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Nach Art so gewaltsamer Phänomene währte der jähe Sturz kaum Minuten lang. Die Windsbraut fegte die Wolken auseinander, und Blitze zuckten, Donnerschläge grollten noch geraume Zeit gen Osten, als schon der Scheidestrahl der befreiten Sonne das Kreuz des Domturmes wieder übergoldete. Aber welcher Jammer der Zerstörung unter der vor kurzem nach so vergnüglichen Welt! O unglückseliger Jubilatemarkt! Zuckerherzen und Wundergeschöpfe, Mordbilder, Würstchen und Waffeln, dahin treiben sie zwischen den Rossen und Kaleschen des Karussells, zwischen Brettern, Kisten und Ballen, um unter Ach und Krach in Schlamm und Sand sich aufzulösen. Petz und Konsorten schwimmen brüllend mit stummen Heringen und Bücklingen um die Wette.
Und nicht nur diese leichtgelüstete Eintagswelt, – Fenster, Dächer, Schornsteine, ganze Gebäude selber knicken ineinander in Sturm und Strom; hügelhoch sperren Schutt und Trümmer den abfallenden Gießbächen den Lauf; stauend reißt die Flut sich Bahn selber in die höher gelegenen Höfe und Häuser, preßt von den Kellern herauf, bedroht unterwühlend die oberen Geschosse. Vom Stall bis zum Giebel angstvoller Hilferuf; ersäuft, erschlagen schwimmen die Haustiere zwischen Balken und Geröll; offene Särge, Kinder in Wiegen treiben einher, schreiende Mütter, Männer, bis unter die Arme im Wasser, arbeiten gegen die Wogen. Hier gilt es die Hilfe Tausender für Tausende. Auch denkt im ersten Entsetzen keiner der ländlichen Gäste daran, die Stätte der Verwüstung zu verlassen und dem leichtlich nicht minder gefährdeten Heimwesen zuzueilen.
Nur Judith achtet nicht auf die allgemeine Not. In ihrer Seele raste ein Wettersturm, mächtiger als der der äußeren Natur; gleichgültig hätte sie wohl einer Sintflut und dem Weltuntergange zugeschaut. Als aber die Menschenschicht, zwischen welcher sie eingekeilt gestanden, sich lockerte, da war sie die erste draußen auf der Rampe und spähte zwischen den leblosen Trümmern nach einer einzigen armen menschlichen Figur. Das Gestell hatte sich zwischen den Fugen der Brüstung festgenestelt, das Schaubild war verweht, zerweicht, zerrissen, Gott weiß, – der Geigenspieler verschwunden. Ihn muß sie suchen, finden. Auf seiner Zungenspitze ruhen Ehre und Freiheit eines Menschen, ruht der Frieden ihres eignen kommenden Lebens.
Entschlossen schritt sie vorwärts, als noch kaum einer sich unter den strömenden Himmel gewagt; oftmals bis an die Knie im Wasser, sprang sie von Stein zu Stein, wand sich horchend und lugend durch Gassen und Winkel der Niederstadt, in welcher die Schenken des Volkes gelegen sind. Bald indessen durfte sie diese Richtung aufgeben; ein Bächelchen, zum Strome angeschwellt, hat Brücken und Stege fortgerissen, kein Marktflüchtling das jenseitige Ufer erreichen können. Sie stieg die Oberstadt hinan, deren steil abfallende Straße der Guß abgespült wie ein sauberes Geschirr und an deren festeren Gebäuden das Unwetter wenig Schaden getan. Fragend, forschend, stöbernd eilte sie auch hier von Haus zu Haus. Stunden vergingen, die Nacht war tief hereingebrochen, die halbe Mondscheibe, von dunkeln Wolken überflogen, gab nur ein schwaches Dämmerlicht. Aber Judith rastete nicht, sie verzagte nicht, sie fühlte nicht Nässe noch Ermüdung. Sie mußte ihn finden; ihr innerstes Leben pulsierte in der einzigen Leidenschaft: »Ihn finden!«
Straßauf, straßab gelangte sie endlich an die Stelle zurück, von welcher sie ausgegangen, und lenkte, einer unwillkürlichen Eingebung folgend, in die Gasse, welche die Ost- und Südseite des Domes umspannt und durch eine den Kreuzgang mit dem Kirchenschiffe verbindende, halb verfallene Kapelle abgeschlossen wird. Nur Gärten und Hinterhöfe münden in diesen stillen Winkel; auch bemerkte sie rings nicht ein lebendes Wesen und war im Begriffe umzukehren, als das Wiehern eines Pferdes sie stutzig machte. Sie ging dem Schalle nach und stieß in der Tat auf ein Gefährt, dem ähnlich, das sie auf der Straße am Waldhause wahrgenommen. Es mochte schon vor dem Unwetter unter einem offnen, Feuertonnen und Leitern als Obdach dienenden Vorbau der Kapelle angebunden sein, denn es hatte keinerlei Beschädigung erlitten, und die Mähre fraß gelassen aus dem vorgehängten Eimer.
Der Mond drang in diesem Augenblicke mit scharfem Lichte durch die Wolken. Kein Zweifel, es war der Karren von diesem Nachmittag. Wo aber war der Fuhrmann, der Geigenspieler mit dem glasigen Blick? Mit zitternder Hand hob sie die Seitenwand des Verdecks, und – so mag es dem Giftgräber zumute sein, wenn er auf die verborgene Ader stößt, die anderen Arznei werden soll und ihm selber den Tod bringen kann, wie dem Mädchen, als es den kleinen, kahlhäuptigen Mann am Laden liegend entdeckte. Seine Augen waren gebrochen, die Zähne übereinandergepreßt, die Lippen weißbeschaumt, die Glieder verrenkt. In der Rechten hielt er ein Fläschchen, dessen dunkler Inhalt noch am Barte herunterträufelte. War es Gift? War er tot? – Sie stieg in den Karren, und keine Mutter tastet mit angstvoller, gespannter Seele nach Puls- und Herzschlag ihres Lieblings, als sie nach denen dieses elenden Krüppels. »Gott ist gerecht! Er lebt!« flüsterte sie. Sie löste den durchnäßten Anzug und hüllte den erstarrten Körper in trockene Kleider und Decken, die in einem Bündel im Winkel lagen. Es überraschte sie nicht, daß während dieser Bemühung der Höcker, eine künstliche Wulst, der schwarze Ziegenbart, eine Maske, zu Boden rollten. Aber welches armselige Geripp, nachdem die entstellende Hülle gefallen! Sie gab dem Kopf eine erhöhte Richtung, und nachdem sie nach eine Weile sorgsam lauschend das matte, aber gleichmäßige Atmen eines Schlafenden vernommen, schwang sie sich auf die vordere Bank, ergriff die Zügel und lenkte dem nach ihrem Dorfe führenden Tore zu.
Unbeachtet wand sich das kleine Gefährt, radtief im Schlamm, Schutt und Wasserlachen, durch drängendes Volksgewirr bis zum jenseitigen Ufer. Der im Schwellen heftig rauschende Fluß hatte eine Wetterscheide gebildet; drüben nirgends eine Spur gewaltsamer Zerstörung. Während dort jedoch der Bruch der Wolken so rasch geendet als er eingetreten, war er hier bereits in einen sickernden Landregen übergegangen. Der Schlummernde lag geschützt unter dem Verdeck, die Führerin aber empfand ohne Schauer das kalte Geriesel über den von einem innerlichen Brande durchglühten Leib.
Die Straße war menschenleer. Die Kluswirtin mochte die erste sein, welche die Stadt verlassen, und die Kunde von deren Heimsuchung hatte sich noch nicht verbreitet, um Neugierige oder Hilfeleistende herbeizuziehen. Der Notruf der Sturmglocken aus den jenseitigen Dörfern verhallte im Rauschen von Regen und Wind, der Mond drang nur mit mattem Schimmer durch die dichten Wolkenlagen. Auch in Judiths Seele war es sturmdurchbrauste Nacht. Das Unbegreifliche, was diese Stunden ihr vorgeführt, es bot keinen Halt, keinen Zusammenhang, keine Lösung. Ein Klang, ein Blick, schwerlich ohne vorbereitendes Mahnen das Bild der Erinnerung erweckend und diesem Bilde in keinem Zuge ähnlich; eine abenteuerliche Schauszene, nur durch den Einklang mit ihren eigenen Grübeleien, durch ihr allein verständliche Besonderheiten bedeutungsvoll! Rätsel und Zweifel, nach welcher Seite sie sann; Schmach und Qual, wenn ihre Ahnung Wahrheit wurde. Aber zwischen diesem verwirrenden Dunkel ein hellstrahlender Stern: der Stern der Gerechtigkeit, der eine ewige Leitung bekundet.
Je mehr sie sich ihrem Gehöfte näherte, zwang sie sich, ihre Gedanken auf das zunächst Erforderliche zu richten. Sie konnte darauf rechnen, ihre Leute noch nicht heimgekehrt zu finden, auch bedurfte sie der Einsamkeit – der fremde Gast mußte verborgen gehalten werden. Vor der Torfahrt stieg sie ab und lauschte nach allen Seiten; im Hofe wie auf der Straße alles still: der Fremde schlief ohne Regung. Sie spannte das Pferd aus und trieb es durch die Heckentür in den Kamp. Noch einen Blick unter die Leinenplane – keine Bewegung. Beruhigt ging sie voran. Hof und Haus standen unverriegelt, der fromme Sylv, – nein, nimmer hätte er einen Wirt gegeben! Da lag er auf seinen Knien, den Rosenkranz in der Hand, eingeschlummert zu Füßen der toten alten Frau. »Wohl der Mutter, wehe dem Kinde!« murmelte Judith mit krampfhaft über der Brust gefalteten Händen, als sie, leise herbeischleichend, das friedliche Bild durch die offene Kammertür überschaute. Sie wechselte im Fluge die Kleider, zündete die Laterne an, nahm den Schlüssel zu der Giebelstube, die sie heut morgen zum erstenmal seit zehn Jahren geöffnet, und ging nach dem Karren zurück. Der Fremde war erwacht, von dem Torflügel bedeckt, beobachtete sie ihn eine Weile, wie er, aufgerichtet auf der vorderen Bank stehend mit dem Blick eines Schlafwandlers um sich schaute. »Die Klus!« sagte er mit verwundertem Ton; »die Klus!«
Judith trat vor, reichte ihm schweigend zum Herabsteigen die Hand und leuchtete ihm ebenso schweigend über den Hof voran. Er folgte wie im Traum. Auf der Treppe stockte er mehr als einmal, strich mit der Hand über die Stirn, schien zu erwachen, sich zu besinnen. Vor dem Eintritt in das Zimmer schreckte er zurück, und nachdem er die Schwelle überschritten, schielte er scheu in alle Winkel des Raums, über das ungeordnete Gerät, zwischen jedem Blicke aber zu der Wirtin hinüber, die, noch immer stumm, die Laterne auf den Tisch setzte und keine seiner Bewegungeen unbeachtet ließ.
Sie kramte einen vollständigen Anzug aus der Lade im Hintergrunde und sah ein kindliches Lächeln des Fremden Gesicht überfliegen, als sie die bunte Troddelmütze und den türkischen Schlafrock, in welchem der eitle Gesell, ihr Bruder, vor Jahren zum Ärgernis der Nachbargäste einherstolziert, mit dem stummen Bedeuten, die durchnäßten Kleider dagegen zu vertauschen, vor ihm ausbreitete. Darauf sich entfernend und nach kurzer Weile mit einem erwärmenden Aufguß zurückkehrend, fand sie ihn umgekleidet, und, einen kleinen Spiegel in der einen, die Laterne in der andern Hand, sich selber musternd und vergleichend vor dem Konterfei des einstigen Bewohners. Eine Minute lang hielt sie sich unbemerkt unter der leise geöffneten Tür. Auch ihr Auge flog prüfend von dem Bilde auf den Beschauer und von dem Beschauer auf das Bild. Jener vollockige, blitzende, übermütige Jugendkopf und dieser kahle, glasige, hohlwangige Totenschädel, konnten sie eines Menschen sein, eines Menschen Sonst und Jetzt, und dazwischen nur eine Spanne von zehn Jahren des ersten Mannesalters? – Dennoch! – »August!« rief sie, entschlossen in das Zimmer tretend. – Der Fremde schrak zusammen und stellte hastig Laterne wie Spiegel beiseite. Den Ruf schien er überhört zu haben. Er stürzte gierig mehrere Tassen hinunter, welche die Wirtin ihm einschenkte und welche ihn sichtbar belebten,
»August!« sagte sie jetzt noch einmal mit eisernem Ernst und durchdringendem Blick, und »August!« nach einer Stille zum dritten Male. – Gleich einem elektrischen Schlage zuckte es durch den Körper des seltsamen Mannes. Seine Wangen färbten sich, das eine lebendige Auge blickte mit klarem Bewußtsein, er richtete die zusammengesunkene Gestalt straff in die Höhe, von Kopf zu Fuß ein anderer, als der er bis vor wenigen Sekunden gewesen. »Ich heiße Brown, Madame«, sagte er mit tiefer, gemessener Stimme und ausländischem Akzent. »James Brown, Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika, wie der Paß in meinem Taschenbuche Ihnen beweisen kann.« – Als Judith aber nicht alsobald ein Wort der Entgegnung zu finden wußte, fuhr er geläufiger fort: »Ich bin in einem Gasthause, so scheint's. Wie ich dahin gekommen, weiß ich nicht. Ein heftiges Wetter überraschte mich auf dem Markt. Ich leide an Krämpfen, Madame, ›böses Wesen‹, irre ich nicht, nennt man es hierzuland. Böses Wesen, richtig, vollkommen richtig ausgedrückt. Sehr böses Wesen in der Tat. Ich fühlte es nahen, ich nahm meine Tropfen. Laudanum, Laudanum, Madame! Daher die Betäubung. Weiß nichts seit dieser Zeit, rein nichts. Wie lange mag es sein? Es ist Nacht. Mich dünkt, ich sei gefahren. Aber ich kann es geträumt haben. Wo ist mein Wagen, mein Pferd? wo bin ich, Madame?« – Schauspielerte der Mensch? war er wahnsinnig? Judiths Herz kämpfte zwischen Entrüstung und Zweifel. »Du nanntest die Klus; du kanntest sie wieder, August«, sagte sie nach einer Pause.
»Ich heiße Brown, Madame«, fiel er ein; »James Brown, Bürger von Massachusetts, United States. Bitte meine Papiere einzusehn. Vor wenig Tagen visiert vom königlichen Konsul in Bremen, alles in Ordnung, Madame. James Brown, so ist's. Und die Klus, die Klus! Wie ist mir denn? Ja, ja, ganz recht: die Klus, so hieß das Gasthaus an der Landstraße, aus welchem mein Schiffskamerad gestammt. Die Klus! Unglücklicher Mann, grausam unglücklicher Mann, Madame, mein Kamerad! Es ist eine Weile her, zehn Jahre mögen es sein. Wir litten Havarie. Er und ich ganz allein von der Mannschaft gespült an eine Klippe. Drei Tage lang zwischen Himmel und Ozean, ohne einen Tropfen und Bissen, schrecklich, schrecklich, Madame! Seine Lebensgeschichte gehört. Eine Beichte, sozusagen. Er war Katholik. Ich bin Protestant, Protestant, so ist's! Durfte ihn absolvieren, denn seine Reue war aufrichtig, bei Gott aufrichtig, Madame, und die Strafe grausam. Am dritten Tage verschmachtet. Ich hielt es länger aus. Wurde gerettet. Ein vorbeisegelndes Schiff, ein Wunder beinahe, ein Wunder, gehört aber nicht hierher. Die Geschichte hat sich mir eingeprägt, – sehr natürlich unter diesen Umständen! – als hätte ich sie erlebt. Brachte sie zu Papier, zu Bild. Ich bin Künstler, Madame, Maler, Rhetor, Improvisator, Schauspieler, alles bei Gelegenheit, wir lieben das drüben, Madame. Nicht steif und einseitig. Uncle Sam wie Vetter Michel im alten Land. Habe Glück mit der Geschichte gemacht. ›Leichtsinn und Edelmut‹ war sie benamst. Eine Kuriosität der letztere, der Edelmut, heißt das, für Uncle Sam. Mehr in Deutschland zu Hause, aber wohl auch kaum im Überfluß; nicht so, nicht so, Madame? wollte das Träumervolk kennenlernen, studieren. Ein Tourist, Forscher von Natur. Habe viel unter Deutschen gelebt. Aber Quelle ist Quelle! Spreche Ihre Sprache passabel, finden Sie nicht? – Aber zurück zu meiner Geschichte. Ein Deutscher übersetzte sie für einen Dollar. Armer, dummer Teufel, wie alle Deutschen drüben. Damned Dutch! für einen Dollar, bah! einen Druckbogen Verse und gereimt sehr gut, sehr gut, Madame. Vor vier Tagen gelandet, heute aus Zufall in der Stadt zum Markt; aus Zufall, so ist's. Sie waren in der Stadt Madame, nicht so? Sie sahen das Bild, ja, ja, das Bild! – Windhose, Wasserhose, – Kinderspiel hierzuland, solch ein Sturm! – Krampf, Laudanum, Taumel; so ist's, Madame, so ist's!« –
Die unglückliche Judith stand wie verschüttet unter diesem Schwall. Hätte sie noch gezweifelt, der letzte Zweifel würde entflohen sein, ja, das war ihr Bruder, das war der Gust! Zeit, Elend, eine fremde Welt, Laster, Krankheit und ein heimliches Verbrechen hatten die Gestalt verwandelt; der windige Geist, der Unrast, der Possenreißer war geblieben. Das Erbarmen mit einer verurteilten Seele, das Grauen vor blutigen Enthüllungen, vor Schmach und Strafe schwiegen still in ihrer Brust, sie fühlte nur die Verachtung von ehedem, fühlte einen Haß, eine Erbitterung, die ihr die Kehle krampfhaft zusammenschnürten, sah nur den ungeheuren Kampf, der ihrer wartete.
»Sie sind mir die Antwort schuldig geblieben, Madame«, fuhr der Fremde nach einer Pause fort, in welcher er die Gegenstände im Zimmer neugierig gemustert und betastet hatte. »Auf der Klus, sagten Sie. Aber wie bin ich auf die Klus gekommen? Die Klus, in der Tat, die Beschreibung trifft. Mein Kamerad war weitläufig über die Klus, schrecklich weitläufig, Madame. Heimweh nennen sie das Ding hierzuland. Kein Wort dafür drüben, nicht bekannt das Ding, Unsinn, Unsinn! Heut im Nord, morgen im Süd. Geldmachen die Losung, Geschäftemachen, sein Glück machen, wachsen, Madame, wachsen, den Baum verpflanzen, bis er sein Erdreich gefunden; nicht Wurzel schlagen, Kleben an der Scholle, auf welche der Wind das Samenkorn geweht, langweilig das, dutch, Unsinn, Unsinn! – Die Klus also, die Klus! Ist die Klus wieder ein Gasthaus, Madame? Was mag aus der jungen Wirtin geworden sein, meines Kameraden Schwester? Eine hübsche Dirne ihrer Zeit, wird einen Mann genommen haben, gewiß, gewiß! Aber –« seine Stimme stockte einen Moment, und er blickte mit einem Anflug von Angst zu dem Mädchen hinüber, – »aber eine alte Mutter, irre ich nicht, eine alte Mutter – und ein Kind!« –
Eine blitzartige Eingebung fuhr bei den letzten Worten durch Judiths Hirn. Während sie indessen, noch immer regungslos, über ihre Ausführung sann, hob der Fremde mit seiner früheren Unbefangenheit wieder an: »Ihr Kaffee war gut, Madame, heiß und stark, ich liebe das. Arznei gegen den Krampf, aber satt macht er nicht. Mich hungert. Nüchtern seit morgens? Einen Imbiß, ich bitte. Ein Stück Brot und Fleisch und ein Glas Wein, wenn es sein kann. Bier und Schnaps – bah! Kommunes Getränk, der Schnaps. Ein Künstler will Wein. Keine Kunst drüben bei uns –.« – Judith unterbrach ihn, indem sie die Laterne vom Tische nahm und, ohne ein Wort zu sagen, ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Er zögerte einige Sekunden, warf einen mißtrauischen Seitenblick auf die stumme Führerin, ging aber doch hinter ihr drein, die Treppe hinunter, über den Hof, durch Küche und Wohngelaß. Unter der offnen Kammertür hielt sie still und deutete schweigend auf das vom schwachen Lampenschimmer beleuchtete Friedensbild der entseelten Greisin und des schlummernden Knaben.
Einen Augenblick steht der Fremde wie erstarrt, im nächsten stürzt er mit jähem Aufschrei über das Totenbett. – »Mutter, Mutter!« ruft er, und – »Sylv, mein Kind!« – indem er zu dem Schlafenden niedertaumelt.
Sylvian fuhr in die Höhe. Erschrocken blickte er auf den fremden Mann, dessen Arme ihn umstrickten, dann auf die Leiche, auf seine Pflegerin und wieder hinab zu dem Fremden. Er entfärbte sich, er zitterte. Der Mann schluchzte wie ein Kind, wollte reden und vermochte es nicht, wollte sich aufrichten und strauchelte. Judith umfaßte ihn, und indem sie dem Knaben, gebieterisch zuraunte: »Bleib, er ist krank!« trug sie den Bewußtlosen in die Küche, deren Türe sie verschloß. Sylvians Angstblick lastet auf ihrem Herzen; sie hatte eine Probe gewagt, und die Probe war gelungen; den aber, an dem sie gemacht worden, hatte sie außer acht gelassen, und er konnte ihr Opfer werden. Er durfte den Mann nicht wiedersehen, heute nicht, nimmer! – Der Fremde mußte ihm ein Fremder bleiben.
Kaum daß sie einen Imbiß zurechtgeschnitten und ein Glas von dem Wein, der zur Stärkung für die Mutter ins Haus geschafft worden war, zwischen des Erschöpften Lippen geflößt, so nahm sie ihn, ohne seine völlige Belebung abzuwarten, von neuem in ihren Arm und zog ihn nach der Giebelstube zurück. Seine Besinnung war wiedergekehrt; er schluchzte bitterlich. – »Bruder!« sagte Judith, ihm mitleidig die Hand reichend. – »Ja, dein Bruder!« rief er unter Tränenströmen; »dein Bruder, der Heimatlose, dein Bruder, der Elende, der – der, oh, du weißt es ja, Judith! ich sehe es an deinem Schauder, – dein Bruder, der Mörder!« –