlaubter meine Frau? Der Tod gehört einmal in's Leben und muß durch das Leben überwunden werden. Man hilft sich, wie man kann. Der Eine betet, der Andere arbeitet; eine Portion heilsamer Leichtsinn ist uns eingeboren und an Zerstreuungen fehlt es nicht. So kommt denn schließlich alles wieder in's rechte Schick. Auch würde dieser Unglücksschlag Sie so wenig wie meine Henriette mit solcher Nachhaltigkeit stacheln, hätte das Glück zuvor Sie nicht von Grund aus verwöhnt, 224 oder richtiger ausgedrückt, verwöhnte es Sie nicht heutigen Tages noch. Für meine Frau, die sich auf ihre Nerven beruft, nun – da ist kein Kraut gewachsen. Sie aber, Edmund, sind ein Gefühlsmensch und ich sehe es kommen, daß Sie von den Erfahrungen dieser Kategorie keine Ausnahme machen werden.«
»Diese Kategorie scheint Ihnen nicht allzu sympathisch zu sein,« versetzte Wolfram mit gezwungenem Lächeln. »Was wäre das aber für eine Erfahrung, die Sie mir in Aussicht stellen, Vater?«
»Aus einem Extrem in das andere zu fallen und sich eines schönen Tages ebenso gründlich zu trösten, als Sie jetzt eigensinnig im Genusse des Jammers schwelgen. Sie werden sich bei der ersten besten Gelegenheit in eine Andere verlieben, um nur das unruhige Herz wieder an den Mann, richtiger ausgedrückt, an die Frau zu bringen«
»Pfui!« rief der junge Mann, indem er sich unwillig abwendete. Sein Schwiegervater aber entgegnete mit vollkommener Seelenruhe: »Nicht so verächtlich, Bester, über den naturgemäßen Lauf der Welt. Ich kenne meine Adamssöhne! Denken Sie an unseren alten Freund Simon.«
»Den Geheimerath?«
»Den nämlichen. Auch er liebte seine Frau über Alles, wie so die Redensart ist, und als sie plötzlich der Schlag rührte, schien es, als hätte er den treuen Gesponsen mit gerührt. Er wollte sich selber im Tode nicht von der Geliebten trennen, war nur mit Gewalt von ihrer Leiche und späterhin von ihrem Grabe zu entfernen. 225 Mir sogar fing es an, angst und bange für den Mann zu werden. Seine Freunde veranlaßten daher eine unbekannte Cousine der seligen Geheimeräthin, als Versorgerin des Hauses einzutreten, während der Doctor den Wittwer mit Mühe und Noth zu einer Reise nach Italien beredete. Ein hektischer Keim in den Lungen wurde ihm als Antidotum des Herzeleids eingebildet. Nun damit hatte es gute Wege, aber, wenn er nur nicht katholisch wird, dachte ich. Solchen Naturen ist Alles zuzutrauen. Die Cousine langt an. Frauenzimmer, die eine gewisse Grenze passirt haben, gefallen sich in der Rolle tröstender Engel und Nothhelfer, notabene: insofern sie es bis dahin nicht zum Pantoffelregiment haben bringen können, und die unbekannte Cousine machte keine Ausnahme von der landläufigen Regel. Am anderen Morgen sollte mein Geheimerath fort. Im Abenddämmer wandelt er mit seinen verwaisten Lämmlein, – nicht mehr und und nicht weniger als ein halbes Dutzend – und selbstverständlich auch mit ihrer neuen Hirtin, zum Thore hinaus, um vor dem grauen Hügel der Unvergeßlichen einen möglicher Weise ewigen Abschied zu nehmen. Man fällt auf die Knie, man betet, weint und ringt die Hände; der trostlose Wittwer, vollständig in Extase, beschwört den himmlischen Geist seiner Doris, die edle Freundin mit Mutterfittichen zu umfächeln, und er beschließt die rührende Scene nach einstündiger Aufregung und achtwöchentlicher Wittwernoth als Bräutigam der werthen Cousine, die er bei der Heimkehr aus Italien heil und munter wie ein Fisch zum Altare führt, um mit ihr ein 226 nicht minder glück- und liebeseliges Stück Erdenwallen wie mit der ersten Unvergeßlichen zurückzulegen. Hätte er das Malheur, auch diese zweite einzubüßen, so stehe ich Ihnen dafür, daß die dritte keine acht Wochen auf sich warten lassen würde.«
»Und welche Parallele wollen Sie zwischen dem beweglichen Herzenszustande Ihres Geheimeraths und meinem tiefen, treuen Schmerze ziehen?« fragte Edmund Wolfram mit unverhehlter Bitterkeit.
»Keine, die Sie kränken dürfte, lieber Sohn,« antwortete gelassen der alte Herr. »Sie haben sich allerdings nicht wie unser Freund in zwei Monaten, ja noch nicht einmal in zwei Jahren über Ihren Verlust getröstet, aber – eingestanden oder nicht, – Sie sehnen sich darnach es zu thun und es wird Ihnen ehester Tage gelingen. Auch würde ich der Letzte sein, Freund, Sie darob zu verdammen; ich werde Ihnen im Gegentheil von Herzen gratuliren, insofern Ihre Wahl nur einigermaßen vernünftig und zweckentsprechend ausfällt. Anders freilich meine Frau. Nun und nimmer wird sie sich daran gewöhnen, den Platz ihrer Tochter durch eine Nachfolgerin ausgefüllt zu sehen und ich denke mit Grausen an die Zeit, wo dieses Schicksal sie unvermeidlich überkommt, Sie kennen ja mein häusliches Kreuz, Edmund. Wenn unser Herrgott einen Mann züchtigen will, item wenn er ihn liebt – ich danke aber für diesen Liebesbeweis – dann bescheert er ihm eine hysterische Frau. Seit unserem Hochzeitstage hat die meine gestöhnt und geweint, sich und Andere gequält ohne irgend welchen ersichtlichen 227 Grund. Endlich trifft sie ein Schlag und einer der härtesten in der That. Mit welcher Ungebühr macht sie nun aber auch von dem Privilegium des Unglücks Gebrauch!«
»Die arme Mutter!« sagte Wolfram seufzend. »Wer möchte mit ihrem Schmerze rechten! Indessen die stillende Macht der Zeit und der Einfluß Ihres gleichmäßig heiteren Humors, lieber Vater – –«
»Ein Einfluß? O, Sie Neuling!« unterbrach ihn lachend der alte Herr. »Schreiben Sie sich's hinter die Ohren, Freund: auf Menschen, deren Lebensprincip ihre Einfälle sind, giebt es nur einen einzigen Einfluß, und just den einzigen, den ich, Gottlob! meiner Henriette nicht zu verschaffen im Stande bin: den Einfluß der Noth. Denn ein Unglücksfall und ein Nothstand, das ist zweierlei. Im Uebrigen: abstrahirt davon, daß es meine Sache nicht ist, mich in aussichtslose Geschäfte einzulassen, würden mir in diesem speziellen Falle auch noch die Hände, will sagen, der Wille zum Handeln gebunden sein. Was ich habe und bin, habe und bin ich durch meine Frau. Ohne die vielbeneidete Mitgift meines Goldfischchens säße ich wahrscheinlich heute noch als obscurer Buchhalter am Hinterfenster irgend eines unbekannten Comtoirs. Heute heiße ich Herr Consul und man weiß nicht nur auf dem Continent, was die Firma Eschenbach zu bedeuten hat. Meine Dankbarkeit heißt nun Gewährenlassen, und darum bitte ich Sie noch einmal, Wolfram, recht herzlich bitte ich Sie, übergeben Sie 228 meiner Frau die Kinder, die Sie bei Ihrer projectirten landwirthschaftlichen Thätigkeit ohnehin nur schwer ihren Ansprüchen gemäß erziehen könnten. Es ist nun einmal die fixe Idee meiner Henriette, daß die Kinder nur unter ihren Augen gedeihen können. Wie viel freierer Spielraum wird Ihnen überdies bei einer neuen Wahl gelassen sein, wenn Sie nicht in erster Ordnung auf eine Stiefmutter Rücksicht zu nehmen haben!«
»Seien Sie unbesorgt,« versetzte Wolfram kühl, »ich werde meinen Kindern keine Stiefmutter geben und – verzeihen Sie, lieber Vater, – aber ich begreife nicht, daß Sie bei der Verfassung der guten Mutter – das heißt, wie Sie dieselbe auffassen, nicht wie ich es thue – mir zumuthen, oder auch nur wünschen können, Ihre Enkel der ausschließlichen Leitung einer Kranken, die ihre Stimmungen so wenig zu beherrschen im Stande ist, anheimgegeben zu sehen.«
»Ich würde Ihren Einwand gelten lassen müssen, Freund,« erwiderte der Consul, »wären Ihre Kinder andere als die sie sind, oder eines Tages unter allen Umständen sein werden: die einzigen Enkel und Erben des Hauses Eschenbach. Bei ihrem Reichthum schadet eine launenhafte Erziehung nicht.«
»Dennoch wünschte ich ihnen eine andere zu geben.«
»Melanie, die keine andere gehabt, hat Sie glücklich gemacht und ist glücklich gewesen.«
»Aber früh gestorben,« fiel Edmund ein. Er hätte nicht sagen können, wie ihm dieser zweifelhafte Vorbehalt in den Sinn gekommen sei.
229 »Sie würde es auch geblieben sein,« entgegnete der Consul, »vorausgesetzt, daß die Verhältnisse, unter denen sie es ward, ebenso die nämlichen blieben.«
»Ich hoffe das auch, lieber Vater; ja, ich hoffe, daß sie es unter allen Verhältnissen geblieben wäre und ich wünsche, daß ihre Kinder es unter allen Verhältnissen werden mögen. Darum aber, lassen Sie es mich rund heraus sagen, darum kann ich sie nicht von mir geben. Die arme Mutter jammert mich in innerster Seele; ich werde ihr meine Kleinen regelmäßig einen Theil des Jahres zuführen, werde sie dazu erziehen, die Eltern ihrer verklärten Mutter dankbar und liebevoll im Herzen zu tragen; ich werde auf derselben Ansprüche und Wünsche jede billige Rücksicht nehmen: der nächste aber in der Kinder Gemüth und Führung, ihr erster Freund muß ich selber bleiben.«
»Und sind Sie so sicher, Edmund, der Mann zu sein, der sie unter allen Umständen zu glücklichen, das heißt zunächst doch wohl tüchtigen Menschen heranzubilden vermöchte?« fragte der Consul, lachend zwar, aber mit unverkennbarem Hohn. »Wären Sie, – da wir nun doch einmal so aufrichtig gegen einander geworden sind – das Sie vor wenig Minuten noch in sich selber vermißten: anzufangen, Ihrem Nachwuchse das Eisen einzuimpfen, den glücklich zu sein vermöchte? Oder wie dächten Sie es wären Sie etwa selber der Mann, der unter allen Umständen Entschlossenheit, Halt und Ausdauer – quand même? –«
Edmund, halb beschämt und halb empört, schwieg mit gerunzelter Stirn und zu Boden geschlagenem Blick 230 Nun ja, er hatte sich vor wenig Minuten einen haltlos gebeugten Mann genannt. Aber gehörte der große Schmerz, welcher den glücklichsten Menschen in einen unglückseligen umgewandelt hatte, in die Kategorie, die der nüchterne Geschäftsmann ihm gegenüber unter dem Begriffe »Umstände« zusammenfaßte? Würde er an der Seite der geliebten Frau nicht Entschlossenheit, Muth und Ausdauer gehabt haben auch in bösen Tagen? Er hörte nur noch mit halbem Ohr auf seines Schwiegervaters weiterführende Folgerungen.
»Gesetzt aber auch, Sie wären oder würden dieser resolute Mann, gesetzt selber den Fall, Sie hätten auch in der Folge nicht nöthig, es zu werden oder zu sein, Ihr Leben spänne sich schlankweg ab, wie bisher: glauben Sie die Aufgabe, die Sie so unbedenklich übernehmen, allein fertig zu bringen? Ich habe wohl Frauen gekannt, nicht viele allerdings, aber doch diese und jene, die ihren Kindern den Vater zu ersetzen vermochten. Meine eigene Mutter war eine so kluge, unerschrockene Frau, die als blutarme Wittwe drei Söhne nicht nur zu ernähren, sondern auch für den Kampf mit dem Leben zu schulen verstanden hat. Daß aber ein Vater kleinen Kindern, Töchtern zumal, die Mutter zu ersetzen vermocht hätte, ist mir bis dato noch nicht vorgekommen. Der Instinkt des schwächlichsten Weibes, meiner Henriette zum Exempel, thut es in diesem Stücke dem Willen des kräftigsten Mannes zuvor, und wenngleich ich, Freundchen, in Ihrer Natur eine erkleckliche Portion von dem Ewigweiblichen, das die Dichter besingen, anerkenne – –«
231 »Ich habe bereits eingesehen,« unterbrach ihn Wolfram, seine Empfindlichkeit niederkämpfend, »daß bei meiner pädagogischen Unerfahrenheit und, wie Sie ja Recht haben mögen, Unzulänglichkeit, die rein körperliche Pflege gedungener Wärterinnen für die Kinder nicht mehr genügt. Ich würde bei meinem nächsten Besuche mit Ihnen und der guten Mutter Rücksprache über diese wichtige Angelegenheit genommen haben. Nun aber, da Sie mir zuvorgekommen sind, soll es meine dringendste Aufgabe sein, mich nach einer gebildeten Erzieherin umzuthun.«
»Ist eine Erzieherin etwa weniger als eine Muhme oder Bonne eine gedungene Wärterin?« fragte der Consul, »verdient sie größeres Vertrauen, als diese?«
»Nach überkommener Lebensart und Lebensweise doch wohl ein umfassenderes, meine ich, als das zu Miethlingen aus einer niederen Gesellschaftsschicht, die – –«
»Au fond das nämliche sind und bleiben, wie die aus einer höheren, guter Freund. Wer mir dient um Lohn und Brod, ist mein Domestik und rechnet wie alle Domestiken naturgemäß auf seinen Vortheil statt auf den meinen Ja, je höher von vornherein die Lebensansprüche gestellt gewesen sind, um so widerwilliger wird eine aufgenöthigte Dienstbarkeit ertragen und um so selbstsüchtiger ausgebeutet werden. Sie werden diese Erfahrung bald genug machen, Edmund, wenn Sie meinem Rathe nicht folgen, mir die Kinder zur Erziehung in einer großen, jegliches Bildungsmittel bietenden Stadt zu überlassen.«
232 »Nimmermehr!« rief leidenschaftlich der junge Mann. »Nimmermehr! Ich kann nicht; weiß es Gott, Vater, ich kann es nicht!«
»So lassen wir die Sache vor der Hand. Kommt Zeit, kommt Rath. Wir werden nicht zum letzten Male über diese Materie verhandelt haben. Wollte der Himmel, daß ich nur erst den Sturm mit meiner Henriette überstanden hätte, wenn ich mit diesem abschläglichen Resultate zu ihr zurückkehre. Und nun obendrein Ihr Gouvernantenplan! Aber wie lange die Post ausbleibt. Der Courierzug geht früh um sieben von Y ab. Will ich nicht auf ein paar Stunden Nachtruhe verzichten, muß ich jetzt aufbrechen. Sie bleiben dabei, nicht mit mir zu fahren?«
»Ja, lieber Vater.«
»Nun, wie Sie wollen. Also rasch noch eine Recapitulation unseres heutigen Hauptgeschäfts. Bringen Sie es sobald als möglich zum Abschluß. Es ist vorteilhaft. Schon bei Lebzeiten unserer lieben Melanie habe ich vorausgesehen, daß die Villeggiatur in Rosenhain Ihnen auf die Dauer nicht genügen könne. Man wird der Lauben und Wasserkünste, der Blumen- und Vogelhäuser schließlich satt; ein Appetit nach soliderem Lebensstoff stellt sich ein. Thätigkeit aber, lohnende Thätigkeit, ist der solideste. Da Sie leider nicht Kaufmann sind und ich gebe zu, auch nicht zu sein vermögen, – ich würde sonst ja noch weit lebhafter in Sie gedrungen haben, als Theilhaber in mein Bankgeschäft zu treten und dereinst mein Nachfolger in demselben zu werden, – item, da die Speculation Ihre schwache Seite 233 ist, lohnt, in's Große betrieben, die Landwirthschaft immer noch besser als jedes andere für Sie denkbare Geschäft, selbst wenn Sie von vornherein einiges Lehrgeld bezahlen müßten. Denn was Sie vor zehn Jahren in Poppelsdorf profitirt haben, wird wenig von Belang und längst verflogen sein. Höher schlage ich es an, daß Sie zeitweise auf dem Lande herangewachsen sind und wie Sie sagen, das Landleben lieben. Erfahrung macht den Wirth und Anschauung macht Erfahrung. Versuchen Sie es also mit der Oekonomie. Es war freilich nur ein flüchtiger Blick, den ich in die Einrichtungen des Gutes werfen konnte, er hat aber meine Erwartungen übertroffen und die Bedingungen sind mehr als acceptabel. Schließen Sie also rasch ab, bevor ein Concurrent Ihnen in die Quere kommt. Die Hauptsache ist, daß Sie die Kaufsumme sobald als möglich flüssig machen, denn auf baar Geld scheint es dem bankerotten Herrn Baron anzukommen. Ich frage darum noch einmal: Sie glauben sich unter allen Umständen auf Ihren Bruder verlassen zu können?«
»Was wollen Sie mit diesem wiederholten Bedenken andeuten?« versetzte Wolfram unwillig. »Mein Bruder hat mein elterliches Erbtheil bisher in seinen Anlagen verwaltet zu hohem Ertrag für mich und vielleicht zu einem höheren für sich selbst. Dessenungeachtet aber, ja gerade darum, wird er nicht anstehen, mir das Meinige auszuzahlen und, da er ein reicher Mann ist, erforderlichen Falls mir mit eigenen Mitteln auszuhelfen. Wie kommen Sie zu einem Zweifel, Vater?«
234 »Erstens: weil es allemal Thorheit, das heißt, ein unsicheres Geschäft ist, nahen Verwandten Geld zu borgen. Processe innerhalb der Brüderschaft haben ihr Unbehagen. Zum Zweiten: weil es unvermeidliche Schwierigkeiten macht, ein erhebliches Kapital aus industriellen Anlagen zu ziehen und drittens: weil ich überhaupt ein geschworener Feind bin von diesen weit verzweigten Speculationen auf fremde Arbeitskraft. Ich lobe mir die Börse und meinen zuverlässigen Kopf. Unter allen Umständen ist hab' ich besser, als hätt' ich und darum wiederhole ich zum so und sovielsten Male: Suchen Sie Ihr Kapital so bald als möglich loszueisen und es in der Anlage von Blankenberg sicher zu stellen. Auch meiner Henriette wird diese ritterschaftliche Erwerbung ein Zuckerlecken sein nach der bitteren Pille der Gouvernante. Sie hat von jeher ein faible für die Aristokratie gehabt und in ihren Augen ist's mit dem Erb-, Lehn- und Gerichtsherrn noch nicht am Ende.«
Nach diesen Worten mischte sich der Herr Consul gemächlich noch einen Trunk, zündete eine frische Cigarre an und ging zu seinem Schlitten. Er hüllte sich sorgfältig in Wildschur und Fußsack, reichte dem ihn begleitenden Eidam mit einem »Gottbefohlen!« noch einmal die Hand und fuhr von dannen.
Edmund Wolfram blickte eine Weile über das unbegrenzte Schneegefilde. »Kalt und öde wie mein Leben!« murmelte er in sich hinein. Dann horchte er nach der Richtung, von welcher die Post erwartet wurde. Noch immer kein Laut! So entschloß er sich, den Heim 235weg zu Fuße anzutreten und stand erst davon ab, als der Wirth, der noch immer die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, einen Nachtgast zu beherbergen, in ihn drang, mindestens das Aufhören des bereits gemäßigten Stöberwetters abzuwarten, da dann auch der halbvolle Mond einigermaßen als Leuchte dienen werde.
Wolfram ging in das Schenkzimmer zurück, ersuchte den Wirth, sich in seinen Geschäften nicht stören zu lassen und hing den Gedanken nach, welche der heutige Tag in ihm angeregt hatte.
»Wie Liebe und Glück,« so sagte er zu sich selbst, »doch einen goldenen Schleier über unsere Umgebung breiten! In welch' häßlicher Nacktheit jedes Gebrechen offenbar wird, wenn Liebe und Glück unseren Blick nicht blenden! Heute zum erstenmale empfand ich einen Widerwillen, ja fast ein Grauen vor dem herzlosen Egoismus dieses Mannes, den ich an Melanie's Seite so unbedenklich zu ehren mich gewöhnt hatte. Wie verhöhnte er meine leidvolle Treue, die Treue gegen sein eigenes einziges Kind! Wie unverhehlt sprach er seine Geringschätzung aus, weil mein Sinn nicht wie der seine darauf gerichtet ist, Millionen zu erschwindeln. Erschwindeln! Pfui über das niederträchtige Wort vom Vater eines Engels! Und diese Schnödigkeit im Urtheil über seine nächsten Menschen, über seinen ältesten Freund und die Frau, der er alles dankt, was er an sich selber schätzt! Es mag ja nicht immer leicht sein, die Reizbarkeit der armen Mutter mit Geduld – – Geduld? Nein, wenn Geduld ohne Liebe ein Verdienst ist, so hat er dieses 236 Verdienst, – aber mit Duldung, oder nur mit innerlicher Billigkeit hinzunehmen. Gewiß nicht leicht. Ist es denn aber nicht der herbste Verlust, der sie bis zum Aeußersten aufgeregt hat, nach dem die Herzensroheit ihres Gatten sie dreißig Jahre lang geätzt? Und dieser unberechenbaren Frau, diesem Manne, an welchem alles Berechnung ist, sollte ich mein Theuerstes, das Einzige, was mir geblieben ist, meine Kinder anvertrauen? Gestern noch hätte ich mich vielleicht bewegen lassen, wenigstens das jüngste, der Pflege bedürftigste, hinzugeben; heute um keinen Preis. Meine süße, kleine Melanie, Du bleibst mein allein.«
Dieser nunmehr unerschütterliche Entschluß lenkte seine Gedanken auf den Plan zurück, den er bei seiner projectirten landwirthschaftlichen Thätigkeit doppelt als Nothwendigkeit erkannte; auf die Wahl einer Mutterstelle vertretenden Erzieherin.
»Sollte denn,« so fragte er sich, »in dem weiten Kreise der Frauen, welche in heutiger Zeit darauf angewiesen sind, sich selbstständig im Leben zu stellen und zu behaupten, sollte denn unter ihnen wirklich so selten eine hingebende Seele zu finden sein, die Willen und Geschick genug besäße, um im fremden Hause treu wie im eigenen zu walten? Sollte es wirklich nur Miethlinge geben?«
Er ging im Geiste die lange Reihe weiblicher Gestalten durch, welche ihm in bekannten Familien als Erzieherinnen, Lehrerinnen, Gesellschafterinnen oder auch nur als Wirthschafterinnen und Pflegerinnen begegnet waren; keine von ihnen hatte ihm indessen einen einiger 237maßen deutlichen Eindruck hinterlassen; achtlos und antheillos war er an einer Gesellschaftsschicht vorüber gegangen, innerhalb welcher er jetzt das Behagen seines Hauses, das Gedeihen seiner Kinder zu suchen hatte und so konnte er sich, als abdämpfenden Nachtrag zu seinem Preise des Glücks, die Erkenntniß nicht ersparen, daß jener blendende Zustand uns leider ebenso kurzsichtig als nachsichtig mache und daß ein Glück, wie er es so empfindlich vermißte, das Hätschelkind der Selbstsucht sei.
»Diese Armen,« sagte er in warmer Erregung, »diese Armen, denen wir das Wichtigste anvertrauen, von denen wir jeglichen Verzicht annehmen, den der Jugend, der Familie, des Umgangs, des letzten freien Moments, von denen wir eine Bildung fordern, die häufig unsere eigene überragt: nicht einmal eine Heimath bereiten wir ihnen unter uns zum kümmerlichen Entgelt für das Opfer aller Lust und Kraft. Als Fremdlinge treten sie bei uns ein, als Fremdlinge wandeln sie unter uns, um als Fremdlinge der ersten besten Laune, der geringsten Entbehrlichkeit zu weichen und als Fremdlinge und Miethlinge vergessen zu werden! Wie niedrig achten wir den Unterschied zwischen ihnen und dem nominellen Gesinde, dem wir lohnen so karg und aufbürden so viel, als es sich irgend gefallen läßt, nach dessen Ursprung und Zusammenhang wir kaum fragen, dessen Namen wir beliebig ändern, das wir in Kellerräumen arbeiten und unter Zinkdächern schlafen lassen, für dessen Freuden und Leiden, dessen körperliche und sittliche Gefahren wir keine Verantwortung anerkennen. Erkrankt es in unserem 238 Dienst, schicken wir es in's Spital, entlassen es bei der geringsten Fahrlässigkeit und finden es außer aller Ordnung, wenn es nun seinerseits in der Regel gleichfalls den eigenen Vortheil statt des unseren im Auge hält. Kann ich mich selber von solcher Theorie und Praxis denn lossprechen und dürfen wir uns darüber wundern, wenn die dienenden Stände von dem Freiheitswirbel der Zeit ergriffen werden und wir auch in diesem Verhältniß amerikanischen Zuständen entgegen gehen? Bei alledem haben indessen die eigentlichen Dienstboten vor jenen höher gestellten Abhängigen mancherlei voraus; mancherlei, das wesentlich ein Mangel oder eine Ungunst sein mag, aber doch als Ausgleich wirkt: einen anspruchsloseren Bildungsgrad, Gewöhnung von Jugend auf, außerhalb des Dienstes Freiheit mit ihren Erholungen so gut wie Gefahren, eine zahlreiche Genossenschaft und schließlich eine eheliche Versorgung innerhalb ihrer Sphäre. Jene Anderen dahingegen, unsere Gleichen in jedem Sinne, mit Ausnahme dem des Wohlstandes, häufig unvorbereitet auf das Loos der Abhängigkeit, leben sie unter uns, mit uns, für uns wie die Ersteren, aber freudlos, freundlos, zukunftslos wie – –«
Das Schmettern eines Posthorns unterbrach diese menschenfreundliche Betrachtung. Wolfram sprang auf, warf seinen Mantel um und eilte vor das Thor, vor welchem der Postwagen eben vorfuhr. Der Conducteur, welcher ihn kannte, warnte ihn, wie vorhin der Wirth, vor der Mitfahrt: »Wir werden einen heillosen Weg haben, Herr Wolfram,« sagte er. 239 »Ging es schon bisher auf ebener Straße nicht ohne Aufenthalt ab, so wird in der Hohle kaum ein Durchkommen sein. Warum wollen Sie den beschwerlichen Umweg über die Stadt machen, da Sie hier bequem nächtigen und wenn morgen Bahn geschaufelt ist, leicht ein Fuhrwerk direct nach Rosenhain finden können?«
»Weil ich thörichter Weise meinen Wagen nach der Stadt bestellt habe und durchaus zur Nacht in meinem Hause sein muß,« entgegnete der junge Mann.
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Ein einziger Passagier theilte die Fahrt, eine Dame, eingehüllt und dicht verschleiert, anscheinend schlummernd in die Wagenecke gedrückt; mehr ließ sich beim schwachen Schimmer von des Wirthes Laterne während des Einsteigens nicht erkennen. Wolfram nahm Platz in der entgegengesetzten Wagenecke; der Mittelsitz blieb frei.
Die Reisende regte sich nicht; Wolfram, in seine Grübeleien versunken, war froh, daß sie so wenig wie er selbst Lust zur Unterhaltung zu haben schien; ein paar Mal glaubte er ein leises Zittern wie unter einem Frostschauer zu bemerken.
Eine Stunde lang ging die Fahrt beschwerlich aber doch gleichmäßig von Statten; als aber die Straße sich thalwärts abzusenken begann, rechtfertigte sich alle schlimme Voraussicht; Schneemassen sperrten den Weg; Postillon und Conducteur mußten absteigen, die Pferde antreiben und führen. In einer zweiten Stunde wurde auf diese Weise eine Strecke zurückgelegt, die für gewöhnlich kaum zehn Minuten in Anspruch nahm. Es 240 stürmte und schneite nicht mehr, die halbgefüllte Mondscheibe hatte sich durch die klärenden Wolken gedrängt: noch aber waren die Sterne umflort; die weiße Erdendecke und die weiße Himmelsdecke glänzten wie mattes Silber.
Plötzlich stand das schwere Gefährt still. Eine Schneewehe hatte sich gleich einer Mauer über den Weg gelagert, die Schlucht war bis zu ihren Rändern ausgefüllt. Des Schwagers Flüche und Peitschenhiebe halfen nicht mehr: man saß fest. Wolfram stieg aus und sagte, nachdem er sich umgeschaut, zu dem Conducteur: »Hier ist an kein Fortkommen zu denken. Das Beste wird sein, mich zu Fuß nach Rosenhain aufzumachen. Es trifft sich glücklich, daß kaum hundert Schritte rückwärts der Dorfweg auf die Chaussee einmündet; der Wind hat von jener Seite geweht; der Weg läuft ohne Unterbrechung auf der Hochebene fort, so wird er passirbar und, da er mit Bäumen besetzt ist, nicht zu verfehlen sein. Ich werde, sobald ich nach Hause komme, die Gemeinde zum Schneeschaufeln aufbieten; während der Postillon zu gleichem Aufgebot rechts nach Wilschütz reiten mag.«
Der Conducteur konnte dem Vorschlage nur Beifall geben. Als Wolfram nach dem Wagen zurückging, um den schweren Pelz, der ihn beim Gehen hinderte, darin niederzulegen, bemerkte er, daß die Fremde aus dem entgegengesetzten Fenster Umschau hielt; er glaubte einen Seufzer zu vernehmen und fühlte ein herzliches Mitleiden mit der einsamen Frau, die voraussichtlich eine lange, 241 kalte Nacht hindurch, zwischen Schneewänden gebannt, auf offener Straße aushalten mußte. Er winkte den Conducteur bei Seite und fragte, ob ihm die Dame bekannt sei, erfuhr aber nichts weiter, als daß sie die ganze Tagesfahrt mitgemacht hätte und bis zur nächsten Station eingeschrieben wäre.
Rasch entschlossen trat Wolfram an den Wagen zurück und machte in seiner freundlichen, herzgewinnenden Weise der Fremden den Vorschlag, dem unberechenbaren Aufenthalte auf der Landstraße einen kurzen, wenn auch beschwerlichen Fußweg und ein Nachtquartier in seinem Hause vorzuziehen.
»Ich nehme Ihr gütiges Anerbieten dankbar an, mein Herr,« versetzte die Fremde, indem sie ohne Zögern aus dem Wagen stieg. Sie traf mit dem Conducteur eine kurze Verabredung hinsichtlich ihres Gepäcks, erkundigte sich nach dem Abgang der von der nächsten Station nordwärts führenden Bahnzüge und trat dann ihrem Geleiter zur Seite, mit dem sie eine Weile schweigend, aber ohne Zeichen von Verlegenheit oder Zaghaftigkeit voranschritt. Da sie die Schleier nicht lüftete, konnte Wolfram über Aeußeres und Alter des Gastes, den er auf so abenteuerliche Weise in sein Haus geladen, keinen Aufschluß erhalten. Eine große, kräftige Gestalt, die sich unter der dichten Umhüllung erkennen ließ, der rasche elastische Schritt und der sonore Klang der ersten Anrede ließen indessen auf Jugendlichkeit schließen. Wolfram war eben im Begriffe mit der ersten 242 besten meteorologischen Bemerkung anzuknüpfen, als sie ihm mit folgenden Worten zuvorkam:
»Das Schicksal hat mich auf das Vertrauen zu guten Menschen angewiesen und indem ich es in dieser Stunde in Anspruch nehme, lerne ich gleichsam in einem Vorspiel das Wagniß eines Unternehmens kennen, dem ich mit frohem Muthe entgegenging. Ich bin eine Schweizerin, mein Herr, und auf dem Wege nach Moskau.«
»Nach Moskau!« rief Wolfram theilnehmend. »Eine Dame allein und in dieser Jahreszeit!«
»Ich theile das Loos vieler Landsmänninnen, in der Fremde eine Lebensstellung suchen zu müssen,« fuhr die Reisende fort, ohne den leisesten Anklang von Sorge oder Klage. »Eine Verwandtin in Rußland hat für mich dort den Platz einer Erzieherin in Aussicht genommen.«
Wolfram stand betroffen still. Dies Zusammenklingen mit dem Ideengange seiner letzten Stunden dünkte ihm nahezu eine providentielle Fügung. »Eine Erzieherin!« rief er aus und setzte unwillkürlich hinzu: »Warum aber in so unheimlicher Ferne?«
»In meinem Vaterlande finden derartige Stellungen sich nicht häufig,« versetzte die Schweizerin ruhig, »und da ich keinen Familienzusammenhang aufzugeben hatte, fiel die Nähe oder Weite des gesuchten Wirkungskreises nicht allzuschwer in's Gewicht. Zudem drängte der Augenblick und ist die Wahl doppelt beschränkt, wenn man einerseits gewisse Ansprüche macht, anderseits dieselben nicht befriedigt. In England schreckte mich die geringschätzige Auffassung jedes abhängigen Verhältnisses, 243 in Frankreich hinderte mich mein reformirtes Bekenntniß und in Deutschland meine deutsche Muttersprache, da man hier in der Regel Ausländerinnen vorzieht, um Ohr und Zunge der Kinder an unheimische Laute zu gewöhnen.«
»Und billigen Sie unsere Erziehungsmethode?« fragte Wolfram, nur um mit einem Schein von Unbefangenheit seine Begleiterin noch einige Schritte tiefer in das ihm so neue pädagogische Gebiet zu verlocken.
Die Schweizerin erwiderte: »Mein seliger Vater, der Prediger war, sich jedoch vielfach in Wort und That mit der Erziehungskunst beschäftigt, auch meine eigene Erziehung, von vornherein zum Zwecke der Erziehung, als meiner voraussichtlichen Bestimmung, geleitet hat, pflegte über diese Zeitrichtung abzuurtheilen. Abgesehen davon, daß Kinder im Grunde nur von Stammgenossen verständnißvoll entwickelt werden könnten, hielt er die modernen Sprachen, dem Klange nach oberflächlich von Frauen auf Kinder übertragen, als Gedächtnißübung statt als Denkübung aufgefaßt, für ein durchaus ungenügendes Bildungsmittel, hielt sie selbst für den blos praktischen Gebrauch in den meisten Fällen nutzlos, daher überflüssig, die Eitelkeit fördernd und wichtigere Kenntnisse hindernd.«
»Ich bin bisher der Meinung gewesen,« fiel Wolfram ein, »daß mit der Bewältigung jeder neuen Sprache ein Stück neue Welt unserem Geiste erobert werde.«
»Für den gereiften Menschen ohne Zweifel eine berechtigte Auffassung,« erwiderte die Fremde. »Ich 244 danke es darum auch meinem Vater recht von Herzen, daß er mir, wie den Knaben, die er für den Gelehrtenstand vorbereitete, den innerlichen Bildungsprozeß alter wie neuer Sprachen verständlich zu machen sich bemüht hat. Es wurde dadurch ein Grund gelegt, auf dem sich weiterbauen läßt, wenngleich mein äußeres Fortkommen zunächst dadurch beschränkt wird, daß fremde Ausdrucksweisen mir bis jetzt nicht genügend geläufig sind. So ließ ich denn meinen Blick gern auf das ferne Rußland richten, wo das Sprachtalent zu Hause sein soll und die anständige Stellung einer Lehrerin oder Erzieherin mir gerühmt worden ist und Gott wolle geben, daß ich nicht fehlgriff, wenn ich in zweifelhafter Lage das schwerste Theil als das richtige erwählte.«
Angeregt durch ihres Begleiters offenbares Interesse schien die Fremde nach dieser Einleitung nur einem natürlichen Mittheilungssinne nachzugehen, indem sie einfach und anschaulich von ihrem bisherigen Lebensgange erzählte. Er sah sie aufwachsen in dem ländlichen Pfarrhause, unter des lehrsamen Vaters bildender Hand. Lange Zeit ein einziges Kind, neben mehreren Kostschülern, deren Unterricht sie theilte, wurde beim Eintritt in die Mädchenjahre die Mutter nach der Geburt eines Spätlingskindes von ihr genommen und ihr als Haushälterin und Pflegerin früh ein umfassender Wirkungskreis angewiesen; der Tod hatte auch diese Bande rasch nach einander gelöst und so sah sie sich in ihrem dreiundzwanzigsten Jahre darauf angewiesen, unter Fremden einen Platz zu suchen.
245 »Dieser Platz,« so meinte sie, »wird nicht leicht gefunden werden. Erziehung und Schicksal haben einen eingeborenen Selbstständigkeitstrieb in mir ausgebildet, dem in abhängigen Lagen selten Rechnung getragen wird. Da ich nicht hinreichende Mittel besitze, um eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen, geht mein Streben dahin, an verwaisten Kindern Mutterstelle zu vertreten.«
Wolfram stutzte von Neuem; er machte fragend einen Einwand, um die Fremde zu einer näheren Erklärung anzuregen, und die Bereitwilligkeit, mit der sie es that, bekundete, daß ihr ein Lieblingsthema berührt worden war.
»Mutter und Erzieherin,« so sagte sie unter Anderem, »wenn letztere nicht ausschließlich in beschränkten Fächern Lehrerin sein soll und selber da noch bis zu einem gewissen Grade, haben den Kindern gegenüber ein und das nämliche Amt, in welchem sie sich gegenseitig nur ablösen. Wie selten trifft es sich nun aber, daß zwei Menschen auch nur in einer einzigen Tonart zusammenklingen und wie schädlich ist es der Autorität, dem Grundsatze aller Erziehung, wenn sie sich widersprechen. Die Stimme der Mutter wird natürlich den Ausschlag geben. Nun scheint es mir aber unerträglich, mit meinem Streben nicht nur einem Prinzip, einer wohlgeprüften Ansicht, sondern häufig auch der Willkür oder Laune, einer wechselnden Stimmung unterwürfig zu sein, die Resultate nachhaltigen Bemühens jeden Augenblick gestört, ja zerstört zu sehen. Im großen Ganzen wird ja jegliches Werk nach einem beherrschenden 246 Gesetz durchgeführt werden müssen; die Erziehung nach den Anschauungen und Verhältnissen des Familienoberhauptes. Im Einzelnen möchte ich freie Hand haben und in der bescheidensten äußeren Lage lieber als die erste Person, denn in der glänzendsten als die zweite für eine Aufgabe die Verantwortung übernehmen.«
In diesem Sinne redete die Fremde noch mehreres. Sie redete klar, zuversichtlich, in gebildetster Form, mit einem etwas tief aber angenehm aus der Brust dringenden Klang. Wolfram hörte ihr mit immer wachsender Theilnahme zu; der Gegenstand wie die Sprecherin fesselten ihn je mehr und mehr, der beschwerliche Abendweg im Schnee schien ihm im Umsehen zurückgelegt.
Nicht zum Geringsten erfreute ihn die Rüstigkeit, mit welcher die Fremde nach der ungemächlichsten Tagesfahrt an seiner Seite schritt, dadurch auch jene körperliche Zuverlässigkeit bekundend, die zu jedem Gelingen unentbehrlich ist. Nichts Gedeihlicheres für ein Haus und die, welche darin gebildet werden, als eine gesunde Kraft an der Stelle, von welcher aus es geleitet wird. Hatte dem jungen Manne diese Wahrnehmung sich schon vorhin aufgedrängt, als er sich seine Kinder unter der Obhut ihrer siechen Großmutter vorstellte, so schien ihm jetzt durch eine ungewöhnliche, wie er gern glauben mochte, nicht zufällige Fügung das präcise Gegenbild der schwächlichen Matrone vorgeführt und immer deutlicher stieg die Erkenntniß in ihm auf: Eine wie diese ist es, die Du brauchst und suchst.«
247 Ohne das Dorf zu berühren, erreichten die seltsamen Weggenossen auf einem Parkwege das Landhaus, das seinem Namen »Rosenhain« auch in dieser Jahreszeit nicht völlig Unehre machte, denn mannigfaltige Strauch- und Blumengruppen füllten die Fenster des hell erleuchteten Erdgeschosses. Die Fremde schien zu spüren, daß nur zärtliche Frauenhände in dieser Einsamkeit mit solcher Sorgfalt walten könnten; sie hielt sichtlich betreten in ihrer Mittheilung inne und sagte, als der Hausherr bereits die Hand an den Klingelzug der Pforte gelegt hatte: »Ich bin Ihrer freundlichen Aufforderung gefolgt, mein Herr, ohne zu bedenken, daß die Einführung eines so späten Gastes Ihre Frau Gemahlin störend überraschen müßte. Ich möchte Sie daher bitten, mir den Weg zum Wirthshaus im Dorfe anzudeuten.«
»Treten Sie ohne Bedenken ein, mein Fräulein,« versetzte Wolfram mit weichem Klang. »Die Hausfrau, die Sie willkommen geheißen haben würde, ist von mir geschieden.«
Die Thür wurde geöffnet, bevor die Fremde, sichtlich betreten, eine fernere Einsprache gesunden hatte. Etliche männliche und weibliche Dienstboten sammelten sich in der Halle und starrten mit verwunderten Blicken auf den Herrn, den sie von der Stadtseite zu Schlitten erwartet hatten und die Unbekannte, die er zu Fuß durch Sturm und Schnee in sein Haus führte. Während die Dame ablegte, fragte Wolfram ängstlich nach dem Ergehen der Kinder; die Wirthschafterin erklärte, daß sie wohlauf, die älteren aber nicht zu Bett zu bringen gewesen 248 und auf dem Sopha eingeschlummert seien. Der Vater schüttelte schweigend mit einem Seufzer den Kopf; dann befahl er, ein Gastzimmer im oberen Stock zur Nachtruhe für die Dame herzustellen. Einen Diener schickte er nach dem Dorfe, um dem Schulzen von dem Unfalle des Postwagens auf der Landstraße Anzeige zu machen und die Hülfe der Gemeinde aufzubieten.
Die Thür des Salons wurde aufgerissen; ein Knabe und ein Mädchen von etwa fünf und vier Jahren sprangen zierlich geputzt, aber halb verschlafen dem Vater entgegen. Er beugte sich zu ihnen nieder und küßte sie innig wie nach langer Abwesenheit.
»Was hast Du uns mitgebracht, Papa?« fragten die Kleinen aus einem Munde.
»Ich konnte Euch nichts mitbringen, lieben Kinder,« antwortete der Vater fast beschämt. »Morgen sollt Ihr erhalten, was ich Euch versprochen.«
»Du hast mir das Pferd aber heute versprochen, Papa,« entgegnete trotzig der Knabe.
»Ich wollte die neue Puppe aber heute mit zu Bette nehmen,« klagte das Mädchen weinerlich.
Der Vater stand, auf eine Nothlüge sinnend, seinen verwöhnten, kleinen Tyrannen gegenüber, als ihm die Fremde mit einem heiteren Einfall zu Hülfe kam. »Für heute hat Euch der Vater etwas Anderes mitgebracht, Kinder,« sagte sie, aus dem Hintergrunde vortretend. »Einen Gast, den er aus dem Schnee hervorgezogen.«
249 »Was ist ein Gast? Wo ist der Gast?« fragten wiederum einstimmig Märchen und Berthchen.
»Ein Gast ist ein fremder guter Freund und der gute Freund bin ich,« antwortete die Schweizerin. »Seht mich an, Leutchen, gefalle ich Euch?«
»Du gefällst mir!« rief der Knabe entschlossen.
»Du gefällst mir!« wiederhallte eine leise Stimme in des Vaters Herzen.
Die Fremde war von großer, kräftiger, aber ebenmäßiger Gestalt, der starkgebaute Kopf mit vollen dunkeln Flechten gekrönt; die Gesichtszüge mochten nicht fein zu nennen sein, aber sie waren von einer edlen Harmonie, offen und vertrauenerweckend, die Breite der Stirn und des Nasenrückens deuteten, wenn Physiognomikern zu trauen ist, auf einen besonnenen, starken Willen, dahingegen zwischen dem Blick der klaren, braunen Augen und den Bewegungen der Lippen jene heiter anmuthende Correspondenz waltete, die uns zu sagen scheint: in diesem Menschenkinde vertragen sich Seele und Leib und wissen nichts von den Behelligungen der kleinen Störenfriede, die wir Nerven nennen. Manche leidvolle Erfahrung mochte aus dieser Physiognomie zu lesen sein, wie denn auch der dunkle Anzug noch die Trauer um eine kürzliche Verwaisung bekundete; der Grundzug der Erscheinung war indessen ein sicheres frohes Bewußtsein, wie es zu dem erwählten Berufe sich am schicklichsten eignete.
»Kann man mit einem Gaste aber auch spielen?« fragte zweifelhaft nergelnd die kleine Bertha.
250 »Gewiß kann man das,« antwortete die Fremde, »mit artigen Kindern spielt jeder Gast gern.«
»Aber – aber – meine alte Puppe heißt Minna und meine neue wollte ich Anna rufen, ich weiß aber, nicht, wie ich Dich rufen soll, fremder Gast?«
»Nenne mich Cornelie,« sagte die Schweizerin und setzte darauf lächelnd gegen ihren Wirth gewendet hinzu: »Mein guter Vater hat mir, seinen Römern zu Liebe, diesen ein wenig anspruchsvoll klingenden Namen gegeben, der zu meinem schlichten Familiennamen nicht sonderlich stimmen mag. Cornelie Wille heißt die arme Reisende, der Sie so freundlich Schutz und Obdach gewährt haben, Herr Wolfram.«
Wolfram hätte entgegnen mögen, daß er den Sinn beider Namen der Erscheinung ihrer Trägerin wohl entsprechend finde, er begnügte sich indessen mit einer stummen Verbeugung und ermahnte seine Kinder, die sich neugierig betrachtend und betastend an ihren Gast drängten, Tante Cornelien nicht beschwerlich zu fallen.
»Eine Tante?« rief Max enttäuscht, »eine Tante bist Du, Cornelie? weiter nichts? Ich dachte, Du wärest unsere neue Mutter. Ich habe schon so viele Tanten, und die Muhme sagt, Papa brächte uns nun auch bald eine neue Mutter.« –
Wolfram fühlte sich erröthen; der Diener, der just die angerichtete Tafel meldete, lächelte so unverschämt, daß er ihn auf der Stelle hätte aus dem Hause jagen mögen. Fräulein Wille dahingegen blickte mit der un 251befangensten Ruhe; Wolfram bot ihr den Arm und führte sie in das Speisezimmer.
Auch die Kinder nahmen an der wohlbesetzten Tafel Platz und bemerkte Cornelie mit Staunen ihre wählerische und näschige Verwöhnung. Sie forderten von den sich widerstrebendsten Gerichten und was sie forderten, konnte ihnen nicht reichlich genug vorgelegt werden, wurde gekostet, bemäkelt und gegen Einladenderes vertauscht. Der Vater gestand, daß, wenn die Eßstunde sich heute auch weit über die Regel verzögert habe, er doch auch für gewöhnlich die Hauptmahlzeit spät am Tage nehme und das dadurch unvermeidliche lange Aufsitzen den Kindern nicht für zuträglich halte, daß er sich aber noch nicht habe entschließen können, die Tagesordnung zu ändern und den Abend in trauriger Einsamkeit hinzubringen. »Der Geist heilsamer Zucht ist mit dem Glück aus diesem mutterlosen Hause gewichen,« sagte er seufzend und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Und es fällt mir so schwer ›nein‹ zu sagen.«
Cornelie schwieg auf diese Klage und Selbstanklage; ein Pröbchen ihrer eigenen projectirten Erziehungsmethode sollte dem Kläger indessen nicht erspart werden. Sie lenkte die Unterhaltung in kaum merklichem Uebergang auf ihre schweizerische Heimath und schilderte, scheinbar nur an den Vater gerichtet, aber in einer für Kinder anschaulichen Weise und mit einzelnen Benennungen, die ihnen verständlich, aber neu, daher reizend waren, das Maienfest der Alpenauffahrt, so wie sie es jedes Jahr in ihres Vaters Kirchspiele erlebt hatte. Die Rinder 252heerden ziehen auf die saftigen Matten, die hinanreichen bis zu den himmelhohen Firnen, auf welchen der Schnee auch im Sommer nicht schmilzt; voran, mit Blumen bekränzt, die gescheckte Leitkuh, der die anderen mit ihren Kälbchen folgen, wie gute Kinder der erfahrenen Ahne. Alle tragen eine Glocke um den Hals, deren wohlgestimmtes Geläut Stolz und Lust der Sennen und sogar der Thiere ist. Nach der Heerde kommen die Männer und Weiber der Gemeinde in ihrem Sonntagsstaat, auch die Kinder, wenn sie das Jahr über gehorsam und fleißig gewesen sind. Alles ist voll Dank und Freude, weil nach dem langen, trüben Winter die Erde wieder grün und der Himmel blau geworden sind. Sie jauchzen, singen und blasen auf großen gewundenen Hörnern die alte Heimathsweise, die mit Recht der Kuhreigen heißt, denn wenn ein Alpenrind die Weise hört, da ist's, als ob ihm, wie den Alpenmenschen auch, vor Lust das Herz im Leibe hüpfe. Und hinter den frohen Leuten drein, da schließen den Zug die Bergpferde und Maulthiere, welche die hölzernen Milchkübel tragen und das übrige Geräth, das der Senne bedarf, wenn er den Sommer über oben bleibt auf der Alm, um zwischen den Felsen das Heu zum Winterfutter zu sammeln und in den braunen Gaden die großen Käse zu bereiten, die weit hinaus in die Welt bis nach Rosenhain als Leckerbissen versendet werden. Nun aber ist die Matte erstiegen, nun wird erst recht gejauchzt, gesungen und zum letzten Male für einen Sommer lang mitsammen geschmaust, bis die Sonne niedergeht; und dann ziehen 253 die Weiber und Kinder wieder heim in ihr Thal, die Großen schaffen und die Kleinen lernen, daß wenn im Herbst die Sennen zurückkehren von der Alm, auch im Hause das Rechte geschehen sei.
Max und Bertha hatten Messer und Gabel fallen und den Plumpudding, von dem sie sich zugelangt, unberührt stehen lassen, um gespannt, unter allerlei Zwischenfragen der Schilderung aus ihres Gastes Daheim zu lauschen. Sie hatten nach Kinderart geschaut, was sie gehört, und wurden nicht müde, mehr zu hören und zu schauen. Da nun auch der Vater zufrieden blickte, so ließ Cornelie sich nicht lange zu einem neuen Vortrag nöthigen. Sie erzählte von einem Bübli und Maidli, die Bruder und Schwester und die allerbravsten Kinder waren im ganzen Dorf. Und als sie groß geworden, da wurde das Bübli ein Jägerbursch, der an den Zacken der Eisberge hinankletterte, um die Gemsböcke zu schießen, die der Förster verkaufte, manchmal aber auch einen guten Braten auf seines Mütterchens Sonntagstische gaben. Das Maidli dahingegen hütete die Gaisen des Dorfs, die nicht mit auf die Alm hinangetrieben worden waren. Eines Tages aber ist ein böser Raubgeier aus der Luft herniedergestoßen, hat ein Lämmchen aus des Maidli's Heerde in seinen krummen Schnabel gefaßt und will es zur Atzung hinaus in sein Felsennest tragen, das arme Maidli weint und schreit um ihr anvertrautes Lamm, der Jägerbursch aber, der mit seiner Büchse auf einer Klippe über dem Thale steht, zielt, drückt los, und siehe, er fängt das Lämmchen lebendig in seinem Arm, der 254 Geier aber fällt todt zu seinen Füßen nieder; der Bursch zieht eine Feder aus seinem Flügel, steckt sie an seinen Hut und trägt das Lämmchen hinunter zu der Schwester, die es herzt und küßt und den Bruder, seitdem er den bösen Geier todtgeschossen, noch viel lieber hat als zuvor.
»Ich will auch einen bösen Geier todtschießen und eine Geierfeder an meinen Hut stecken,« rief Max mit leuchtenden Augen.
»Und ich will auch Gaisenlämmchen auf die Weide treiben,« sagte Bertha, indem sie die Puppe, die sie während des Essens im Arm behalten hatte, in die Ecke schleuderte.
Cornelie erklärte, daß sie für solche anstrengenden Geschäfte viel zu verwöhnte kleine Leute seien. Ein Mädchen, das in Sturm und Wetter eine Heerde in den Bergen hüten, und ein Bursche, der zwischen Felsenklippen Gemsen und Raubvögel schießen soll, die müssen, so lange sie klein sind, Abends mit den Vögelchen zu Bette gehen, um Morgens mit den Vögelchen wieder munter zu sein und dürfen zur Nacht nichts weiter als einen Napf voll Milchsuppe essen.
»Ich will gleich Milchsuppe essen,« sagte Bertha und ruhte nicht, bis ihr ein Teller Milch gebracht wurde, den sie natürlich, kaum gekostet, wieder fortschob.
Max aber sprang auf, indem er versicherte, er werde von nun ab alle Tage mit den Vögelchen aufstehen und augenblicklich zu Bette gehen, aber Tante Cornelie müsse ihn ausziehen und so lange von ihrem Bübli daheim erzählen, bis er eingeschlafen sei.
255 Der Vater sah sich der Pein eines Verweises an seinen zudringlichen, kleinen Quälgeist überhoben, da Cornelie die Bitte aussprach, heute Abend Muhmendienste bei den Kindern versehen zu dürfen.
»Ich mache da wieder einmal die Erfahrung,« sagte sie, »wie einfach der Stoff sein darf, mit dem wir Kinder unterhalten. Ich möchte sogar glauben, daß die Poesie unserer lieben alten Feenmärchen nur als seltene Reizmittel geboten und die Domaine der Mütter oder zärtlicher Hätscheltanten bleiben sollten. Wir, die wir zum Lehren, das heißt zum Entwickeln berufen sind, wollen der Wirklichkeit entnehmen, was die beiden stärksten Bildungstriebe, den der Neugier und der Nachahmung in unseren Pfleglingen anregt.«
Max und Bertha an der Hand, betrat Cornelie das Schlafzimmer der Kinder. Das jüngste, dessen Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte, wurde durch des Knaben laute Fragen und Tritte gestört; auch die alte Wärterin, die über ihrem Strickzeug vor der verhüllten Lampe eingenickt war, fuhr in die Höhe und maß den fremden Eindringling mit just nicht holden Blicken. Cornelie entkleidete die Kinder, deckte sie zu und sagte dann zwischen ihren Bettchen stehend:
»Nun wollen wir beten.«
»Beten, Du sollst ja erzählen von den Ziegenlämmchen daheim,« schmollte Bertha.
»Beten! was ist beten?« fragte Max.
»Denken an Deinen Vater im Himmel,« antwortete Cornelie.
256 »Meine Mama ist allein im Himmel, der Vater sitzt ja drüben im Saal und trinkt noch Wein,« widersprach der Knabe, während die alte Kinderfrau den Vorwurf der Verwahrlosung, den sie in den Mienen der in's Haus geschneiten Fremden lesen mochte, mit der bündigen Erklärung ablehnte: für die Kinder wären derlei Verschen doch nur unverständliches Geplärr und außerdem müsse Alles vermieden werden, was Herrn Wolframs überirdischen Gedanken Vorschub leiste.
Ein trockener, bellender Ton aus der Wiege der kleinen Melanie hinderte die Gegenrede. »Hustet das Kind öfter in dieser Weise?« fragte Cornelie, an die Wiege tretend.
Sie habe es seit ein paar Tagen ein bischen auf der Brust; das passire allen Kindern in dieser Jahreszeit, lautete der Bescheid.
Cornelie beugte sich über die Kleine. Sie hörte einen schrillpfeifenden Athem. sah die scharf abgezirkelte Röthe der Wangen, fühlte die trockene Hitze der Händchen. Sie war diesen Symptomen wiederholt begegnet bei dem Bruder, dem sie Mutter geworden und der vor zwei Jahren ertrunken war, als er im See mit dem Vater badete.
»Das Kind ist krank!« sagte sie. »Schicken Sie ohne Verzug nach einem Arzt.«
»Warum nicht gar!« brummte die Muhme. »Sollen wir Herrn Wolfram den Tod in den Leib jagen mit dem unnützen Schreck?«
Wolfram aber, der hinter dem Thürvorhang der 257 Scene in der Kinderstube gelauscht und den besorgten Ausspruch der Fremden vernommen hatte, erklärte vortretend, daß er alsobald nach der Stadt reiten und den Hausarzt herbeiholen werde. Da er den Wagen, seiner wartend, angespannt dort vorfinde, hoffe er in zwei Stunden zurückgekehrt zu sein. Sein Reitpferd konnte nicht hastig genug gesattelt werden. Binnen weniger Minuten sprengte er davon.
Mitten in der Nacht kehrte er zurück. Der vertraute Hausarzt, der ihn begleitete, hatte während der Fahrt über die mittheilsame Fassung seines jungen Freundes den Kopf geschüttelt; gestern noch, – die alte Muhme sagte es mit Recht, – würde eine gleich spannende Angst ihm die Kehle zugeschnürt haben.
Aber Doctor Heimbruch schüttelte nicht mehr, sondern neigte beifällig das Haupt und pries des Freundes richtigen Vertrauensblick, als er die problematische Reisende, von welcher jener zu erzählen nicht müde geworden war, kennen gelernt hatte und sie binnen weniger Stunden im fremden Hause sicher wie im eigenen walten sah. Sie hatte der kleinen Patientin durch kalte Aufschläge und das Einflößen warmer Milch eine erleichternde Hautthätigkeit erregt, die beklemmenden Stoffe hatten sich von der Brust gelöst; das Kind schlummerte mit gleichmäßigen Athemzügen; die fremde Pflegerin saß an der Wiege Seite, die linke Hand unverrückt auf der Kleinen Stirn, die rechte frei für wechselnde Hülfleistungen.
258 Die Gefahr war somit beseitigt; dem Doctor blieb zu rathen nichts übrig, als diese vorbeugenden Mittel die Nacht hindurch fortzusetzen und für die Zukunft dem Kinde verdoppelte Aufmerksamkeit zuzuwenden, da Croopanfälle bis zu einem gewissen Alter gern repetiren und der Moment des Einschreitens leicht verpaßt werde.
Thränen in den Augen, stumm vor Bewegung drückte der Vater Cornelien die Hand; er sah in ihr die Retterin seines geliebtesten Kindes und dankte Gott für das unruhige Mahnen, das ihn in sein Haus zurückgetrieben hatte, um in verhängnißvoller Stunde ihm einen helfenden Engel entgegen zu führen.
Cornelie ließ es sich nicht nehmen, die Nacht hindurch in der Kinderstube wach zu bleiben. Wolframs Bedenken, daß sie von der Reise erschöpft und, ruhebedürftig sein müsse, wies sie lächelnd zurück, indem sie meinte, sie werde auf der Fahrt nach Moskau reichlich Zeit zum Ausschlafen haben.
Als bei Tagesgrauen der Doctor Rosenhain verließ, sagte er zu dem beruhigten Vater: »Treff ist Trumpf, Freund. Hätten Sie mit der Laterne gesucht nach einer festen Hand, die Ihrem Hauswesen Noth thut wie das Brod, Sie würden nicht leicht einen Fund gemacht haben wie den dieser blindlings auf der Landstraße aufgegriffenen Person. Halten Sie sie fest um jeden Preis und halten Sie sie warm. Sie ist die Rechte.«
»Ja, sie ist die Rechte!« sagte Wolfram, indem er, nunmehr allein, mit unruhigen Schritten, in seinem 259 Zimmer auf- und niederging. Er dachte nicht daran, sich noch zu legen; er dachte aber auch nicht daran, besonnen erst zu prüfen, was fix und fertig als ein neues Glück vor seiner Seele stand. Der Tag war angebrochen, ein klarer, sonniger Wintertag, der das Gemüth erfrischt. Wolfram hatte fast vergessen, daß und wie bald er ihm die Fremde entführen müsse, die er so lebhaft sich und seinem Hause anzueignen verlangte. Als er daher um die Frühstücksstunde in das Wohnzimmer hinunter stieg und ihm Cornelie völlig zur Abreise gekleidet entgegentrat, durchzuckte ihn ein jäher Zweifel gleich dem heftigsten Schreck. »Sie gehen! – Sie gehen!« rief er aus.
»Ich gehe beruhigt,« versetzte Cornelia, indem sie ihm die Hand reichte. »Noch schläft Ihr Töchterchen, Herr Wolfram. Wenn es aber erwacht, wird es Ihnen gesund und fröhlich entgegenlächeln.«
»Dank Gott und Ihnen!« sagte Wolfram. »Aber warum diese Eile, Fräulein Wille? Der Bahnzug, welcher ohne Aufenthalt nach Norden führt, geht erst am Spätnachmittage ab. Warten Sie mindestens, bis der Schlitten, der den Doctor nach der Stadt bringt, von dort zurückgekehrt sein wird, und thun Sie dem Hause, dessen Wohlthäterin Sie geworden sind, nicht die Unehre an, es in der denkbar unbequemsten Weise zu verlassen.«
Cornelia fügte sich dem Wunsche, der ihrem freundlichen Wirth so sichtlich von Herzen ging; sie legte Mantel und Hut wieder ab und verabschiedete in der 260 Gesindestube die Bauerfrau, welche die Botendienste in der Stadt versah und von ihr zum Geleit dorthin bestellt worden war. Für ihre eigene Person würde sie die winterliche Fußwanderung so wenig wie die von gestern Abend gescheut haben.
Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, ging Wolfram mit großen Schritten in demselben auf und ab. Sie setzte sich an das Fenster und indem sie in die Landschaft hinausblickte, die seit gestern sich unübersehbar in gleichförmiges Weiß gehüllt hatte, versank auch sie in herzbewegende Gedanken. War es doch wie ein Leichentuch, das sie von ihrem vergangenen Leben schied, und wie ein Schleier, der ohne Muster wie ohne Durchblick über ihre Zukunft gebreitet lag.
Plötzlich fühlte sie ihre Hand ergriffen; der junge Mann stand vor ihr in sichtbarer Bewegung. Ein paar Momente schwieg er noch, dann sprach er mit mühsamer Fassung:
»Wir sind uns unter besonderen Verhältnissen zugeführt worden, Fräulein Wille. Ich Ihnen zwar nur während eines augenblicklichen Ungemachs; Sie mir dahingegen in einem Zustande dringend erkannten Bedürfens, den ich, auch abgesehen von der Gefahr meines Kindes, einen kritischen nennen dürfte. Wollen Sie in dieser besonderen Lage mir eine Frage zu Gute halten, die sonsthin bei so flüchtiger Bekanntschaft Sie vielleicht als ungestattet ablehnen würden?«
Cornelia lächelte über diese emphatische Einführung. 261 »Ich wüßte keine Frage,« antwortete sie, »die ich Ihnen nicht unumwunden beantworten könnte.«
»Nun denn: Sind Sie noch frei, Fräulein Wille?« stieß Wolfram hervor, setzte aber, da er ihre Verwunderung bemerkte, hastig hinzu: »Ich will sagen, ist es ein bindendes Abkommen, ein festgestelltes Verhältniß, eine glückverheißende Aussicht, die Sie in die Ferne ziehen?«
»Nichts von alledem, Herr Wolfram,« erwiderte Cornelie. »Lediglich die Hoffnung, an der Hand einer wohlmeinenden, aber mir unbekannten Verwandtin dort leichter als anderwärts eine Stellung zu finden, die meinen Anlagen und allenfalls meinen Ansprüchen gemäß wäre.«
»Und würden Sie diese Hoffnung nicht dem Wohle einer Familie zum Opfer bringen, deren tiefer Mangel Ihnen nicht entgangen sein kann? Sie sprachen es gestern aus, die Leitung mutterloser Kinder sei Ihr eigenster, vorgesetzter Beruf. Wollen Sie es nun nicht als eine göttliche Fügung erkennen, daß in der nämlichen Stunde, wo Sie ahnungslos so sprachen, Sie in ein Haus geführt worden sind, in welchem drei mutterlose Kinder geistig und körperlich verkümmern?«
Der junge Mann blickte gespannt, als ob sein Leben von dem zögernden Ja oder Nein abhinge, auf die Fremde nieder, die unbeweglich und undurchdringlich, die Hände im Schoß gefaltet und die Augen auf das öde Schneefeld gerichtet, ihm gegenüber saß.
262 »Sie schweigen?« rief er ungeduldig. »Sie hegen Zweifel, Bedenken – –?«
»Nicht um meinetwillen,« versetzte Cornelie mit ruhigem Ernst. »Mein äußeres Loos wird jederzeit einem raschen Entschluß und der Gunst oder Ungunst dessen, was wir Zufall nennen, anheimgegeben sein. Sie aber, Herr Wolfram, sind zu einer streng geprüften Wahl nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Ich halbe noch keine Stellung unter Fremden eingenommen, Ihnen daher kein Zeugniß meines Könnens, oder auch nur Wollens anzubieten – –«
»Was würde,« unterbrach sie Wolfram, »was würde ein geschriebenes Zeugniß bedeuten neben dem, welches in Ihrer ganzen Persönlichkeit den überzeugendsten Ausdruck gefunden hat?«
»Sie kennen mich erst seit wenigen Stunden – –«
»Mir ist als hätte ich Sie lebenslang gekannt, als kännte ich Sie so genau wie mich selbst und ich vertraue Ihnen mehr, als ich mir selbst vertraue.«
»Sie sind gütig, Herr Wolfram,« entgegnete Cornelie lächelnd. »Gott gebe, daß Ihre warmherzigen Impulse Sie niemals irre führen.«
»Hier sicher nicht« rief Wolfram.
»Und wäre es,« fuhr Cornelia fort, »so mögen Sie bei einer so wichtigen Entscheidung Rücksichten nach Außen hin zu nehmen, den Einfluß von Angehörigen, den Rath von Freunden zu beachten haben.«
»Ich habe keinen Einfluß, keinen Rath zu beachten als den meines Gewissens und meiner Vernunft,« ver 263setzte Wolfram. »Ich bin in jedem Sinne ein unabhängiger Mann. Was Sie wagen, wagen Sie mit mir allein. Wollen Sie es mit mir wagen?«
»Ich will es,« antwortete Cornelie, in seine dargebotene Hand einschlagend. »Ich will es gern, ich will es getrost. Lassen Sie es uns mit Gott zusammen versuchen.«
(Die Fortsetzung dieser Erzählung folgt im zweiten Bande.)
Zweiter Band.
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Die Schweizerin blieb und ein rüstiger Geist, ein frischerer als je darin gewaltet, zog mit ihr in dem mutterlosen deutschen Hause ein. Sie hatte mit dem ihr eigenen besonnenen Tact ihrer Stellung von Hause aus, statt eines gemüthlichen Nimbus eine contractliche Basis gegeben, indem sie, – nach dem eventuel befriedigenden Ablauf einer dreimonatlichen Probezeit, auf der sie bestand, – einen Gehalt beanspruchte, nicht über, aber auch nicht unter dem Durchschnittsmaß, das in angesehenen Häusern gang und gebe ist. Ihr reicher, junger Principal würde mit Freuden den zehnfachen Betrag gewährt oder in der zartesten Form geboten haben, um einigermaßen zu lohnen, was er eine Wohlthat, ja ein Opfer nannte; diese gründliche Punctation aber war ihm peinvoll; es machte ihn schamroth, sich Cornelia Wille als eine ihm Bedienstete vorzustellen; nur mit Widerwillen warf er einen Blick auf ihre ihm aufgenöthigten Geburts- und Heimathsscheine; wußte er denn nicht, wen und was er an Cornelia Wille besaß?
Sie legte gleich am ersten Tage ihren Traueranzug ab und kleidete sich fortan in helle, lebhafte Farben. Wolfram fand dieselben Corneliens stark entwickelten 4 Formen und ihrem kräftigen Colorit weit weniger vortheilhaft als das mildernde Schwarz; er dachte mit Wehmuth an seine Melanie in ihren weißen duftigen Gewändern; Kinder aber lieben ein frisches Farbenspiel und so wurde die neue Gouvernante durch ihre bloße Erscheinung mit dem aufmunternden, klangvollen Organ und dem allezeit heiteren Blick der kleinen flügellahmen Schaar zu einer Art von Labsal. Die Langeweile schwand in Corneliens Gegenwart, die Spiele wurden zu Beschäftigungen und Anfängen des Lernens, eine geregelte Kost, eine kräftigende Wartung ließen neben dem Körper auch die verhätschelten Gemüthsanlagen erstarken; unter knappen, aber unumstößlichen Geboten wurde das verbietende Nein je mehr und mehr zu einem seltenen Laut und so bewahrte sich wieder einmal die alte Erfahrung, mit welcher zärtliche Eltern der Neuzeit es sich allzu oft bequem machen: kein Ungemach fällt Kindern auf die Dauer lästiger als die Willkür; unbewußt schmachten sie nach einer Autorität und küssen eine züchtigende Hand weit eher als eine streichelnde. Geht es Kindervölkern oder Greisenvölkern, die wieder zu kinderartigen geworden sind, mit der Freiheit, die Männer verlangt, denn nicht just ebenso?
Eine nicht minder wohlthätige, wenn auch schwierigere Aufgabe als die der Gouvernante hatte die Hausverwalterin zu lösen, deren Regiment die mütterliche Statthalterschaft in sich schloß. Im Gesindezimmer wie in der Kinderstube war durch jahrelange Verwöhnung eine tyrannisirende Zuchtlosigkeit eingeschlichen, die durch gleißnerische Formen 5 einem scharfblickenden Auge nur noch widerwärtiger wurde. Eine Verwandtin des Hauses an oberster Stelle oder mindestens eine Landeseingeborene, von der Familie Empfohlene würde hier leichteres Spiel gehabt haben als die abenteuerlich eingeführte, angezweifelte Fremde. Fräulein Wille hatte gegen Eigensucht und Scheelsucht, Klatschereien und Zänkereien, Entschuldigungen und Anschuldigungen mit den schärfsten Waffen einzuschreiten; wer sich nicht fügen wollte, mußte weichen. Eine stricte Vertheilung der Arbeit wurde eingeführt; jeder erhielt sein abgegrenztes Feld, auf welchem er allein verantwortlich war; das unerläßliche Ineinandergreifen und gegenseitige Aushelfen ordnete und überwachte Cornelie selbst; sie war Morgens am frühesten und Abends am spätesten rege auf ihrem Platz. Bevor der Winter zu Ende ging, hatte das unharmonische Hausgetriebe sich zu einem still wirkenden Organismus umgewandelt; ein Jeder empfand seinen eigenen Gewinn, seitdem er die angemaßten Befugnisse einer regelnden Hand überantworten mußte.
Am tiefsten aber empfand diesen Gewinn des Hauses junger Herr. Wie heiter verlief schon das Christfest, vor dessen Oedigkeit ihm Monate zuvor gebangt hatte!
In der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit war es Cornelien gelungen, den Kindern eine tiefere Bedeutung der Feier ahnen zu lassen und da das Beschenktwerden den Verwöhnten etwas Alltägliches war, hatte sie den Reiz des Schenkens in ihnen geweckt, einen Reiz, dessen Seligkeit von Grund aus nur der Arme kennt. Die Kinder hatten, unter der Spannung einer Heimlichkeit zum ersten 6 Male etwas geschafft, ein getuschtes Bild, eine Schnitzerei, sie hatten von dem Gewohnten etwas entbehrt, von dem Ueberflüssigen etwas dran gegeben, mit dem sie, das Christkind zu ehren, Nahe- und Fernstehenden eine Bescheerung bereiteten. Sie waren thätig, froh und dankbar wie noch nie unter dem Lichterbaum, und wie viel froher und dankbarer war der Vater.
Die Liebe hatte ihm jeden Mangel gedeckt; kein Zweifel aber, daß selber an der geliebten Melanie Seite er auf die Dauer das allseitige Behagen am häuslichen Herd, die ernste verstehende Theilnahme eines Gebildeten an seinem äußeren wie inneren Lebensloose vermißt haben würde. Es wurde ihm zum Bedürfniß, alle seine Interessen mit Cornelien zu berathen. In erster Ordnung auch die ökonomische Wirksamkeit, die sein Schwiegervater so lebhaft befürwortet hatte und zu welcher auch die praktisch erfahrene Schweizerin ihn unablässig ermunterte. Melanie war Edmunds Geliebte gewesen; Cornelia wurde seine Freundin. Zwischen den behelligenden Erinnerungen an ein wolkenloses Glück und einen vernichtenden Schmerz leitete sie ihn kaum merklich in das Stadium der Ergebung und der Ueberwindung. Hoffen und Wollen regten sich, das Bild der vielbeweinten Frau verblaßte unter einer Regung, für die er noch nach keinem Namen suchte.
Muß es erst gesagt werden, daß dieses lichtvolle Durchdringen naturgemäß auch tiefe, ja häßliche Schatten warf? In seiner wohligen Gegenwart wurde es Wolfram indessen nicht allzu schwer, der mancherlei 7 Verstimmungen Herr zu werden, welche einige Wochen früher ihn zur äußersten Ungeduld gereizt haben würden. Zu allernächst des Verdrusses über die posttägigen Klagen und Anklagen seiner schwachmüthigen Schwiegermutter und die unverblümt zweideutigen Auslegungen ihres starkmüthigen Gemahls.
Wolfram hatte sich bemüht die Persönlichkeit Corneliens, wie Dank ihr, seinen häuslichen Gewinn den Großeltern seiner Kinder in das hellste Licht zu setzen. Um so widerwärtiger dünkte es ihm nun, Mißtrauen, Abneigung, kleinlichste Verdächtigungen zu erfahren just von der Seite, von welcher er eine Befestigung des schwierigen Verhältnisses am ersten hätte erwarten sollen. War doch der Welt gegenüber dieses Verhältniß unvermeidlich in ein schiefes Licht gesetzt: die junge schöne, gänzlich unbekannte, unempfohlene Gouvernante, ohne jegliche Präliminarien, ja gleichsam von der Straße aufgerafft, über Nacht versetzt in das Haus des nur wenige Jahre älteren, reichen, wohlansehnlichen Wittwers, nach dessen Gefallen so manches Frauenauge geblinkt hatte; ihr umwandelnder Einfluß in diesem Hause; die Unterwürfigkeit des Herrn der Dienerin gegenüber: wie hätte das alles ohne die grellste Mißdeutung bleiben können? und wie hätte durch die Nachrede der entlassenen Dienstboten der Mißdeutung nicht ein starkes Ferment zugeführt werden sollen?
Wolfram ertrug diese Böswilligkeiten gelassen, so lange er wähnen durfte, daß Cornelie in ihrer Zurückgezogenheit von denselben unberührt bliebe. Ihre ruhige, 8 selbstbewußte Würde täuschte ihn; sie spürte die Nichtbeachtung von Verwandten wie Bekannten und wußte sie als Geringschätzung zu deuten. Aber sie war von Haus aus darauf gefaßt gewesen und nahm sie als kaum erläßliche Bedingung einer Wirksamkeit, die in jedem andern Betracht ihr volle Befriedigung bot. »Wenn,« so hatte ihr Vater einst gesagt, »wenn Neigung oder Schicksal eine Frau, nur auf sich selbst gestützt, durch das Leben treibt, muß sie gegen die Macht gewappnet sein, der sie in ihrem natürlichsten Zusammenhange nicht scheu genug aus dem Wege gehen kann;« und seine Tochter, welche beide vereint, Neigung und Schicksal selbstständig stellten, hatte mit Bewußtsein dem natürlichsten Zusammenhange entsagt und sich gegen die Macht des bösen Scheins gerüstet.
Wolframs Gelassenheit hörte indessen auf, als er je mehr und mehr inne wurde, daß ein anderes Wesen tiefer und nachhaltiger als er selbst durch diese Aergernisse Schaden litt. Mochten sie ihm nun von oben herab als Rath, Warnung, Vorwurf oder von unten hinan als leichtfertige Neckerei und Klatscherei zu Ohren kommen, so brauste er jedesmal zornig auf gegen die Unbill, welche den reinsten Absichten entgegentritt. Ohne zu bedenken, wie sehr er üblen Auslegungen Vorschub leiste, zog er sich von allem geselligen Verkehr zurück; je mehr ihm aber sein Haus zu einer anmuthigen Heimath wurde, um so widerwilliger dachte er daran, dieses friedliche Stillleben aufzugeben gegen eine geräuschvolle Thätigkeit, die alle Kräfte in 9 Anspruch nahm und ihm in seinem erfüllenden Behagen überflüssig dünkte, wie zu der Zeit, da er Melanie's Gatte war.
Es entsprach daher nur seinem heimlichen Verlangen, daß der eingeleitete Gutskauf sich über Erwarten in die Länge zog. Der Eigenthümer hatte seine Forderung erheblich gesteigert, da er sah, daß der Begehrer den Kaufschilling nicht alsobald disponibel hatte. Einen höheren Preis bewilligen wollte Wolfram aber nicht; seinen Schwiegervater beanspruchen wollte er in seiner gegenwärtigen Mißstimmung gegen den Eschenbachschen Hausgeist noch viel weniger und seinen Bruder allzu scharf zu drängen widerstand ihm auch.
Er war, dem Namen nach, Theilhaber der altrenommirten Wollhandlung, die von seinem Vater auf dessen ältesten Sohn übergegangen und von diesem durch weitverzweigte Spinnereien und Webereien zu noch größerer Bedeutung gefördert worden war. Edmunds Erbtheil war zu einem höheren Ertrage darin angelegt, als er bei der angestrengtesten landwirthschaftlichen Thätigkeit erzielen konnte; warum durch das plötzliche Herausziehen eines namhaften Kapitals der Firma Verlegenheiten, vielleicht Schädigung bereiten? Ein gutes Theil Opposition gegen die sich immer rücksichtsloser äußernden mißtrauischen Warnungen seines Schwiegervaters gesellten sich der brüderlichen Gefälligkeit und angeborenen Lässigkeit und so geschah es, daß bei anbrechendem Frühling, die wichtige Erwerbung, zu deren Abschluß auch Fräulein Wille drängte, nicht weiter ge 10diehen war, als an jenem Winterabend, wo der Consul die erste Einleitung gebilligt hatte.
An einem sonnigen Märztage saß Edmund mit den Kindern und Cornelien zum ersten Male in der geschützten Pergola, an welcher das Geisblatt junge Sprossen trieb. Stimmungsfähig wie wenige Männer spürte er den lindreizenden Frühlingsodem im innersten Seelengrund, und mit den süßesten Erinnerungen erwachte eine Anwandlung jener verlangenden Unruhe, die seit diesem Winter eingeschlummert schien. Auch Cornelia war schweigsam und innerlich bewegt, so wie er sie niemals gesehen hatte. Ein wehmüthiger Hauch verlieh ihrer edlen, bedeutenden Physiognomie in Edmunds Augen einen besonderen Zauber. In wenigen Wochen lief die ausbedungene Probezeit zu Ende. Sollte sie vor dem abzuschließenden Pakt zurückschrecken, oder – worüber sann sie sonst?
Der städtische Postbote brachte die eingegangenen Briefe; auch an Cornelien, die bisher nur zwei und dreimal eine Sendung von ihren Freunden aus der Schweiz erhalten hatte, war einer darunter. Sie betrachtete das Schreiben befremdet, bevor sie es erbrach; Wolfram bemerkte, wie sie während des Lesens erblaßte, dann dunkel erröthete, das Blatt darauf hastig zu sich steckte und schweigend ihre Handarbeit wieder aufnahm. Aber ihre Fingerspitzen zitterten und auch die Lippen zuckten wie in verhaltenem Schmerz. Nach einer Weile ging sie ohne erklärendes Wort in das Haus zurück.
11 Diese Bewegung in einem so ruhigen, sich selbst besitzenden Gemüthe hätte wohl auch die wenig argwöhnische Natur Edmund Wolframs stutzig machen dürfen. Wie oft hatte man ihm in ganzen und halben Worten die Frage vorgerückt: Was weißt Du, leichtgläubiger Thor, von den früheren Verbindungen und Erfahrungen dieser Fremden, der Du so uneingeschränkt vertraust? Solch ein Zweifel lag Wolframs Herzen indessen auch heute fern; mit besserem Grunde noch als am ersten Tage ihres Begegnens konnte er heute sagen: ich kenne diese Fremde und traue ihr mehr als mir selbst. Blitzartig durchzuckte ihn dagegen die Vermuthung, daß das erschütternde Schreiben eines von der Sorte sein möge, wie sie namenlos und giftigsten Inhalts ihm selber wiederholt zugekommen waren, in der unverkennbaren Absicht, ein ihm werth gewordenes Verhältniß zu stören. Er hatte diese Briefe jedesmal schleunigst verbrannt; die Handschrift jedoch war ihm in deutlicher Erinnerung und da Cornelia das Couvert des an sie gerichteten Briefes zu Boden hatte fallen lassen, hob er es auf, um sich zu überzeugen, ob sein Verdacht gegründet sei. Nach dem ersten Blick jedoch schleuderte er es wieder von sich und sprang in die Höhe, empört, wie er sich im Leben noch nie gefühlt hatte. Der Kampf gegen sein Glück wurde offenen Visirs und er wurde nicht blos wie bisher gegen den berufenen Vertheidiger, sondern gegen das wehrlose Opfer geführt: die Hand seiner Schwiegermutter war es, die sich zu diesem Eingriff in 12 den Frieden seines Hauses und Herzens erdreistete! Der Nebel, der ihn vor einer Viertelstunde noch dumpf bedrückt hatte, war plötzlich gescheucht; ein jacher Entschluß wallte in ihm auf. Mit hastigen Schritten stieg er die Stufen, die von der Terrasse in den Park führten, hinab.
Wenn Edmund Wolfram sich erregt fühlte, war es ihm, vielleicht unbewußt, eigen, das was blitzartig in ihm zuckte, sich in vernehmlichem Selbstgespräch klar zu machen; und so rief er denn auch jetzt laut, als frage er einen Freund: »Soll ich dieses herrliche Wesen ein Opfer kleinlicher Bosheit werden lassen nur darum, weil es die Wohlthäterin meines Hauses, weil es mir so theuer geworden ist, wie es zu sein verdient, weil es mir unentbehrlich geworden ist? Die reiche Fülle ihrer Kräfte und Gaben, die wahrlich einem Throne zu genügen im Stande wären, widmet Cornelie meinem bescheidenen Haus; sie webt und wirkt nur für mich und was habe ich ihr zu bieten als Entgelt für den letzten schwersten Verzicht, den ein Weib zu leisten vermag, für den Verzicht auf ihren Ruf, was – als mich selbst?«
Nachdem das entscheidende Wort ausgesprochen war, wurde er ruhiger; seine Schritte mäßigten sich, während er die große Hauptallee auf und niederging und still sinnend seinen Entschluß in jeglichem Betracht vor sich selbst zu rechtfertigen suchte.
»Und was dürfte mich abhalten, sie unauflöslich an mich zu binden? Stehe ich nicht frei und unabhängig ihr gegenüber? Soll ich auf Eigennutz und Vorurtheil Rück 13sicht nehmen? Bin ich nicht Herr über meine Kinder, darum weil sie zugleich Melanie's Kinder sind? Welche Frau wäre geschaffen für das schwere Amt einer zweiten Mutter wie diese klar und fest nur auf den edelsten Zweck gerichtete Natur? Würde sie, die ewig in meinem Herzen leben soll und leben wird, würde Melanie sie nicht mit vertrauender Freude an der Stelle sehen, der sie so früh entrissen wurde; ja, würde sie ihr nicht die ernste Liebe des Mannes gönnen, nachdem sie selbst die frohe Liebe des Jünglings so erfüllend besessen hat?«
Er kehrte auf die Terrasse zurück, wo seine Kinder unter Aufsicht eines jungen Mädchens noch spielten; drückte eines nach dem andern mit Inbrunst an sein Herz und ging dann rasch in das Haus. Er suchte Cornelien. Sie war nicht im Wohnzimmer, auch nicht im Schlafzimmer der Kinder. Mit Rührung überblickte er das weite, luftige Gemach; die drei kleinen Betten standen dicht um das der treuen Hüterin gereiht, so daß sie jedes von ihnen übersehen und mit den Händen erreichen konnte. Ja, ja, das war ein warmes, wohlgeschütztes Nest! Ja, ja, das war die ächte, die rechte zweite Mutter!
Die Thür zu Corneliens eigenem Zimmer stand halb geöffnet; er näherte sich ihm; die Teppiche deckten seinen leisen Schritt; zum ersten Male, seitdem es das der Erzieherin geworden, warf er einen Blick hinein. Cornelia saß in der Fensternische, gegen ihre Gewohnheit die Hände müßig im Schooß; helle Thränen rieselten 14 über ihre Wangen. Melanie hatte häufig geweint bei großer Freude und kleinem Leid. Niemals aber hatte er bemerkt, daß auch Cornelia geweint, ja sich niemals vorgestellt, daß sie zu weinen im Stande sei. Nun entschieden diese ersten Thränen sein letztes Schwanken.
»Warum weinen Sie, Cornelia?« fragte er, rasch vortretend und ihre Hand ergreifend. Eine Purpurwoge überströmte ihr Gesicht. Der innige Ausdruck seines Wortes und Blickes, der vertrauliche Name, den er sich zum ersten Male gestattete, konnten nicht mißverstanden werden. Doch hatte sie ihre Bewegung rasch überwunden und antwortete leiser als gewöhnlich, aber ruhig gefaßt: »Es ist heute ein Jahr, daß mein Vater starb, Herr Wolfram. Wollen Sie der Vereinsamten – –«
»O, daß Sie sich einsam fühlen, Cornelia!« unterbrach er sie, »daß Sie nicht eine Heimstätte gefunden haben bei denen, für die Sie so heimathlich wirken!«
Sie dankte ihm in einfachen herzlichen Worten für das beglückende Vertrauen, mit dem er sie in seinem Hause walten lasse wie in ihrem eigenen. Er ließ sie aber nicht zu Ende reden. »Sie wollen mich nicht verstehen,« sagte er, indem er ihre Hand an sein Herz drückte. »Theure Cornelia, fühlen Sie denn nicht, wie all mein Sehnen – –«
»Halten Sie ein!« rief Cornelia. Sie zog ihre Hand aus der seinen und erhob sich rasch. Ein Schauer rieselte über ihren Leib, sie war tödtlich blaß geworden. 15 »Sprechen Sie nicht unbedacht ein Wort, das uns trennen müßte.«
»Das uns unauflöslich verbinden sollte, so hoffte ich,« entgegnete Wolfram mit warmem Klang.
Sie schüttelte hastig den Kopf und schlug die Hände vor das Gesicht, um ihren Kampf zu verbergen. Edmund fuhr fort:
»Sie sind meinem Hause eine Friedensbringerin, meinen Kindern eine Mutter geworden, wollen, können Sie denn nicht auch – –«
»Nein, nein!« stammelte Cornelia mit einer abwehrenden Bewegung und verließ rasch das Zimmer.
Edmund ging in sein eigenes Cabinet, trat an das Fenster und sah die hohe Gestalt mit dem edelgeschnittenen Haupt sich zwischen den noch unbelaubten Alleen des Gartens hin und her bewegen. Der hastige Schritt, das flammende Roth der Wangen bekundeten eine leidenschaftliche Erregung; die letzten Strahlen der Sonne zauberten über die braunschwarze Krone des Haars einen goldigen Schimmer. Zum ersten Male fand Wolfram Cornelien schön. Was vor wenigen Minuten noch löbliche Absicht gewesen war, das wurde plötzlich zum Reiz, zum Verlangen.
»Wie adlig sicher ihr Gang, wie elastisch jede Bewegung!« dachte er mit Entzücken. »Sollte Dienen ihr Loos sein, da sie zum Ordnen, zum Gebieten geschaffen scheint? Und wie ergreifend dieser Ausdruck innerlichen Kampfes in den sonst so ruhigen Zügen! Aber woher dieser Kampf? Warum sträubt sie sich gegen 16 die Hingebung des Herzens, da sie alle Fähigkeiten einer starken Seele mir freiwillig zu eigen macht? Warum entzieht sie sich meinem Besitz?«
Während dieser auf und nieder wogenden Wünsche und Zweifel rang Cornelie mit einem Verlangen und Entsagen weit leidenschaftlicherer Natur als die ihres jungen Freundes. »Und warum,« so fragte sie sich, »warum soll ich ein Glück von mir weisen, nach welchem mein Herz mit jedem Pulsschlag verlangt? Hieß es im Voraus für alle Zeit der natürlichsten Befriedigung entsagen, wenn ich, klar sehend über die Bedingungen meiner äußeren Lebenslage, mir gelobte, die Gefühle in strenger Zucht zu halten, die eine andere Frau nicht nur beseligen, sondern auch ehren und zieren? Kostet ein aufgenöthigter Beruf dem Weibe ohne Markten des Herzens Recht?«
Sie setzte sich auf eine Gartenbank und stemmte beide Hände gegen die Brust, als ob sie die wallenden Wünsche darin bannen wolle, um dem besonnenen Urtheil, zu dem sie geboren und gebildet worden war; wieder Raum zu schaffen. Sie wiederholte sich jedes der Mahnworte des trefflichen Mannes, der vor einem Jahre in dieser Stunde des Sonnenunterganges von ihr geschieden war; Worte, durch die er sie auf die Entsagungen einer einsamen Zukunft vorbereitete. Sie hatte dazumal die Hand eines braven, aber ungeliebten Mannes in einfach bürgerlichen Verhältnissen ausgeschlagen und der Vater dieses Ablehnen nur gebilligt; dahingegen warnte er sie nun auch davor, die Blicke je zu einem 17 höher und glücklicher Gestellten aufzuschlagen. »Es gehört ein großes Maß gegenseitiger Bildung dazu, um unter ungleichen Verhältnissen in die nächste Verbindung zu treten,« hörte sie ihn sagen.
»Oder von Liebe, die alles Ungleiche gleich macht,« flüsterte ihr Herz dazwischen. Doch brachte sie die Lockung zum Schweigen und drängte die Gedanken in die von ihrem Vater gezogenen Bahnen zurück. Ein hoher Grad von Bildung! Dieser Mann verwöhnt durch das Glück, ungewöhnt an Widerstand, ausgewachsen, lebend bis heute unter Menschen, die selber wenn sie lieben nur sich selber leben, – ja, dann erst recht! – hatte dieser Mann die Bildung, das heißt die innerliche Freiheit, um in einem ungleichartigen Verhältnisse sich zu behaupten und dabei glücklich zu sein und zu bleiben? Der Brief, den sie vor einer Stunde von der Frau, die er Mutter nannte, erhalten, ließ ihr keinen Zweifel darüber, in welchem schiefen, ja häßlichen Lichte diese Menschen selber ihr gegenwärtiges, jeden Augenblick lösbares Verhältniß zu ihrem Angehörigen betrachteten. War Edmund Wolfram der Mann dazu, um unter dem Mißklang von Tadel, Spott und Vorwürfen seiner Lebensgenossen, unter dem grellsten Widerspruch die Stimme des Herzens voll und lauter durchzuführen?
Die Stimme des Herzens? O, sie gewiß, gewiß!
Aber stimmte sein Herz überein mit der Wahl, die seine Vernunft und vielleicht sein Gewissen getroffen hatten? Liebte er sie? War sie liebenswürdig für Einen, der eine Melanie geliebt? Ist überhaupt eine Frau 18 liebenswürdig, die unter strenger, fremder wie eigener Zucht gelernt hat, jeden beglückenden Impuls zu prüfen, jede Wallung zu unterdrücken? die sich gewöhnt hat, nicht der Neigung, sondern dem Willen das letzte Wort zu gönnen? Diese Frau könnte die Mutter seiner Kinder werden, seine Freundin im Unglück, die Gehülfin seiner Mühen, – aber sein Herz beglückendes Weib im ebenmäßigen Tageslauf, seine zweite Melanie?
Cornelia schüttelte wehmüthig das Haupt. Die Wünsche redeten begehrlich wider das vernünftige Erkennen: die letztgültige Entscheidung aber gab die Stimme, die ihr väterliches Erbtheil war.
War denn nun aber mit dem Abschluß heimlicher Wünsche genug geschehen? Mußte sie nicht auch dem Pflichtenkreise entsagen, in dem sie so heimathlich anmuthend wirkte? Glaubte sie sich ihrer Empfindungen so Herr und mächtig, um wie bisher unter den Augen des theuren Mannes weiterzuwirken? Herr und mächtig auch ihn der seinen?
Ein schmerzliches Lächeln umspielte noch einmal ihre Lippen. »Kein Mann,« so wiederholte sie sich, »kein Mann begehrt nach einer Frau, die ihrer Empfindungen so Herr und mächtig ist, wie ich der meinen bin und bleiben werde.«
Sie kehrte in das Haus zurück, einen Schatten bleicher als sonst, aber ruhig gefaßt nach ihrer Art. »Lassen Sie uns Freunde bleiben, Herr Wolfram,« sagte sie, indem sie Edmund die Hand reichte. »Lassen Sie mich Ihrem Hause dienen – –«
19 »Sie sollen nicht dienen, Cornelia!« unterbrach er sie »Sie sollen über mich und alles was mein ist– –«
»Kein Wort weiter!« rief Cornelia. »Kein Wort weiter, wenn ich weilen soll, wo ich glücklich bin.«
*
Das häusliche Verhältniß des jungen Wittwers zu der Erzieherin seiner Kinder blieb sonach unverändert, aber der trauliche Zusammenklang fand sich nicht wieder. Edmund war zum ersten Male im Leben an Widerstand gestoßen, auf einen Widerstand, der ihn verletzte, den aber entschlossen zu brechen, nicht nur Corneliens Zurückhaltung ihn hinderte, sondern es muß ja gesagt sein, nach dem verrauschten Affect auch eine schwächliche Scheu vor der Welt, insonderheit vor den Menschen, die ihm darin die nächsten waren. Befand er sich in Corneliens Nähe, sah er ihr sicheres, harmonisches Walten, hörte ihr wohlklingendes, allezeit das Richtige treffende Wort, so fühlte er sich immer von Neuem zu ihr hingezogen und er sagte sich dann: »Es ist nur aus Zartsinn, daß sie sich mir entzieht und ich muß, ich werde ihre Weigerung überwinden. Was schiert mich das Vorurtheil herzloser Menschen, wo mein höchstes Wohlbefinden auf dem Spiele steht.«
Aber Cornelia suchte seit jenem Abend das Alleinsein mit ihm zu vermeiden, und fühlte er sich außer ihrer persönlichen Einwirkung, dann machte eine nüchterne, ja eine gereizte Auffassung sich geltend. »Du hast mehr als Deine Pflicht gethan, indem Du ihr Deine Hand botest,« redete er sich dann ein; »ist sie zu stolz, dieselbe 20 anzunehmen, nun: Stolz ist nicht in der Liebe, die Alles giebt, aber auch Alles nimmt; und genügt ihr ihre gegenwärtige Stellung, so kann ich mir dieselbe um so eher gefallen lassen, da sie mir den Bruch mit den Meinen erspart. Sie werden sich schließlich mit der Gouvernante aussöhnen, wenn sie inne geworden sind, daß ein näheres Verhältniß zwischen ihr und mir nicht zu gewärtigen ist.«
Cornelie erkannte nur allzuwohl dieses Schwanken eines ungefesteten Herzens; sie fühlte, daß sie Recht gehandelt habe; mit Wehmuth ahnte sie aber auch, daß ihres Weilens unter diesem Dache nicht lange mehr sein und daß sie schwereren Herzens als aus der ersten Heimath in die Fremde ziehen werde.
Unter dieser veränderten Stimmung wachte in Wolfram der halb schon eingeschlummerte Vorsatz landwirthschaftlicher Thätigkeit um so lebhafter wieder auf, da er den, Cornelien sich anzueignen, durchaus noch nicht rein aufgegeben hatte und meinte, die Kränkung dadurch abzuschwächen, wenn er dem immer bedenklicher drängenden Consul in jenem ersten Punkte sich willfährig zeigte. Er wandte sich an seinen Bruder mit der entschiedenen Forderung, ihm sein elterliches Erbtheil binnen einer kurz anberaumten Frist auszuzahlen.
Mehr als er Anderen, oder auch sich selbst eingestehen mochte, beunruhigte es ihn nun aber, daß er auf seine wiederholten Mahnungen zwei Wochen hindurch keine Antwort erhielt. Seine Gedanken wurden durch diese unerklärbare Verzögerung von seinem häuslichen Verhältniß ab 21gelenkt und eines Tages entschloß er sich rasch, nach seiner norddeutschen Vaterstadt zu reisen und persönlich einen Einblick in den verdächtigten Stand der Angelegenheiten seines Bruders zu nehmen. Wie wünschte er sich, während er diesen Entschluß faßte, nun von Neuem Glück, sein Haus, das er früherhin nicht ohne Zagen auch nur auf Stunden verlassen hatte, heute unter der Obhut der gewissenhaftesten Statthalterin geborgen zu sehen.
Wärmer und herzlicher bewegt als seit Wochen, betrat er am Vorabend der Reise das Wohnzimmer; die Kinder waren schon zu Bett gebracht; Cornelia saß allein. Er nahm an ihrer Seite Platz, sprach mit Lebhaftigkeit von seinen Plänen: wie er den Gütererwerb in der Kürze zum Abschluß zu bringen und dann sobald als möglich nach Blankenberg zu übersiedeln gedenke; wie er dort für sie allesammt und für seine Kinder zumeist, ein frisches fröhliches Gedeihen erhoffe.
»Der Kinder Zustand ist unter Ihrem Walten, Cornelia, zwar ein weit befriedigenderer geworden,« sagte er. »Mit Schaudern denke ich zurück in jene unferne Zeit, wo ich schlaff, von gespenstischer Sorge gefoltert und doch ohne wahrhaftige Fürsorge, sie in Unmaß und Willkür verkümmern sah. In Spitzen und Seidenkleidern verputzt, jede Laune, jedes flüchtigste Begehren von den Augen abgelesen, fast in der Wiege schon gelangweilt, durch Näschereien und Hätscheleien verweichlicht, das Spielwerk in Hausen bei Seite geworfen, noch bevor es zertrümmert war. Dank Ihnen, Cornelia, dieser klägliche Zustand ist überwunden. Sie verstehen es, die 22 Kinder allezeit an- und niemals aufzuregen; sie sind beschäftigt, mäßig, fröhlich, gehorsam, sie fühlen, wir alle fühlen den Segen der Zucht. Aber das gedeihlichste Kinderleben, ich weiß es aus eigener Erfahrung, ist allezeit doch nur auf dem Lande. Auf dem Lande, das heißt nicht zwischen sorgfältig gepflegten Garten- und Parkanlagen, wo jede Fußspur eilig wieder ausgeglichen, jede Blume, jeder Grashalm überwacht, jeder Thau- und Regentropfen, jeder Windhauch und Sonnenstrahl ängstlich gemieden wird; nein, in ungekünstelter dörflicher Umgebung, unter den arbeitenden Menschen und Thieren eines Hofes. Heute noch fühle ich meine Wonne, mein innerliches und äußerliches Erholen, wenn ich als Knabe ein paar Wochen bei der Pächterfamilie des Gutes zubringen durfte, das mein Vater in der Nähe der Stadt erworben hatte. Ich dachte es später einmal anzunehmen und legte zu diesem Zweck wenigstens die theoretischen Lehrjahre zurück. Da lernte ich Melanie kennen; sie würde sich nicht zur Landwirthin geeignet haben, auch hätten die Eltern sie nicht so weit von sich in eine rauhere Gegend ziehen lassen; so schufen wir uns hier in Rosenhain ein Mittelding zwischen Stadt und Land. Wie bedauere ich aber jetzt, daß ich in jenen Erstlingstagen meines Glücks so leichthin in den Verkauf des väterlichen Gutes gewilligt habe, wie doppelt freudig würde ich seine Bewirthschaftung jetzt übernehmen! Meinen Kindern aber, will's Gott, wird Blankenberg solch' eine liebe Heimstätte werden. Ich sehe sie schon zwischen Füllen und Lämmern sich tummeln, sehe wie die zarten Muskeln 23 sich stählen, die in qualvoller Verhätschelung erblaßten Wangen sich färben werden. O, wären wir erst dort!«
Edmund machte eine Pause, er athmete tief auf und griff nach Corneliens Hand, die mit stillernstem Antheil dem lebhaften Vortag zugehört hatte. Dann fuhr er fort mit dem innigsten Klang: »Aber dieses lachende Zukunftsbild, was wäre es ohne Sie, Cornelia? ohne Ihren unbestechlichen Sinn, Ihre leitende Hand bei jeder Verwaltung und Ueberwachung? Wie würde alle Zuversicht der Dauer mir fehlen, wüßte ich Sie nicht unerschütterlich auf meinen Grund gestellt und sollten denn nicht auch Sie selbst nach solchem unerschütterlichen Heimathsgrunde verlangen, sollten Sie nicht dauernd Wurzel in unserm Herzen schlagen wollen? O, machen Sie diesem Schwanken ein Ende, Cornelia, sprechen Sie das Wort, das – –«
Ein starker Zug an der Hausklingel, zu so später Stunde in dem stillen Rosenhain eine ungewohnte Begebenheit, schnitt Rede wie Gegenrede ab. Wolfram schreckte ahnungsvoll zusammen; er kam Cornelien zuvor, die sich erhoben hatte, um nach der Thür zu sehen. Sie blieb mitten im Zimmer stehen, den Blick nach Innen gerichtet und die Hände gefaltet. Minute auf Minute verrann, eine Viertelstunde! Sie merkte es nicht; es stritten sich in ihr neuerweckt die heimlichen Mächte.
Endlich kehrte Wolfram zurück. Derselbe Wolfram, dessen frohe Lebenszuversicht in ihrem Herzen noch widerhallte? Nein, ein zum Tode getroffener, elender Mann. Zitternd, schattenbleich taumelte er auf einen Stuhl, 24 reichte, keines Wortes mächtig, der Freundin ein offenes Blatt.
Es war ein Telegramm der Gerichtsbehörde seiner Vaterstadt mit der Kunde von dem Fallissement der Firma, als deren Theilhaber er galt und von der Flucht seines Bruders.
Cornelia blickte lange in stummer Bewegung auf den verzweifelt ächzenden Mann, dessen bebende Hände sie in den ihren hielt. Ein Thränenstrom löste endlich seine Brust: »Meines Vaters Haus zusammengestürzt!« schluchzte er, »der Ehrenname, den er uns hinterlassen, geschändet! seine Söhne Schwindler und Bettler!«
Cornelia erwiderte: »Noch kennen Sie die Conjuncturen nicht, die Ihres Bruders Schuld mildern dürften, vielleicht ihn freisprechen, lieber Wolfram. Sie haben ihn mir als einen Mann von ungewöhnlicher Energie und Regsamkeit geschildert; weisen Sie die Hoffnung nicht von sich, daß es ihm gelingen wird, sich in überseeischen Verhältnissen wieder aufzurichten und dereinst auch seinen Verbindlichkeiten in der Heimath gerecht zu werden. Unter allen Umständen aber muß es Ihnen, seinem Nächststehenden, eine Genugthuung sein, mit den Fremden als Opfer, sei es des Unglücks, sei es des Irrthums, dazustehen. Wäre es Ihnen gelungen, kurz vor dem allgemeinen Zusammenbruch sich ihr Erbtheil zu sichern, müßte der Argwohn eines betrügerischen Einverständnisses, oder mindestens groben Familieneigennutzes Sie zu Boden drücken.«
»Aber ein Bettler, ein Bettler!« stöhnte Wolfram.
25 Cornelia sah ihn groß mit verwunderten Blicken an.
»Ja, ein Bettler!« wiederholte er leidenschaftlich. »Schlimmer daran, verzweifelter als der Tagelöhner, der in Armuth und Niedrigkeit geboren ist. Gestürzt von glänzender Lebenshöhe, abhängig von den herzlosen Großeltern meiner Kinder, gezwungen, sie ihnen zu überlassen, meinem väterlichen Recht auf ihre Führung zu entsagen, Niemand, Nichts mehr eigen zu nennen auf der weiten Welt!«
Aus Corneliens Zügen sprach ein Staunen, welches das Mitleiden für einen Moment zurückdrängte. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Wolfram,« sagte sie kühl; »ich begreife nicht, wie ein noch so umfänglicher äußerer Verlust Sie innerlich von irgend einem Menschen abhängig machen, wie er irgend ein gemüthliches Verhältniß stören, geschweige denn Ihre väterlichen Rechte und Pflichten auch nur unterbrechen könnte?«
»Soll ich die Kinder darben sehen?« rief er aus; »sie, die an Pflege und Fülle gewöhnt, die als Kinder ihrer Mutter dazu beansprucht sind?«
»Die Kinder werden sich an beschränkende Einfachheit mit fröhlichem Herzen und zu ihrem wahrsten Wohlbefinden gewöhnen lernen,« versetzte Cornelia fast streng, »sie sind nicht nur verpflichtet, sondern berechtigt, ihres Vaters Lage zu theilen. Was darüber hinaus ihnen zufällt, ist eben Zufall, das heißt Ueberfluß.«
»Und ihre Großeltern! Würden sie ihre Enkel solch einer Lage preisgeben? würden sie – –«
26 »Es sind Ihre Kinder, Wolfram.«
»Und Melanie's, Cornelia. Und welches wäre das Loos, an dem ich sie theilnehmen ließe? welches andere als das erniedrigender Noth – –«
»Oder erhebender Arbeit.«
»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, Cornelia; ich habe, wie dürfte ich es mir verhehlen, ich habe mit dem Leben bis heute gespielt. Wie weit würde ich zurückschreiten müssen, ehe eine lohnende Thätigkeit mir gelänge.«
»Noth und Liebe sind starke Erwecker, mein Freund,« versetzte Cornelia mild. »Sie haben Landwirthschaft studirt; noch vor einer Stunde dachten Sie mit Freude daran, sie praktisch auszuüben. Halten Sie diesen Vorsatz fest; suchen Sie ihn nach einem bescheideneren Maßstabe einzuschränken, werden Sie Pächter statt Herr. Sie müssen unverzüglich zu einem Einblick der Sachlage nach ihrer Vaterstadt reisen. Morgen mit dem ersten Zuge, lieber Wolfram, ich werde die nöthigen Vorrichtungen treffen. Vielleicht, daß ein Rest Ihres Vermögens aus dem Ruin gerettet werden kann; jedenfalls würde durch den Verkauf von Rosenhain, das als Heirathsgut Ihrer seligen Frau auf Sie übergegangen ist, eine erste ökonomische Einrichtung gedeckt werden. In diesem Sinne handeln Sie und handeln Sie rasch. Sie werden in ihrem neuen Leben ein ungeahntes Wohlgefühl kennen lernen, das Wohlgefühl, welches einer lohnenden Anstrengung entquillt.«
27 »O, daß Sie wahr sprächen, Cornelia!« erwiderte Edmund, halb verzagt und halb von einer lockenden Vorstellung ergriffen. »Daß ich so stark und geschickt wäre, wie Sie mich wollen, wie Sie selbst es sind! Aber ich kenne das Maß meiner Kräfte nicht; ich zweifle an meinem Können.«
»Auch wenn eine treue und, ich darf es ja sagen, eine geübte Hand Ihnen tragen hülfe, mein Freund?«
Er drückte ihre Hände vor seine Augen, als ob er ein Schambewußtsein verbergen wolle. »Cornelia!« murmelte er kaum hörbar. »Cornelia, o warum berühren Sie diese ätzendste Wunde? Auch dieser Besitz auch diese Hoffnung ist ja dahin! Die Kinder des verarmten Wolfram können nicht mehr eine Erzieherin haben, wie Cornelie Wille.«
»Auch nicht Cornelie Wille als Mutter?« fragte das treffliche Mädchen mit einem sanften Erröthen, indem sie dem Freunde ruhig und liebreich in die Augen blickte.
Er sprang in die Höhe wie von einem electrischen Strahle durchzuckt. »O, großmüthiges Weib!« rief er aus, »Du könntest, Du wolltest – –«
»Eine treue Gehülfin dem Manne werden, den der Kampf des Lebens zu meines Gleichen macht,« antwortete sie, »dem Manne, Edmund, welchem – –«
»O stocke nicht, Geliebte, dem Manne – –«
»Welchem seit dem ersten Blicke mein Herz gehörte.«
»O, großes Weib!« rief er noch einmal, indem er sie mit Ungestüm in seine Arme schloß, »Du reicher 28 Hort, der einen Bettler zum König macht, in dem Augenblicke, da er einen Abgrund vor seinen Füßen gähnen sah!«
Er war wie verwandelt; sein Unstern leuchtete ihm als ein Stern; Verlust, Sorge, Entbehrung dünkten ihm nicht mehr ein Stachel, nur ein spornender Reiz; sie saßen noch lange Hand in Hand bei einander, bauend aus dem Unglück in's Glück und als er zur guten Nacht seine Lippen auf die ihren drückte, nannte er sie mit höchster Empfindung seine Braut.
*
Beide schlossen kein Auge in der Nacht. Sie hatten sich im Sonnenschein der Hoffnung getrennt, nunmehr allein stiegen bleierne Schatten von Zweifel und Sorge vor ihren Augen auf.
»Hat mein Gefühl sich auch nicht übereilt?« fragte sich Cornelia, als sie unentkleidet auf ihrem Bettrand saß, umgeben von den schlummernden Kindern, denen sie sich als Mutter angelobt hatte. »Habe ich die Richtschnur meines Lebens nicht allzudreist übersprungen, die Last verdoppelt, die ich tragen helfen wollte? Werde ich diesem Manne in bösen Tagen leichter als in guten die Gefährtin werden, nach welcher sein Herz sich sehnt? Und wenn die Stunde käme, wo ich ihn zwingen müßte, auszuharren auf der mühevollen Bahn, in die ich ihn gedrängt? wenn ich ihn anfassen müßte mit rauher Hand, und dennoch, dennoch ihn scheitern sehen müßte an einem Streben, das nicht das seine war, – wenn er elend würde durch meine Schuld?«
29 Indessen der entscheidende Wurf war einmal gefallen, und ihrer eigensten Art gemäß, suchte Cornelie die abirrenden Zweifel zu bannen, um über das Nächstgebotene klar und einig mit sich selbst zu werden, und da war es denn schon die einfachste Vorfrage, die als Stein des Anstoßes in ihrem Wege lag.
Sie durfte als Wolframs Verlobte nicht mit ihm unter einem Dache weilen. Wäre sie für ihre eigene Person auch resignirt genug gewesen, um es mit dem Urtheil der Welt aufzunehmen, Wolframs einstige Gattin, die Mutter seiner Kinder; hatte ihren Ruf vor der leisesten Trübung zu wahren. Sobald Wolfram von der Reise zurückkehrte, mußte sie sein Haus verlassen. Wohin nun sich wenden während der Frist, und wären es auch nur Wochen, die sie unerläßlich vom Traualtare schied?
Sie war eine Abhängige, eine Fremde in diesem Land; sie hatte kein Elternhaus, auf dessen Schwelle die Jungfrau dem Manne als Gattin übergeben wird, und wenn sie in befreundeten Familien ihrer Heimath auch ein augenblickliches Asyl gefunden haben würde, wenn sie den in ihrer gegenwärtigen Lage wohl zu berücksichtigenden Aufwand an Geld und Zeit für sich wie Edmund nicht scheuen wollte: wer überwachte während dessen seine Kinder, sein Haus? wer, so fragte sich das starke Mädchen mit zitterndem Herzen, wer überwachte ihn selbst in seinem Schwanken und Zagen? wer hielt ihn fest mit Rath und That? Eine ahnungsvolle Stimme weissagte ihr: Scheiden auf Wochen heißt Scheiden auf immer.
30 Wie schicklich würde dieses Hinderniß zu überwinden gewesen sein, hätte sie ihren Brautstand mit den Kindern im Hause der Großeltern verbringen und unter deren Schutze in Wolframs neuzubegründendes Heimwesen treten dürfen. Aus Jener Nichterwähnung und Nichtbeachtung der neuen Erzieherin und mehr noch aus den halben Worten, mit welchen Edmund dieses geflissentliche Gebahren zu entschuldigen suchte, hatte sie ja aber von vornherein erspürt, was letztlich in dem Briefe, den sie von der Frau des Consuls erhalten, mit klaren Worten in der kränkendsten Weise ausgesprochen worden war; das Mißtrauen, mit welchem der eigennützig berechnende Mann und der Widerwille, mit welchem die eigensinnig hoffärthige Frau ihr Verhältniß in des Sohnes Hause betrachteten, wenn schon dieses Verhältniß bisher ein leicht zu lösendes war und der Sohn als unabhängiger Mann und ihres Gleichen von ihnen geachtet wurde. Heut war er ein Aermling und die abenteuernde Gouvernante seine verlobte Braut! Cornelia mochte die Frage drehen und wenden, wie sie wollte, sie kam zu keinem anderen Abschluß als dem, welcher ihrer klaren Natur der widerwärtigste und bei Edmunds Erregbarkeit schwer genug durchzuführen war: dem, ihr Verlöbniß geheim zu halten und weiterhin, je nach Gestaltung der äußeren Lage, einen Plan festzustellen.
Während dieser peinvollen Erwägungen hörte sie Wolfram zu Häupten ihres Zimmers auf und niederschreiten, nicht minder rath- und ruhelos als sie selbst. Cornelia war sein und er schätzte den vollen Werth ihres 31 Besitzes, empfand, was es heißt, felsenfest auf einen Menschen bauen zu dürfen. Aber war es denn nicht nahezu ein Frevel, an die Gründung einer neuen Familie zu denken, so lange zur Aufrechterhaltung der bisherigen Stützen und Handhaben rings zertrümmert lagen? Hieß es nicht unversöhnlich die Menschen reizen, von denen die Zukunft seiner Kinder abhängig geworden war, eine Zukunft, welche allen Warnungen zum Trotz, ihr Vater schnöde verwahrlost hatte? Wäre es nicht der Vernunft, der Billigkeit angemessen gewesen, die Kinder der Obhut der Großeltern zu überlassen, bis es dem Vater gelungen sein würde, sich aus seiner gedemüthigten Lage empor zu arbeiten und die zweite Mutter, die er ihnen erwählt, allmälig als die rechte erkannt und gewürdigt zu sehen? Ach, welche schwierigen, welche fast unübersteiglichen Hindernisse thürmten sich vor seinen Blicken auf der steilen, rauhen Straße, die durch Arbeit und Entbehrung zur Freiheit führt und wie verführerisch lockte – freilich gegen seinen Willen, gegen seinen Glauben! – das bequeme, wenn auch gegängelte Weiterschreiten auf dem Pfade der Gewöhnung!
Aber diese schwächlichen Anwandlungen schwanden wie Nebel vor dem Sonnenlicht, sobald er am Morgen vor der Abreise seiner Braut gegenüber trat. Ihre tiefen, treuen, sonst so klaren Augen waren umflort; sie hatte, er sah es, die Nacht durchwacht, vielleicht durchweint, in Kummer um ihn, in Sorge für ihn. Heute war er der Beherzte, sie die Zagende. Ihrem schwer zu äußernden, zarten Bedenken kam er zuvor durch die 32 Erklärung, daß das Ordnen seiner Angelegenheiten, das Suchen nach einer wenn auch noch so bescheidenen Neueinrichtung ihn voraussichtlich längere Zeit von Rosenhain fern halten werde und daß sie in der ersten Stunde seiner Heimkehr unauflöslich die Seine werden müsse. Er pries sich glücklich, das Haus während seiner Abwesenheit so sicher durch sie behütet zu wissen, versprach, jeden seiner einleitenden Schritte schriftlich mit ihr zu berathen. Wiederholt versuchte er, sie in seine Arme zu ziehen und war verletzt, daß sie sich ihm unter den Augen der Kinder entwand. Warum sollten es die Kinder nicht wissen, daß er ihnen eine Mutter gegeben habe? Als er einen kostbaren Diamantring von seinem Finger gezogen und als Pfand der Treue an den ihren gesteckt hatte, nahm er es ihr fast übel, daß sie ihm wehrte, einen der Trauringe ihrer Eltern von ihrer Hand zu streifen und sich zum gleichen Zeichen des Verlöbnisses anzueignen. Sich selbst begütigend, sagte er jedoch alsobald, indem er einen Kuß auf die alten einfachen Goldreifen drückte: »So mögen sie uns denn vor dem Altare verbinden!«
Der Diener meldete bei diesen Worten den Wagen, der vorgefahren war, um Wolfram nach dem Bahnhofe zu fahren, gleichzeitig überreichte er einen eben eingetroffenen, expreß bestellten Brief. Er war vom Consul, eilig recommandirt und nicht aus der Residenz datirt, sondern aus der Handelsstadt, nach welcher Edmund aufzubrechen im Begriffe war. Schon bei seinem Anblick, welch jäher Umschlag der gehobenen Stimmung!
33 Wolfram las ihn unter merklichem Erblassen, reichte ihn dann schweigend Cornelien und ging aus dem Zimmer, das Abschirren des Wagens zu bestellen.
Der eifrige Geschäftsmann hatte den Wolframschen Zusammenbruch früher ausgewittert, als der vertrauende Nächstbetheiligte ihn ahnte. Er war im Moment der Krisis an Ort und Stelle gewesen, um, wie er sich ausdrückte, die Interessen seiner Enkelkinder aus erster Hand wahrzunehmen. Ueberflüssige Vorwürfe sparte er, des Sohnes Nichtanwesenheit nannte er sogar erwünscht, da zeitraubende Erörterungen und Einwände dadurch vermieden würden und eine unbedingte Billigung seiner Maßnahmen nicht zu bezweifeln sei. Das Menschenmögliche werde durch ihn geleistet werden; zu retten bei alledem indessen nur Weniges sein und das Wenige in unberechenbarer Zeit. Zunächst müsse er es als einen Gewinn erachten, mindestens Rosenhain der Concursmasse entrissen und bereits einen soliden Käufer dafür entdeckt zu haben. Edmund solle sich die vortheilhafte Conjunctur nicht entgehen lassen und sich zu eingänglicherer Besprechung an dem Tage, an welchem Schreiber nach Hause zurückzukehren gedenke, – es war der morgende, – bei ihm einstellen. Die Kinder habe er, selbstverständlich, mitzubringen. Von der Gouvernante war nicht die Rede
Cornelia war längst mit Lesen fertig, als Wolfram in das Zimmer zurückkehrte. »Was werden Sie thun?« fragte sie, indem sie den Brief in seine Hand zurücklegte.
»Was kann ich thun?« antwortete er mit niedergeschlagenen Augen. »Was kann ich thun, als mich der 34 Einsicht des erfahrenen Mannes fügen. Ich gebe meine heutige Reise auf und gehe morgen zunächst nach B.«
»Sie allein, Wolfram?«
»Ich war den Eltern längst einen Besuch ihrer Enkel schuldig; nach meinen jüngsten Erlebnissen, scheint mir, bin ich es doppelt.«
»Sie denken ihnen die Kinder zu überlassen?«
»Für etliche Tage oder Wochen, bis ich ein neues, schickliches Unterkommen für sie gefunden habe. Ich zweifle nicht, daß mein Schwiegervater mir auch bei dieser Wahl mit Rath und That zu Hülfe kommen wird. Sie, theure Cornelie, treffen indessen hier an meiner Statt die unerläßlichen Vorkehrungen. Wie Vieles wird aufzugeben, zu beschränken, zu ordnen sein! Nach der ersten Unterredung mit dem Consul schreibe ich Ihnen und in der kürzesten Frist bin ich wieder hier, wenn auch nur, um von dem lieben Platze Abschied zu nehmen für immer.«
Er hatte hastig gesprochen, mit gesenktem Blick; auf seinen Wangen wechselten Blässe und Gluth. Cornelia, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet, erwiderte kein Wort. Sie entfernte sich, um Reisevorbereitungen für die Kinder zu treffen. Der Tag schwand zwischen Unruhe und Abspannung. Es waren nur Nebendinge, die besprochen wurden; die Hauptfrage wühlte lautlos in den Herzen.
Am andern Morgen war Cornelia allein.
»Auf Wiedersehen!« hatte Edmund vom Wagen aus ihr zugerufen. In ihrem Ohr aber klang es wie: 35 »Lebewohl für immer!« Die Gedanken waren ihr umschleierter denn je.
Ihrem Bewußtsein nach über die erste Jugend hinaus und doch wohl niemals einer unbefangenen Jugend froh geworden, liebte sie zum ersten Male einen Mann mit aller Kraft eines starken Gemüthes, sah sich als seine Verlobte, betraut mit dem höchsten Amte, dessen ein Weib gewürdigt werden kann, mit dem Mutteramte über Kinder, die es nicht geboren hat.
Wie hatte diese Aufgabe ihr entsprochen, wie hatte, selber in Aussicht schweren Kampfes, sie sich derselben gewachsen, ihrer werth gefühlt, – eine Stunde lang! Nun war es ihr, als habe sie dieses edle Zukunftsbild nur geträumt und sie spannte mit sehnendem Herzen nach dem Rufe: es war nicht blos Traum!
Zwei, drei Tage lang wartete sie vergeblich auf den geliebten Mann oder nur auf einen Brief von seiner Hand; am dritten Abend wartete sie nicht mehr. Die stärkende Liebe ist die stärkste, hatte sie sich gesagt und sie wußte kaum einen Ringkampf, den sie um eines ernsten Zweckes willen gescheut haben würde; zu ringen aber um ein schwaches Herz, das lag außer ihrem Wollen und Vermögen.
Die Erkenntniß des nach Außen hin Nothwendigen reifte während dieser bänglichen Spannung und die Hände gönnten sich keine Rast, während das Herz einem ersten, einzigen süßen Traume entsagte. Sie ordnete und verzeichnete alles vorgefundene Inventar, schloß Bücher und Rechnungen ab, und brachte sämmtliche 36 Werthgegenstände in sicheren Verwahrsam. Auch ihre eigenen Sachen packte sie ein. Am dritten Abend war Alles gethan; sie hätte scheiden können noch heute, »abscheiden!« sagte sie sich mit Wehmuth.
Eben kehrte sie aus dem oberen Stock in das Wohnzimmer zurück, als ein Wagen in den Hof rollte. »Edmund!« jubelte sie auf, von jacher Hoffnung durchzuckt.
Aber es war nicht der geliebte Mann, dem sie entgegeneilte; es war ein ältlicher, unbekannter Herr. »Ich bin der Consul Eschenbach,« führte er sich bei ihr ein.
Nur dieser Name, nur ein Blick auf diese behäbige Gestalt, auf diese von keinem feineren Bedenken behelligten Züge und Cornelia wußte, daß und wie ihr Schicksal entschieden sei; was ihr übrig blieb, war, ihm mit Selbstachtung entgegen zu kommen. In der gehaltenen Würde aber, die dieser bewußte Wille ihr verlieh, gelang es der armen, geringgeschätzten Gouvernante mehr, als sie selber ahnte, dem reichen, hochmüthigen Manne eine Verwunderung einzuflößen, die der Bewunderung nahe verwandt war. »Sei sie, wer und was sie sei,« dachte er schon nach der ersten Begrüßung und einer Musterung der stattlichen Gestalt, »ich kann dem Edmund diesen Gusto nicht übel nehmen.«
Der Consul benahm sich von vornherein wie der Herr im Haus. Er bestellte sich ein Abendessen mit genauer Angabe seiner Bereitung, bezeichnete das Zimmer, in dem er zu übernachten beabsichtigte, das Arrangement seines Bettes und der übrigen Einrichtungen. Dies gethan, war er eben im Begriff, sich an Corneliens Seite 37 bequemlichst in die Sophaecke niederzulassen, als diese mit einer ruhigen Handbewegung auf einen Sessel ihr gegenüber deutete, und er unwillkürlich nicht nur der Weisung folgte, sondern auch die Cigarre aus dem Munde nahm, die er sich ohne Umstände angezündet hatte.
»Ich bin kein Freund von Präliminarien,« hob er darauf an; »Geschäftsleuten meines Schlages fehlt auch die Zeit dazu. Erlauben Sie mir daher, mein Fräulein, direct auf mein Ziel loszusteuern.«
»Ich bitte darum,« versetzte Cornelia.
»So lassen Sie mich denn damit anheben, daß alles, was mir über Ihre Person von glaubwürdiger Seite zu Ohren gekommen ist und was – ohne Schmeichelei! – Ihr Habitus mir gegenüber zur Stunde bestätigt, nicht zu vergessen die kernhafte Replik, mit der Sie meine Frau auf deren neuliche Epistel – ihre Jämmerlichkeit soll nicht in Zweifel gezogen werden! – abgetrumpft, desgleichen die respectable Umwandlung, die Sie binnen dreier Monate in den Kindern bewirkt haben, daß, sage ich, alles das mich auf das Vortheilhafteste für Ihren Character einnimmt. Ich schätze Präcision auch an Frauen von meiner Mutter her, die ein Musterbild derselben war und deren exaktes Widerspiel, – es giebt auch einen negativen Maßstab, mein Fräulein! – deren exaktes Widerspiel, Gott sei's geklagt! meine Henriette ist. Summa Summarum, Fräulein Wille: hätte sich meine Frau nicht die unglückselige Schrulle, ihre Enkel selbst zu erziehen, in den Kopf ge 38 setzt und hätten meines Schwiegersohnes Verhältnisse durch seine Fahrlässigkeit nicht diesen kläglichen Umschlag genommen, ich für mein Theil würde die Stellung, welche Wolfram Ihnen, – rund heraus gesagt! – auf gut Glück eingeräumt hat, in Wirklichkeit für ein gutes Glück angesehen und eine noch intimere mir schließlich gefallen lassen haben.«
Cornelia blickte ohne Erwiderung nieder auf die Näharbeit, zu der sie ihre zitternden Hände zwang. Zum ersten Male sah sie sich einem Praktiker jener Lebensweisheit gegenüber, auf deren Zusammenstoß mit ihrem eigenen gewissenhaften Idealismus ihres Vaters Lehre sie vorbereitet hatte. Ihre Wangen waren sehr bleich, ihre Lippen fest geschlossen, aber es überraschte sie nicht, als der coulante Geschäftsmann auf die süße Einkleidung die bittere Pille seines eigentlichen Zweckes folgen ließ.
»Seit jenem Umschlag,« so fuhr er nach einem gelinden Räuspern fort, »werden Sie indessen einsehen, mein Fräulein, daß auch Wolframs Beziehungen zu Ihrer Person sich ändern müssen. Die Kinder, die er nicht einmal mehr nothdürftig erhalten kann, fallen meiner Versorgung anheim, sie – –«
»Ihr Vater hegte für ihre Zukunft andere Vorsätze, Herr Consul,« wendete Cornelia ein.
»Vorsätze, die Sie, liebes Kind, bei Gott! doch nicht für ernsthaft, mindestens nicht für dauerhaft gehalten haben werden!« rief Herr Eschenbach lachend. »Mein Edmund der Erhalter und Versorger einer Familie, mein Edmund ein Arbeiter und Aufseher, mein Edmund 39 ein Speculant! Dazu muß Einer wahrlich aus anderem Holze zugehauen sein. Ich hätte allenfalls das Zeug zu solch einem selfmade man gehabt und dennoch steht es dahin, wie weit auch ich es ohne einen handlichen Anfang, das heißt ohne eine wohlhabende Frau, gebracht haben würde? Aber eine gemüthliche Windfahne wie Freund Edmund! Runzeln Sie nicht die Stirn, Fräulein, wenn ich das Kind beim rechten Namen nenne. Eines Tages werden Sie mir beistimmen und eines noch späteren Tages werden Sie mir meine Aufrichtigkeit danken lernen. Ist es einem Manne schon schwer, vernünftig zu bleiben neben einer wetterwendischen Frau, wie viel mehr noch für eine Frau, die weiß, was sie will – –«
Cornelia unterbrach ihn mit der Bitte, in der Eröffnung, die er ihr zu machen habe, fortzufahren und der alte Herr stimmte ihr mit beifälligem Kopfnicken zu: »Recht so, mein Fräulein,« sagte er. »In Geschäftssachen keine Umschweife und das Nächstliegende allemal zunächst! Mit kurzen Worten also: Edmund giebt einen selbstständigen Haushalt auf; er fügt sich in den meinigen, ich placire ihn in meinem Geschäft. Kann ich mir von seinen Leistungen auch nicht wunder welchen Segen versprechen, er ist der Wittwer meiner einzigen Tochter, der Vater meiner einzigen Enkel und Erben. Das Kind muß einen Namen haben, heiße er denn mein Associé. Er wird auf diese Weise wenig von seinem gewohnten Behagen entbehren und am Ende sich doch eine gewisse Routine zu eigen machen, die nach meinem Ableben 40 seinem Max, – in dem Jungen pulsirt, so scheint's, eine Eschenbachsche Ader, – zu Gute kommen wird. Seine Erziehung werde ich mir vorbehalten. Die Mädchen müssen natürlich der meiner Frau überlassen werden; will sagen ihrer Nichterziehung, ihrer zärtlichen oder quälerischen Laune. Da sie eines Tages, trotz ihres Vaters Ruin, reich sein werden, hat es mit solchem Verzug nicht allzu viel auf sich. Nimmermehr aber würde meine Henriette einer Person von Ihrem Schrot und Korn, Fräulein Wille, das heißt einer wirklichen Erzieherin, einen Platz an ihrer Seite gestatten, oder würden Sie sich auf dem Ihnen eingeräumten Platze erträglich stellen können. Nichts widersteht Frauen wie der meinen so gründlich, als sich Achtung abnöthigen zu lassen, am wenigsten von Frauen und gar solchen, die sie für Untergebene halten. Sie vertragen nur Dienstboten, die sich gegen baare Bezahlung von ihnen hudeln lassen, die aber, da denn doch von ihrem guten Willen der Dame Wohlbefinden abhängt, unter einem gleißenden Mäntelchen ihre Tyrannen werden. Auch abstrahirt von Ihrem intimen Verhältniß zu Wolfram, Fräulein Wille, wären Sie für solch eine Stellung zu gut, und so werden Sie begreifen – –«
»Daß ich sie aufgeben muß,« fiel Cornelie ein mit – einer Kälte, welche den Gemahl Frau Henriettens zu aufrichtiger Bewunderung hinriß. Er reichte ihr über den Tisch hinüber die Hand, indem er ausrief: »Das nenne ich Charakter! Außer meiner Mutter bin ich im Leben keiner Ihres Gleichen begegnet. Ach, 41 wie bequem und angenehm wäre das Dasein, wenn man es mit lauter so vernünftigen Menschen zu thun hätte! Es müßte eine Lust sein, mit Ihnen hauszuhalten, Fräulein Wille. Mein Wolfram freilich, wer weiß, ob er diese Stärke nicht bald genug Härte genannt und sich – was übrigens beileibe nichts geschadet haben würde! – an der Stelle, die er das Herz nennt, ein wenig wund gerieben hätte. Aber ich merke Ihnen an, Sie wünschen einen Abschluß, und so sei denn heute nur noch das Eine gesagt: indem Sie rasch gefaßt das Richtige ergreifen, haben Sie mir eine immerhin peinliche Erörterung auf die angenehmste Weise erleichtert, mich Ihnen daher verpflichtet und wahrlich keinen Undankbaren verpflichtet. Der Consul Eschenbach marktet nicht bei erwiesenen Gefälligkeiten. Es versteht sich von selbst, daß ich für die Mittel Sorge tragen werde, die Ihnen, sei es eine eigene, bescheidene Existenz in ihrer Heimath begründen, sei es eine anderweitige Stellung unter Fremden erleichtern sollen. Das Auffinden einer solchen Stellung würde bei meinen Connexionen und unter meiner Recommandation eine Kleinigkeit sein. Ich bin überzeugt, daß wir auch über diesen delicaten Punkt bald zu einem gütlichen Einvernehmen gelangen werden.«
Cornelia hatte schon beim Ansatz zu diesem »delicaten Punkt« den großmüthigen Bewunderer ihrer Charakterstärke unterbrechen wollen; aber ihre Brust war wie von einer eisernen Klammer zusammengepreßt, Zornesgluth wechselte mit Schattenblässe auf ihrem Gesicht; sie stemmte beide Hände gegen ihr Herz und nach einem 42 tiefen Athemzuge brachte sie es dahin, den Handel um ihre Liebe abzuschließen, mit einer Kaltblütigkeit, welche der Menschenkenner ihr gegenüber weit davon entfernt war, für das Resultat eines äußersten Entschlusses zu halten. »Verschieben wir diese Erörterungen!« sagte sie, indem sie sich erhob und der Consul versetzte galant: »Wie es Ihnen beliebt, mein Fräulein. Ich reise morgen erst mit dem Mittagszuge.«
Cornelia stand schon nahe der Thür, als sie sich nach kurzem Besinnen noch einmal zurück wendete: »Eine letzte Frage, Herr Consul: hat Herr Wolfram Sie zu diesen Darlegungen mir gegenüber beauftragt?«
»Wenn Sie das Wort auf die Spitze stellen wollen,« antwortete Herr Eschenbach, »beauftragt geradezu hat er mich nicht.«
»Oder Sie zu denselben berechtigt?«
»Allerdings.«
»Und es sind seine eigenen freien Entschließungen, die Sie mir mitgetheilt haben?«
»Seine eigenen freien Entschließungen? Gott behüte, die sind es nicht. Er unterwirft sich der Nothwendigkeit, wie Sie es thun, Fräulein, aber mit saurerem Gesicht wie Sie und nach knabenhaftem Widerstreben. Er hatte übrigens vor, Ihnen selbst zu schreiben, nur daß ich nicht so lange warten konnte, bis er mit dem, ich gebe es ja zu, nicht leichten Schriftstück zu Ende gekommen war. Ich entschloß mich nämlich rasch, gleich mit dem ersten Zuge abzureisen. Was gethan ist, ist gethan –, und ei nun, man muß das Eisen schmieden, derweil es glüht.«
43 »Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte Cornelia, indem sie sich nach einer ruhigen Verbeugung aus dem Zimmer entfernte.
Der Consul Eschenbach rieb sich vergnüglich die Hände. »Spürte ich doch wahrlich,« so dachte er, »ein gelindes Herzklopfen vor diesem Commissorium! Aber Gottlob! endlich einmal ein Frauenzimmer ohne Nerven. Wie würde meine Henriette sich an ihrer Stelle geberdet haben! Ich hätte kaum geglaubt in diesem Stande so wenig Verschrobenheit zu finden. Sie hätte etwas Tüchtiges aus den Kindern machen können. Die armen Kinder! hm, hm! Mich soll aber nur verlangen, welche Schadloshaltung für den Brautkranz sie beanspruchen wird? Ein hübscher, leidbarer Mann bleibt Edmund doch immer und der Eidam des reichen Eschenbach bleibt er desgleichen. Nun, auch die Gouvernante wird es nicht leicht wieder mit einem Eschenbach zu thun bekommen. Ein feiner Zug von ihr, den Handel bis nach einer gründlichen Berechnung zu verschieben. Aechtes Schweizerblut! Diese Gouvernante hätte an der Börse speculiren können!«
Nach diesem Monolog begab sich der Herr Consul in das Speisezimmer, verzehrte sein bestelltes Steak und leerte eine Flasche Sherry mit Appetit, wenn auch allein. Daß die Gouvernante ihm nicht ohne Nöthigung Gesellschaft leistete, fand er in der Ordnung und die Nöthigung hatte er versäumt. Nicht aus Hochmuth, beileibe nicht, lediglich im zerstreuenden Wohlgefühl über sein leichtes Gelingen. Er ließ die Einladung nachträglich durch den Diener ergehen und als derselbe 44 zurückkehrte mit dem Bescheid, daß Fräulein Wille sich bereits in ihr Zimmer zurückgezogen habe, fand er diese Eigenmächtigkeit zwar weniger in der Ordnung, entschuldigte sie jedoch; – der Consul Eschenbach war gegen seine Bediensteten kein Barbar, – mit den weheleidigen Erfahrungen, die er der armen Person nicht hatte ersparen können, und mit dem Rechenexempel, das er ihrer Ueberlegung gestellt. Nach dem einsamen Souper rauchte der Herr Consul am offenen Fenster noch eine Cigarre, verfügte sich dann in sein Schlafkabinet und ruhte im Bewußtsein seines großmüthigen Vollbringens auf des Gerechten sanften Schlummerkissen.
Früh am anderen Morgen hatte er, wie er es angeordnet, den Kaffee in seinem Zimmer genommen, dann mit gewohnter Rüstigkeit Hof, Ställe, Gärten, Vogel- und Treibhäuser, sogar die Kellervorräthe von Rosenhain inspicirt und überschläglich taxirt, auch den Domestiken sammt und sonders für das nächste Vierteljahr gekündigt. – Nun trat er in das Familienzimmer zum letzten Abschluß mit der Gouvernante.
In der goldenen Morgenstunde weniger als nach dem gemüthlichen Tagesneigen zur Nachsicht gestimmt, nahm er es einigermaßen mißfällig auf, daß die noch keineswegs abgelohnte Hausverwalterin nicht bereits seiner harrend auf ihrem Posten stand; er ließ sie unverweilt zu sich entbieten und zählte bis zu ihrem Erscheinen ungeduldig die Minuten an seiner Uhr. Für jeden Geschäftsmann und für einen ersten Rangs, wie Herr Eschenbach 45 zu sein mit Recht sich rühmte, um so mehr ist Zeit ja Geld und Zeitersparniß daher Tugend.
Aber Minute auf Minute rückte vor, eine Viertelstunde war um und die Gouvernante noch nicht da. Aus dem Flure gab es ein hörbares Hin- und Wiederlaufen; Thüren wurden auf- und zugeschlagen; der Consul brummte ein Fluchwort und zog die Schelle überlaut. Der eintretende Diener meldete mit bestürzten Mienen, daß das Fräulein weder in seinem eigenen Zimmer noch in irgend einem andern des Hauses zu finden sei. Man hatte außerhalb desselben sämmtliche Räume durchforscht, welche der Herr Consul vor einer Stunde besichtigt, zum Prediger der Gemeinde geschickt zu etlichen Kranken im Dorfe, welche das Fräulein dann und wann zu besuchen pflegte; Bote auf Bote kehrte zurück – von dem Fräulein keine Spur! Die Zimmerjungfer, leichenblaß und zitternd, gab zu bedenken, daß des Fräuleins Bett unberührt, das Fräulein in seinen gestrigen Kleidern verschwunden, dahingegen ihr Koffer, der einzige, den es mitgebracht, unverrückt auf seinem Platze geblieben sei. Die Leute einhellig überlief ein Schauder und selber der besonnene Geschäftsmann stand einen Moment wie vom Donner gerührt. »Sollte sie – –?« schoß es ihm durch den Sinn. »Aber nein doch, Unsinn! Eine so vernünftige Person und – aus Liebe zu einem Bankroutteur!«
Herr Eschenbach verfügte sich zu persönlicher Untersuchung in das Zimmer der Gouvernante und seine gewohnte Ruhe kehrte während dieser Untersuchung zurück. 46 Das Bett stand allerdings unberührt, aber Schrank kund Kommode waren geräumt und mit ihrem Inhalt ohne Zweifel der Koffer gefüllt, der mit einer sichtlich frischen Adresse nach Zürich versehen worden war. Ueberdies fehlte die Reisetasche, welche das Fräulein bei seiner abenteuerlichen Einkehr in der Hand getragen hatte und endlich: dort auf dem Nähtisch, bisher übersehen, lag ein versiegeltes Couvert unter des Consuls Adresse. Die Lösung, des Räthsels!
Nein, nicht seine Lösung, oder dieselbe doch nur halb. Denn das Couvert enthielt keine Silbe, nur den Ring, den Edmund zum Zeichen der Verlobung an Corneliens Hand gesteckt und den Schlüssel ihres Pults. Herr Eschenbach öffnete Fach um Fach. Er fand alle übrigen anvertrauten Schlüssel nebst den Wirthschaftsgeldern und Büchern sämmtlich in so übersichtlicher, gewissenhafter Ordnung, daß der kundige Revisor zu einer nahezu wehmüthigen Bewunderung hingerissen ward, aber wiederum keine Zeile, kein Wort. Die Gouvernante war auf und davon, heimlich entflohen mitten in der Nacht; denn nicht Einer der Hof- oder Feldarbeiter, die um diese Jahreszeit früh bei Wege sind, so stellte sich im Verlauf heraus, war ihr am Morgen begegnet.
Aber warum nächtlich entflohen, da auf der Gotteswelt nichts die Dame gehindert haben würde, in aller Gemächlichkeit, bei hellem Sonnenschein, obendrein mit einem wohlgefüllten Portefeuille, die Reise anzutreten? Warum? Ja, das zu erdüfteln habe ein Anderer die Zeit als ein Geschäftsmann ersten Ranges gleich 47 dem Herrn Consul Eschenbach. Und wohin? Ei nun, war denn das nicht groß und deutlich auf der Adresse ihres Reisekoffers zu erlesen? Zu einer Eiltour aber nach der Schweiz auf den Hacken einer entlaufenen Gouvernante, das wäre wiederum eines Andern Sache gewesen als des großen Geschäftsmannes Consul Eschenbach. Ueberdies eine fintige Absicht steckte noch dahinter. Wer wüßte denn nicht, daß gewisse Forderungen sich allemal leichter aus der Ferne, mit Feder und Tinte durchsetzen lassen, als Wort um Wort unter vier Augen, zumal einer Autorität wie Consul Eschenbach gegenüber. Diese Gouvernante wäre im Stande, es auf einen Proceß ankommen zu lassen!
Der Herr Consul stellte das Anwesen von Rosenhain unter die zeitweise Obhut des Dorfschulzen und reiste noch am Abend nach der Hauptstadt zurück; allerdings mit weit weniger leichtem Herzen, als er dieselbe am gestrigen Morgen verlassen hatte. Vor seinem Aufbruch langte noch Edmunds verheißener Brief an Cornelien an, der nun unter gleicher Adresse wie der Koffer, weiter nach Zürich spedirt werden mußte.
*
Wer möchte daran zweifeln, daß von allen schweren Entschließungen, die Edmund Wolframs neue Lage heischte, die Trennung von Cornelien, die ihm am schwersten abzuringende gewesen war. Das Programm seiner Zukunft, welches die Eltern ihm fix und fertig entgegen trugen, lockte den verwöhnten Sinn unter dem 48 Deckmantel einer anständigen und doch mühelosen Thätigkeit. Aber an der Spitze jenes Programms stand das Aufgeben der Gouvernante. Der Affect entriß dem jungen Mann das Geständniß seiner Verlobung und nun erst platzten die Widersprüche von Innen und Außen unversöhnlich gegen einander.
Er nannte es schmähliche Feigheit, eine Frau aufzugeben, um deren Gunst er geworben, die im Vertrauen auf seine Herzhaftigkeit Mühen und Nöthen mit ihm zu tragen gewillt war: – und der Vater nannte es einen muthigen, die Schmach das Elends abwehrenden Entschluß. Er berief sich auf die Treue gegen ein verpfändetes Wort: und die Mutter beschwor unter Thränen und Händeringen einen unvergeßlichen Schatten. Hier sah er seine Kinder zwischen Mühsal und Entbehrniß an der Hand einer hartringenden Frau; dort sah er sie unter seinen eigenen, von keiner Anstrengung abgelenkten Augen, im ebenen Gusse ihres Erbenrechtes aus der Vergangenheit in die Zukunft hinübergleiten und so redete er sich denn schließlich ein, daß seine älteste Pflicht die erste, wenn auch die schwerste sei.
Er willigte in den elterlichen Zukunftsplan; und weil er nicht den Muth hatte, ihn Cornelien Auge in Auge darzustellen, weil unter einer nüchternen, schriftlichen Auseinandersetzung ihm die Hand erstarrte, willigte er gleichfalls darein, daß der Vater auch noch diese Last auf seine rüstigen Schultern nahm. Seine verzweifelte Lage sollte Cornelien in ihrer vollen Bedeutung klar gemacht, das Geheisch seiner Vaterpflicht 49 ihrer Prüfung unterbreitet werden, so redete der Unglückliche sich ein und verhehlte sich doch kaum selbst, daß diese Bemäntelung eine Lüge war. Der letzte Rest seiner Ruhe entfloh mit dem zugestehenden Wort; in der Nacht, die demselben folgte, schloß er kein Auge; früh am Morgen wollte er widerrufen; der Vater war bereits abgereist; hätte er ihn überholen können, würde er ihm nachgeeilt sein; aber Cornelien unter die Augen treten, nachdem sie seinen Auftrag vernommen, diese Schmach, so meinte er, würde ihn getödtet haben. Jetzt schrieb er Cornelien den Brief, der sie nicht mehr erreichte und der die Enteilende sicherlich nicht zurückgehalten haben würde. Denn, wenn er ihr sagte, daß er nur zeitweise in eine Trennung von ihr willige, aber zu ihr zurückkehren werde, sobald er wieder Herr seiner Bewegungen geworden sei, wußte sie denn nicht und wußte im Grund des Herzens er es nicht selbst, daß er nun und nimmer wieder Herr seiner Bewegungen werden würde, nachdem er sich einmal von Cornelien getrennt?
So wurde er denn auch nach Absendung des Briefes nicht ruhiger. Er wiederholte sich alles, was Verwandte und Freunde ihm vernünftig vorgehalten, was sein eigenes zaghaftes Herz ihnen nachgesprochen hatte. Ja, er sagte sich mehr. Er versuchte es, innerliche Zweckmäßigkeitsgründe den äußeren unterzuschieben, Cornelien anzuklagen, indem er sich selbst entschuldigte. »Sie liebt Dich nicht, wie das Weib lieben soll,« sagte er. »Es war nur eine Wallung großmüthigen Mitleids, die sie Dir geneigt machte und die Du von vornherein hättest 50 ablehnen sollen. Als Du im Glück warst, wies sie Dich von sich. Solche Ueberhebung tödtet auf die Dauer die Liebe des Mannes mit der Liebenswürdigkeit der Frau. Als Erzieherin ist Cornelia unschätzbar, als Gattin aber, nein, da ist sie zu sehr – Erzieherin!«
Das und noch weit mehr redete Wolfram sich vor und mochte mit alledem nicht durchaus Unrecht haben; allein sein Gewissen brachte er mit alledem nicht zum Schweigen. Seine Unruhe wuchs, als des Vaters Rückkehr sich über die bestimmte Frist verzögerte und als nach einer zweiten schlummerlosen Nacht der Consul ihm mit der Kunde von Corneliens Verschwinden gegenüber trat, da entband sich in dem Ueberreizten ein Orkan, wie Naturen gleich der seinen ihn wenn überhaupt, so doch sicherlich nur ein einziges Mal im Leben mit solcher Wuth erfahren werden. »Sie ist todt!« schrie er aus, zitternd über den ganzen Leib, »todt! und ich, ich bin ihr Mörder!«
»Ruhig Blut, Freund!« versetzte der Consul mit einem Lächeln, das, weil es halb erzwungen war, sich doppelt wie Hohn ausnahm. »Ruhig Blut! auf eine so weite Tour pflegt man nicht seine werthvollen Effecten in einer Handtasche mitzunehmen. Es ist eine sentimentale Uebereilung, wo nicht gar ein Kunstgriff der schlauen Dame. Ihre Adresse hat sie uns weislich zurückgelassen. Der erregte Alarm kann unsere Unterhandlungen – –«
»Ihre Unterhandlungen?« fuhr Edmund auf. »Sagen Sie Ihre Beleidigungen! Was haben Sie ihr hinterbracht, was geboten, das – –?«
51 »Aber still doch, Edmund!« unterbrach ihn der Consul mit einem ängstlichen Blick auf seine Gattin, die Zeugin dieses Auftritts war und deren Züge das Nahen einer Nervenattake verkündeten. »Können wir denn nicht mezza voce conferiren? Hinterbracht habe ich der Wille verbaliter nur, was wir mit einander verabredet haben und zu einem Angebot hat sie mich kluger Weise gar nicht kommen lassen. Gehen wir in mein Zimmer, Edmund!«
Er winkte nach der Thür, denn Frau Henriette zuckte bereits krampfhaft zusammen. »Heiland der Welt!« schluchzte sie. »Welch' eine Scene um eine – –«
Die nur geahnte Bezeichnung raubte dem Aufgeregten den letzten Rest gewohnter Schonung. »Um das reinste, stärkste, großmüthigste Herz!« rief er zornesroth. »Um ein Herz, das wir schnöde mit Füßen getreten haben und das mich verachten muß weit tiefer noch, als es Euch und Euer Haus verachtet. Verachten den Treulosen, Muthlosen, Ehrlosen, der feige vor einem Schicksal zurückbebte, das sie mit aller Kraft ihrer hohen Seele getragen haben würde, auf ihr Theil die Last und auf meines das Gelingen. Ja, Cornelia, Du lebst! Vergieb den frevelnden Gedanken! Du lebst, zur Schmach des Erbärmlichen, der Dein Opfer nicht zu würdigen gewußt! Aber Du sollst es nicht vergeblich gebracht haben, Cornelia. War ich Deiner Liebe nicht werth, ich will, ich werde es ihrer werden. Unser Abkommen gilt nicht, Herr Consul. Noch in dieser Stunde verlasse ich ein Haus, in dessen Mitte das lauterste Wesen nicht geduldet 52 werden sollte, ein Haus, in dessen entnervender Atmosphäre ein schwacher Mann zu einem niederträchtigen gestempelt wird!«
»Thun Sie, was Sie nicht lassen können, Freund,« entgegnete Herr Eschenbach mit der spöttischen Ruhe des nicht zu Beleidigenden. »Ich lebe der Hoffnung, Sie in Bälde der entnervenden Atmosphäre meines Hauses wieder Trotz bieten zu sehen; da Sie ja nicht so grausam sein werden, wenn auch nicht mir, so doch Ihren Kindern, Ihre werthe Gegenwart für alle Zeit zu entziehen.«
»Sie rechnen falsch, Herr Eschenbach, nicht eine Stunde denke ich meine Gegenwart ihnen zu entziehen. Die Kinder werden mit ihrem Vater gehen und bleiben, wo ihr Vater bleibt.«
»Sollte Großvater Eschenbach in dieser Angelegenheit nicht auch ein Wörtchen mitzureden haben?«
»Durchaus nicht, Herr Consul. Die Kinder sind mein und sollen mein Schicksal theilen. Sei dieses Schicksal, welches es mag, die Kinder werden unter meinen Augen lernen, was sie unter denen ihres Großvaters nimmer gelernt haben würden: sie werden ihren Vater achten lernen.«
Und ohne sich um den Krampfanfall seiner Schwiegermutter zu kümmern, ohne sich durch die Einwände und Drohungen, ja selber die Bittworte seines Schwiegervaters abirren zu lassen, ging Edmund Wolfram mit seinen Kindern noch am nämlichen Tage aus dem elterlichen Hause, übernachtete im nächsten besten Gasthof und kehrte am andern Tage nach Rosenhain zurück, um 53 dessen schleunige Räumung zu betreiben. Bevor er die Hauptstadt verließ, hatte er nach zwei Seiten hin Schritte gethan, um die Verschwundene aufzuspüren. Er hatte an ihre Freunde in der Schweiz und an die Verwandtin in Rußland, in welcher letzteren Nähe er sie mit größerer Wahrscheinlichkeit vermuthete, geschrieben. Beiden Briefen war eine Einlage an Cornelien beigefügt, deren fast gleichlautenden Schlußsatz wir hier folgen lassen, um die Stimmung zu kennzeichnen, in welcher der Arme diese Nacht verbrachte.
»Ich darf nicht sagen, kehren Sie zu mir zurück, Cornelia; aber ich flehe Sie an, gestatten Sie dem Bethörten, zu Ihren Füßen zurückzukehren; tilgen Sie hochherzig das Brandmal, das er sich selber aufgedrückt; ich kann nicht leben, wenn Sie mich verachten.«
*
Der Erzähler dieses Familienconfliktes hat die doppelt erfreuende weil so seltene Aufgabe von einem Freunde zu berichten, daß der Sturm jacher Leidenschaft, der sich in ihm entband, nicht spurlos verbrauste in Stunden, Tagen, oder selbst in Jahren, sondern daß er als befruchtendes Element, einen eingeborenen, im Wohlleben nahezu erstickten Trieb erweckte, der unter Drang und Kampf unerschütterlich Wurzel schlug. Der Aufruhr einer unheilvollen Stunde glich den gewaltsamen Krisen des Leibes, welche die Natur zur Selbsthülfe reizen. Was Cornelia durch die reinste Hingebung nicht bewirkt hatte, woran ohne Frage ihr starker 54 Wille auf die Dauer gescheitert sein würde, das erreichte sie absichtslos, indem sie sich ihrem weichgemutheten Freunde entzog: sie machte ihn zum Mann.
Wäre es im engen Rahmen dieser Geschichte gestattet, dem Prozesse solcher Umwandlung Phase für Phase zu folgen, kein Zweifel, daß auf manchen Fehlgriff und Rückfall hingewiesen werden müßte, ja auf unlautere Triebfedern, denen ein geläutertes Thun entsprang. Denn nicht Liebe zu Cornelien allein, nicht nur die Pein über ihren Verlust wurden Edmund Wolfram zum selbstüberwindenden Sporn; auch nicht blos die Scham, geringgeschätzt zu werden von dem einzigen Wesen, das ihm bis heute in jeder Lage und durch sein Entziehen zumeist, bedingungslose Achtung eingeflößt hatte, oder der Stolz, diesem Wesen eines Tages als ein zu gleicher Achtung berechtigtes gegenübertreten zu dürfen, – nein, Alles das nicht allein: Widerwille und Widerspruch, Groll und Trotz gegen den Geist des Eschenbach'schen Hauses, durch den er sich, wie er meinte, in diesen Abgrund der Selbsterniedrigung hatte drängen lassen, sie wurden nicht minder zu einem ätzenden Stachel. Der Quell jedweden Heroismus ist ja nur selten ein ungetrübt reiner. In kaum merklich geschiedenen Strömungen treiben Liebe und Haß den Helden auf seiner Bahn. Einen Helden aber dürfen wir unseren bescheiden wirkenden Freund jetzt füglich nennen; denn wer, über die erste Jugend hinaus, ohne den Zwang äußerster Nothwendigkeit es durchsetzt, zu brechen nicht nur mit dem Behagen seiner gesammten Existenz, sondern auch mit dem bequemen 55 Sinn, dem dieses Behagen entkeimte und der von allen Spielarten der Selbstsucht die ist, welche am ausartendsten wuchert, wer allen Lockungen, wie Hemmnissen zum Trotz ausharrt auf mühevoller Bahn bis zum Ziel, der ist wohl ein Held und Ueberwinder, dessen Beispiel uns ermuthigen darf.
Edmund Wolfram führte die Vorsätze aus, welche Cornelia angeregt und welche in Zorn und Scham über sich selbst, im drohenden Affect gegen seine bisherige Familie zu Entschließungen erstarkt waren: er wies die geringfügigste Unterstützung zurück und hielt seine Kinder fest an der Hand. Mit seinem Landhause entäußerte er sich alles Entbehrlichen, das ihn von Jugend an verwöhnt hatte; er übernahm eine kleine Pachtung in seiner altheimathlichen Provinz und vertauschte sie gegen eine bedeutendere, als nach Beendigung des Concurses sich ein mäßiger Rest seines Vatererbes herausstellte, als er aber auch Geschmack an der Arbeit und Kraft für dieselbe in sich gewachsen fühlte. Die ländliche Thätigkeit übte den Einfluß alles Ursprünglichen und Unentbehrlichen; die Langeweile schwand vor der körperlichen Ermüdung, die selbstvernichtende Grübelei vor praktischer Berechnung, die Süßigkeit des farniente vor der Lust am Erfolg, und wie Hände und Wangen sich bräunten, die schmächtige Gestalt sich zu völliger Breite entwickelte, so wuchs auch im Inneren die Entfaltung zu einem sich selber besitzenden, sich selber achtenden und bedingungslose Achtung auch von Anderen heischenden Manne.
56 Von Cornelien blieb ihm jede Spur verloren. Die Antworten ihrer Befreundeten sagten, daß sie sich weder nach der Schweiz, noch nach Rußland gewendet habe; auch eine Reise, die er noch im selben Jahre, nach der ersten Ernte, mit dem ersten, selbsterworbenen Gelde nach ihrer Heimath unternahm, gewährte keinen aufklärenden Erfolg. Die Freunde zeigten ihm, ohne anzustehen, die letzten Briefe von Corneliens Hand, überraschender Weise aus der Residenz und von dem nämlichen Tage datirt, an welchem Wolfram der Verlorenen so bänglich nachgeforscht hatte. Sie erwähnte in diesen Briefen einfach, daß ihre Stellung im Wolfram'schen Hause unhaltbar geworden, das frühere russische Project aber von ihr aufgegeben sei, da sich anderweitig ein zusagendes Verhältniß zu bieten scheine. Welcher Art und wo, war nicht angedeutet; das aus Rosenhain eingetroffene Gepäck hatte bis jetzt keine neue Anweisung erhalten. Die Freunde versprachen bei späterer Erfahrung alsobaldige Auskunft; aber diese Auskunft wurde nicht gegeben, wenngleich Wolfram wiederholt um dieselbe bat und mit dem Amtsnachfolger von Corneliens Vater Jahre lang in brieflicher Verbindung blieb. Cornelia war verschwunden; sie wollte es sein, wenigstens für ihn.
Mit dieser niederschlagenden Gewißheit, aber mit der heimathlichen Bestätigung all des Schätzenswerthen, das er in dem fremden Mädchen von der ersten Begegnung an erkannt hatte, war Wolfram in seinen neuen Wirkungskreis zurückgekehrt. Sein Herz schlug hoch in dem Vornehmen, durch verdoppelte Liebe, durch ernste, 57 wahre, stärkende Liebe seine Kinder für den Verlust einer Mutter wie Cornelia, zu entschädigen.
Die Kinder erhielten keine neue Erzieherin; eine derbe, ehrliche Schulmeisterwittwe aus bäuerlichem Stande pflegte, der Pfarrer des Dorfes unterrichtete, des Vaters Auge überwachte sie. Im Uebrigen nahmen sie den, nur in gekünstelten Verhältnissen bedenklichen Lauf, sich frei aus ihrem Wesen heraus zu entwickeln; sie waren noch jung genug, um das sie bisher Verwöhnende ohne Pein entbehren und vergessen zu lernen. Wer möchte freilich das Entsetzen der armen Großmutter, sammt Zöfchen, beschreiben, als nach Frist von zwei Jahren, denn früher hatte der Vater allen Bitten und Drohungen widerstanden, bei einem kurzen Besuche im residenzlichen Hause die bäurische Verwilderung ihrer Enkel und Erben ihr vor Augen trat. War es auszudenken, daß diese sonnverbrannten, abgehärteten, kletternden, tollenden Pächterskinder Sprossen seien der zarten Melanie, des weichherzigen Edmund, von der Wiege ab in Spitzen gehüllt, geschmeichelt und gestreichelt, vor jedem Lufthauche, jeder unberechneten Berührung und Bewegung gewahrt?
Der arme Herr Consul hatte während dieses Besuches – manche schwere Stunde mit seiner Gattin zu bestehen, ja Vorwürfe, die er am wenigsten verdient zu haben wähnte, wurden ihm nicht erspart. Wäre, so hieß es, einer solchen Entartung gegenüber nicht der Einfluß jedweder gebildeten Erzieherin, ja der einer Stiefmutter sogar, als Wohlthat zu betrachten gewesen? Wäre der hartgesottene Geschäftsmann nicht als der eigentliche Ur 58heber alles gegenwärtigen Unheils anzusehen, indem er in der unverantwortlichsten, tact- und schonungslosesten Weise das Verhältniß zu einer Person zerriß, die sich nicht nur als geschickte Erzieherin, sondern auch als ehrenhafter, nobler Charakter documentirt habe?
Herr Eschenbach hatte diesen oder ähnlichen Klagen und Anklagen der Gründerin seines Glücks nur sein gewohntes Dankbarkeitsschweigen entgegenzusetzen; die Kinder aber verweilten auch bei späteren Besuchen nicht lange genug in der Stadt, als daß eine verhätschelnde Reaction sich hätte einschmeicheln können. Kleine, störende Anhängsel, die sie etwa in den Pachthof zurücktrugen, löschte gar bald, wie Wasser den Staub, ein anzügliches, ausgleichendes Element.
Corneliens ehemalige Zöglinge vermißten bei Milch und Schwarzbrod nicht lange die Eschenbach'schen Leckerbissen und vergaßen Putzdocken und Bleisoldaten über den Lämmern und Küchlein des väterlichen Hofes; im Innern ihrer armen Großmutter aber hätte ein aufmerkender Freund eine zwar langsamere, aber nicht minder umwandelnde Wirkung beobachten können, seitdem sie zum ersten Mal auf einen ernsthaften Widerstand gestoßen war. Corneliens kernhafte Natur wirkte wie eine Art Ferment, nicht nur im Herzen ihres einst Vertrauten, sondern auch in dem ihrer unbekannten Antagonistin.
Frauen, wer weiß es nicht? sind von Natur noch armseligere Meß- als Rechenkünstler. Sie schätzen das Kleine groß und vice versa, je nachdem das Maß ihrem individuellen Bedürfen entsprechend ist. Diese Eigen 59schaft aber, die Männer so liebenswürdig finden, wenn sie einem kindlichen Märchensinne entspringt, sie wird zum Dorn des häuslichen Lebens in einem grämlich reizbaren Gemüth, das aus dem Staubkorn einen Alp, aus der Mücke einen Elephanten macht. Auch die Frau des Consuls hatte durch diesen optimistischen Mangel sich und Andere lebenslang gequält und selber ein großer Schmerz, die Dinge nur zeitweise in ein geziemenderes Licht gesetzt. Wenige Wochen nach dem Tode des einzigen Kindes, rieb sie sich an den nämlichen Kleinigkeiten und tröstete sich momentan durch andere, wie zuvor im ebenen Tagesfluß. Ihr praktischer Gemahl hatte an jenem Wintertage den Nagel auf den Kopf getroffen mit der Behauptung, daß die Natur eines Menschen nur selten durch das Unglück gewandelt wird, insofern dasselbe nicht Noth und aufstachelnden Mangel im Gefolge hat.
Diese Noth aber, diesen stachelnden Mangel lernte die glücklich-unglückliche Frau zum ersten Mal im Leben jetzt kennen. Sie hegte einen Wunsch, ein erfüllbares, an sich sicherlich gerechtfertigtes Verlangen und es scheiterte an dem unbeugsamen Widerstande eines Mannes, eines armen, gedemüthigten Mannes, der ihr bisher als ein schwankes Rohr erschienen war. Daß Wolfram ihr hartnäckig die Kinder verweigerte, welche trotz äußerster Anstrengung er selber nur in einer ihnen unangemessenen Sphäre erziehen konnte, das brachte die Matrone anfänglich zur Verzweiflung und, wie sie selber mindestens wähnte, an den Rand des Grabes, dann aber zum Nachdenken und endlich zu einer gerechteren Würdigung der 60 Menschen und ihrer Zustände im Allgemeinen, wie Besonderen.
Auch dieser Prozeß ging naturgemäß nur zögernd und nicht ohne Rückfälle von Statten; es verliefen Jahre über demselben und lange nachdem der Vater ihrer Enkel ihr eine gewisse Hochachtung abgenöthigt hatte, lange nachher konnte sie sich noch nicht entschließen, ihm unter einer anderen Bedingung, als der des Ueberlassens seiner Kinder, versöhnend die Hand zu bieten. Sie schrieb ihm nicht, sie sah ihn nie; die Kinder begleitete bei ihren kurzen Besuchen nicht der Vater, sondern die alte bäuerliche Pflegerin; daran aber, daß des Consuls Briefe an seinen Eidam je mehr und mehr aus einem geschäftlichen Ton in einen gemüthlichen umzuschlagen begannen, ließ sich der besänftigte mütterliche Einfluß kaum verkennen und so war Wolfram denn auch nicht allzusehr erstaunt, eines Tages seinen Schwiegervater in der behaglichsten Laune, mit zutraulicher Begrüßung bei sich eintreten zu sehen.
Edmund Wolfram lebte dazumal als Pächter einer nicht unbedeutenden Domaine in einfachen, aber gemächlichen Verhältnissen. Er stand in der Mitte der Dreißig und erst nach seiner kraftvollen Entwickelung fiel es auf, welch ein schöner Mann es war, den Melanie und Cornelie geliebt hatten. Die Sorge um Hab und Gut war überwunden, die aber für die Weiterbildung seiner Kinder beschäftigte ihn von Neuem und nachdrücklicher, als an dem Tage, wo er zum ersten Male um eine Erzieherin für sie warb. Der ländliche Unter 61richt konnte ihnen nicht mehr genügen und so stand er auf dem Punkte, sich von ihnen zu trennen.
Zwar lief sein Pachtcontract in dieser abgelegenen Gegend mit dem nächsten Halbjahr ab, noch aber hatte sich nicht ein neues derartiges Verhältniß gefunden, so wie er es wünschte, das heißt in der Nähe einer größeren Stadt, welche die erforderlichen Erziehungsmittel bot. Sein Sohn reifte den höheren Classen des Gymnasiums entgegen, schweren Herzens ergab er sich darin, ihn, – schon jetzt seinen besten Freund und willigen Gehülfen – aus den Augen zu verlieren. Auch der Töchter Leitung heischte nunmehr unverschieblich eine feinere weibliche Hand; sollte er sie einer Kostanstalt anvertrauen, gegen die sich so unwillig ein Vorurtheil überwinden ließ? Sollte er auch sie von sich geben, gänzlich vereinsamen – oder noch einmal die Unterstützung einer Erzieherin, einer zweiten Cornelia, suchen?
Bekannte und Freunde riethen ihm einmüthig. zu einer Wiederverheirathung und ein ländlich thätiges Leben verträgt sich ja auch weniger, als jedes Andere mit der Ehelosigkeit, abgesehen davon, daß Edmund Wolframs Temperament und Gemüthsrichtung an und für sich nach einem weiblichen Anschlusse drängten. Wiederholt war denn in ihm auch der Gedanke, der Wunsch, die Sehnsucht nach einer Gefährtin aufgetaucht, immer aber rasch verscheucht worden durch die Erinnerung – nicht an die Jugendgeliebte, die ihm Gott genommen, sondern an die ernste Freundin, der er sich selbst entfremdet hatte; verscheucht wie von einem mahnenden, anklagenden Schatten.
62 Heute stand ihre Erinnerung mit besonderer Lebhaftigkeit vor seiner Seele. Aber seltsam! wie er so seinem Entwickelungsgange nachsann, von dem Augenblicke der tiefsten Niederlage an, durch die Reihe der Resultate, die er dem nachwirkenden Einfluß der trefflichen Cornelia zu danken meinte, da vermochte er in seinem Herzen und Hause den rechten Platz, auf den er sie hätte stellen mögen, durchaus nicht mehr zu finden. Ueberall erschien sie ihm zu groß, zu fest und ungefüge; überall fühlte er sich ihr oder sie sich ihm im Wege; er hätte ausweichen, ihr von dem Seinen einräumen müssen, wenn sie nicht gedrückt und beeinträchtigt erscheinen sollte.
Es war nicht zum ersten Male, daß diese Betrachtung ihm aufstieg; heute aber hatte sie sich nahezu zu einer sinnlichen Anschauung gesteigert und ein Gefühl von Enge und Angst, eine seit Jahren fremdgewordene Unruhe in ihm erweckt, welche der unerwartete Besuch des Consuls in doppelt wohlthätiger Weise unterbrach. Wolfram hatte die grollende Stimmung gegen seine Schwiegereltern längst, – kaum läßt sich sagen überwunden; sie war ihm entwichen, seitdem er mit sich selber leidlich zufrieden sein durfte und es ihn nicht mehr in den eigenen Augen entschuldigte, wenn er seine Schuld mit Anderen theilte. Nichts konnte ihm daher willkommener sein, als ein Abschluß des häßlichen Mißklangs in einem seine Kinder so nahe berührenden Verhältnisse. Die dargebotene Hand wurde dankbar ergriffen, ihr Druck herzlich erwidert und so währte es denn nicht lange, bis 63 der alte Herr über den Grund seines Entgegenkommens und seiner ausnehmend frohen Laune in vollem Zuge war.
»Schon seit Jahren,« berichtete er, »ist in meiner Henriette heimlich ein Umschlag vorgegangen. Ich gebe sonst nicht viel auf die Menschenbeobachtung von Pastoren – nota bene von sogenannten frommen, die All' und Jeden über einen Kamm zu scheeren pflegen, – aber unser alter Probst traf im Grunde doch in's Schwarze mit der Bemerkung – Unsereiner muß sie nur in seine eigene, profane Denkweise übersetzen! item mit der Bemerkung: »der Verlust des einzigen Kindes fange auf einem wunderbaren Umwege an, zum Heile ihrer Seele zu operiren.« Daß diese heilsame Operation sich auch auf ihr Verhalten gegen meine Person erstreckt haben sollte, vermag ich freilich nicht zu rühmen. Der Widerspruch wurde au contraire Tag für Tag gereizter und die drei Monate, die sie gegenwärtig fern von mir verweilt, habe ich mich, geradezu gesagt, befunden wie im Paradiese. Es giebt nun einmal Stoffe, die sich nicht zu einem Teige verkneten lassen und Geschäfte und Gefühle sind und bleiben Pole.
Wie curios sich nun aber dann und wann die Dinge dieser Welt verschieben müssen! Ein Geschäft und just eines von den wenigen, die ich in meiner Praxis für verunglückt erachtete, item ein reines Geschäft, scheint dazu bestimmt, der Gefühlsseligkeit meiner Frau eine wohlthätige Ablenkung zu bereiten und mir Früchte zu tragen, wo und wie ich sie nicht im entferntesten zu ernten gedachte. Um ein erhebliches Kapital, das ich für 64 einen bergmännischen Betrieb in Süddeutschland dargeliehen hatte, zu retten, sah ich mich nämlich genöthigt, aus der Concursmasse eines ruinirten Barons ein Rittergut anzunehmen. Ich ließ die unrentable Kohlenspeculation fallen und erneuerte den Contract mit dem bisherigen Pächter, nach einigen selbstverständlich vortheilhaften Zugeständnissen seinerseits, – ohne das Gut, das übrigens angenehm in einem Thalwinkel gelegen sein soll, bisher mit Augen gesehen zu haben. Das Landleben gehört eben nicht zu meinen besonderen Passionen.
Nun fiel dieser unfreiwillige Erwerb aber just in eine Periode, wo meine Henriette von der hysterischen Grille geplagt ward, daß ein Schlagfluß meine rüstige Person mit einem jähen Ende bedrohe und daß die Erbschaftsregulirung die trauernde Wittwe in unvermeidliche Conflicte mit ihrem Erzfeind, mit – Ihnen, mein Bester – bringen werde. Jedweder Nachtheil, ja jedweder Verlust dünkte ihr nun erträglicher, als solche Collision, und da überdies eine Familiencorporation, in die Reihen der Ritterschaft – Sie wissen es von Blankenberg her, Edmund – ein Traumbild dieser weiblichen Seele ist, bestand sie darauf, die Besitzung als eingebrachtes Heirathsgut auf ihren Namen eingetragen zu sehen. In diesem Frühjahr fällt es ihr nun plötzlich ein, vor der Cur, die sie zur Stärkung ihrer Nerven jedes Jahr in einem anderen Bade probirt, ihren einstigen Wittwensitz in Augenschein zu nehmen. Schon am andern Tage ist sie unterwegs und heute nach netto drei Monaten, weder in den Alpen oder an der See, noch 65 auch wieder ein Mal uncurirt retour in der Residenz, sondern noch immer in anticipirter Wittwenstille festsitzend in Gravenhorst. Gravenhorst, Freund, ein ehrfurchtgebietender Name, gelt? Henriette, Burgfrau auf und zu Gravenhorst!«
Der alte Herr schüttelte sich vor guter Laune und fuhr, als sein Schwiegersohn nur schweigend lächelte, also fort: »Wie könnte ich Ihnen nun aber mein Erstaunen ausmalen, Freund, als sie vor ein paar Tagen, nach vierteljährigem Schweigen – das mich zum Glück durchaus nicht beunruhigt hat, denn Naturen, wie meine Henriette, wenn die stille sind, geht es ihnen passabel, – also daß sie vor ein paar Tagen einen Schreibebrief an mich erläßt, der mich zum Gläubigen des Pfingstwunders machen könnte, denn die Theuere redet mit einer Weisheit, als hätte der heilige Geist auf ihrer Zungenspitze geflammt. Kein Vorwurf, keine Klage! au contraire – – aber hören Sie selbst, Edmund, und staunen Sie über diesen schlechthin vernünftigen Schluß:
›Meine schwächliche Anlage paßte weder für Deinen thatkräftigen Sinn, noch für den beanspruchenden Verkehr Deines Hauses. Wir haben uns gegenseitig unseren Lebenstag verbittert; laß uns den Abend in Frieden beschließen. Denn Frieden, Ruhe thut mir noth schon hier, wenn ich sie dereinst anderwärts finden soll.‹«
Der Consul faltete nach diesem Citat das Schreiben, das ihn in eine fast gerührte Freudigkeit versetzt hatte, sorgfältig wieder zusammen, steckte es in seine Brieftasche zurück und fuhr folgendermaßen fort:
66 »Sie macht mir nun in aller Güte, ja als einen Liebesbeweis, den Vorschlag einer Trennung. Sie will nicht mehr nach der Stadt zurückkehren, ihre Tage in ländlicher Stille beschließen; sie rechnet auf ein freundliches Einvernehmen mit mir, auf meinen öfteren Besuch auf die Schlichtung aller leidigen Zerwürfnisse, was aber die Hauptsache ist, ihr Vorschlag hat nicht im Entferntesten einen grillenhaften Anstrich und fühle ich mich, ich will es nicht leugnen, seit diesem unverhofften Arrangement, wie der Vogel in der Luft. Ich stand just im Begriffe, eine Reise nach London anzutreten und ich erinnere mich nicht, daß ich eine Fahrt vergnüglicher zurückgelegt hätte, als die zu Ihnen, Freund, wenngleich sie einen von den Umwegen bedingte, die sonst nicht meine Sache sind. Wissen möchte ich indessen wahrlich, wer der deus ex machina bei dieser Angelegenheit ist? Denn aus sich selbst heraus kann meine Henriette allenfalls einen guten Antrieb haben, nimmermehr aber wird sie lernen, einen festen Entschluß zu fassen oder plangemäß durchzuführen. Auch macht sie etwelche mysteriöse Anspielungen auf eine unerwartete Begegnung, ein einflußreiches Zusammentreffen und spricht mit einer Art Raptus von einer holden, jugendlichen Pflegerin, die ihr das verlorene Mutterglück ersetze und die sie dauernd an sich zu fesseln hoffe.
Nun, ich werde all diese heimliche Herrlichkeit ja mit Augen schauen, wenn ich bei meiner Rückkehr von England im Herbst, der Einladung der neuen Schloßdame Folge leiste und ich sehe es kommen, daß wir correcte Ehegatten, von heute ab, wie Turteltäubchen 67 nach einander schmachten und auf fünfzig Meilen Distance ein Leben miteinander führen werden, um das uns die Götter beneiden könnten.«
Der alte Herr machte lachend eine Pause, in der er sich vergnügt die Hände rieb, während der Sohn gedankenvoll schweigend ein Verhältniß nachlebte, das in der Jugend auf Liebe gegründet wurde und für das, nahe dem Grabesrand, dieser beklagenswerthe Ausweg, als die schicklichste Lösung begriffen, ja geehrt werden mußte. »Sollte,« so fragte er sich, »die Tochter dieser Mutter zu rechter Zeit für ihr Glück geschieden sein, bevor der geliebte Mann sich in einen Mann der That verwandelte?«
Aus seinem Sinnen wurde er wie von einem Blitzschlag durch die plötzliche Frage des Consuls aufgeschreckt: »Apropos, Edmund, haben Sie jemals wieder etwas von Cornelie Wille gehört?«
»Niemals!« – antwortete Wolfram mit einer Befangenheit, die ihm gestern noch unbegreiflich gedünkt haben würde.
»Ich werde mir Mühe geben, ihr auf die Spur zu kommen,« fuhr seelenruhig Herr Eschenbach fort; »wenn ich es ernst mit der Sache nehme, wird sie bei meinen Verbindungen keine Schwierigkeit haben. Ich brauche nunmehr an der Spitze meines Haushalts eine tüchtige und repräsentable Person und es ist mir im Leben keine vorgekommen, die so durch und durch für mich gepaßt hätte, wie die Wille. Was meine Frau anbelangt, so wird sie bei ihrer reumüthigen Friedensstimmung in dieser Wahl nur eine Wiedergutmachung gleichsam einen 68 Sühneakt erblicken und auch Sie, Wolfram, werden mir, denk ich', keinen Querstrich durch meine Pläne machen. Sie müssen ja längst eingesehen haben, daß eine Complexion, wie die der Wille Ihren gemüthlichen Bedürfnissen schon jener Zeit unbequem geworden sein würde; um wie viel mehr aber heute, bei vorgerückten Jahren und Erfahrungen. Für meine rein sachlichen Anforderungen ist sie wie geschaffen.«
»Und sind Sie so gewiß, Fräulein Wille diesen Anforderungen geneigt zu finden?« entgegnete Wolfram, indem er nur mit Mühe den alten, frisch aufquellenden Groll in seinem Herzen niederkämpfte.
»Wenn sie sich nicht verheirathet hat, was bei ihren Prätensionen in einer dienstbaren Lage kaum anzunehmen ist – warum sollte sie nicht? An die Spitze eines Hauses wie das Eschenbach'sche gestellt zu werden, ist doch wahrlich eine Fortüne, die einer armen Gouvernante nicht zum zweiten Male geboten werden wird. Die romantische Wallung, die sie dazumal in die Flucht ja nicht von mir, sondern von Ihnen, Wolfram, getrieben hat, wird sich in so und so viel Jahren hinlänglich temperirt haben; jedenfalls wird die Dame es nicht übel nehmen, wenn die Früchte ihrer großmüthigen Laune ihr jetzt reif und überreichlich in den Schoß fallen.«
Edmund fühlte sich empört wie in alter Zeit; doch schwieg er still. Der peinliche Gegenstand wurde durch den Eintritt der Kinder unterbrochen; und erst als der alte Herr sich am anderen Morgen verabschiedete, sagte Wolfram mit scheinbarer Ruhe: »Sollte Ihnen, lieber 69 Vater, wirklich besser als mir gelingen, eine Spur Corneliens zu entdecken, so rechne ich darauf, daß Sie mich davon in Kenntniß setzen, bevor Sie irgend einen Schritt in der angebenen Richtung thun.«
»Ich werde Ihnen zu Willen sein, Edmund,« versetzte der Consul. »Sie scheinen mir hinlänglich tactfest geworden in der Rolle eines vernünftigen Menschen, – die Sie, lassen Sie mich es gestehen, über all mein Erwarten durchgeführt haben, – als daß ich Ihnen den thörichten Rückfall zutrauen sollte, mein Concurrent zu werden. Abgethane Verhältnisse muß man niemals erneuern; am wenigsten in Herzensangelegenheiten, in denen jegliches Lebensstadium seine aparten Bedürfnisse mit sich bringt. Die Ehe gleicht diese Uebergänge nothdürftig aus; aber glauben Sie mir, Freund, kein Mann in reiferen Jahren würde, wenn er zum zweiten Male wählen dürfte, seine Jugendgeliebte wählen; Sie zum Exempel, nicht meine Melanie, – so werth Sie dieselbe, einmal als ihre Gattin gehalten haben würden.«
Mochte Wolfram im Allgemeinen auch heute noch mit den Lebensauffassungen seines Schwiegervaters wenig harmoniren, während dieser letzten Bemerkung flüsterte eine Stimme in ihm: er hat Recht. Und diese Stimme hielt ihn rege bis tief in die Nacht hinein, ja selber die Traumschatten wirbelten noch auf und ab nach dem angeschlagenen Tact und als er bei nüchternem Morgen, um sich zu einem Resultate zusammenzufassen, das Bild einer zweiten Gattin sich zu entwerfen suchte, da glich dieses Bild weder Melanie, noch Cornelien. Wenn es 70 von beiden auch ähnelnde Züge trug, war der Grundton, leiblich wie geistig, ein besonderer; kraftvoller hier, zarter dort; die weibliche Idealgestalt, die Edmund Wolframs reifen Mannesjahren vorschwebte, war eine Melanie von Cornelien gebildet, und so kam er wochenlang nicht aus einem Kreislauf widersprechender Vorstellungen und Wünsche heraus, welcher die überwundene Unruhe seiner Jugend von Neuem wieder anfachte: Er suchte einen Anschluß, aber er konnte ihn nicht erreichen, ohne zuvor Eine gefunden zu haben, die, hätte er sie gefunden, ihm den ersehnten Anschluß nicht gewährt haben würde.
*
Eine aufregende Kunde setzte dieser entnervenden Stimmung ein Ziel: durch einen Brief aus Gravenhorst wurde Wolfram an das schwere Krankenbett seiner Schwiegermutter berufen und durfte er um so weniger zögern, dem Rufe zu folgen, da er den Consul zur Zeit unerreichbar fern wußte. Die Ernte war noch nicht vollständig eingebracht; seitdem unser Freund aber selber ein tüchtiger Arbeiter geworden war, besaß er auch Gehülfen, auf die er sich allenfalls verlassen durfte. Sein jüngstes Töchterchen blieb unter der Obhut der befreundeten Pfarrersfamilie zurück mit den beiden Aelteren trat er noch am selbigen Abend die Reise nach Süddeutschland an.
Mitten in der Nacht erreichten sie den Bahnanschluß. Ihr Coupé blieb unbesetzt; die Kinder schliefen ein und 71 ungestört fort bis in den hellen Tag; der Vater fand keine Ruhe. So sollte er denn nach Jahren die Frau wiedersehen, vielleicht auf ihrem Sterbebette wiedersehen, aus deren Hand er das volle Glück seiner Jugend empfangen, die er lange wie eine Mutter geliebt, dann plötzlich als Feindin gehaßt hatte und die ihm allmälig eine Fremde geworden war. Wie sollte er jetzt ihr gegenübertreten? Was durfte sie fordern? was er bewilligen, oder verweigern?
Er zog den Brief hervor, um ihn beim Schein der Wagenlampe noch einmal zu überlesen. Es war ein Diktat, ein kurzer, feierlich drängender Aufruf, wie ihn Kranke, deren Herz eine Sorge belastet, vor dem vermeintlich letzten Gange zu erlassen pflegen. Edmund kannte aus alter Zeit diese Apprehensionen der schwächlichen Frau und hoffte, daß sie sich auch heute als eitel erweisen würden. Wessen aber mochte die Hand sein, deren sich die Kranke zur Niederschrift bedient? Ohne Zweifel die geheimnißvolle, junge Pflegerin, deren Einfluß sein Vater gerühmt hatte. Die Schriftzüge waren ihm fremd und schienen ihm doch bekannt: deutlich und regelmäßig, aber weiblich sein. Man hatte noch eine Gänsespule angewendet, wie sie auch Cornelie beim Unterricht der Kinder vorgezogen. »Die Stahlfeder,« so hörte er sie wieder sagen, »giebt den Zügen statt des Schreibers charakteristisches Gepräge nur das der größeren oder geringeren Güte der Fabrik, aus der sie hervorgegangen ist.« Auch durch einzelne Buchstaben und Zeichen glaubte Edmund an seine Freundin er 72innert zu werden, nur daß sie schmiegsamer waren, kindlicher, weniger geübt. So mochte Cornelie geschrieben haben, als sie noch eine Heimath hatte und noch nicht dahin gedrängt war, ohne stützende Hand den Kampf mit dem Nothwendigen aufzunehmen.
Die geringfügigste Zufälligkeit wurde auf diese Weise zu einer Vorstellung, welche Wolfram in die kaum unterbrochene Gedankenbahn zurückdrängte. Ihm war, als ob sein Dasein sich wiederum einer Krisis nähere und er vermochte während der ganzen Reise eine bängliche Stimmung nicht zu bannen.
An einem milden Augustnachmittage erreichte er die Station, bei welcher der Weg nach Gravenhorst abzweigte; er schlug ihn zu Fuße ein, da seine Kinder wie er selbst des Stillsitzens müde waren und ein gar liebliches Landschaftsbild zu näherem Betrachten lockte. So schritten sie auf einer mäßigen Ufererhöhung das Flüßchen entlang, das in anmuthigen Windungen plätschernd dem Hauptstrome zueilte, Hüben und drüben breiteten sich Wiesenflächen aus, üppig selber nach dem zweiten Schnitt, im blauröthlichen Blüthenschmuck des wilden Salbeys und der Scabiose, mit Apfelbäumen bepflanzt, die vielfach gestützt, dennoch unter ihrer goldwuchtigen Last zu brechen drohten.
Der jenseitige sonnige Uferrand war mit Reben bewachsen; den im Schatten liegenden, auf dem die Wanderer schritten, krönte ein Buchenwald. Der Boden und seine Cultur, Menschen und Heerden zeugten von frohem Gedeihen. Wolframs beklommene Stimmung löste sich 73 unter den anmuthigen Eindrücken von Außen. Er war schon in seiner beschaulichen Jugend, daheim wie auf Reisen, ein empfänglicher Freund der Natur gewesen; nun er ihr Diener geworden, erspürte er neben dem Reiz auch ihren Segen mit verständnißvollem Blick und so sagte er sich denn jetzt voller Freude, wie viel leichter und lohnender sein Sohn dereinst in diesem seinem Erbe walten werde, als es dem Vater in der Werkstatt seines heimathlichen Moor- und Haidebodens gegönnt gewesen war. In solch heiterer Betrachtung war er einer Parkanlage nahe gekommen, welche er für die von Gravenhorst halten mußte; eine Gitterthür stand geöffnet und eben war er im Begriffe in die Umhegung einzutreten, als er durch einen hellen Freudenruf seiner Kinder etliche Schritte seitab nach einem Felsenvorsprung gelockt wurde, dessen freie und mannichfaltige Aussicht in das Thal ihn fesselte. Zur Linken lag das Schloß mit seinen sich nach dem Flüßchen absenkenden Gartenterassen, ein stattliches Gebäude, den Glanz früherer Geschlechter bekundend, weiterhin auf gleicher Uferhöhe das Dorf; im jenseitigen Grunde aber, durch eine Brücke verbunden, eine Gruppe von Baulichkeiten, welche das spitzbogige Portal und der Kreuzgang einer schwärzlichen kleinen Kirche als ein ehemaliges Kloster, zu irgend einem philantropischen oder industriellen Zwecke umgewandelt, bekundeten. Auch durfte über diesen Zweck der Beschauer nicht lange in Zweifel sein, denn muntere Stimmen lenkten seinen Blick seitab nach einem Rasenplan, auf 74 welchem ein Schwarm kleiner Mädchen in gleichmäßig bescheidener, aber heiterfarbiger Tracht sich mit Spiel und Tanz ergötzte. Eine Erziehungsanstalt, vielleicht ein Waisenhaus.
Wolfram gönnte seinen Kindern die Freude, dem bunten Gewimmel von oben herab eine Weile zuzuschauen. Er selber betrachtete mit Antheil die zweckmäßige und dabei zwanglose Einrichtung der Unterhaltung und Bewirthung. Es mochte ein Fest gefeiert werden, denn man hatte durch Pfahlwerk und grüne Gewinde eine Reihe von Lauben hergestellt, in welchen einfache Erfrischungen der Vertheilung harrten; weißgedeckte, blumengeschmückte Tafeln, bauchige Krüge und Körbe voller Früchte und Backwerk stimmten auf das angenehmste zu der heiteren, im bläulichen Abenddufte verschwimmenden Landschaft mit der Staffage ihrer bunten, tanzenden Kindergruppen. Ein Künstlerauge würde in dieser kunstlosen Harmonie einen Vorwurf gefunden haben und der Pächter Wolfram besaß von Natur ein ächtes Künstlerauge; auch seine Kinder waren von dem ergötzlichen Schauspiel nicht fortzubringen. Das Läuten einer Glocke gab das Zeichen der beginnenden Collation. Im Nu flogen die kleinen Mädchen, es mochten weit über hundert sein, von ihren Spiel- und Lagerplätzen zu den Lauben, wo ihnen von Lehrerinnen oder Dienerinnen ihr abgemessenes Theil gereicht ward. Nun erst kam das Jauchzen und Freudespringen in vollen Zug, dann stumme Pause der Verzehrungslust. Der Beschauer auf der Höhe sagte sich lächelnd, daß in der großen wie in der kleinen 75 Welt die Bewirthung doch allezeit Basis und Krone jeder Geselligkeit sein und bleiben wird.
Der Tag neigte sich; das Treiben in den dämmerigen Lauben verschwamm zu unbestimmten Umrissen, nur eine einzige, die dem Flußufer zunächst gelegen war und in welche die letzten Sonnenstrahlen fielen, ließ sich noch deutlich übersehen. Eine Gruppe der kleinsten Kinder wurde hier durch eine Lehrerin oder Gehülfin bedient, an deren geschickten Darbietungen und Bewegungen, liebreich nannte sie Wolfram, er sich nicht satt zu sehen vermochte. Die Gesichtszüge ließen sich im Halbdunkel nicht mehr unterscheiden, daß es aber jugendlich schöne Züge seien, daran zweifelte der gespannte Beobachter nicht und wie anmuthig hob sich ihr weißes, flatterndes Kleid von den buntfarbigen, derben Anzügen der Kinder, ihre schlanke, biegsame Gestalt von den kleinen gedrungenen ab!
Nachdem sie Brode und Früchte vertheilt, die blitzenden Zinnbecher aus den Krügen gefüllt hatte, überließ sie die jugendliche Gesellschaft der Aufsicht einer helfenden Magd und entfernte sich unter freundlichem Kopfnicken, die Kinder umringten sie, traten ihr in den Weg, reichten ihr die Händchen, hielten sie am Kleide zurück, so daß sie endlich mit Gewalt sich losreißen mußte, um nun in schwebendem Lauf den Plan entlang zu fliehen; einer weißen Taube gleich, die ein kreischender, dunkler Spatzenschwarm verfolgte. Vor der großen Mittellaube hielt sie still: ein dunkelgekleideter Mann, den Wolfram für den Prediger oder Director der Anstalt hielt, entwand sich 76 an der Seite einer überragenden Frauengestalt dem dichten Knäuel der Kinder. Die Dahereilende beugte sich vor dem Mann und zog die Hand der Frau an ihre Lippen. Die Frau küßte das Mädchen auf die Stirn und entließ es mit einem Wink nach der Höhe.
Es war eine Sinnestäuschung, die Wolfram bei diesem Anblick bestrickte; ein Phantom, beschworen durch die Grübeleien seiner jüngsten Zeit, ein thörichter Schluß, geweckt durch die sinnvolle Ordnung der heiteren Scene; aber sein Herz klopfte hörbar und: »Sie ist es!« murmelte er, indem seine Augen dem Umriß der hohen Gestalt folgten, bis dieselbe langsam schreitend sich im Schatten des Hintergrundes verlor.
Er hatte über diesem fast angstvollen Spannen seine weiße Taube aus dem Gesicht und aus den Gedanken verloren. Jetzt tauchte sie plötzlich am diesseitigen Ufer wieder auf. Sie mochte weiter aufwärts die Brücke überschritten haben und näherte sich auf einem gewundenen, schmalen Pfade der vorspringenden Platte, von welcher die Wanderer etliche Schritte zurückgetreten waren, um in den Park einzulenken.
Auch das junge Mädchen hatte sich der Gitterthür zuwenden wollen; da just die Kinder aber vor dem Heimzuge ein Abendlied anhoben, bog sie vom Wege ab, trat auf den äußersten Rand der Platte und blickte still mit gefalteten Händen hinunter in das Thal. Wolfram sagte sich, daß er auf dem Grunde der Seinen durch keine friedenverheißendere Erscheinung zuerst hätte begrüßt werden können als durch diese weiße Taube im 77 Schimmer des verschwimmenden Abendgoldes. Und wie sie nun von oben herab mit glockenheller, seelenbewegter Stimme die Schlußstrophe des kindlichen Abendliedes wiederholte, da verhallte es »Himmelsruh! Himmelsruh!« fernhin im Thal und leise zitternd in Edmund Wolframs Herzen.
Die Kleinen auf dem Plan hatten der Sängerin regungslos zugehört; nun aber, da sie geendet, erschallte jubelnd der Ruf: »Martina, Martina!« Tücher und Schürzchen wurden geschwenkt, Kränze und Sträuße zum letzten Gruße in die Luft geworfen; die Ordnung konnte nur mit Mühe von den Führerinnen wieder hergestellt werden.
Als das junge Mädchen sich schnell der Parkpforte zuwendete, sah es sich plötzlich von der kleinen Bertha bei der Hand gefaßt und von ihrem hinter den Bäumen vortretenden Vater in merklicher Bewegung begrüßt. Sie stutzte einen Augenblick, fragte aber alsobald mit freundlichem Lächeln: »Herr Wolfram, nicht wahr?« und als Edmund sich zustimmend verbeugte, setzte sie hinzu: »O, wie bald wird Ihre liebe Kranke nun genesen! Gewiß, nur die Sehnsucht nach Ihnen und den Kindern hat sie seit Abgang des Briefes so unruhig und elend gemacht.«
»Waren Sie es, die den Brief geschrieben? –« fragte Wolfram mit einem innig prüfenden Blicke auf das holde Kind.
Sie erröthete leise, antwortete aber dann zutraulich unbefangen: »Da ich so viel um Ihre Frau Mutter 78 bin, habe ich ihr dann und wann auch wohl als Schreiberin dienen müssen. Hätte ich meine eigenen Worte wählen können, würde ich Sie weniger in Sorge versetzt haben, Herr Wolfram.«
»Und dürfte mir die Frage gestattet sein, welcher glücklichen Fügung meine arme Mutter die Wohlthat so liebenswürdiger Pflege und Gesellschaft zu danken hat?« fragte Edmund von Neuem, worauf das junge Mädchen einfach erwiderte: »Unsere Vorsteherin hat mich in ihre Nähe gewiesen, so lange die Kranke meiner Dienste zu bedürfen glaubt.«
»Ihre Vorsteherin?« stammelte Wolfram beklemmt und zugleich gespannt auf eine nähere Bezeichnung, welche die Befragte mit warmer, natürlicher Offenheit gab:
»Die Vorsteherin dieser Waisenanstalt, deren Stiftungsfest wir heute feiern; unsere Mutter hätte ich sagen sollen, vor allen Anderen meine liebe Mutter, die auch Ihrer Kranken, Herr Wolfram, eine Freundin geworden ist; nur daß zu vieles auf ihr beruht, um sich ausschließlich ihrer Pflege hinzugeben, daher sie denn mich als ihre Stellvertreterin angewiesen hat.«
Eine hastige Bewegung Wolframs unterbrach sie. Eine Frage, ein Name zuckte auf seinen Lippen. Aber seltsam! er vermochte diese Frage nicht auszusprechen und ließ eine andere an ihre Stelle treten, nur um seine Verlegenheit nicht spüren zu lassen: »Und Sie selber, Fräulein, sind eine Lehrerin dieser Anstalt?«
79 »O nicht doch,« versetzte sie, indem sie lächelnd mit einem lieblich demüthigen Ausdruck den Kopf schüttelte. »Kaum, daß ich hoffen darf, es eines Tages zu werden. Ein Wenig Nähen und Singen ist alles, was ich bis jetzt mit den Kindern treibe. Wenn ich aber sehe, wie unsere Mutter für jedes einzelne Bedürfen sorgt und doch immer das Ganze im Auge hält, während ich über den Dienst oder die Leistung des Einzelnen niemals hinaus komme, ach, da fühle ich immer von Neuem, daß ich für einen so weiten Beruf nicht geschaffen bin.« Sie hielt den Blick eine Weile zu Boden gesenkt, dann aber sich besinnend, daß sie auf eine indirecte Frage noch einen Bescheid schuldig sei, sagte sie: »Ich bin die Tochter des früheren Besitzers dieses Gutes, Martina von Gravenhorst; eine Waise wie die Kleinen dort, deren Vorsteherin einst meine Erzieherin war und auch mir, ja mir vor Allen, eine mütterliche Versorgerin geworden ist.«
Nach diesen Worten empfahl sie sich, um die Kranke auf die Ankunft der ersehnten Gäste vorzubereiten. In rasch geschlossener Kameradschaft begleiteten sie Max und Bertha auf dem nächsten Wege.
Der Vater folgte ihnen langsam, durch die fast mächtigen Alleen. Eine untrügliche Ahnung sagte ihm, daß er die lange Gesuchte jetzt finden werde. Warum ging plötzlich sein Athem so schwer? warum hemmte er den Schritt, der ihr entgegen eilen sollte?
Das Schloß lag im Dunkel; in den Wirthschaftsgebäuden brannte bereits Licht und ein matter Lampen 80schimmer, der aus dem Parterre eines Gartenhauses drang, zeigte ihm den Weg zu denen, die er suchte. Eine Thür stand nach der Terrasse geöffnet, denn der Abend war mild und die letzten Sommerdüfte der Reseda und Levkoje durchwürzten die Luft. Wolfram verharrte eine lange Weile im Anschauen eines herzbewegenden Bildes. Drinnen im halbdunklen Krankenzimmer kniete sein Knabe neben dem Lager der weinenden Matrone, an deren Brust sich Bertha's helles, kindliches Köpfchen schmiegte. Die Züge der Großmutter und der Enkelin glichen sich; beide waren ja die seines vielgeliebten, vielbeweinten Weibes. An der Stelle aber, wo dieses Weib gewaltet haben würde, inmitten der Greisin und des Kindes, da stand die sanfte Gestalt der Waise stützend, lindernd, lächelnd unter Thränen, ein Bild der Tröstung und der dienenden Liebe. Sorgsam beobachtete sie die Regungen der Kranken, kam geschickt und leise jedem Bedürfen, hier der Schüchternheit, dort der Ueberreizung zu Hülfe. Kaum erblickt, schien dieses herzliche Wesen Edmund Wolfram ein lange vertrautes, im Innersten durchschaut; in blitzartiger Gedankenfolge reihte er es zwischen die beiden Frauengestalten, deren Erinnerung unauslöschlich in ihm lebte: eine Waise, arm, abhängig wie Cornelia, aber singend und spielend mit Kindern als ein Kind; zärtlich und schmiegsam wie Melanie, aber ernsten Pflichten gehorchend und dienend mit selbstüberwindendem Willen. So auf den ersten Blick erschien ihm Martina, ja, und so war Martina.
81 Sie bemerkte ihn endlich und winkte ihn an die Seite der Kranken, die bei seinem Anblick in lautes Schluchzen ausbrach. Schweigend drückte er ihre zitternden Hände an sein Herz und als er nach einer langen Stille sich nach seinen Kindern umsah, hatten sie mit Martina das Zimmer verlassen.
»Wo – wo ist sie?« fragte die Kranke, unruhig umherblickend.
Edmund ging nach der Thür, die Pflegerin herbeizurufen; allein die Mutter, die sich mühsam gesammelt hatte, winkte ihn zurück. »Bleiben Sie, Edmund!« flüsterte sie. »Ich muß allein mit Ihnen sprechen, das hat sie gefühlt und sich entfernt. Aber mir fehlt alle Ruhe, wenn ich das Kind nicht um mich sehe. Erst durch dieses Kind habe ich begriffen, was lieben heißt.«
»Melanie!« – sagte Wolfram leise.
»Melanie!« wiederholte die Mutter und drückte seine Hand.
Sie versank in rückschauendes Sinnen; dann begann sie, indem ihre Wangen sich rötheten, in jener fiebernden Hast, mit welcher Stimmungskranke ihrer Art zu einer jeweiligen Lieblingsvorstellung zurückzukehren pflegen: »Ja, ja, sie hat meiner Tochter zärtliches Herz und ist doch so anders, so – wie soll ich nur sagen? Melanie liebte ihre Eltern, ihren Mann, ihre Kinder; wo ihre Lieben waren, war ihr wohl und nur da. Sie entbehren müssen, hätte ihr das Herz geknickt – wie es mir geknickt worden ist. Martina liebt überall und immer, wo ein Wesen der Liebe bedarf. Sie war eine Waise 82 und wurde einer Fremden Kind; sie hatte keine Geschwister und die armen, kleinen Pfleglinge wurden ihre Schwestern. Was hat sie von mir, der Unbekannten, – Elenden, Ruhelosen? Aber nur ein Wink Cor –«
Die Matrone stockte; Wolfram ergriff ihre Hand und sagte: »Sprechen Sie den Namen aus. Wessen Wink, liebe Mutter?«
Sie ließ den Kopf zur Brust hinabsinken und saß eine Weile mit gefalteten Händen wie im Gebet. Dann richtete sie sich in die Höhe und hob an, nicht ohne merkbaren Kampf: »Ich habe Sie zu mir gerufen, Edmund, um, ehe ich sterbe, Ihnen einen Irrthum zu bekennen, ein bitteres Unrecht, soweit Sühne noch möglich ist, zu sühnen. Die Vorsteherin dieser Anstalt, die Bildnerin meiner lieben Martina, jetzt ihre alleinige Versorgerin, die starke Seele, die mich aufgerichtet hat, als ich gebrochen an Leib und Seele in diesem ihrem Asyle Beruhigung suchte, meine großmüthige Freundin, Edmund, es ist – –«
»Cornelie Wille,« sagte Wolfram leise, aber fest.
»Sie wußten es, Edmund, und Sie – –«
»Ich ahne es erst seit dieser Stunde.«
»So werde ich Ihnen nichts weiter zu sagen haben, mein Sohn. Ich sterbe getrost, wenn ich Melanie's Kinder am Herzen dieser Mutter geborgen weiß. Möge meine Bertha eine zweite Martina werden! Auch dieses liebliche Kind, arm und in der Welt ohne Schutz außer dem einer Frau; die selber arm und schutzlos ist, es findet auf diese Weise eine Heimath und ein Vater 83haus. Meine Angelegenheiten sind geordnet, Edmund. Eschenbach wird und kann keinen Widerspruch erheben. Sterbe ich, gehört Gravenhorst Ihnen für Ihre Lebenszeit und fällt erst nach Ihrem Tode an Melanie's Kinder. Der gegenwärtige Pachtcontract geht in diesem Halbjahre zu Ende und da, wie ich höre, auch der Ihrige abläuft, können Sie schon zum Herbst in die Bewirthschaftung eintreten. Die nahe Stadt bietet den besten Unterricht für Max; ich habe die Kinder unter meinen Augen, bis ich dieselben schließe für immer. Alles stimmt wie von einer höheren Hand gefügt. Auch das, daß Cornelie als Ihre Gattin den Wirkungskreis, in dem sie Ungewöhnliches leistet, nicht aus den Augen zu verlieren braucht. Ihre Fähigkeiten reichen weiter als die der Mehrzahl der Frauen. Sie würde das Widerstrebendste zu einen und das Verworrenste zu lösen wissen.«
Die Kranke sank vom langen Sprechen erschöpft in die Kissen zurück. »Für heute genug!« flüsterte sie mit einem Winke nach der Thür. Wolfram erhob sich.
»Nur eine Frage noch sagte er. »Weiß Cornelie um – um mein Hiersein, Mutter?«
»Sie hat mir die Standhaftigkeit, Sie herbeizurufen, eingeflößt.«
»Und –um Ihre – Pläne?«
»Gewiß und wahrhaftig, nein. Sie ist jeder Andeutung mit der beharrlichsten Umsicht ausgewichen.«
»Und Fräulein von Gravenhorst?«
84 »Hat nicht die leiseste Ahnung von unseren früheren Beziehungen zu ihrer Pflegemutter. Cornelia forderte dieses Geheimniß. Daß eine kranke Greisin vor dem Abscheiden nach ihren Enkelkindern und deren Vater verlangt, ist alles, was sie weiß und denkt.«
Edmund Wolfram verließ das Krankenzimmer in einem seltsamen Zwiespalt. Das, was er als begehrenswerthes Glück ersehnt, als unersetzlichen Verlust beklagt hatte, was der treibende Stachel seiner Mannesjahre gewesen war, das wurde ihm jetzt geboten, nicht nur als berechtigter Gewinn, sondern von seinen einstigen Widersachern als eine zu fördernde Pflicht. Und er zagte, die Hand nach diesem Gewinn auszustrecken, das Wort der sühnenden Pflicht stockte auf seinen Lippen.
*
Nach einer ruhelosen Nacht war er schon vor Sonnenaufgang im Garten. Die Fenster der Krankenstube waren noch geschlossen, sobald aber die Sonne emporstieg, öffnete sie Martina mit leiser Hand; sie öffnete hinter der dunklen Portière auch die Thür, um die erquickende Frühluft in das Zimmer dringen zu lassen.
Als sie Wolfram gewahrte, begrüßte sie ihn, ihm die Hand reichend, wie einen Altbekannten. »Ihre liebe Mutter ist erst gegen Morgen zur Ruhe gekommen,« sagte sie, »jetzt aber schläft sie wie eine Gesunde und wenn Sie mit den Kindern nur recht lange bei uns bleiben, wird sie gewiß eine Gesunde werden.«
85 Wolfram ging mit ihr die obere Terrasse, von welcher sie die Krankenstube in Obacht haben konnte, auf und nieder. Sie sah blaß aus; bläuliche Schatten unter den Augen zeugten von einer, und gewiß nicht von der ersten, schlummerlosen Nacht: auch fand Edmund seine weiße Taube im scharfen Morgenlicht durchaus nicht von der zauberischen Schöne, wie – sie ihm gestern im verklärenden Abendroth erschienen war; er vermißte Melanie's durchsichtigen Farbenschmelz und den reinen Stil von Corneliens Schnitt. Aber wie ein verschleiernder Duft über dem Sonnenhimmel Gluth und Blendung wohlthätig mildert, so wirkte dieses jungfräuliche Kind, ohne Reiz zu heißer Lust, lindernd und stillend das herzliche Bedürfen.
Ein leiser Anstoß genügte, um sie beredt zu machen über ihr Verhältniß zu Cornelien, das für Wolfram ein bänglich spannendes Interesse hatte. Geist und Gemüth der Waise waren erfüllt von einer Dankbarkeit, wie zur Liebe berechtigte leibliche Kinder sie nur selten empfinden. »Ich schulde ihr, daß ich lebe und wie ich lebe,« sagte sie. »Meine Mutter war früher gestorben, als ich sie gekannt; mein Vater durch Widerwärtigkeiten aller Art in seiner Stimmung wie in seiner äußeren Lage zerrüttet. Lange hatte er sich vergeblich nach einer stützenden Hand für sein Haus wie für sein an Leib und Seele verwahrlostes Kind bemüht, bis endlich, auf eine einfache Zeitungsanzeige hin, eine völlig Fremde diese Hand ihm bot. Tausend Andere würden beim flüchtigsten Ueberblick vor der harrenden Aufgabe geflohen sein; die, 86 welche sich meiner wie eine Mutter erbarmte, zog auch das nicht Geforderte in ihr Bereich. Unerschrocken und rastlos trachtete sie, die verwirrenden Drängnisse in's Gleiche zu bringen und würde zuverlässig zu einem geordneten Abschluß gelangt sein, hätte der Tod meines armen Vaters nicht schon nach wenigen Monaten ihrem Wirken ein Ende gesetzt. Da Sie, Herr Wolfram, der gegenwärtigen Besitzerin von Gravenhorst so nahe stehen, werden Sie diese traurige Verwirrung klarer überschaut haben, als ich es heute noch kann und mag. Ich war ein Kind, ein sieches, halb stumpfsinniges Kind, und Gottlob! daß ich es noch war, daß nichts von mir gefordert wurde, als mich still in Wehethat und Wohlthat zu fügen! Die Verwaltung des Waisenklosters, einer alten Gravenhorstschen Stiftung, ging in Folge des Concurses in die Hände des Staates über; die Stelle einer Vorsteherin war neu zu besetzen. Fräulein Wille bewarb sich um dieselbe und wurde von dem Curatorium mit ihr betraut. Auch hier soll Vieles, ach! Alles im Argen gelegen haben, wie aber war die Mutter in dem ihr angemessensten Bereich Tag und Nacht bemüht zu säubern, auszudehnen, einzurichten, verrottete Mißstände durch eine fördernde Ordnung zu verdrängen! Und nicht genug an der Obhut und Pflege der Hunderte, über die sie gesetzt war, nahm sie an ihr Herz auch noch das verlassene, arme Kind, dessen Bildung sie kaum begonnen hatte und das unter ihrem Schutz und Schirm den Segen der Elternliebe nicht vermißte.«
87 Thränen erstickten des guten Mädchens Stimme, es reichte dem neuen Freunde die Hand und eilte nach dem Hause zurück; der Freund aber durch diese dankbare Liebe im Innersten bewegt und aller Zweifel enthoben, wendete sich entschlossen dem Grunde zu, in welchem das Kloster noch in tiefer Morgenstille und weißem Nebeldufte lag, nur die Giebel von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet.
Hastig, ohne umzublicken, stieg er die zum Flusse führende Terrasse hinab, stand aber plötzlich mit stockendem Athem, wie in den Boden gewurzelt still. Seine Augen hafteten an einer hohen Gestalt, die langsam, ohne aufzublicken, den Steg der Klostermühle überschreitend, ihm entgegenkam. Ja, es war Cornelia, aber die Cornelia seiner Jugend war es nicht.
Hatte er sich denn nicht vorausgesagt, daß er sie verändert finden müsse, so wie acht Jahre, die letzten der Jugend, acht Jahre angestrengtester Thätigkeit auch ihn selbst ja verändert hatten? Daß ihre Züge schärfer abgegrenzt, die Augen tiefer eingesunken, der Mund sich eine Linie breiter gezogen, das Colorit eine Schattirung höher gefärbt: – konnte es das sein, was ihn so seltsam überraschte, das allein, das an und für sich? War sie nicht heute noch, ja vielleicht heute erst recht eine imponirende, eine klassische Erscheinung? Schöner als Melanie es gewesen, weit schöner als Martina es war? Nein, – alles das, was äußerlich die Sinne wahrnahmen, war es nicht. Aber wer schildert, wer faßt in einem Satz zusammen jenes blitzartige Zucken, das vor 88 einem innerlichen Sinne in gewissen Momenten sein scharfes, abgrenzendes Licht über einen Menschen, einen Zustand, eine Lage ergießt? War es ein jacher Rückblick, ein seelischer Rapport, ein aprioristischer, vielleicht thörichter Schluß, was in dem Freunde vorging, in den wenigen Minuten, während deren er die Freundin ohne um- oder aufzuschauen, aber mehrmals inne haltend, gedankenvoll die Stufen der untersten Terrasse heranschreiten sah? Als er sie einst gekannt, war sie ein junges, blühendes Mädchen, das kraftvoll und muthvoll dem Einzelkampfe um eine berechtigte Existenz entgegenging; heute, da sie diesen Kampf als Siegerin bestanden, war sie eine Jungfrau und hieß eine Mutter, ohne von der einen, oder von der anderen das Gepräge zu tragen. Der Beruf, – nein, nicht der Beruf, denn auch die Nonne hat einen Beruf, die Künstlerin und selbst die Hausfrau hat ihn, aber Cornelia glich weder einer Hausfrau, noch einer Künstlerin oder einer Nonne, – nicht der Beruf, aber das Amt hatte diesem stark gefesteten Weibe den Stempel eines Einzelwesens aufgedrückt.
Und nun stand sie ihm gegenüber, erbebend, erbleichend auch sie, aber doch die Erste sich zu fassen und mit dargebotener Hand und einem herzlichen Lächeln auf ihn zuzutreten. »Ich erwartete Sie im Laufe dieses Tages, mein Freund,« sagte sie, »aber freilich nicht in dieser Frühe.«
»Cornelia!« rief Edmund, indem er sich über ihre Hände beugte, »Sie hier zu finden, die ich so lange gesucht, so schmerzlich vermißt!«
89 »Und mich so wiederzufinden, nicht wahr? an der Stelle, für welche Natur und Schicksal mich recht eigentlich bestimmten, ich wußte es, lieber Wolfram, wie es Sie freuen müsse.«
Er hätte ihr sagen mögen, daß er bis zur Stunde noch eine andere Stelle für sie offen gehalten, auf welcher er ihr Glück wie das seine zu gründen gehofft; sie schnitt ihm indessen die Rede ab mit der Frage, welchen Eindruck sein und der Kinder Wiedersehen auf die kranke Mutter gemacht habe? »Ich komme um dieser Erkundigung willen herauf,« sagte sie; »mein Tagewerk gestattet mir nur diese frühe Stunde oder die des späten Abends, um meine Martina zu sehen.«
Ihre Augen richteten sich bei diesem Namen mit einem besonderen, forschenden Ausdruck auf die seinen und seine leichte Verwirrung konnte ihr wohl kaum entgehen. Hastig stammelte er ihr seinen Dank für das Opfer, das sie sich selbst und ihrer Tochter auferlegt, indem sie ihr die Abwartung der kranken Mutter zugemuthet habe.
»Es ist für eine Natur wie Martina's kein Opfer, das ich ihr auferlegte und für mich, das heißt für ihre berufene Erzieherin, ist es geradezu ein gutes Glück,« erwiderte Cornelia ruhig. »Nicht viele Frauen sind in der Verfassung, sich der höchsten, weil schwersten weiblichen Aufgabe, der der Krankenpflege, ausschließlich zu widmen; ich selber würde mit meinen wesentlichsten Anlagen vor solcher Aufgabe Schiffbruch gelitten haben. Aber jedes vollkommen erzogene Mädchen müßte nach meinem Dafürhalten eine Pflegezeit in einer Heilanstalt durch 90gemacht haben, wenn es seinen einstigen Familienpflichten gerecht werden soll. Wie froh bin ich nun, meiner lieben, sanften Martina den Aufenthalt bei Ihrer armen Mutter als diese Probezeit anrechnen zu dürfen!« Sie machte eine Pause, setzte aber dann mit wärmerem Klang und merklicher Bedeutung hinzu: »Ja, Freund, mein Leben ist reich gefüllt durch mein Amt; aber schön ist es doch nur durch dieses Kind; ich bin sehr, sehr glücklich, lieber Wolfram.«
Nach diesen Worten nöthigte sie ihn an ihre Seite auf eine Gartenbank und ihr gelassen sicheres Behaben scheuchte seine anfängliche Befangenheit. Er vergaß es beinahe, daß ein leidenschaftliches Begehren, ein tödtlicher Bruch und eine vieljährige Entfremdung zwischen ihrer beider Einst und Heute lagen; ihm war, als kehre er von einer weiten Reise zurück und träfe einen alten Freund, der aus der Ferne treulich mit ihm fortgelebt hatte. Denn bei aller Vorsicht in ihren Berührungen, konnte es ihm nicht entgehen, daß Cornelie schon vor der Begegnung mit seiner Schwiegermutter, seinem Schicksal keine Fremde und keine Gleichgültige geblieben war, wenn sie auch Gründe haben mochte, eine frühere Wiederanknüpfung mit ihm zu vermeiden. Wahrscheinlich, daß ihre Schweizer Freunde, mit denen er Jahre lang in brieflicher Verbindung geblieben war, sie über sein Wesen und Treiben in Kenntniß erhalten hatten. Aber so unbefangen gegenständlich wußte sie ihre beiderseitigen Mittheilungen zu halten, daß, als sie sich endlich erhob, um ihren Schloßbesuch abzustatten, er zu seiner eigenen Ver 91wunderung inne ward, daß weder ihres vergangenen, noch ihres zukünftigen Verhältnisses mit einer Silbe Erwähnung geschehen sei.
Und so lebte er tagelang, wochenlang in ihrer Nähe, sah sie im Krankenzimmer, unter ihren Waisen, in Martina's Gesellschaft oder auch allein unter vier Augen, nimmer aber kam die Frage zum Ausspruch, über welche mehr noch als seiner Schwiegermutter bänglich forschender Blick, sein eigenes Gewissen zur Entscheidung drängte. Cornelia war wie in der ersten Zeit ihres Zusammenlebens wieder seine Freundin geworden, mit welcher er vertrauend und berathend, wenn auch auf gleicherem Fuße als dazumal, verkehrte; so oft er aber ihre späteren, intimeren Beziehungen zu berühren, wohl gar eine Folgerung daran zu knüpfen gedachte, wich sie unmerklich aus in eine andere Bahn oder brach auch wohl entschieden ab, indem sie sagte: »Lassen wir das, mein Freund. Aus dem Schachte der Erinnerung sollen wir nur das Dauernswerthe zu Tage fördern; für unsere Irrthümer sei und bleibe es ein Grab.«
»Und wenn diese Irrthümer die Hebel und Schrauben eines redlichen Strebens geworden sind, Cornelia?« wendete Wolfram ein.
»Wollen wir in den Tagen des Sommers dankbar die guten Früchte genießen, aber die Frühlingsstürme vergessen, welche dieselben gezeitigt haben,« entgegnete Cornelia und lenkte seinen Blick rasch nach einer Richtung, in welche er ihr nur allzuwillig folgte.
92 Denn das Ziel dieser Richtung war unveränderlich das geliebte Kind, von welchem er auch mit Entzücken reden hörte, wennschon er es täglich, stündlich in anmuthigst wechselnder Erscheinung vor Augen sah: als Krankenwärterin, als Gespielin seiner Tochter, als Gesanglehrerin der armen Waisen, selber als eine demüthig dankbare Waise, immerdar geduldig, hingebend, dienstbereit, kindlich froh. Und nun zu denken, daß dieses Wesen, in dessen Nähe ihn ein so unsagbares Wohlgefühl erfüllte, eines Tages als Tochter seiner Gattin, als seine eigene Tochter unter seinem Dache leben sollte.
Indessen die äußerste Entscheidungsstunde rückte heran; er mußte seine Beziehungen in der alten Heimath auflösen, seinen Hausstand in die neue übersiedeln; er durfte nicht scheiden und wiederkehren, ohne sein Verhältniß zu Cornelien aufgeklärt zu haben.
Seine Schwiegermutter hatte sich in den Spätsommertagen merklich erholt; die Aussicht auf die Erfüllung ihres heißesten Wunsches, auf die ununterbrochene Nähe ihrer Großkinder belebte sie; sie begann wieder zu hoffen und vielleicht zum ersten Male in wahrem Sinne sich ihres Daseins zu freuen.
*
Am Nachmittage vor Wolframs Heimreise saßen Alle, welche die Matrone lieben gelernt, bis auf Max, der bereits dem Gymnasium der Nachbarstadt eingereiht war, um sie versammelt, auf einem sonnigen Gartenplatze. Da es Sonntag war, hatte auch Cornelia sich auf etliche 93 Stunden frei machen können. Man war in der Kirche gewesen, um der Trauung einer Magd des Hofes mit einem Bauernsohne beizuwohnen und sah jetzt den bräutlichen Zug unter Musik und Büchsenknallen an sich vorüber dem Wirthshause zuschwenken, wo die Gutsherrin Hochzeitsschmaus und Tanz ausrichten ließ. Grüße und Wünsche wurden freundlich ausgetauscht, der volksthümliche Staat der Braut bewundert und lange, als der Zug den Augen entrückt war, unterhielt man sich noch von alten und neuen Bräuchen, mit welchen in Ernst und Laune »der goldene Schnitt« des Menschenlebens gefeiert wird. Denn weil ein Jeder sich innerlich bewegt und mit sich selbst beschäftigt fühlte, beeiferte er sich eine Ableitung nach Außen hin festzuhalten.
Die kleine Bertha war die einzige Unbefangene in dem Kreise. Die Erinnerungskraft ist im frühen Kindesalter ja schon stark und so hatte es Wolfram anfänglich Wunder genommen, daß weder Max noch seine Schwester in der Vorsteherin des Waisenklosters die frühere Erzieherin wiedererkannten. Wirklich aber waren im jachen Umschlag ihrer kindlichen Existenz, an dessen Grenze Corneliens kurzes Walten fiel, die Spuren von Rosenhain bald wie mit dem Schwamme ausgelöscht worden, da der Vater es geflissentlich vermied, diese Spuren aufzufrischen und Niemand außer ihm den Kindern in ihre neue Welt gefolgt war. Zudem fand ja auch Wolfram selbst Cornelien wesentlich verändert und daß sie niemals bei ihrem auffälligen Taufnamen, sondern immer nur die Mutter und das Fräulein genannt wurde, 94 mochte das Wachwerden einer Erinnerung gleicherweise hindern, denn der Laut ist für das Gedächtniß ein stärkerer Motor als der Blick. Die Kinder sahen übrigens das ernste, vielbeschäftigte Klosterfräulein nicht häufig und schlossen sich mit ausschließender Zärtlichkeit ihrer jugendlichen Pflegetochter an.
Heute nun hatte die lebhafte Bertha mit der voreilenden Neugier ihrer elf Jahre auf alles gespannt, was es halbverständliches für sie zu sehen und zu hören gab, und Dämchen Uebermuth, das sie war, machte sie sie sich eine Pause der Unterhaltung zu Nutze, um eine Schilderung ihres eigenen in Bälde projectirten, solennen Hochzeitsfestes zu entwerfen. Die Hauptrollen spielten Puppen und Kuchen und der Bräutigam hieß Mäxchen. Die Zuhörer waren froh, daß sie lachen durften; nur Cornelia runzelte leicht die Stirn und als Mäxchen und Berthchen eben vor den Herrn Pastor zum Traualtar treten sollten, unterbrach sie die kleine Schwätzerin mit dem Verweis: »Laß das, mein Kind! Du bist noch zu jung, um an Deine Hochzeitsfeier zu denken.«
So leichten Kaufes jedoch wird sich ein Kind, das keine Cornelia erzogen hat, nicht von einem lustigen Einfall abbringen lassen. »Du aber,« fuhr der kleine Naseweis heraus, »Du Klostertante, Du bist doch alt genug, und könntest uns schon einmal Hochzeit bei Dir halten lassen. Eine Mutter heißt Du schon, aber einen Mann hast Du noch nicht, so heirathe doch Papa, weil der doch auch schon ein Vater ist und keine Frau im Hause hat. Nicht wahr, Papa?«
95 Der Vater blickte verstimmt und verlegen vor sich nieder, da er sein vorlautes Töchterchen in der läppischsten Weise die Angelegenheit berühren hörte, die er selber bis zum letzten Augenblick verschoben hatte. Seine Freundin aber antwortete mit ungestörter Ruhe: »Ich bin für Heirathsgedanken zu alt, wie Du zu jung dafür bist, mein Kind.«
Die Enkelin war damit beschwichtigt, die Großmutter aber hielt die willkommene Gelegenheit beim Schopf. »Zu alt, liebe Wille?« wendete sie ein. »Sie sind im besten Alter für die Ehe.«
»Bei zweiunddreißig Jahren schwerlich, Frau Eschenbach,« versetzte Cornelia lächelnd. »Wenn aber selber, so wäre ich dem Wesen nach älter, als der Kalender mich ausweist. An dem Tage, wo ich mein Vaterhaus verließ,« so setzte sie nach einer Pause mit bedeutsamem Ernste hinzu, »an diesem Tage habe ich auch meine Jugend hinter mir gelassen. Jeder ernst erfaßte, selbstständige Beruf scheucht die Jugend einer Frau und die Ansprüche, die auf Jugend gegründet sind, in weite Ferne.«
»O, wie irren Sie, meine Theure!« rief die Matrone, der dieses bestimmte Absprechen so unerwartet wie zuwider kam. »Die Ehe ist es, die Familiensorge, welche die Jugendlichkeit bei uns Frauen vor der Zeit untergräbt.«
»Nur im Aeußern dann und wann,« widerredete Cornelia. »Gemüthlich, darf man sagen, beharrt eine Frau in dem Zustande, in welchem sie in die Ehe tritt. Heirathet sie unbefangen, mit kindlichem Sinn, wird sie 96 selber an der Seite eines grämlichen Gatten sich diesen kindlichen Sinn bis in's Alter bewahren. Verbindet sie sich im Stadium der Resignation, – und welches Mädchen hätte dieses Stadium nicht mindestens im vierundzwanzigsten Jahre betreten? – wird ihr selten ein rückhaltloser Anschluß gelingen; das aber um so weniger, wenn eine einseitige Willensthätigkeit dem Walten der Wünsche, und das heißt ja dem Walten der Jugend, vorzeitig eine Schranke setzen mußte.«
Sie erhob sich nach diesen Worten, um in ihre Anstalt zurückzukehren; ihre Pflegetochter hatte sie schon beim Beginn dieses absichtsvollen Gespräches mit einem Auftrage dorthin gesendet. Sie reichte Wolfram zum Lebewohl die Hand.
»Ich sehe Sie noch vor der Abreise, Cornelia,« flüsterte er.
Sie ging und auch ihn duldete es nicht länger, er scheute eine Auseinandersetzung mit der tief verstimmten Mutter, schritt ein paar Mal hastig die Terrasse auf und ab und dann entschlossen in's Thal hinunter, um die Entscheidung zu suchen.
Auf der Bank, wo er am ersten Morgen mit Cornelia geruht hatte, saß Martina bleich, die sanften Augen leidvoll gesenkt. Als er sich näherte, sah er sie lebhaft erröthen und sein Herz krampfte zusammen. Doch faßte er sich, nahm an ihrer Seite Platz und sprach, indem er ihre Hand ergriff: »Lassen Sie mich Ihnen hier Lebewohl sagen, liebe Martina; ich reise mit Einbruch der Nacht.«
97 Thränen zitterten in ihren Augen; er fuhr bewegter fort: »Um in Kurzem wiederzukehren und meine Heimath in der Ihren zu finden. Ein noch innigeres Band wird, will es Gott! uns alsdann vereinen. Werden Sie ein Herz zu Ihrem Freunde fassen lernen, mein liebes Kind?«
Martina blickte zu ihm auf mit einem unbeschreiblichen Ausdruck, ihr Kopf senkte sich leise an seine Brust, sie zog seine Hand an ihre Lippen. Im nächsten Moment aber hatte sie sich losgerissen und floh, ohne umzuschauen, den Abhang hinunter.
Welches selige, unselige Mißverstehen! Edmunds ganzes Wesen war in Aufruhr. So viel Wonne und so viel Vernichtung in einem einzigen Augenblick. Bis zum Abenddunkel irrte er in dem einsamen Parke umher.
Die Waisen schliefen längst, als er an die Pforte des Klosters klopfte. Cornelia aber hatte ihn noch erwartet; in ihren Augen erglänzte eine verjüngende Flamme, auf ihren Wangen der Rosenschimmer der Freude, bleich, doch gefaßt ergriff er ihre Hand und sprach: »Sie sind mir ausgewichen, Cornelia, obgleich Sie mich verstehen mußten. Ehe ich aber scheide, lassen Sie es klar werden zwischen Ihnen und mir. Ich bin nicht mehr der glückliche Mann, der Ihnen einst ein sorgenloses Dasein zu bieten hoffte; auch der elende nicht mehr, dessen Loos zu tragen Sie sich großsinnig erboten. Was ich aber geworden, bin ich geworden durch Sie und was ich Ihnen zu bieten habe, ist eine ernste Freundschaft und ein getheiltes Streben in Freude und Leid. Das Schicksal 98 meiner Kinder und mein eigenes, Cornelia, ich lege es mit alter, mit neuer Zuversicht in Ihre Hand.«
»Und ich gelobe Ihnen, mein Freund,« versetzte Cornelia, »daß ich dieses Schicksal hegen und tragen will mit der Treue einer Mutter. Es ist mein theuerster Wunsch, der sich in diesen Minuten erfüllt.«
Sie löste ihre Hand aus der seinen und schritt nach der Thür; er blieb auf seinem Platze gebannt, das Gesicht in seine Hände vergraben.
Plötzlich spürte er eine Regung, ein leises Nahen; der Athem stockte in seiner Brust; er fuhr in die Höhe und ließ die Hände sinken. Dicht vor ihm stand Cornelia, die still weinende Martina an ihrer Hand. Mit einer sanften Bewegung legte die Mutter das Kind ihrer Wahl an des geliebten Mannes Herz.
»Was ist das? – Was bedeutet das?« stammelte er wie betäubt.
»Es ist die Liebe,« sagte Cornelia, »es bedeutet das Glück.«
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