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Vorwort

Ihre Erinnerungsblätter an die Freundin beginnt Marie von Ebner-Eschenbach mit dem Bekenntnis, zu ihren vielen Schwächen gehöre eine sträfliche Zaghaftigkeit. Sie habe die Schreiberin unter anderem immer verhindert, einem berühmten Autor, wenn sie eins seiner Bücher auch noch so sehr entzückte, ihre Bewunderung auszusprechen. Einmal im Leben sei sie jedoch ihrer Zaghaftigkeit Meister geworden. Das war an dem Tage, an dem sie »Die letzte Reckenburgerin« von Louise von François zu Ende gelesen. Der Geist, der in diesem Buche wehe, habe sie auf seine starken Flügel genommen und sie über alle kleinliche Furcht und Bedenklichkeit hinweggehoben. Ihr schönstes Briefpapier habe sie hervorgeholt, an die hochverehrte Dichterin geschrieben und den Brief sogar abgesandt.

Hierauf entspann sich ein beide Frauen beglückender Briefwechsel. Sehr bezeichnend ist aber, daß er um ein Haar von vornherein gescheitert wäre, gescheitert just an dem »schönsten Briefpapier«. Die Empfängerin des Briefes meinte zu einem Bekannten: »Wie kann man mit jemandem in Korrespondenz treten, der einem auf solchem Briefpapier schreibt?« Glücklicherweise hatte Frau von Ebner die Sammlung ihrer »Aphorismen« mitgesandt. So überwand denn Fräulein von François ihre Bedenken. Doch antwortete sie auf einem ganz einfachen, mit Wasserlinien durchzogenen Bogen.

Zweifellos steckt in solcher Haltung »Stil«. Der Stil war aber unserer Louise von François von ihren Ahnen überkommen.

Väterlicherseits entstammte sie einer französischen Adelsfamilie, die ihres protestantischen Glaubens wegen schon vor Aufhebung des Ediktes von Nantes die Heimat verlassen und unter dem Großen Kurfürsten in der Mark Brandenburg Schutz gefunden hatte. Nikolas de François, Sieur d'Abbeville, gründete gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankfurt an der Oder eine Tuchfabrik. Allem der kriegerische Mut des alten ritterlichen Geschlechtes flammte bald wieder auf und ließ die François in den deutschen Schwertadel hineinwachsen. Der eine Zweig schlug in Kursachsen Wurzel. Er gelangte hier zu einem gewissen Wohlstand, ohne freilich je seine Eigenart zu verleugnen. Schroff brach sie noch in Louisens Vater hervor. Friedrich von François war nach der Lostrennung der Provinz Sachsen vom Königreich in den preußischen Heeresdienst übergetreten. Durchaus »preußisch« war es, daß er sich in dem Parke seines Rittergutes Niemegk neben seinem bei Dennewitz gefallenen Bruder bestatten ließ, nur in seinen Soldatenmantel gehüllt.

Der schlichte Sinn unserer Dichterin hatte indessen noch einen anderen Born. Wir können ihn bereits ahnen, wenn wir beobachten, wie frei von jedem aristokratischen Vorurteil Louise von François in ihren klassischen Geschichtsromanen – der »letzten Reckenburgerin« und »Frau Erdmuthens Zwillingssöhnen« – verfährt, ja wie sie keinen Anstand nimmt, in ihrem großen Erziehungsroman, den »Stufenjahren eines Glücklichen«, das Pfarrhaus und nicht das Schloß zu Werben als eine Stätte deutscher Humanität zu verherrlichen. Zu einer so überlegenen Stellungnahme gelangte die Dichterin, weil sie das Glück hatte, nicht nur ein Sproß des Schwertadels, sondern auch des Bürgertums zu sein. Nirgends zeigt sich dieser Zusammenhang klarer als in der Geschichte, die wir an die Spitze ihrer kleineren Meistererzählungen gestellt haben, in der » Geschichte meines Urgroßvaters«.

Louisens Urgroßvater mütterlicherseits (vergleiche die verdienstliche Schrift über die Dichterin von Ernst Schroeter, 1917) hieß eigentlich August David Hohl. Er war ein tüchtiger Geschäftsmann, zugleich aber ein musterhafter Bürger, ein Wohltäter seiner Vaterstadt. Nach Darstellung der Dichterin hätte der über Weißenfels a. S. in der denkwürdigen Silvesternacht 1758 hereingebrochene Brand den Charakter ihres Urgroßvaters bestimmt. Schreck und Angst nämlich schienen dem alten Andreas das Herz abgedrückt zu haben. »Erwache, Vater, erwache!« schluchzte David, seine Hände ringend. »Vater im Himmel, Mutter im Himmel, laßt eure armen Kinder nicht ganz allein auf der Welt!« Da, als er den ersten wiederkehrenden Atemzug seines Vaters spürte, da sank er auf seine Knie und gelobte seinem gütigen wunderbaren Gotte, nur seinen Willen zu tun jederzeit, auch wo es schwer sei und kein Mensch es fordere.

Es ist bewundernswert, wie Louise von François es verstanden hat, dem schlichten Opfersinn ihres bürgerlichen Ahnen gerecht zu werden. Dreimal übt David Entsagung. Zunächst fügt er sich seinem Vater, der den Tod schon wieder nahen fühlt und seine zahlreiche Familie versorgt wünscht. Der blutjunge David heiratet ein älteres, unschönes, aber wohlhabendes Mädchen, obwohl er im Herzen sein liebes Christelchen trägt. Sophie stirbt. Gern sähe sie ihren David in einer neuen Ehe glücklich. Nur »eine«, nur »sie«, die inzwischen Witwe geworden, soll er nicht heiraten. Und David denkt auch gar nicht daran. Aber entdeckt er nicht zufällig, seine Jugendgeliebte habe ein wunderschönes Töchterlein? Das Herz des noch nicht 40jährigen beginnt mächtig zu klopfen. Als jedoch Joseph, sein einziger Sohn, dasselbe Jüngferlein, das eine gefahrvolle Nacht ihm nahe gebracht, zu lieben erklärt, leistet der Vater Verzicht. »O Joseph!« Herzeleid, nichts als Herzeleid fügt er dem Vater zu. Er will von Lenchen nichts mehr wissen, weil die elegischen Töne seiner Flöte ihm nicht zusagen und das naive Kind den Werther einen langweiligen, ja gottlosen Menschen schilt. Auch in der Natur herumzuschwärmen, war gar nicht nach Lenchens Geschmack. Nun fügt es der Unstern, daß Schauspieler nach Weißenfels kommen, daß sie »Die Räuber« aufführen und daß die Darstellerin der Amalia dem Joseph vollends den Kopf verdreht. Er brennt durch, zum tiefsten Kummer seines Vaters, zur Schmach seiner Braut. Was wird David tun? Der Leser, nicht bloß die Leserin, antwortet: Er wird Lenchen heiraten, das in jeder Hinsicht wie geschaffen für ihn ist. David aber, um die Schmach wieder gut zu machen, verletzt lieber das Wort, welches er in der Stille des Herzens seiner Sophie ins Jenseits mit hinüber gegeben hatte, und heiratet Lenchens Mutter. »Mein Herz möchte brechen unter der Last dieser Pflicht,« hatte er dem Sohn vergeblich nachgerufen.

Zu Beginn der Geschichte ihres Urgroßvaters bittet Louise von François humorvoll, ihr beileibe keine tiefsinnige Absicht, keinen großartigen Standpunkt oder kühnen Griff in die Region des Zopftums zuzutrauen. Der liebe Leser solle ja nicht etwa an einen Nettelbeck oder Lorenz Stark und Wirt zum goldenen Löwen denken. Wunderlich aber! An eine der genannten Gestalten dürfte der Leser gar wohl denken, wenn ihm daran läge, den David Hohl, genannt Haller, richtig einzuschätzen. Denn schon Johann Jakob Engel hatte in seinem »Herrn Lorenz Stark« den Typus eines deutschen Bürgers hingestellt, auch bereits den Konflikt zwischen ihm und seinem Sohne lebendig geschildert. Es laufen sogar unverkennbare Fäden von dieser Geschichte hinüber zu Gustav Freytags Roman aus dem kaufmännischen Leben, zu »Soll und Haben«. Hat denn nicht aber gerade Freytag den Ruhm der Louise von François begründet, indem er die Schöpferin der »Letzten Reckenburgerin« eine »Dichterin von Gottes Gnaden« nannte? Engel, Freytag und die François würden in der Tat sich innig zusammenschließen, wenn nur nicht der weibliche Teil dem männlichen bei weitem überlegen wäre. Als Engels Charaktergemälde in den »Horen« erschien und helles Entzücken bei der deutschen Leserwelt erregte, amüsierten sich Goethe und Schiller hierüber. Sarkastisch schrieb Schiller dem Freunde: »Die göttliche Platitüde: das ist eben der Empfehlungsbrief.« Freytags »Soll und Haben« hätte er schwerlich viel günstiger beurteilt. Die »Geschichte meines Urgroßvaters« hingegen würde weder auf Schiller noch Goethe ihren Eindruck verfehlt haben. In ihrer schlichten bürgerlichen Hülle steckt das große Sittengesetz, dem sowohl der Dichter des »Werther« wie der der »Räuber« auf ihrer klassischen Höhe sich beugten: Selbstüberwindung!

Der Urgroßvater begnügte sich freilich mit seinem Lieblingsdichter Gellert, und statt von Selbstüberwindung sprach er einfach von Pflicht. Pflicht war ja aber das Fundament des preußischen Staates. Gleichwohl blieb David im Herzen Kursachse, mochte seine Vaterstadt auch den Fängen des Schwarzen Adlers verfallen. Nicht einmal »fritzisch« war er gesinnt. Hatte doch Friedrich, genannt der Große, die gute Stadt Weißenfels arg mitgenommen und hatte er doch – kaum zu glauben – zur reichsten Gutsherrin der Nachbarschaft gesagt, es sei ein Glück, daß Madame die Hosen angezogen habe statt ihres Gemahls. Hosen! Nimmermehr hätte die Lippen Seiner kurfürstlichen Gnaden von Sachsen ein solcher Ausdruck verunziert.

Dem wackeren Bürger blieb erspart, zu erleben, was der Sprößling, der des Sonntags nach der Tafel auf seinen Schoß kletterte, ihn am Haarbeutel zupfte und vergnüglich ein in Urgroßväterchens Kaffeetasse getauchtes Stückchen Zucker leckte, was besagter Sprößling anzurichten wagte. Und wenn es noch wenigstens ein Urenkel gewesen, wie es dem Leser der Historia des Urgroßvaters vorgespiegelt wird! Aber eine Urenkelin, die zur Feder greift und, nachdem sie Davids geheimste Herzensnöte aller Welt preisgegeben, nun gar die Geschichte von den »Hosen« haarklein berichtet? O Louise! Louise indessen lächelte zu Urgroßvaters Bild freundlich empor, stellte sich auf ihren Posten und schrieb als eine François harsch den » Posten der Frau«.

Jene reichste Gutsherrin der Umgegend von Weißenfels war die Gräfin Eleonore Fink auf Burgwerben gewesen. In der Novelle unserer Dichterin erscheint sie als die Tochter eines preußischen Generals. Von ihrem Vater hat sie einen stolzen, energischen Willen geerbt, dazu Klugheit und Umsicht. Die Fadenscheinigkeit des sächsischen Gemahls konnte ihr daher nicht lange verborgen bleiben. Einen um so tieferen Eindruck macht auf sie ihr Quartiergast in Weißenfels, der Herzog von Crillon. Sie sieht in ihm mit Recht die französische Ritterlichkeit verkörpert. Als nun ihr Gemahl aus Eifersucht sich zu einem Gewaltakt hinreißen läßt, beschließt sie, nur noch ihr Kind von dem Gute abzuholen und dann nach Preußen zu fliehen. Da tritt ihr aber ein preußischer Offizier entgegen. Er spricht kategorisch von Pflicht und von dem Posten der Frau. »Was nennen Sie den Posten der Frau, mein Herr?« fragt die Gräfin, entrüstet über den barschen, herrischen Ton des Unbekannten. »Allemal das Haus, in welchem Ihre Kinder erzogen werden müssen.«

Wie die Gräfin den Offizier allmählich erkennt, wie er sie nach der Schlacht bei Roßbach auf ihrem Posten visitiert und dabei den (geschichtlicher Überlieferung entsprechenden) Edelmut des Herzogs von Crillon vergilt, muß man in der Novelle selber lesen. Der »ruhmreichste Held« ist meisterhaft porträtiert, bis auf die Prise, die er nimmt, als er sein Kompliment macht wegen der »Hosen«. Neben dem König kommt auch sein ehemaliger Wachtmeister, jetziger Kammerdiener der Gräfin, gebührend zu Ehren. Andererseits aber auch der sächsische Magister. Sogar der Graf rückt zum Schluß in ein milderes Licht, weil er seinem sächsischen Herrn die Treue hält.

Außer den Glanzstücken ihres Freundes Conrad Ferdinand Meyer lassen sich wenige geschichtliche Erzählungen mit dieser Novelle der François vergleichen. Zu den wenigen gehört eine, die längst verschollen wäre, wenn sie nicht Paul Heyse in seinem Novellenschatz aufbewahrt hätte, der »Überfall bei Hochkirch« von Friederike Lohmann. Die einst vielgelesene Verfasserin zeigt überraschende Züge seelischer Verwandtschaft mit ihrer um eine Generation jüngeren Landsmännin. Der Heldin ihres »Überfalles«, der alten Justine, hätte sich die Feder einer François nicht zu schämen gehabt, mit so kernigem Humor ist sie durchgeführt. Bei der Lohmann findet sich aber auch der Gegensatz zwischen Preußentum und Sachsentum schon trefflich dargestellt, ja, auch bei ihr tritt das Bestreben hervor, trotzdem Gerechtigkeit walten zu lassen.

Bahn diesem Bestreben hatte kein Geringerer als Lessing gebrochen. Seine »Minna von Barnhelm« mochte Louise von François vor Augen haben, als sie später ihre Novelle dramatisierte. Der kunstsinnige Herzog von Meiningen sorgte für eine Aufführung in seiner Residenz, ohne jedoch dem Werke einen Bühnenerfolg zu verschaffen.

Zum »Posten der Frau« gesellt sich » Fräulein Muthchen und ihr Hausmeier«. Wiederum vernehmen wir eine ethische These: »Das Schlachtfeld der Frau ist das Krankenbett.« Wiederum aber wird die These so ausgelegt, daß – wenn der Mann versagt – die Frau ihn ersetzt. Fräulein Muthchen freilich hat nach dem frühen Tode ihres Vaters, des Majors von Kettenloß, auf ihrem Rittergut unweit von Weißenfels den Magister Storch als Hausmeier und später ihren ehemaligen Rekruten, den tapferen Hermann Wille, als Gatten zur Seite. Ihr Geschick rollt sich wie das der Gräfin Fink auf einem weltgeschichtlichen Hintergrunde ab. Die Erzählung spielt zur Zeit der Befreiungskriege. Auch hier greift der Held der Epoche – obgleich nicht so unmittelbar wie Friedrich – tief in die Handlung ein. Napoleon setzt ja alle diese Menschen erst in Bewegung. Er ist es auch, der Hermann Wille über den Gegensatz von Sachsentum und Preußentum hinauswachsen läßt zu der Erkenntnis: »Ich bin ein Deutscher!«

Nicht so straff komponiert wie der »Posten der Frau«, ergreift doch »Fräulein Muthchen« noch inniger unsere Seele. Wir glauben hier den Herzschlag der Dichterin zu spüren. Und in der Tat: Die Heldin trägt Züge Louisens, der Major von Kettenloß verleugnet nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Major Friedrich von François, während der in unserer Erzählung eine bedeutsame Rolle spielende russische General deutscher Abkunft an Louisens Oheim gemahnt, Karl von François. Selbst eine Nebenperson wie der kleine Hofrat mit seiner großen Begeisterung für Napoleon ist individualisiert genug, um ihn zum »Advokaten von Weißenfels«, dem Schicksalsdramatiker Müllner, in Bezug zu setzen. Der Magister Storch hingegen dürfte durch ein literarisches Vorbild angeregt sein; schwärmt er doch für die alten Deutschen nicht minder närrisch als der Schulmeister Agesel in Immermanns »Münchhausen« für die alten Spartaner. Immerhin mag es zur Zeit der Befreiungskriege unter den Jüngern Jahns solche Käuze gegeben haben. Gewiß aber gab es damals Jünglinge vom Schlage Hermann Willes. Er ist ein Mann so recht nach dem Herzen nicht bloß Fräulein Muthchens. Nur daß die andere, leider erst später Geborene, niemals einen Hermann Wille fand, überdies ihr väterliches Gut, ja ihr ganzes Vermögen verlor, dafür allerdings das Krankenbett als das Schlachtfeld der Frau genugsam kennenlernte.

Louise von François hat keine Zeit so geliebt wie die der Befreiungskriege. Sie wußte aber auch, woher die Tiefe ihres Glanzes stammte. Immer wieder verweist sie in ihren dichterischen Schöpfungen auf die vorausgegangene Schmach. Diese Schmach hatte dem Major von Kettenloß das Herz gebrochen. Eben sie steigt bänglich herauf auch in der Erzählung » Das Jubiläum«.

Es ist die altberühmte Fürstenschule zu Pforta bei Naumburg, deren Jubiläum wir hier erleben. Bei der Feier treffen zwei ehemalige Zöglinge der Anstalt zusammen. Der eine hat es nur bis zum Rendanten gebracht, der andere, von der Dichterin mit leiser Ironie behandelt, ist bis zum Posten eines Oberpräsidenten emporgestiegen. Sie plaudern von alten Zeiten. Besonders fesselt sie die Erinnerung an einen unglücklichen Kameraden. Mit Schimpf und Schande ward er während der Schlacht von Jena aus der Schule hinausgestoßen, weil er die Uhr eines Mitschülers gestohlen haben sollte. Dieser Mitschüler war der jetzige Rendant. Er berichtet nun, welche verhängnisvolle Wendung jenes Geschehnis dem Leben eines jungen Mädchens gegeben hätte ohne den Eingriff des schlichten Erzählers. Wir sind bewegt. Noch tiefer ergriffen ist aber der einstige Übeltäter. In fremden Diensten wurde er ein berühmter Heerführer. Viel hat er schon gesühnt. Darf er nicht auch den letzten Flecken zu tilgen hoffen, da Charlotte einen Sohn hinterließ, er, der General, aber eine liebe Tochter sein eigen nennt?

Fast gleichzeitig mit Louise von François hat Wilhelm Raabe einen ähnlichen Stoff bearbeitet. Bei ihm handelt es sich um das Jubiläum der Universität Helmstedt. Auch bei ihm droht die Feier zu versinken in Erinnerung an altes Unheil. Auch bei ihm reicht über Gräber ein neues Geschlecht sich die Hand zum Bunde. Aber nicht bei Raabe findet sich, was der Erzählung unserer Dichterin erst das kennzeichnende Gepräge gibt: die Verflechtung des persönlichen Geschicks mit des Vaterlandes Schmach und Sühne.

Während alle bisherigen Erzählungen der François in ihrer eigentlichen Heimat spielten, in dem Raum zwischen Leipzig und Schulpforta, führt uns die letzte Novelle unserer Auswahl ein gutes Stück weiter nördlich, nach Halberstadt. Louise hat hier längere Zeit bei ihrem Oheim Karl geweilt, dem »wilden François«, dem wir glänzend geschriebene, höchst fesselnde Lebenserinnerungen verdanken. Er war damals preußischer Generalleutnant außer Dienst. Aus seiner Lebensgeschichte wissen wir, daß er unter russischer Fahne gegen Napoleon gekämpft, noch früher – als Offizier Schills – die Franzosen in Halberstadt überrumpelt hatte. Doch nicht von diesem kühnen Handstreich erzählt unsere Dichterin in ihrer » goldenen Hochzeit«, sondern von einer Feierlichkeit in dem ehrwürdigen Dom.

Die besondere Bewandtnis, die es mit der Feier hat, setzt gleich zu Beginn der Novelle der Küster des Domes, Zebedäus Gutedel, dem Leser fein säuberlich auseinander. Bald merken wir aber, hinter dieser Bewandtnis stecke wohl noch eine andere. Denn woher die Mauer zwischen den Pfarrgärten? Warum keinerlei Verkehr zwischen dem ersten Prediger am Dom, dem Doktor Renatus Henrici, und dem zweiten Pfarrer, dem Magister Borsdorf? Weshalb erstreckt sich diese Zurückhaltung sogar auf die Frauen, des Doktors Schwester, des Magisters Gattin? Wir sind geneigt, den Gegensatz der Naturen in Anschlag zu bringen. Innige Liebe auf der einen, herbe Strenge auf der anderen Seite. Altes und Neues Testament werden vor uns lebendig. Wohin unsere Teilnahme gehört, ist klar. Da entdecken wir aber, wie das eheliche Idyll des Magisters zustande kam: durch einen zwiefachen Treubruch. Mag nun auch unser Kopf den Treubruch noch so plausibel machen, unser Herz erhebt Einspruch. Denn siehe: in der Brust des Doktors kämpfen Dämonen! Als das jener schuldbefleckten Ehe entsprossene, schuldlose junge Brautpaar den greisen Geschwistern naht, bäumt sich die Herbe der Schwester, der Zorn des Bruders noch einmal gewaltsam auf. Das Flammenschwert des Racheengels zuckt in des Doktors Hand. Der finstere Dämon triumphiert. Aber nur, um für immer in den Abgrund gestoßen zu werden. Auch Renatus Henrici erlebt seinen Tag von Damaskus. Kein Atemzug im weiten Dom, als er reuig an seine Brust schlägt, als er das Evangelium der Liebe aus tiefstem Herzen verkündigt.

Selten ist in deutscher Sprache etwas Ergreifenderes geschrieben worden als diese Novelle. Sie stellt sich dem berühmtesten Roman der Dichterin, ihrer »letzten Reckenburgerin«, würdig zur Seite. Hier wie dort der Liebe Durchbruch. Im Roman bei einer Frau, in der Novelle bei einem Mann. In beiden Dichtungen aber nicht nur Gehalt, sondern auch Form.

Ihre Briefe an C. F. Meyer zeigen Louise von François auf kritischer Warte gegen die von ihrem Freunde bevorzugte Art, seine Novellen bestimmten Personen in den Mund zu legen. Jede Kritik muß jedoch verstummen vor ihrem und unserem Zebedäus Gutedel. Er ist ein Küster! Selbst der Dichter des »Münchhausen«, der einen Küster auf die Beine gestellt, fast so närrisch wie sein Schulmeister Agesel, würde vor ihm die Waffen strecken. Im Dienste des Domes beseelt sich ihm alles, bis auf das Wundermoos aus dem Gelobten Land. Er bleibt aber unendlich schlicht, selbst dort, wo er symbolisch wird. Angesichts einer solchen Leistung begreifen wir denn auch die Haltung Meyers. Sein erster Brief an das »verehrte Fräulein« beginnt mit den Worten: »Darf Ihnen der Verfasser des ›Heiligen‹ und Ihr Kollege in der Rundschau – wäre er nur auch Ihr Kollege an Talent! – eine arme Zeile zusenden ,…«

Meyers vollendeter Stil vermählt sich in der »Goldenen Hochzeit« mit der Schlichtheit, der Herzenswärme eines Raabe. Und dazu spielt der Lieblingsmeister unserer Dichterin, Johann Sebastian Bach, die Orgel, daß der ehrwürdige Dom zu Halberstadt mächtig widerhallt.

Bruno Golz


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